An die­ser Stel­le ist es nötig, etwas zur sozio­lo­gi­schen Sicht des mensch­li­chen Seins zu sagen. Kri­mi­na­li­tät wird zum Bei­spiel als eine Fol­ge der Armut gese­hen. Doch dies erklärt nicht, war­um die Mehr­heit nicht kri­mi­nell wird. Dar­aus wie­der­um kann man aber nicht schluß­fol­gern, Armut hät­te kei­nen Zusam­men­hang mit Kri­mi­na­li­tät. Man kommt nicht umhin, eini­ges zu dif­fe­ren­zie­ren. Wenn ein Hung­ri­ger stiehlt, han­delt er nicht aus Hab­gier; und wenn er dabei, ohne es zu wol­len, jeman­den umbringt, ist es kein vor­sätz­li­cher Mord. Ande­rer­seits gehö­ren die Rei­chen und Mäch­ti­gen zu jenen in unse­rer Gesell­schaft, die Krie­ge anzet­teln, die Lebens­grund­la­ge ande­rer Men­schen zer­stö­ren, Natur und Men­schen ver­gif­ten. Sie aber sit­zen nicht in den Gefäng­nis­sen. Kri­mi­nal­sta­tis­ti­ken ver­zeich­nen nur des­halb mehr Arme als Rei­che, weil sol­che Sta­tis­ti­ken der Ideo­lo­gie der Rei­chen und Mäch­ti­gen unter­lie­gen und weil sie nicht alle For­men von Destruk­ti­vi­tät aufführen.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Sinn­kri­se. Ich komm in die Bera­tung, sagt sto­ckend ein Kli­ent, weil ich so komisch trau­rig bin die gan­ze Zeit, weil alles mich so sinn­los dünkt. – (Berich­ti­gung: Dies sagt nicht ein Kli­ent, sehr vie­le sagen es; ich wäh­le stell­ver­tre­tend einen und nenn ihn Zemp und refe­rie­re lückenhaft.)
Wuchs gedrun­gen. Flei­schi­ge Gestalt. Glied­ma­ßen kurz. Gang eher schlep­pend. Gute, blaue Augen. Tre­vi­ra-Hosen, bügel­frei, hand­ge­strick­te Wes­te. Zemp ist ein Volks­schul­leh­rer, Mit­te vier­zig, Fami­lie, im Mili­tär Major.
Weiß Ihre Frau um Ihren Zustand?
Neinnein.
Sie sagen zwei­mal nein, warum?
Ich will es ihr nicht sagen, es wür­de sie belasten.
Spürt sie’s nicht ohnehin?
Ich neh­me mich zusammen.
Sie haben also das Gefühl, es wür­de Ihre Frau belas­ten, wenn Sie ihr anver­trau­ten, wie’s Ihnen wirk­lich geht?
Ja, schon. Ich … ich bin sonst eben nicht so schwach. Ich muß dage­gen kämp­fen, und Sie als Fach­mann, dach­te ich, Sie ken­nen doch die Waffen.
Sie has­sen Ihre düs­te­re Gemütsverfassung?
Sehr.
Und das Gefühl, daß alles sinn­los ist, scheint Ihnen ungehörig?
Es ist ein Virus, wie ein Virus. Ein Überfall.
Ich kür­ze ab: Natür­lich besteht die ers­te Pha­se der »Behand­lung« dar­in, dem Zemp zu zei­gen, daß man auch als Major und Ehe­mann und Vater ein biß­chen schwach sein darf; daß zwei­tens Pro­ble­me sei­ner Art rein waf­fen­tech­nisch nicht zu lösen sind; daß drit­tens ein Sym­ptom so wenig feind­lich wie ein Leucht­turm ist, der auf Gefah­ren­zo­nen hin­weist. – Und in der nächs­ten Pha­se, die ich »poli­tisch« im wei­ten Wort­sinn nen­nen möch­te, geht es dann dar­um, zu erwä­gen, ob Sinn­lo­sig­keits­ge­füh­le und Betrüb­nis nicht allen­falls ver­stan­den wer­den könn­ten als durch­aus ange­mes­se­ne, Intakt­heits­sehn­sucht offen­ba­ren­de Reak­ti­ons­ge­bär­den gegen eine Wirk­lich­keit, die über wei­te Stre­cken so beschaf­fen ist, daß einer, der sich in ihr nicht trau­rig fühlt, sein Trau­er­de­fi­zit betrau­ern müßte.
(Mar­kus Wer­ner – Froschnacht)