Ein Mathe­ma­ti­ker, der eini­ge Sozio­lo­gie-Ver­an­stal­tun­gen besuch­te, resü­mier­te bei­des wie folgt:

Wäh­rend ihm die Mathe­ma­tik mehr oder min­der ein­deu­ti­ge Ant­wor­ten lie­fe­re, zumin­dest aber meist Ant­wor­ten, und ihm gleich­zei­tig als Bezugs­punkt etwas bie­te, auf das er sich mit einer gewis­sen Sicher­heit beru­fen kön­ne – ein Axi­om, eine For­mel oder ähn­li­ches -, för­de­re die Sozio­lo­gie beim Ver­such der Beant­wor­tung einer Fra­ge stets eine Viel­zahl neu­er Fra­gen zuta­ge, ohne dabei aber die eigent­li­che Fra­ge wirk­lich zu beantworten.

Die­se Ein­schät­zung mein­te er dabei kei­nes­wegs nega­tiv, son­dern bezeich­ne­te die Sozio­lo­gie als die »Wis­sen­schaft der guten Fra­gen«.

Gegen­über der ima­gi­nä­ren Anthro­po­lo­gie der Wirt­schafts­wis­sen­schaft, die sich noch nie der For­mu­lie­rung uni­ver­sel­ler Geset­ze der »zeit­li­chen Prä­fe­renz« ent­schla­gen konn­te, ist dar­an zu erin­nern, daß die jewei­li­ge Geneigt­heit zur Unter­ord­nung gegen­wär­ti­ger Wün­sche unter zukünf­ti­ge Befrie­di­gun­gen davon abhängt, wie »ver­nünf­tig« die­ses Opfer ist, d.h. von den jewei­li­gen Chan­cen, auf jeden Fall in der Zukunft mehr an Befrie­di­gung zu erhal­ten als was gegen­wär­tig geop­fert wur­de. Unter die öko­no­mi­schen Bedin­gun­gen der Nei­gung, unter­mit­tel­ba­re Wunsch­er­fül­lung zuguns­ten künf­tig erhoff­ter zurück­zu­stel­len, ist glei­cher­ma­ßen die in der gegen­wär­ti­gen Lage ange­leg­te Wahr­schein­lich­keit der zukünf­ti­gen Befrie­di­gung zu rech­nen. (…) Für die­je­ni­gen, die – wie es so heißt – kei­ne Zukunft haben, die jeden­falls von die­ser wenig zu erwar­ten haben, stellt der Hedo­nis­mus, der Tag für Tag zu den unmit­tel­bar gege­be­nen sel­te­nen Befrie­di­gungs­mög­lich­kei­ten (»die güns­ti­gen Augen­bli­cke«) grei­fen läßt, alle­mal noch die ein­zig denk­ba­re Phi­lo­so­phie dar. Ver­ständ­li­cher wird damit, war­um der vor­nehm­lich im Ver­hält­nis zur Nah­rung sich offen­ba­ren­de prak­ti­sche Mate­ria­lis­mus zu einem der Grund­be­stand­tei­le des Ethos, ja selbst der Ethik der unte­ren Klas­sen gehört: das Gegen­wär­tig­sein im Gegen­wär­ti­gen, das sich bekun­det in der Sor­ge, die güns­ti­gen Augen­bli­cke aus­zu­nut­zen und die Zeit zu neh­men, wie sie kommt, ist von sich aus Mani­fes­ta­ti­on von Soli­da­ri­tät mit den ande­ren (die im übri­gen häu­fig genug die ein­zi­ge vor­han­de­ne Sicher­heit gegen die Unbill der Zukunft bil­den) inso­weit, als in die­sem gleich­sam voll­kom­me­nen zeit­li­chen Imma­nenz­ver­hal­ten sich doch auch die Aner­ken­nung der die spe­zi­fi­sche Lage defi­nie­ren­den Gren­zen offenbart.
(Pierre Bour­dieu – Die fei­nen Unterschiede)

In der Regio­nal­bahn, eine wah­re Bege­ben­heit. Zwei älte­re Her­ren betre­ten den Dop­pel­stock­wa­gen und suchen sich einen Sitz­platz im obe­ren Bereich:

#1: Das sind doch schö­ne Plät­ze. Ich mag es hier oben.

#2: Aber du weißt: Wenn man erst ein­mal oben ist …

#1: … will man nicht wie­der runter?

#2: Das auch. Vor allem aber will man immer höher. Wie Schil­ler schon sag­te: »Stre­ben wir nicht all­zu hoch hin­auf, daß wir zu tief nicht fal­len mögen«.

#1: Nun, das ist eben Risi­ko. Ich glau­be, risi­ko­be­wuss­te Men­schen sit­zen oben, anstatt unten in der Mas­se unterzugehen.

#2: Aber man braucht die da unten, um sich hier oben bes­ser füh­len zu können.

PAU­SE

#1: Ich mag die Aus­sicht hier oben. Man sieht so weit. Unten sieht man nur Büsche.

#2: Man sieht viel­leicht mehr, aber sieht man auch besser?

#1: Ich den­ke schon. Man kann ande­ren bes­ser hel­fen, wenn man oben ist. Man hat mehr Mög­lich­kei­ten und einen bes­se­ren Überblick.

#2: Da habe ich ande­re Erfah­run­gen: Oben sieht man über alles hin­weg. Solan­ge die von unten nicht nach oben kom­men, nimmt man sie nicht wahr.

#1: Da hast du Recht. Aber es scheint, die haben sich mit ihrem Platz da unten abgefunden.

#2: Viel­leicht weil sie noch nie oben waren.

#1: Das kann sein.

Fazit: So ein­fach kann man die Gesell­schaft grob zusam­men­fas­sen. Wäh­rend ges­tern noch vom so genann­ten Fahr­stuhl­ef­fekt gespro­chen wur­de, kommt es nun durch Auf­lö­sung der Mit­tel­schicht zur Doppelstockwagen-Gesellschaft.