Viel liest man über die nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen, die es haben kann, füt­tert man sozia­le Netz­wer­ke, die eige­ne Home­page oder Blogs mit per­sön­li­chen Infor­ma­tio­nen. Wenn­gleich vie­les davon auch zutref­fend ist und die opti­mier­te Selbst­in­sze­nie­rung oder Öffent­lich­ma­chung intims­ter Details bis­wei­len ins Patho­lo­gi­sche abdrif­tet, so ist ein immer wie­der erwähn­ter Punkt doch unter Umstän­den auch nütz­lich: Schnüf­fe­lei durch den aktu­el­len oder einen poten­ti­el­len Arbeitgeber.

Das Pro­fil in sozia­len Netz­wer­ken, die eige­ne Home­page und Aus­sa­gen in Blogs wer­den mit der Sche­re im Kopf ver­fasst oder in vor­aus­ei­len­dem Gehor­sam zen­siert, um der Angst zu begeg­nen, der tat­säch­li­che oder poten­ti­el­le Arbeit­ge­ber könn­te Details über Pri­vat­le­ben, poli­ti­sche oder sexu­el­le Ori­en­tie­rung, Vor­lie­ben und Abnei­gun­gen oder per­sön­li­che Mei­nun­gen erfah­ren und als – natür­lich inof­fi­zi­el­le – Grund­la­ge für nega­ti­ve Kon­se­quen­zen her­an­zie­hen, sei es das Ableh­nen einer Bewer­bung und Nicht­ein­stel­lung, das Über­ge­hen bei einer Beför­de­rung oder in Extrem­fäl­len die Kün­di­gung. Warum?

Genau­so, wie die­se dreis­te Schnüf­fe­lei durch wenig Ver­trau­en ver­die­nen­de Unter­neh­men, denen das Pri­vat­le­ben ihrer Mit­ar­bei­ter, solan­ge es die Arbeit selbst nicht beein­träch­tigt, nicht Grund für nega­ti­ve Sank­tio­nen sein darf, soll und muss, in die eine Rich­tung funk­tio­niert, wirkt sie auch in die ande­re, näm­lich als vor­züg­li­cher Arbeit­ge­ber­fil­ter. Möch­te man für eine Fir­ma arbei­ten, die her­um­schnüf­felt und einen Men­schen nicht ein­stellt, weil er per­sön­li­che, viel­leicht sogar pein­li­che Par­ty­fo­tos in ein sozia­les Netz­werk gela­den hat? Möch­te man für eine Fir­ma arbei­ten, die eine poli­ti­sche Mei­nung jen­seits der eigens pro­pa­gier­ten als Knock-Out-Kri­te­ri­um betrach­tet? Wenn man nicht ein­ge­stellt wird, weil man sich in die­ser oder jener Orga­ni­sa­ti­on enga­giert, ist das dann, abseits vom Öko­no­mi­schen, wirk­lich ein Grund zur Trau­er oder nicht eher zur Freu­de dar­über, dass man nicht Teil eines Unter­neh­men mit sol­chen Prak­ti­ken gewor­den ist? Was für ein Zustand ist das, wenn man vor­sich­tig sein muss, wel­che poli­ti­schen oder per­sön­li­chen Aus­sa­gen man trifft?

„Selbst schuld“, hört man süf­fi­sant von den­je­ni­gen, die sich ent­spre­chend sol­cher an sie gestell­ten Erwar­tun­gen zen­sie­ren und die eige­ne Per­sön­lich­keit demü­tig ver­ste­cken. „Selbst schuld“, kann man ihnen eigent­lich nur antworten.

Seit Jah­ren schon möch­te ich ein Buch über etwas schrei­ben, das mir sehr am Her­zen liegt. Oder wenigs­tens ein PDF mit vie­len Sei­ten. Der Ursprung die­ses Wun­sches liegt in mitt­ler­wei­le schon nicht mehr fass­ba­rer Ver­gan­gen­heit, doch einen ernst­haf­ten Anfang mach­te die­ser Gedan­ke dann erst zum Ende mei­ner Schul­zei­ten, aber bis heu­te habe ich mit die­sem Vor­ha­ben kei­ne gro­ßen Fort­schrit­te erzielt. Ideen kom­men und gehen und das Kon­zept wächst unauf­hör­lich, trotz­dem schaf­fen es nur die sel­tens­ten die­ser Ideen als aus­for­mu­lier­te Sät­ze, Abschnit­te oder gar Sei­ten aufs elek­tro­ni­sche Papier. Warum?

Vie­le Din­ge spie­len eine Rol­le. Die übli­chen Ver­däch­ti­gen natür­lich: man­geln­de Zeit, Faul­heit, nagen­der Per­fek­tio­nis­mus und die Angst vor dem ers­ten Ent­wurf, der nie über­zeugt. Eini­ge davon – wahr­schein­lich die meis­ten – mögen Aus­re­den sein, das ist sicher, doch sind all das gene­rell Grün­de, mit denen umge­gan­gen, denen begeg­net wer­den kann. Es sind Stei­ne auf dem Weg, die weg­zu­räu­men nicht das Pro­blem ist, wenn man weiß, dass man den Weg unbe­dingt gehen möchte.

Der Haupt­grund aller­dings, der mich dar­an hin­dert, irgend­wie sinn­voll mit mei­nem Text vor­an­zu­kom­men, liegt in der Zukunft. Es sind all die Din­ge, die in mei­nem Kopf als gro­ßes Muss auf mich zukom­men: Ich muss Haus­ar­bei­ten machen, ich muss Refe­ra­te vor­be­rei­ten, ich muss für Prü­fun­gen ler­nen (obwohl ich noch nie für Prü­fun­gen gelernt habe). Es ist dabei nicht der Zeit­auf­wand an sich, der für die­se Din­ge jeweils auf­ge­bracht wer­den muss, denn er lässt mir genug Spiel­raum für Frei­zeit, son­dern es sind die Din­ge als sol­che, in denen ich kei­nen per­sön­li­chen Sinn sehe, die das Pro­blem darstellen.

Frei­zeit bedeu­tet nicht gleich­zei­tig freie Zeit. Wenn in den Semes­ter­fe­ri­en alle Haus­ar­bei­ten hin­ter mir lie­gen, kei­ne Klau­su­ren anste­hen und auch das kom­men­de Semes­ter im Ide­al­fall noch eini­ge Wochen ent­fernt liegt, ist das nur Frei­zeit, aber kei­ne freie Zeit. Im Hin­ter­kopf ist mir stets das stö­ren­de Wis­sen all­ge­gen­wär­tig, dass ich bald, wenn die­se kur­ze Pha­se der Frei­zeit ver­gan­gen sein wird, wie­der neue Refe­ra­te wer­de vor­be­rei­ten müs­sen. Wenn die Refe­ra­te vor­be­rei­tet und gehal­ten wur­den, fol­gen die dazu­ge­hö­ri­gen Haus­ar­bei­ten, nach den Haus­ar­bei­ten fol­gen neue Refe­ra­te. Wenn irgend­wann Refe­ra­te und Haus­ar­bei­ten ein­mal vor­bei sind, ste­hen Diplom­ar­beit und Diplom­prü­fung bereits vor der Tür. Danach Bewer­bun­gen, Vor­stel­lungs­ge­sprä­che, Ein­ar­bei­tung, Arbeits­all­tag. Jede die­ser neu­en Stu­fen ist von lächer­li­chen Bestä­ti­gun­gen irgend­wel­cher Instan­zen bezeich­net: eine bestan­de­ne Klau­sur oder Prü­fung, eine Note, eine gut­ge­hei­ße­ne Arbeit, der Abschluss eines Pro­jekts, die Ver­set­zung in ein ande­res Be(s)tätigungsfeld.

All die­ses Müs­sen hängt in mei­nem Kopf stän­dig unbe­wusst über allem ande­ren, wie ein Rau­schen im Radio, das einem die Musik ver­dirbt. Wenn ich Frei­zeit habe, ver­geu­de ich sie mit irgend­wel­chen Seri­en oder Spie­len, räu­me auf oder um, wid­me mich ganz gene­rell dem so genann­ten Amü­se­ment und Enter­tain­ment, um mich von einem Muss zum nächs­ten zu han­geln und die Zeit dazwi­schen tot­zu­schla­gen, in der Hoff­nung auf ein Ende die­ses Muss-Kreis­laufs. Doch immer wie­der erscheint irgend­wo eine neue Stu­fe. Para­ly­se. Nie bekom­me ich es hin, mich end­lich mit dem zu beschäf­ti­gen, womit ich mich schon so lan­ge beschäf­ti­gen möch­te und was mir zudem so sehr am Her­zen liegt. Hin­zu kommt die Eigen­schaft all die­ser Neben­schau­plät­ze – Haus­ar­bei­ten, Refe­ra­te, Bewer­bun­gen und so wei­ter -, eine der­art gro­ße Men­ge an Auf­merk­sam­keit für sich zu bean­spru­chen, dass ein effek­ti­ves und unge­stör­tes Kon­zen­trie­ren auf das, was mir eigent­lich wirk­lich wich­tig ist, gar nicht mög­lich ist.

Mei­ne letz­te freie Zeit, die nicht nur als Frei­zeit bezeich­net wer­den kann, genoss ich direkt nach dem Abitur, als noch völ­lig offen war, ob ich Zivil­dienst wür­de leis­ten müs­sen oder nicht und wie es danach wei­ter­ge­hen wür­de. Die­se Zeit, in der nicht klar war, wel­ches Muss als nächs­tes und wann auf­tre­ten wür­de, in der es kei­nen fest gere­gel­ten Ablauf für die Zukunft gab, kei­ne struk­tu­rier­ten Plä­ne, kei­ne star­ren Schie­nen, auf denen alles ziel­ge­rich­tet dahin­rollt, war gleich­zei­tig die produktivste.

Was wir brau­chen, ist freie Zeit, die nicht bloß Frei­zeit ist.

Es gibt aller­lei Arten, einen Men­schen zu mor­den oder wenigs­tens sei­ne See­le, und das merkt kei­ne Poli­zei der Welt. Dazu genügt ein Wort, eine Offen­heit im rech­ten Augen­blick. Dazu genügt ein Lächeln. Ich möch­te den Men­schen sehen, der nicht durch Lächeln umzu­brin­gen ist oder durch Schwei­gen. Alle die­se Mor­de, ver­steht sich, voll­zie­hen sich lang­sam. Haben Sie sich nie über­legt (…), war­um die aller­meis­ten Leu­te so viel Inter­es­se haben an einem rich­ti­gen Mord, an einem sicht­ba­ren und nach­weis­ba­ren Mord? Das ist doch ganz klar: weil wir für gewöhn­lich unse­re täg­li­chen Mor­de nicht sehen. Da ist es doch eine Erleich­te­rung, wenn es ein­mal knallt, wenn Blut rinnt oder wenn einer an rich­ti­gem Gift ver­en­det, nicht bloß am Schwei­gen sei­ner Frau. Das ist ja das Groß­ar­ti­ge an frü­he­ren Zeit­al­tern, bei­spiels­wei­se an der Renais­sance, daß die mensch­li­chen Cha­rak­te­re sich noch in Hand­lung offen­bar­ten; heut­zu­ta­ge ist alles verinnerlicht…
(Max Frisch – Stiller)