Here was a man who, if he wanted, could spend every waking moment in self-pity, feeling his body for decay, counting his breaths. So many people with far smaller problems are so self-absorbed, their eyes glaze over if you speak for more than thirty seconds. They already have something else in mind – a friend to call, a fax to send, a lover they’re daydreaming about. They only snap back to full attention when you finish talking, at which point they say „Uh-huh“ or „Yeah, really“ and fake their way back to the moment. (…) We are great at small talk: „What do you do?“ „Where do you live?“ But really listening to someone – without trying to sell them something, pick them up, recruit them, or get some kind of status in return – how often do we get this anymore? I believe many visitors in the last few months of Morrie’s life were drawn not because of the attention they wanted to pay to him but because of the attention he paid to them. Despite his personal pain and decay, this little old man listened the way they always wanted someone to listen.
(Mitch Albom – Tuesdays with Morrie)
Selten unternehme ich etwas mit mehr als drei Menschen auf einmal. Vielleicht mag das unsozial erscheinen, doch für mich ist es genau das Gegenteil. Ich meide Massenveranstaltungen und bleibe Treffen fern, wenn absehbar ist, dass am Ende mehr Menschen anwesend sein werden als ich für angenehm befinde. Das liegt vor allem daran, dass jedes Treffen von mehr als vier Personen für mich schon eine Gruppe darstellt und ich Gruppen nicht besonders leiden kann – besonders dann nicht, wenn darunter Menschen sind, die ich mag.
Je mehr von ihnen ich mag oder je mehr ich einzelne darunter mag, desto weniger möchte ich sie zeitgleich mit anderen in eine Gruppe stecken. Es ist nicht unbedingt so, dass ich mich in einer Gruppe unwohl fühle, denn oft verspricht eine Gruppe und ihre spezielle Dynamik großen Spaß, doch ist es der Mangel an Nähe und Exklusivität, der mich Gruppen in der Regel eher meiden lässt. Es geht mir hierbei nicht um Nähe und Exklusivität, die ich von anderen erwarten, einfordern oder gar verlangen würde, sondern um Nähe und Exklusivität, die ich selbst gerne denjenigen Menschen zukommen lassen möchte, die ich mag. Ich möchte meine Aufmerksamkeit gegenüber diesen Menschen nicht hin und her springen lassen müssen, will mein Interesse nicht spalten und meine Gedanken nicht hetzen, sondern will mich auf ein Gegenüber konzentrieren und für diese eine Person in diesem Augenblick voll und ganz da sein, einzig und allein, absolut und ungeteilt.
Einmal saß ich mit fünfzehn weiteren Personen zum Abendessen an einem langen Tisch und feierte den Geburtstag einer Freundin – nur eine von vielen Situationen, die aber exemplarisch ist für das, was ich zum Ausdruck bringen möchte. Links von mir konnte ich Gespräche verfolgen, rechts von mir konnte ich Gespräche verfolgen, und ich selbst unterhielt mich mit meinen Nachbarn über dieses und über jenes.
Es war, wie es immer ist, wenn eine größere Anzahl von Menschen aufeinandertrifft: Man steigt aus Gesprächen aus und in andere ein, man wechselt den Gesprächspartner, wenn es langweilig zu werden droht, man teilt die Aufmerksamkeit. Man rast hin und her, zumindest in Gedanken, man verliert Fokus und Konzentration, man fragmentiert die Anteilnahme. Alle Unterhaltungen sind gleich, indem sie unpersönlich bleiben: Man begnügt sich mit Smalltalk.
Je mehr Menschen sich zusammenfinden, umso größer die Wahrscheinlichkeit ungleicher Freundschaftsbeziehungen. Wenn wie in diesem Beispiel sechszehn Personen an einem Tisch sitzen, ist es recht unwahrscheinlich, dass alle diese Personen das gleiche Freundschafts- und Vertrauensverhältnis teilen oder allesamt untereinander beste Freunde sind. Vielleicht sind einige sich völlig fremd und noch nicht einmal sympathisch. In derlei Konstellationen unterhält man sich notgedrungen nicht über allzu Persönliches, weil Ohren anwesend sind, die es vermutlich nichts angeht. Was man dem besten Freund oder der Freundin erzählt, das teilt man hier nicht allen mit. Der Ausweg ist das oberflächliche Gespräch oder das seichte Amüsement. Beides gibt mir nichts, mit beidem kann ich nichts anfangen, beides ist für mich sozial ungenügend.
Das seichte Amüsement in der Gruppe, der oberflächliche Spaß, das unbeschwerte Lachen für Zwischendurch, wenn tiefe Gespräche nicht zur Debatte stehen und große Nähe nicht in Frage kommt, ist in jenen Momenten, in denen es stattfindet, für mich so schön wie für jeden anderen Beteiligten auch, doch nehme ich daraus nichts mit. Ich habe mit Leuten eine schöne Zeit, ja, mit Freunden gar, doch wenn ich dann nach Hause komme, bleibt in mir ein unbefriedigendes Gefühl zurück, der Wunsch nach mehr – nicht an Quantität, sondern an Qualität.
Es kommt mir wie Verschwendung vor, wenn da jemand ist, mit dem ich gerne in die Tiefe abtauchen würde, aber es nicht kann, weil wir in einer Gruppe gefangen sind, die auf der Oberfläche des größten gemeinsamen Teilers treibt. Es erscheint mir wie Vergeudung von Freundschaft, bloß Spaß mit ihnen zu haben. Entscheidend ist das »bloß«. Nicht: Spaß mit ihnen zu haben, sondern: bloß Spaß mit ihnen zu haben. Die Reduktion auf eine Dimension, wo doch so viele sind, wo doch so viele sein sollten. Auf die Spitze getrieben: Für Spaß allein, da reichen schon Bekannte, ja sicherlich schon Unbekannte, denn es steckt Unverbindlichkeit und Austauschbarkeit darin. Die oberflächliche „gute Zeit“, der spaßige Abend, die kurzweilige Unterhaltung verhält sich zur wirklichen guten Zeit wie die Prostituierte zur großen Liebe, da diese „gute Zeit“ so einfach, so beliebig, so aufwandslos zu haben ist, während die echte gute Zeit, die nicht in Anführungszeichen steht, für mich ganz andere Qualitäten hat, die Nähe, Offenheit und Exklusivität vereint.
Auf der anderen Seite bleibt als Möglichkeit nur das oberflächliche Gespräch, das sich am Level des Freundschaftsverhältnisses orientiert, den die gesamte Gruppe gemein hat und der folglich meist recht klein ist. Es mündet letztlich in Smalltalk. Was jemand macht, was er am Tag gegessen hat, welche Möbel er erwarb, wie viel Geld er verdient oder welches Auto er fährt, das alles interessiert mich nicht. Ich stelle diese Fragen nicht, weil mich die Antworten nicht kümmern. Gespräche dieser Art belästigen mich nicht, doch halte ich mich dann zurück und gebe den Beobachter, nehme alles in mich auf und ziehe meine Schlüsse, möchte aber nicht mitreden.
Was mich wirklich interessiert, das ist die Person, wer jemand ist, und wie es demjenigen gerade geht. Überhaupt: Die Frage, wie es jemandem geht – wer beantwortet sie denn schon ehrlich? Die meisten erzählen daraufhin, wie sie mit ihrer Arbeit zurechtkommen, was das Finanzamt von ihnen verlangt oder dass sie sich schon wieder einen neuen Fernseher gekauft haben. Antworten auf Fragen, die gar nicht gestellt wurden, während die gestellten völlig unbeantwortet bleiben. Auf diese Fragen bekommt man selten eine wahre Antwort, noch seltener so unter Vielen, und wenn, dann nur unter vier Augen.
Das ist die Art von Gespräch, die ich führen möchte, denn nichts ist so befriedigend, erkenntnisreich, offen, einfühlsam und verbindend wie diese. Jedes Mal ist es für mich daher sehr enttäuschend, wenn jemand, mit dem ich mich verabredet habe, plötzlich ungefragt noch irgendwelche Dritte hinzuholt. Nicht bloß ist es unhöflich, es war auch nicht abgemacht, und hätte ich es im Voraus gewusst, ich hätte vermutlich abgesagt, nicht weil ich die Freunde meiner Freunde nicht mag, sondern weil es die Grundlagen des Treffens maßgeblich verändert, denn es gewinnt dadurch an Beliebigkeit und verliert an potentieller Tiefe, büßt Nähe ein zugunsten einer größeren Teilnehmerzahl und zerstört die Zweisamkeit, die vor allem, aber eben nicht allein nur fürs Romantische so wichtig ist.
Wenn ich mich mit jemandem treffen oder generell unterhalten möchte, dann tue ich das in der Regel, um den Menschen, die ich mag, im doppelten Wortsinn nah zu sein. Das geht nicht, wenn man unter Vielen ist.
Als ich klein war und mir das für Kinder nacherzählte Alte Testament anschaute, das mit Radierungen von Gustave Doré illustriert war, sah ich den lieben Gott auf einer Wolke sitzen. Er war ein alter Mann, hatte Augen, eine Nase und einen langen Bart, und ich sagte mir, wenn er einen Mund hat, muß er auch essen. Und wenn er ißt, muß er auch Därme haben. Dieser Gedanke jedoch hat mich erschreckt, denn ich fühlte, obwohl ich aus einer eher ungläubigen Familie stammte, daß die Vorstellung von göttlichen Därmen Blasphemie ist.
Ohne jegliche theologische Vorbildung habe ich schon als Kind ganz spontan die Unvereinbarkeit von Scheiße und Gott begriffen und folglich auch die Fragwürdigkeit der Grundthese christlicher Anthropologie, nach der der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Entweder oder: entweder wurde der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen und dann hat Gott Därme, oder aber Gott hat keine Därme und der Mensch gleicht ihm nicht.
Die alten Gnostiker haben das genauso klar gesehen wie ich mit meinen fünf Jahren: um dieses verzwickte Problem endgültig zu lösen, hat Valentin, ein großer Meister der Gnosis im zweiten Jahrhundert, behauptet: »Jesus hat gegessen und getrunken, nicht aber defäkiert.«
Die Scheiße ist ein schwierigeres theologisches Problem als das Böse. Gott hat dem Menschen die Freiheit gegeben, und so kann man annehmen, daß er nicht für die Verbrechen der Menschheit verantwortlich ist. Doch die Verantwortung für die Scheiße trägt einzig und allein derjenige, der den Menschen geschaffen hat.
(Milan Kundera – Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins)
Im Bewusstsein der Zeitlichkeit setzt sich der Knacks durch. Auch wo er nicht identifiziert wird, bricht er sich Bahn in den zuwiderlaufenden Kräften, etwa im Versuch, seiner Arbeit mit einer Beschleunigung des Lebensgefühls zu begegnen. Mach schnell, und du wirst ihn mit bloßem Auge, mit bloßem inneren Auge, nicht mehr wahrnehmen. Die Geschwindigkeit wird den Knacks dahinraffen.
Hat die Sprache diese Beschleunigung mit vollzogen? Und ob: In den Siebzigern beantwortete man die Frage »How are you« mit »good«, in den Achtzigern antwortete man auf die gleiche Frage mit »busy«.
Was war geschehen? Die Beschleunigung verriet sich in Komparativen. Der Schnellzug verschwand, er war nicht schnell genug; der Eilbrief verschwand, denn schon das Eilen selbst klingt gemächlich: Altmodische Vokabeln, sie erinnern an die langsame Art, schnell zu sein.
Stattdessen wurden die Indizien der Beschleunigung moralisch: was schnell war, war gut. Es war gut, »auf der Überholspur« zu leben, es war »in«, Fast Food zu mögen, aber Fast Food ist eigentlich Fast Eat, und es erreichte rasch das eigene Heim. Mit der 5‑Minuten-Terrine erreicht die Küche ohne Koch und ohne Ritual die Haushalte. Alles beschleunigt: Schnellrasur, Schnellimbiss, Schnelllifting, Schnelltankstelle, Schnellrestaurant, Schnellreinigung wie juristische Schnellverfahren. Es geht schneller: Die einzige Musiksendung auf der Höhe der Zeit hieß »Fast Forward«, die Droge der urbanen Jugend »Speed«. Dies alles arbeitet an der Fiktion des gewonnenen Lebens, es sagt, wenn du schneller bist, schneller reist, Zeit sparst, wirst du am Ende mehr davon haben.
(…)
Wir haben keine Zeit. Wir haben alle keine Zeit. Wir haben sie schon deshalb nicht, damit wir uns nicht zu gut fühlen. Bruch, Knacks, Ermüdung, Scheitern, Kollaps: Unsere ruinösen Ich-Reste sollen nicht erscheinen, nicht aufbrechen, nicht mitsprechen.
(Roger Willemsen – Der Knacks)
He awoke each morning with the desire to do right, to be a good and meaningful person, to be, as simple as it sounded and as impossible as it actually was, happy. And during the course of each day his heart would descend from his chest into his stomach. By early afternoon he was overcome by the feeling that nothing was right, or nothing was right for him, and by the desire to be alone. By evening he was fulfilled: alone in the magnitude of his grief, alone in his aimless guilt, alone even in his loneliness. ›I am not sad‹, he would repeat to himself over and over, ›I am not sad‹. As if he might one day convince himself. Or fool himself. Or convince others – the only thing worse than being sad is for others to know that you are sad. ›I am not sad‹. ›I am not sad‹. Because his life had unlimited potential for happiness, insofar as it was an empty white room. He would fall asleep with his heart at the foot of his bed, like some domesticated animal that was no part of him at all. And each morning he would wake with it again in the cupboard of his rib cage, having become a little heavier, a little weaker, but still pumping. And by midafternoon he was again overcome with the desire to be somewhere else, someone else, someone else somewhere else. ›I am not sad‹.
(Jonathan Safran Foer – Everything is Illuminated)
Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Beziehung.
(Virginia Satir)
Musik. Für Franz ist sie die Kunst, die der dionysischen Schönheit, die als Rausch verstanden wird, am nächsten kommt. Man kann sich schlecht von einem Roman oder einem Bild berauschen lassen, wohl aber von Beethovens Neunter, Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlaginstrumente oder den Songs der Beatles. Franz unterscheidet nicht zwischen ernster Musik und Unterhaltungsmusik. Diese Unterscheidung kommt ihm altmodisch und verlogen vor. Er mag Rockmusik genauso wie Mozart.
Für ihn ist Musik Befreiung, sie befreit ihn von der Einsamkeit, der Abgeschiedenheit und dem Bücherstaub, sie öffnet in seinem Körper Türen, durch die seine Seele in die Welt hinausgehen kann, um sich zu verbrüdern. Er tanzt gern und bedauert, daß Sabina diese Leidenschaft nicht mit ihm teilt.
Sie sitzen in einem Restaurant, und zum Essen ertönt aus dem Lautsprecher laute, rhythmische Musik.
Sabina sagt: »Das ist ein Teufelskreis. Die Leute werden schwerhörig, weil sie immer lautere Musik hören. Und weil sie schwerhörig sind, bleibt ihnen nichts anderes übrig als noch lauter aufzudrehen.«
»Du magst keine Musik?« fragt Franz.
»Nein«, sagt Sabina. Und dann fügt sie hinzu: »Vielleicht, wenn ich in einer anderen Zeit gelebt hätte…«, und sie denkt an die Epoche von Johann Sebastian Bach, als die Musik einer Rose glich, die blühte im unendlichen Schneefeld der Stille.
Der als Musik getarnte Lärm verfolgt sie seit frühester Jugend. Wie alle Studenten mußte sie die Ferien in einer sogenannten Jugend-Baubrigade verbringen. Man wohnte in Gemeinschaftsunterkünften und baute Hüttenwerke. Von fünf Uhr früh bis neun Uhr abends dröhnte Musik aus den Lautsprechern. Ihr war zum Weinen zumute, aber die Musik klang fröhlich, und es gab keine Möglichkeit, ihr zu entrinnen, weder auf der Toilette noch unter der Bettdecke, überall waren Lautsprecher. Die Musik war wie eine Meute von Jagdhunden, die man auf sie losgehetzt hatte.
Damals hatte sie geglaubt, diese Barbarei der Musik herrsche nur in der kommunistischen Welt. Im Ausland stellte sie dann fest, daß die Verwandlung von Musik in Lärm ein weltweiter Prozeß war, der die Menschheit in die historische Phase der totalen Häßlichkeit eintreten ließ. Die Totalität der Häßlichkeit äußerte sich zunächst als allgegenwärtige akustische Häßlichkeit: Autos, Motorräder, elektrische Gitarren, Preßluftbohrer, Lautsprecher, Sirenen. Die Allgegenwart der visuellen Häßlichkeit würde bald folgen.
Sie aßen, gingen auf ihr Zimmer und liebten sich. Franz‘ Gedanken verschwammen an der Schwelle zum Schlaf. Er erinnerte sich an die laute Musik während des Abendessens und sagte sich: der Lärm hat einen Vorteil. Man kann keine Wörter mehr hören. Es wurde ihm klar, daß er seit seiner Jugend nichts anderes tat als Reden, Schreiben, und Vorlesungen halten, Sätze bilden, nach Formulierungen suchen und sie verbessern, so daß ihm zum Schluß kein Wort mehr präzis vorkam und der Sinn verschwamm; die Wörter verloren ihren Inhalt und wurden zu Krümeln, Spreu und Staub, zu Sand, der durch sein Gehirn stob, ihm Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit verursachte, seine Krankheit war. Da sehnte er sich unwiderstehlich, wenn auch unbestimmt, nach einer gewaltigen Musik, nach einem riesigen Lärm, einem schönen und fröhlichen Krach, der alles umarmte, überflutete und betäubte, in dem der Schmerz, die Eitelkeit und die Nichtigkeit der Wörter für immer untergingen. Musik war die Negation der Sätze, Musik war das Anti-Wort! Er sehnte sich danach, unendlich lange mit Sabina umarmt dazuliegen, zu schweigen, nie wieder einen einzigen Satz zu sagen und das Gefühl der Lust mit dem orgiastischen Getöse der Musik zusammenfließen zu lassen. Mit diesem glückseligen Lärm im Kopf schlief er ein.
(Milan Kundera – Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins)
Ein Liebespaar geht über die Straße. Sie verliert einen Knopf. Ein Dritter hebt ihn auf, trägt ihn ihr nach. Das Elend hat ihn wie eine Flechte überzogen, sein Anzug, seine Haut sogar, alles ist Elend.
»O danke«, sagt die Frau und greift nach dem Knopf, den er aber festhält. »Das haben wir gar nicht gemerkt.«
»Natürlich nicht«, bellt der Dritte. »Immer ist es unsere Aufgabe, uns um die Glücklichen zu kümmern. Wir sollen die Augen offen halten. Wir sollen sorgen, dass nichts fehlt. Glauben Sie vielleicht, die Glücklichen haben ein Auge auf uns? Träumen Sie weiter! Ich bin nicht glücklich, sehen Sie, ich lebe allein, mit mir in Frieden, aber glücklich? Kümmert sich jemand um mich? Wird jemand an meinem Grab singen …«
So geht es immer weiter. Er redet mit dem Knopf in der Hand, den er nicht hergibt. Sein Monolog schlägt sich ins Gebüsch.
»Unerwiderte Liebe?«, fragt die Frau.
Er nickt.
»Deine Zeit wird kommen«, sagt sie.
Das ist ihm neu und gibt ihm zu denken. Drei Tage später nimmt er sein Glück in beide Hände und bucht einen Flug nach Madeira, wo ihn eine Woche Hotel ein stattliches Sümmchen kosten soll. Egal, findet er, fühlt sich snobistisch. Allerdings stürzte die Maschine ins Meer, und er soll Madeira nie kennenlernen. Das Hotel berechnet den Hinterbliebenen drei Tage Storno-Gebühr, und die Liebenden werden nicht einmal erfahren, dass ihn der Fund eines Knopfes das Leben kosten sollte. So groß ist ihr Glück.
(Roger Willemsen – Der Knacks)
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