Art is that thing having to do only with its­elf – the pro­duct of a suc­cessful attempt to make a work of art. Unfort­u­na­te­ly, the­re are no examp­les of art, nor good reasons to think that it will ever exist. (Ever­y­thing that has been made has been made with a pur­po­se, ever­y­thing with an end that exists out­side that thing, i.e., ›I want to sell this‹, or ›I want this to make me famous and loved‹, or ›I want this to make me who­le‹, or worse, ›I want this to make others who­le‹.) And yet we con­ti­nue to wri­te, paint, sculpt, and com­po­se. Is this foo­lish of us?
(Jona­than Safran Foer – Ever­y­thing is Illuminated)

Wünschst du dir nicht auch manch­mal, du fän­dest eine Insel? Wenn du dich schla­fen legst und das nicht kannst, wenn du durch Stra­ßen einer Groß­stadt gehst, wenn du in frem­de Augen blickst, dann tust du es viel­leicht. Ein Ort, der nir­gend­wo ver­zeich­net ist, ein Platz fern­ab vom trau­ri­gen Gewühl, ein Unter­schlupf, der dich mit Kraft ver­sorgt, mit Glück und Mut und Eupho­rie, ja ein Idyll, das nur für dich dein Eden ist. Suchst du das auch?
In all dem Cha­os die­ser Welt, da fand ich eine Insel. Wenn­gleich sie kei­nen Gold­schatz birgt, so über­trifft sie doch an Reich­tum alles ande­re auf die­ser Welt. Ein Eiland fand ich und erkor es mir zum Para­dies. Nichts hat je so gro­ßen Wert gehabt wie die­ses klei­ne Stück­chen Land; weder König­rei­che, Staa­ten noch die größ­ten Dynas­tien besa­ßen jemals so viel Ein­fluss wie die­ser unschein­ba­re Fleck. Als eine Art Schiff­brü­chi­ger bin ich durch puren Zufall hier gestran­det, doch für nichts auf die­ser Erde gin­ge ich hier jemals wie­der fort.
Es wird nach mir gesucht wer­den, denn man wird mich ret­ten wol­len, fürch­te ich, doch mei­ne Ret­tung habe ich bereits gefun­den, sie liegt hier und nir­gends sonst. Man wird mich für ver­lo­ren erklä­ren und nie erfah­ren, wie falsch man doch in Wahr­heit liegt, denn alles, was es sich zu fin­den lohn­te, fin­de ich allei­ne hier. Kraft einer glück­li­chen Strö­mung setz­te ich einen Fuß auf die­sen Strand. Was ich hier fand, das ist ein Eiland weit, allein im Meer, das ich zu mei­ner Hei­mat nahm, weil eine bes­se­re die Welt mir nie­mals bie­ten kann. Was ich hier fand, bedeu­tet für mich alles, wofür es sich zu leben lohnt.
Ist es Iso­la­ti­on, mich nun an die­sen Ort zurück­zu­zie­hen? Viel­leicht ver­schlie­ße ich die Augen vor dem Rest der Welt, doch hier erst wuch­sen mir die Augen, dank derer mir die Welt beach­tens­wert erscheint. Hier erst neh­me ich die Far­ben wahr, in denen schil­lernd alles strahlt, wäh­rend sich doch mei­ne Umwelt vor­mals oft genug in Grau ertrank. Es ist kei­ne Flucht, kein Eska­pis­mus, wie manch Zyni­ker viel­leicht behaup­ten mag, wenn ich mich auf die­ser Insel nun häus­lich ein­rich­te. Sie gibt mir jene Kraft, der Welt mit offe­nen Augen ent­ge­gen­tre­ten zu kön­nen, sie aus­zu­hal­ten, so wie sie ist. Sie kann einen nicht län­ger erschüt­tern, nicht mehr bedrän­gen, sie kann einen nie wie­der aus der Bahn wer­fen, jene Welt, wenn man die­ses Eiland erst ein­mal für sich gefun­den hat, das allen Gewal­ten so stand­haft trotzt.
Kei­ne Legen­den und kei­ne Erzäh­lun­gen ver­mö­gen die Ein­zig­ar­tig­keit die­ses wun­der­ba­ren Ortes ange­mes­sen zu beschrei­ben, er ist undenk- und nicht mal vor­stell­bar, solan­ge man nicht selbst sein Leben hier ver­bringt. All jene Belang­lo­sig­kei­ten, nach denen ein Mensch im Lau­fe sei­nes Lebens strebt, ver­lie­ren voll­ends an Bedeu­tung, wenn man die Wun­der die­ser Insel kennt, all ihre Schön­heit, wenn man Fuß auf sie gesetzt, sie bloß ein­mal betre­ten hat. Es gibt hier alles, was ein Mensch zum Über­le­ben braucht, zum Leben gar, nicht bloß zum Existieren.
Was ich hier fand, ist eine Insel jen­seits aller Schiff­fahrts­rou­ten. Ein Stück der Welt, das kei­ne Kar­te offen­bart, weil sich das Land hier nicht ver­mes­sen lässt. Ein Platz, der kei­ne Gren­zen kennt, der kei­ne Mau­ern hat und kei­ne Grä­ben zieht, der blin­de Orts­kennt­nis ver­langt und an zwei Tagen nie der glei­che ist. Ein Land so weit von aller Zivi­li­sa­ti­on. Kei­ne Armeen, kei­ne Legio­nen, kei­ne Heer­scha­ren die­ser Welt, wie groß und mäch­tig sie auch sein mögen, wer­den im Stan­de sein, auf die­ser Insel jemals ein­zu­fal­len und damit alles zu zer­stö­ren. Sie haben es ver­sucht und sie sind jedes Mal geschei­tert. Wäh­rend die größ­ten Rei­che unter­ge­hen, hat die­ses Eiland hier bestand. Auf die­ser Insel lebt, was all­seits sonst bereits im Ster­ben liegt. Hier wächst, was auf dem Rest der Welt verdorrt.
Ent­ge­gen einer kal­ten Welt, die mehr und mehr in Arg­wohn zu ver­sin­ken droht, ist die­ses Eiland hier ein Ort der Wär­me und des völ­li­gen Ver­trau­ens. Immer und immer wie­der gelingt es den Eigen­ar­ten die­ser Insel, mir ein herz­li­ches Lächeln ins Gesicht zu zeich­nen, und noch in den dun­kels­ten Stun­den der Trau­er fin­de ich hier etwas, das mich die gan­ze Welt umar­men, das sie lie­bens­wert erschei­nen lässt. Alles, was es wert ist, gewusst zu wer­den, habe ich hier gelernt und ler­ne ich hier noch heu­te. Es gibt Din­ge, die so wun­der­voll beschaf­fen sind, dass man gar nicht mehr bemerkt, wie man lau­fend älter wird und eines Tages ster­ben muss, die sogar so uner­hört bezau­bernd sind, dass man ent­ge­gen aller land­läu­fi­gen Furcht das Älter­wer­den und sogar das Ster­ben als etwas Gutes betrach­tet, als Voll­endung sei­nes Lebens, weil man rund­um glück­lich ist.
Nichts auf die­ser Welt ist es wert, hier jemals wie­der fort­zu­ge­hen, weil kei­ner, der sie je betrat, ver­ges­sen kann, was die­se Insel einem offe­riert. Was ich bis­her mein Leben genannt habe, die­ses Dasein, die­se blo­ße Exis­tenz, wur­de erst zu einem Leben, als ich die­sen Ort hier fand. Mein Eiland, das bist du.

Man braucht nur eine Insel
allein im wei­ten Meer.
Man braucht nur einen Menschen,
den aber braucht man sehr.
(Mascha Kaléko)

Mr. Black said, „I once went to report on a vil­la­ge in Rus­sia, a com­mu­ni­ty of artists who were forced to flee the cities! I’d heard that pain­tings hung ever­y­whe­re! I heard you could­n’t see the walls through all of the pain­tings! They’d pain­ted the cei­lings, the pla­tes, the win­dows, the lamp­sha­des! Was it an act of rebel­li­on! An act of expres­si­on! Were the pain­tings good, or was that bes­i­de the point! I nee­ded to see it for mys­elf, and I nee­ded to tell the world about it! I used to live for report­ing like that! Sta­lin found out about the com­mu­ni­ty and sent his thugs in, just a few days befo­re I got the­re, to break all of their arms! That was worse than kil­ling them! It was a hor­ri­ble sight, Oskar: their arms in cru­de splints, straight in front of them like zom­bies! They could­n’t feed them­sel­ves, becau­se they could­n’t get their hands to their mouths! So you know what they did!“ „They star­ved?“ „They fed each other! That’s the dif­fe­rence bet­ween hea­ven and hell! In hell we star­ve! In hea­ven we feed each other!“ „I don’t belie­ve in the after­li­fe.“ „Neither do I, but I belie­ve in the story!“
(Jona­than Safran Foer – Extre­me­ly Loud & Incre­di­bly Close)

Let me tell you a sto­ry, the Dial went on. The house that your gre­at-gre­at-gre­at-grand­mo­ther and I moved into when we first beca­me mar­ried loo­ked out onto the small falls (…). It had wood flo­ors, long win­dows, and enough room for a lar­ge fami­ly. It was a hand­so­me house. A good house.
But the water, your gre­at-gre­at-gre­at-grand­mo­ther said, I can’t hear mys­elf think.
Time, I urged her. Give it time.
And let me tell you, while the house was unre­ason­ab­ly humid, and the front lawn per­pe­tu­al mud from all the spray, while the walls nee­ded to be repa­pe­red every six months, and chips of paint fell from the cei­ling like snow for all sea­sons, what they say about peo­p­le who live next to water­falls is true.
What
, my grand­fa­ther asked, do they say?
They say that peo­p­le who live next to water­falls don’t hear the water.
They say that?
They do. Of cour­se, your gre­at-gre­at-gre­at-grand­mo­ther was right. It was ter­ri­ble at first. We could­n’t stand to be in the house for more than a few hours at a time. The first two weeks were fil­led with nights of inter­mit­tent sleep and quar­re­ling for the sake of being heard over the water. We fought so much just to remind our­sel­ves that we were in love, and not in hate.
But the next weeks were a litt­le bet­ter. It was pos­si­ble to sleep a few good hours each night and eat in only mild dis­com­fort. Your gre­at-gre­at-gre­at-grand­mo­ther still cur­sed the water (who­se per­so­ni­fi­ca­ti­on had beco­me ana­to­mic­al­ly refi­ned), but less fre­quent­ly, and with less fury. Her attacks on me also quie­ted. It’s your fault, she would say. You wan­ted to live here.
Life con­tin­ued, as life con­ti­nues, and time pas­sed, as time pas­ses, and after a litt­le more than two months: Do you hear that? I asked her on one of the rare mor­nings we sat at the table tog­e­ther. Hear it? I put down my cof­fee and rose from my chair. You hear that thing?
What thing? she asked.
Exact­ly! I said, run­ning out­side to pump my fist at the water­fall. Exactly!
We danced, thro­wing handfuls of water in the air, hea­ring not­hing at all. We alter­na­ted hugs of for­gi­ve­ness and shouts of human tri­umph at the water. Who wins the day? Who wins the day, water­fall? We do! We do!
And this is what living next to a water­fall is like, Safran. Every widow wakes one mor­ning, per­haps after years of pure and unwa­ve­ring grie­ving, to rea­li­ze she slept a good night’s sleep, and will be able to eat break­fast, and does­n’t hear her husband’s ghost all the time, but only some of the time. Her grief is repla­ced with a useful sad­ness. Every parent who loses a child finds a way to laugh again. The tim­bre beg­ins to fade. The edge dulls. The hurt les­sens. Every love is car­ved from loss. Mine was. Yours is. Your great-great-great-grandchildren’s will be. But we learn to live in that love.

(Jona­than Safran Foer – Ever­y­thing is Illuminated)

Unser All­tag wird von Zufäl­len bom­bar­diert, genau­er gesagt, von zufäl­li­gen Begeg­nun­gen zwi­schen Men­schen und Ereig­nis­sen, die man Koin­zi­den­zen nennt. Man spricht von Ko-inzi­denz, wenn zwei uner­war­te­te Ereig­nis­se gleich­zei­tig statt­fin­den, wenn sie auf­ein­an­der­tref­fen: Tomas taucht in dem Moment im Lokal auf, als im Radio Beet­ho­ven gesen­det wird. Sol­che Koin­zi­den­zen sind so häu­fig, daß man sie oft nicht wahr­nimmt. Hät­te der Metz­ger von neben­an am Wirts­haus­tisch geses­sen und nicht Tomas, so wäre Tere­sa nicht auf­ge­fal­len, daß im Radio Beet­ho­ven gespielt wur­de (obwohl die Begeg­nung zwi­schen Beet­ho­ven und einem Metz­ger auch eine inter­es­san­te Koin­zi­denz ist). Aber die kei­men­de Lie­be hat in Tere­sa den Sinn für das Schö­ne geschärft, und sie wird die­se Musik nie ver­ges­sen. Jedes­mal, wenn sie sie hören wird, wird sie ergrif­fen sein. Alles, was in die­sem Augen­blick um sie her­um vor sich gehen wird, wird ihr im Glanz die­ser Musik erschei­nen und schön sein.
Am Anfang jenes Romans, den sie unter dem Arm trug, als sie zu Tomas kam, begeg­nen sich Anna und Wron­ski unter eigen­ar­ti­gen Umstän­den. Sie ste­hen auf einem Bahn­steig, wo gera­de jemand unter den Zug gefal­len ist. Am Ende des Romans stürzt sich Anna unter den Zug. Die­se sym­me­tri­sche Kom­po­si­ti­on, in der das­sel­be Motiv am Anfang und am Ende erscheint, mag Ihnen sehr ›roman­haft‹ vor­kom­men. Ja, ich gebe es zu, aber nur unter der Vor­aus­set­zung, daß Sie das Wort ›roman­haft‹ auf kei­nen Fall ver­ste­hen als ›erfun­den‹, ›künst­lich‹ oder ›lebens­fremd‹. Denn genau­so ist das mensch­li­che Leben komponiert.
Es ist kom­po­niert wie ein Musik­stück. Der Mensch, der vom Schön­heits­sinn gelei­tet ist, ver­wan­delt ein zufäl­li­ges Ereig­nis (eine Musik von Beet­ho­ven, einen Tod auf einem Bahn­hof) in ein Motiv, das er der Par­ti­tur sei­nes Lebens ein­be­schreibt. Er nimmt es wie­der auf, wie­der­holt es, vari­iert und ent­wi­ckelt es wei­ter, wie ein Kom­po­nist die The­men sei­ner Sona­te trans­po­niert. Anna hät­te sich das Leben auch anders neh­men kön­nen. Doch das Motiv von Bahn­hof und Tod, die­ses unver­geß­li­che, mit der Geburt ihrer Lie­be ver­bun­de­ne Motiv, zog sie im Moment der Ver­zweif­lung durch sei­ne dunk­le Schön­heit an. Ohne es zu wis­sen, kom­po­niert der Mensch sein Leben nach den Geset­zen der Schön­heit, sogar in Momen­ten tiefs­ter Hoffnungslosigkeit.
Man kann dem Roman also nicht vor­wer­fen, vom geheim­nis­vol­len Zusam­men­tref­fen der Zufäl­le fas­zi­niert zu sein (wie etwa dem Zusam­men­tref­fen von Wron­ski, Anna, Bahn­steig und Tod oder dem Zusam­men­tref­fen von Beet­ho­ven, Tomas, Tere­sa und Cognac), dem Men­schen aber kann man zu Recht vor­wer­fen, daß er im All­tag sol­chen Zufäl­len gegen­über blind sei und dem Leben so die Dimen­si­on der Schön­heit nehme.
(Milan Kun­de­ra – Die uner­träg­li­che Leich­tig­keit des Seins)

Es gibt kaum etwas, das so schwer zu fin­den und so leicht wie­der zu ver­lie­ren ist wie Glück. In ihrem Leben ist Glück schon immer eine Sel­ten­heit gewe­sen und sie litt unter den Man­gel­er­schei­nun­gen, die die­ses Defi­zit an Glück in ihr bewirk­te. Sie war als Halb­wai­se auf­ge­wach­sen, allein mit ihrem Vater, da ihre Mut­ter kurz nach der Geburt gestor­ben war. Ihre nicht all­zu unbe­schwer­te Kind­heit war von ste­ti­ger Ent­beh­rung geprägt, unter deren alles über­schat­ten­dem Ein­fluss nicht nur ihre per­sön­li­che Ver­fas­sung, son­dern auch ihre schu­li­schen Leis­tun­gen haben lei­den müs­sen, also hat sie die Schu­le ver­las­sen, sobald die­se Mög­lich­keit in Sicht­wei­te gera­ten war, um Geld zu ver­die­nen für das, was sie Fami­lie nann­te. Ihr Ein­kom­men reich­te kaum zum Über­le­ben. Sie hat­te eine Arbeit, denn sie han­gel­te sich von Aus­hilfs­tä­tig­keit zu Aus­hilfs­tä­tig­keit, doch war die­ser Job nicht mehr als eine Über­gangs­lö­sung, ein schlecht bezahl­ter Lücken­fül­ler für Men­schen ohne Qua­li­fi­ka­ti­on, den sie, des­sen war sie sich bewusst, recht bald wie­der ver­lie­ren würde.

Zwar hat­ten ihre Eltern eini­ge Erspar­nis­se ange­sam­melt, die ihr Vater nun mehr schlecht als recht ver­wal­te­te, doch wur­den die­se klei­nen finan­zi­el­len Reser­ven haupt­säch­lich dadurch auf­ge­zehrt, die monat­li­chen Rech­nun­gen zu beglei­chen und das in die Jah­re gekom­me­ne Haus irgend­wie instand zu hal­ten, in wel­chem sie mit ihrem Vater wohn­te und in dem schon ihre Ur-Groß­el­tern vor ihr gewohnt hat­ten. Die­ses Fami­li­en­erb- und Bruch­stück trieb sie in den schlei­chen­den Ruin und so hat­te sie in der Ver­gan­gen­heit beacht­li­che Schul­den ange­häuft, die sie nicht mehr wür­de beglei­chen kön­nen, wenn das Erspar­te ein­mal auf­ge­braucht wäre. Zu ihren mate­ri­el­len Sor­gen gesell­ten sich zudem auch zwi­schen­mensch­li­che Wir­run­gen. Wäh­rend ihr Vater zunächst sie gepflegt und auf­ge­zo­gen hat­te, war es nun an ihr, ihren alters­schwa­chen Vater zu ver­sor­gen. Sie hat­ten kein beson­ders gutes Ver­hält­nis zuein­an­der, denn er schien von ihr ent­täuscht zu sein und ließ sie das jeden Tag deut­lich spü­ren, doch war er immer noch ihr Vater und sie fühl­te sich für ihn verantwortlich.

Auch ihr Bezie­hungs­le­ben konn­te sie nicht glück­lich machen. Traf sie ein­mal einen Mann, auf den es sich in ihren Augen ein­zu­las­sen lohn­te, was in ihrem Leben wirk­lich sel­ten geschah, dann waren all die­se Bezie­hun­gen doch nie von all­zu lan­ger Dau­er und lie­ßen sie in einem emo­tio­na­len Trüm­mer­hau­fen zurück, wenn sie schließ­lich wie ein Kar­ten­haus zer­fie­len. Kein eines Mal in ihrem Leben hat­te sie je so etwas wie völ­li­ge Zufrie­den­heit erlebt. Zwar hat­te sie ab und an das so genann­te Glück gefun­den, doch ver­ging es stets so schnell wie es gekom­men war. Falls sich tat­säch­lich so etwas wie Hoff­nung vor ihrer Nase befand, so konn­te sie es jeden­falls nicht sehen. Kurz gesagt, ihr Leben war eine Groß­bau­stel­le, deren Archi­tekt ein Zyni­ker und deren Vor­ar­bei­ter ein hoff­nungs­lo­ser Unglücks­ra­be war.

Als sie zu einem ihrer vie­len Bewer­bungs­ge­sprä­che ging, zu einem Vor­stel­lungs­ter­min in einem anony­men Glas­pa­last, bei dem sie wie­der ein­mal abge­lehnt wur­de, traf sie einen auf­ge­weck­ten jun­gen Mann. Bei­de teil­ten das glei­che Schick­sal, zumin­dest in Hin­blick auf die ent­täusch­te Hoff­nung, die die­ses Bewer­bungs­ge­spräch ihnen ein­ge­pflanzt hat­te, und bei­de führ­ten sie ein Leben, mit dem sie nicht zufrie­den sein konn­ten, selbst wenn sie es gewollt hät­ten. Anstatt nach Hau­se zu fah­ren, wo nichts auf sie gewar­tet hät­te außer ihrem miss­ge­laun­ten Vater, setz­te sie sich gemein­sam mit die­sem Mann in ein Café, bestell­te Kuchen, den sie sich nicht leis­ten konn­te, und ver­brach­te den gesam­ten Nach­mit­tag mit ange­reg­ter Unter­hal­tung, mit Lachen und gar mit so etwas wie Eupho­rie. Die Zeit ver­ging, als ob sie es nicht bes­ser wüsste.

Spät am Abend stand sie vor der Wahl, den Tag mit die­ser kur­zen Epi­so­de der Freu­de zu been­den oder aber auf sein Ange­bot ein­zu­ge­hen, denn er hat­te sie char­mant in sei­ne Woh­nung ein­ge­la­den. Schließ­lich ver­brach­te sie die Nacht mit die­sem Mann. Er war nicht ihre gro­ße Lie­be, dar­über mach­te sie sich kei­ne Illu­sio­nen, doch zum ers­ten Mal seit lan­ger Zeit fühl­te sie sich wie­der glück­lich. Es war nicht bloß ein bei­läu­fi­ges Glücks­ge­fühl, wie sie es ab und an ein­mal erleb­te, son­dern völ­lig und unbe­dingt in sei­ner Art. Ihr Glück ver­dräng­te jedes ande­re Gefühl in ihr, all die Sor­gen und Ängs­te, deren schwe­res Gewicht sie stän­dig mit sich her­um­zu­tra­gen hat­te, das sie her­un­ter­zog und an den Boden presste.

Als sie am nächs­ten Mor­gen nach Hau­se kam, tanz­te sie ganz unbe­schwert her­um, schweb­te lächelnd durch die Räu­me und summ­te lei­se vor sich hin, wäh­rend ihr Vater, der all das über­rascht zur Kennt­nis nahm, sie bloß jäh und rup­pig anblaff­te, ob sie denn dies­mal end­lich einen ernst­zu­neh­men­den Arbeits­platz gefun­den hät­te. Sie aber woll­te das nicht hören, sie moch­te in die­sem Augen­blick von alle­dem nichts wis­sen, denn sie war glück­lich und sie woll­te die­ses zer­brech­li­che Glück nicht wie­der zer­fal­len sehen. Sie woll­te die­sen glück­li­chen Moment so lan­ge kon­ser­vie­ren wie irgend mög­lich. Sie blick­te auf die Fotos frü­he­rer Tage, die in die­sem Haus an den Wän­den hin­gen, fest­ge­hal­te­ne Erin­ne­run­gen an eine trau­ri­ge Ver­gan­gen­heit. „Du wirst glück­lich sein“, sprach sie sanft zu einem die­ser Bil­der, zu die­ser unglück­li­chen jun­gen Frau, die bis­lang so wenig Hoff­nung für sich gese­hen hat­te. Dann schritt sie fröh­lich in das Arbeits­zim­mer ihres Vaters, öff­ne­te eine Schreib­tisch­schub­la­de, griff hin­ein, nahm die gela­de­ne Pis­to­le her­aus, die ihr Vater dar­in auf­be­wahr­te, steck­te sich den Lauf in den Mund und drück­te ab.

I love you also means I love you more than anyo­ne loves you, or has loved you, or will love you, and also, I love you in a way that no one loves you, or has loved you, or will love you, and also, I love you in a way that I love no one else, and never have loved anyo­ne else, and never will love anyo­ne else.
(Jona­than Safran Foer – Ever­y­thing is Illuminated)

She never said no and never said yes, but pul­led, sla­cke­ned, pul­led her strings of control.
Pull: ›What would be nicest‹, she would say, ›is if I had a tall glass of iced tea‹. What hap­pen­ed next: the men raced to get one for her. The first to return might get a peck on the fore­head (sla­cken), or (pull) a pro­mi­sed walk (to be gran­ted at a later date), or (sla­cken) a simp­le ›Thank you, good­bye‹. She main­tai­ned a careful balan­ce by her win­dow, never allo­wing the men to come too clo­se, never allo­wing them to stray too far. She nee­ded them despera­te­ly, not only for the favors, not only for the things that they could get for Yan­kel and her that Yan­kel could­n’t afford, but becau­se they were a few more fin­gers to plug the dike that held back what she knew to be true: she did­n’t love life. The­re was no con­vin­cing reason to live.
(Jona­than Safran Foer – Ever­y­thing is Illuminated)

Alle aus dem Latei­ni­schen her­vor­ge­gan­ge­nen Spra­chen bil­den das Wort Mit­ge­fühl aus der Vor­sil­be com- und dem Wort, das ursprüng­lich ›Lei­den‹ bedeu­te­te: pas­sio. Ande­re Spra­chen, so das Tsche­chi­sche, das Pol­ni­sche und das Schwe­di­sche, drü­cken die­sen Begriff durch ein Sub­stan­tiv aus, das aus der Vor­sil­be Mit- und dem Wort ›Gefühl‹ besteht (tsche­chisch sou-cit, pol­nisch wspol-uczu­cie, schwe­disch med-känsla).
In den aus dem Latei­ni­schen her­vor­ge­gan­ge­nen Spra­chen bedeu­tet das Wort com­pas­sio: wir kön­nen nicht herz­los den Lei­den eines ande­ren zuschau­en; oder: wir neh­men Anteil am Leid des ande­ren. Aus einem ande­ren Wort mit unge­fähr der­sel­ben Bedeu­tung (fran­zö­sisch pitié, eng­lisch pity, ita­lie­nisch pie­tà usw.) schwingt sogar unter­schwel­lig so etwas wie Nach­sicht dem Lei­den­den gegen­über mit: »Avoir de la pitié pour une femme« heißt, daß wir bes­ser dran sind als die­se Frau, uns zu ihr hin­ab­nei­gen, uns herablassen.
Aus die­sem Grund erweckt das Wort Mit­leid Miß­trau­en: es bezeich­net ein schlech­tes Gefühl, das als zweit­ran­gig emp­fun­den wird und nicht viel mit Lie­be zu tun hat. Jeman­den aus Mit­leid zu lie­ben heißt, ihn nicht wirk­lich zu lieben.
In den Spra­chen, die das Wort nicht aus der Wur­zel ›Lei­den‹, son­dern aus dem Sub­stan­tiv ›Gefühl‹ bil­den, wird es unge­fähr in dem­sel­ben Sinn gebraucht; man kann aber nicht behaup­ten, es bezeich­ne ein zweit­ran­gi­ges, schlech­tes Gefühl. Die gehei­me Macht sei­ner Ety­mo­lo­gie läßt das Wort in einem ande­ren Licht erschei­nen, gibt ihm eine umfas­sen­de­re Bedeu­tung: Mit-Gefühl haben bedeu­tet, das Unglück des ande­ren mit­zu­er­le­ben, genau­so­gut aber jedes ande­re Gefühl mit­emp­fin­den zu kön­nen: Freu­de, Angst, Glück und Schmerz. Die­ses Mit­ge­fühl (im Sin­ne von sou­cit, wspo­luc­zu­cie, med­käns­la) bezeich­net also den höchs­ten Grad der gefühls­mä­ßi­gen Vor­stel­lungs­kraft, die Kunst der Gefühls­te­le­pa­thie; in der Hier­ar­chie der Gefüh­le ist es das höchs­te aller Gefühle.
(Milan Kun­de­ra – Die uner­träg­li­che Leich­tig­keit des Seins)

Vie­le erken­nen sich selbst, nur weni­ge kom­men dazu, sich auch selbst anzu­neh­men. Wie­viel Selbst­er­kennt­nis erschöpft sich dar­in, den andern mit einer noch etwas prä­zi­se­ren und genaue­ren Beschrei­bung unse­rer Schwä­chen zuvor­zu­kom­men, also in Koket­te­rie! Aber auch die ech­te Selbst­er­kennt­nis, die eher stumm bleibt und sich wesent­lich nur im Ver­hal­ten aus­drückt, genügt noch nicht, sie ist ein ers­ter, zwar uner­läß­li­cher und müh­sa­mer, aber kei­nes­wegs hin­rei­chen­der Schritt. Selbst­er­kennt­nis als lebens­läng­li­che Melan­cho­lie, als geist­rei­cher Umgang mit unse­rer frü­he­ren Resi­gna­ti­on ist sehr häu­fig, und Men­schen die­ser Art sind für uns zuwei­len die net­tes­ten Tisch­ge­nos­sen; aber was ist es für sie? Sie sind aus einer fal­schen Rol­le aus­ge­tre­ten, und das ist schon etwas, gewiß, aber es führt sie noch nicht ins Leben zurück… Daß die Selbst­an­nah­me mit dem Alter von sel­ber kom­me, ist nicht wahr. Dem Älte­ren erschei­nen die frü­he­ren Zie­le zwar frag­wür­di­ger, das Lächeln über unse­ren jugend­li­chen Ehr­geiz wird leich­ter, bil­li­ger, schmerz­lo­ser; doch ist damit noch kei­ner­lei Selbst­an­nah­me geleis­tet. In gewis­ser Hin­sicht wird es mit dem Alter sogar schwie­ri­ger. Immer mehr Leu­te, zu denen wir in Bewun­de­rung empor­schau­en, sind jün­ger als wir, unse­re Frist wird kür­zer und kür­zer, eine Resi­gna­ti­on immer leich­ter in Anbe­tracht einer doch ehren­vol­len Kar­rie­re, noch leich­ter für jene, die über­haupt kei­ne Kar­rie­re mach­ten und sich mit der Arg­list der Umwelt trös­ten, sich abfin­den kön­nen als ver­kann­te Genies… Es braucht die höchs­te Lebens­kraft, um sich selbst anzu­neh­men… In der For­de­rung, man sol­le sei­nen Nächs­ten lie­ben wie sich selbst, ist es als Selbst­ver­ständ­lich­keit ent­hal­ten, daß einer sich selbst lie­be, sich selbst annimmt, so wie er (…) ist. Allein auch mit der Selbst­an­nah­me ist es noch nicht getan! Solan­ge ich die Umwelt über­zeu­gen will, daß ich nie­mand anders als ich selbst bin, habe ich not­wen­di­ger­wei­se Angst vor Miß­deu­tung, blei­be ihr Gefan­ge­ner kraft die­ser Angst…
(Max Frisch – Stiller)