Jedes Mal, wenn sich ein Jahr seinem Ende entgegenneigt, machen sich unzählige Menschen gut gemeinte Gedanken zum Ablauf des bald darauf anbrechenden Jahres und nennen ihre Pläne, die daraus hervorgehen, gute Vorsätze. Raucher wollen Nichtraucher werden, Sportmuffel zu Freizeitathleten, Faulenzer zu Arbeitstieren. Diese guten Vorsätze sind in der Regel noch vor Februar wieder vergessen.

Wenn es etwas gab, das sie in dieser Zeit des Jahres am meisten hasste, dann waren es die guten Vorsätze anderer Menschen und deren aufdringliche Art, diese Vorsätze jedem Interessierten und Desinteressierten gleichermaßen unter die Nase zu reiben. Auch sie hatte sich Gedanken zum Ablauf des kommenden Jahres gemacht, war dabei allerdings auf eine andere Idee gekommen, die ihr wesentlich sympathischer erschien. Sie hatte sich vorgenommen, ab Neujahr täglich in einem kleinen schwarzen Büchlein zu notieren, was ihr an jedem einzelnen Tag Schönes widerfahren würde. Es musste nichts Großes sein, nichts Überwältigendes, einfach etwas Schönes, etwas Gutes, etwas Positives, das ihr den Tag und damit auch das Leben ein wenig aufgeheitert oder erhellt, das ihr vielleicht sogar einen Blick auf dieses so genannte Glück ermöglicht hatte.

Das alles begann vor einem Jahr. Nun, dreihundertzweiundsechzig Tage später, saß sie bei Nacht in ihrem Zimmer und blätterte durch das Notizbuch, das sie mit ihren Erlebnissen gefüttert hatte, um sich so kurz vor Silvester die vergangenen zwölf Monate noch einmal Tag für Tag durch den Kopf gehen zu lassen, die angenehmen wie die bedrückenden Zeiten. Sie hatte ein gutes Gefühl dabei, denn das letzte Jahr war schnell vergangen, fast schon zu schnell, und wenn etwas schnell vergeht, ja zu schnell gar, dann ist das in der Regel doch ein Zeichen dafür, dass man eine gute Zeit verbracht hatte. Die guten Zeiten vergehen immer wie im Flug, das ist das Traurige an ihnen und der Grund, weshalb sie so selten das Gewicht der schweren Zeiten aufwiegen können, die sich ihrerseits wie Fußketten an das Leben binden, sodass man sich fühlt, als würde man durch ein Moor waten und nicht vorankommen. Zwar waren in diesem Jahr nicht alle ihre Wünsche in Erfüllung gegangen, aber wer konnte das schon von sich behaupten.

Als sie anfing, die ersten Seiten durchzublättern und dabei die täglichen Einträge zu studieren, musste sie schmunzeln. Sie ging in die Küche, öffnete sich eine Flasche Wein und widmete sich der weiteren Lektüre. Was sie las, stimmte sie zufrieden. Es waren Kleinigkeiten, aber es waren teils süße, teils herzerwärmende, teils völlig in Vergessenheit geratene Geschehnisse, die sie dort sah, und es waren Dinge, die sie auch heute noch fröhlich gemacht hätten, würden sie ihr erneut passieren. Sie las die Einträge des gesamten Januars und dann die Notizen des folgenden Februars. Ihr fiel auf, dass sich einige Erlebnisse bereits wiederholten, doch das störte sie nicht weiter. Ganz im Gegenteil, entwickelte sich beim Lesen eine gewisse Spannung, denn da Januar und Februar recht ruhig verlaufen waren, fieberte sie innerlich dem ersten außergewöhnlichen, dem ersten auffälligen, dem ersten bedeutenden Eintrag entgegen, was nun wiederum nicht hieß, dass die bisherigen Einträge für sie unbedeutend gewesen wären, nur waren es Banalitäten, alltägliche Geschehnisse, die sicherlich jedem zuteilwurden und sich jederzeit wieder ereignen könnten, wenn sie einfach nur einen völlig normalen Tag verbringen oder durch die Fußgängerzone schlendern würde.

Sie setzte ihre Hoffnungen in den März, denn endlich, ja endlich musste doch etwas Aufregendes geschehen sein. Beim Lesen offenbarte sich ihr dann allerdings das gewohnte Bild, das Januar und Februar ihr bereits zur Genüge präsentiert hatten. Langsam wurde sie ungeduldig. Vielleicht ist es doch eine blöde Idee gewesen, dieses Büchlein zu führen, dachte sie sich und blätterte nun ganz zufällig durch die Seiten, bis sie einen Tag im Juni aufschlug, immer noch auf der Suche nach spannenden, irgendwie berührenden Ereignissen. „Fünf Euro auf dem Weg zur Arbeit gefunden“ las sie da und lachte. Nein, das war nun wirklich weder spannend noch berührend. Der folgende Tag war demgegenüber schon etwas besser, denn dort hatte sie notiert: „Im Regen spazieren gegangen“. Sie liebte es, im Regen durch die Straßen der Stadt spazieren zu gehen, insofern war dies nun für sie zwar ein irgendwie berührender, aber kein sonderlich hervorstechender, kein außergewöhnlicher, kein befriedigender Eintrag. Sie blätterte weiterhin wahllos im Juni herum, las „Von einem Kollegen ein Stück Kuchen bekommen“ oder „Jemandem den Weg erklärt“, fand „Eine Frau hat mir lächelnd die Tür der Straßenbahn aufgehalten“ und „Himmlisch geschlafen“, aber rein gar nichts, von dem sie sagen konnte, es sei etwas Besonderes gewesen, das ihr ein Stück vom Glück dargeboten hätte. Das müssen ziemlich schlechte Tage gewesen sein, dachte sie und blätterte weiter, doch was sie auf den Seiten der darauffolgenden Wochen lesen konnte, kam ihr noch banaler, noch unwichtiger, jedenfalls keineswegs erfüllend oder einfach bloß gut vor, sondern irgendwie leer. Sie fühlte sich wie jemand, der in der Lotterie gewinnt und dann aber feststellen muss, dass alle anderen ebenfalls gewonnen haben. Nun, dann sind es eben keine schlechten Tage gewesen, schlechte Wochen müssen es gewesen sein. Sie suchte weiter. Es waren keine schlechten Tage gewesen, musste sie feststellen, auch keine schlechten Wochen, es waren die besten Tage im ganzen Monat gewesen, sogar in zwei Monaten, und der Rest des Jahres war, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht viel besser.

Konnte das wirklich die Wahrheit sein? Sie hatte für jeden Tag des Jahres jeweils nur das eine, das allerbeste Erlebnis notiert, das ihr widerfahren war, die beste Handlung, die sie vollbracht, oder das schönste Gefühl, das sie an diesem Tag empfunden hatte – und diese Dinge, die sie da lesen musste, diese Banalitäten, diese Nichtigkeiten, diese lieblosen leeren Worte, die sie kaum zu lesen wagte, die waren genau das, alles erschöpfte sich in diesen Belanglosigkeiten? Diese Einträge voller unbedeutender Alltäglichkeiten waren alles, was ihr Leben in diesem einen Jahr ausgemacht hatte? Das war das Beste, was die Welt ihr in diesen Wochen und Monaten geboten hatte? Mehr war da nicht?

Was sie außerdem beunruhigte, waren Einträge wie der folgende: „Netter Kassierer hat mir zugezwinkert“. Das ganze letzte Jahr hatte sie allein verbracht, genau wie auch das Jahr zuvor. Sie fand viele weitere Einträge, die Ähnliches festgehalten hatten, ob es sich dabei nun um Kassierer, Jogger, U-Bahn-Fahrgäste oder irgendwelche Callcenter-Mitarbeiter gehandelt hatte. Sie las diese Einträge und sah darin den Unterton, mit dem sie sie wahrscheinlich auch geschrieben hatte: Jemand findet mich gut, jemand mag mich, ich bin etwas wert. War sie so verzweifelt nach menschlicher Nähe, nach dem Gefühl, jemandem – irgendjemandem – zu gefallen? Ihre Zufriedenheit begann zu bröckeln.

Sie nannte es ein Leben, was sie da geführt hatte, nun aber fragte sie sich, ob es denn wirklich mehr war als eine unbedeutende Existenz. Verzweifelt suchte sie nach einem Eintrag, der herausstach, der besonders war, der es wert war, das Beste eines Tages, eines Monats, eines Jahres zu sein. Sie fand absolut nichts, was sie überzeugt, was sie beeindruckt oder was ihr das Gefühl gegeben hätte, ein gutes Jahr hinter sich zu haben. Sie vermisste das große Glück.

Eines Tages blickt man in den Spiegel und begreift, dass man niemals mehr sein wird als das, was man dort sieht. Mit dieser Erkenntnis kann man weiterleben und sie akzeptieren, man kann sich umbringen, um allem zu entgehen, oder man blickt nie wieder in einen Spiegel.

Es war wenige Tage vor Silvester, als sie zum letzten Mal eine leere Seite in ihrem schwarzen Büchlein aufschlug und mit zittrigen Fingern lediglich das Wort „Ende“ hineinschrieb.

Der Mensch will nur,
dass man versteht,
was in ihm drin
so vor sich geht.
Er will das freilich
ohne Mühe,
mag nicht reden,
sich erklären,
will nicht
aus dem Häuschen kommen,
zu viel Welt
macht ihn beklommen;
öffnet keinem
seine Pforte,
zäunt sich ein,
verliert kaum Worte;
und klopft doch mal einer an,
verschließt er sich,
so gut er kann,
dann brüllt er:
Keiner soll es wagen,
durch ein Fenster reinzuspähn! –
und jammert stets
tagein, tagaus:
Ach, wenn es da nur jemand’ gäbe,
der versucht’,
mich zu verstehn.

(2010)

Selbst wenn wir wissen, daß ein nie zustande kommendes Werk schlecht sein wird, ein nie begonnenes ist noch schlechter! Ein zustande gekommenes Werk ist zumindest entstanden. Kein Meisterwerk vielleicht, aber es existiert, wenn auch kümmerlich wie die Pflanze im einzigen Blumentopf meiner gebrechlichen Nachbarin. Diese Pflanze ist ihre Freude, und hin und wieder auch die meine. Was ich schreibe und als schlecht erkenne, kann dennoch die eine oder andere verwundete, traurige Seele für Augenblicke noch Schlechteres vergessen lassen. Ob es mir nun genügt oder nicht, es nützt auf irgendeine Art, und so ist das ganze Leben.
(Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe)

Man stirbt nicht
irgendwann einmal,
man lebt so viele Tode
und übersteht all deren Qual,
der Akt des Sterbens wird banal,
man geht halt mit der Mode.
Mein Herz zu Füßen
trug ich dir,
der Grund zu leben
warst du mir,
doch dir war’s recht
und recht egal –
heut’ sterbe ich
ein weitres Mal;
die Agonie
lässt grüßen.

(2010)

Wenn vom Klassenkampf die Rede ist, denkt man niemals an seine ganz alltäglichen Formen, an die rücksichtslose gegenseitige Verächtlichmachung, an die Arroganz, an die erdrückenden Prahlereien mit dem »Erfolg« der Kinder, mit den Ferien, mit den Autos oder anderen Prestigeobjekten, an verletzende Gleichgültigkeit, an Beleidigungen usw.: Soziale Verarmung und Vorurteile – letztere sind die traurigsten aller sozialen Leidenschaften – werden in diesen alltäglichen Kämpfen geboren, in denen stets die Würde und die Selbstachtung der beteiligten Menschen auf dem Spiel stehen. Das Leben ändern, das müßte auch heißen, die vielen kleinen Nichtigkeiten zu ändern, die das Leben der Leute ausmachen und die heute gänzlich als Privatangelegenheit angesehen und dem Geschwätz der Moralisten überlassen werden.
Pierre Bourdieu – Politik, Bildung und Sprache, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht