Er lebt stets in Erwartungen. Er liebt es, alles in der Schwebe zu lassen. Er gehört zu den Menschen, denen überall, wo sie sich befinden, zwanghaft einfällt, wie schön es jetzt auch anderswo sein möchte. Er flieht das Hier-und-Jetzt zumindest innerlich. Er mag den Sommer nicht, überhaupt keinen Zustand der Gegenwärtigkeit, liebt den Herbst, die Dämmerung, die Melancholie, Vergänglichkeit ist sein Element. Frauen haben bei ihm leicht das Gefühl, verstanden zu werden. Er hat wenig Freunde unter Männern. Unter Männern kommt er sich nicht als Mann vor. Aber in seiner Grundangst, nicht zu genügen, hat er eigentlich auch Angst vor den Frauen. Er erobert mehr, als er zu halten vermag, und wenn die Partnerin einmal seine Grenze erspürt hat, verliert er jeden Mut; er ist nicht bereit, nicht imstande, geliebt zu werden als der Mensch, der er ist, und daher vernachlässigt er unwillkürlich jede Frau, die ihn wahrhaft liebt, denn nähme er ihre Liebe wirklich ernst, so wäre er ja genötigt, infolgedessen sich selbst anzunehmen.
(Max Frisch – Stiller)

Man kann im Prenzlauer Berg einfach im linken Habitus weiterleben. Das ist ja das Schöne. Man kann sich tolerant fühlen, weil Toleranz nicht auf die Probe gestellt wird. (…) Der Schriftsteller Maxim Biller nennt den Prenzlauer Berg mittlerweile ironisch eine »national befreite Zone«.

Der Prenzlauer Berg wirkt vielerorts, als habe es nie so etwas wie eine Unterschichtendebatte gegeben, ein Demografieproblem, Migration. Hier herrscht der Bionade-Biedermeier. Die 100000 Zugezogenen haben eine neue Stadt geschaffen, doch wem kommt diese zivilisatorische Leistung zugute, außer ihnen selbst? Ihr Prenzlauer Berg ist ein Ghetto, das ohne Zaun auskommt – weil es auch ohne zunehmend hermetisch wirkt. Die Zuwanderung wird über den Preis pro Quadratmeter gesteuert und über den enormen Anpassungsaufwand, dem man sich hier leicht aussetzt. Wer nicht das Richtige isst, trinkt, trägt, hat schnell das Gefühl, der Falsche für diesen Ort zu sein. Man glaubt so offen zu sein und hat sich eingeschlossen.

Zwar ist Milieubildung ein normales soziales Phänomen, weltweit sortieren sich die Menschen nach Lebensstil, Bildung, Vermögen – das Besondere am Prenzlauer Berg aber ist, dass er nicht wahrhaben will, dass er ganz anders ist, als er zu sein glaubt.
(Henning Sußebach bei ZEIT Online)

Wie Christian Ulmen es so treffend auf den Punkt gebracht hat:

Die Definition von Spießigkeit ist für mich, sobald jemand nicht in der Lage ist, über seinen Tellerrand hinauszuschauen. Wenn jemand intolerant ist und anderes nicht zulässt, ist er ein Spießer. Das ist der Hausmeister, der nicht will, dass man draußen Fußball gegen die Garagentore spielt, weil es so laut ist. Oder die Oma, die sich wahnsinnig darüber aufregt, weil ein Punker einen Irokesenhaarschnitt hat, weil sich das nicht anschickt. Das Leben der anderen nicht zu akzeptieren – das ist spießig, meine ich.
(Christian Ulmen bei Spiegel Online)

Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.
(Theodor W. Adorno – Minima Moralia)

»Ich habe einen Mann gekannt«, sage ich, »einen andern, der nicht ins Irrenhaus kam«, sage ich, »obschon er ganz und gar in seiner Einbildung lebte.« Ich rauche. »Er bildete sich ein, ein Pechvogel zu sein, ein redlicher, aber von keinem Glück begünstigter Mann. Wir alle hatten Mitleid mit ihm. Kaum hatte er etwas erspart, kam die Abwertung. Und so ging’s immer. Kein Ziegel fiel vom Dach, wenn er nicht vorbeiging. Die Erfindung, ein Pechvogel zu sein, ist eine der beliebtesten, denn sie ist bequem. Kein Monat verging für diesen Mann, ohne daß er Grund hatte zu klagen, keine Woche, kaum ein Tag. Wer ihn einigermaßen kannte, hatte Angst zu fragen: Wie geht’s? Dabei klagte er nicht eigentlich, lächelte bloß über sein sagenhaftes Pech. Und in der Tat, es stieß ihm immer etwas zu, was den andern erspart bleibt. Einfach Pech, es war nicht zu leugnen, im großen wie im kleinen. Dabei trug er’s tapfer«, sage ich und rauche, »- bis das Wunder geschah.« Ich rauche und warte, bis der Barmann, hauptsächlich mit seinen Gläsern beschäftigt, sich beiläufig nach der Art des Wunders erkundigt hat. »Es war ein Schlag für ihn«, sage ich, »ein richtiger Schlag, als dieser Mann das Große Los gewann. Es stand in der Zeitung, und so konnte er’s nicht leugnen. Als ich ihn auf der Straße traf, war er bleich, fassungslos, er zweifelte nicht an seiner Erfindung, ein Pechvogel zu sein, sondern an der Lotterie, ja, an der Welt überhaupt. Es war nicht zum Lachen, man mußte ihn geradezu trösten. Vergeblich. Er konnte es nicht fassen, daß er kein Pechvogel sei, wollte es nicht fassen und war so verwirrt, daß er, als er von der Bank kam, tatsächlich seine Brieftasche verlor. Und ich glaube, es war ihm lieber so«, sage ich, »andernfalls hätte er sich ja ein anderes Ich erfinden müssen, der Gute, er könnte sich nicht mehr als Pechvogel sehen. Ein anderes Ich, das ist kostspieliger als der Verlust einer vollen Brieftasche, versteht sich, er müßte die ganze Geschichte seines Lebens aufgeben, alle Vorkommnisse noch einmal erleben, und zwar anders, da sie nicht mehr zu seinem Ich passen -« Ich trinke. »Kurz darauf betrog ihn auch noch seine Frau«, sage ich, »der Mann tat mir leid, er war wirklich ein Pechvogel.«
(Max Frisch – Mein Name sei Gantenbein)