Ange­sichts der ernüch­tern­den Ergeb­nis­se der unter den gege­be­nen gesell­schaft­li­chen Umstän­den durch­ge­führ­ten Bemü­hun­gen, die sozia­len Chan­cen­un­gleich­hei­ten im Bil­dungs­sys­tem abzu­bau­en, ist der Fra­ge nach­zu­ge­hen, wel­che Funk­ti­on das Schul­sys­tem inner­halb die­ser gesell­schaft­li­chen Umstän­de ein­nimmt und ob die­se Funk­ti­on einen Abbau sozia­ler Ungleich­hei­ten prin­zi­pi­ell über­haupt för­dern kann oder soll.

Zunächst steht der Behaup­tung, Kin­der und Jugend­li­che bedürf­ten einer ein­heit­lich regu­lier­ten Insti­tu­ti­on, um am gesell­schaft­li­chen Leben erfolg­reich teil­zu­neh­men sowie die kul­tu­rel­len Umgangs­for­men und Errun­gen­schaf­ten zu erler­nen oder zu inkor­po­rie­ren, die empi­ri­sche Aus­sa­ge­kraft von knapp ein­hun­dert­tau­send Jah­ren mensch­li­cher Kul­tur­ge­schich­te ent­ge­gen (vgl. Bock, 2008; zur radi­ka­len Schul­kri­tik exem­pla­risch Holt, 1976; Illich, 1995), sodass als ein­zig genui­ne Legi­ti­ma­ti­on des Bestehens einer Insti­tu­ti­on Schu­le nur die Selek­ti­ons­funk­ti­on in Hin­blick auf die Ver­wert­bar­keit ihrer Schü­ler am Arbeits­markt bestehen bleibt[1] – zusätz­lich zur Funk­ti­on der Repro­duk­ti­on sozia­ler Ungleich­heit, die als zu über­win­den­des Defi­zit ver­schlei­ert ist, womit deren sys­tem­im­ma­nen­ter Cha­rak­ter über­spielt wird. Insti­tu­tio­na­li­sier­te, for­ma­li­sier­te, stan­dar­di­sier­te Bil­dung war seit ihrer Ent­ste­hung immer ein Herr­schafts­in­stru­ment, das das Exklu­die­ren und Fest­le­gen von Regeln erlaubt und zu einer kul­tu­rel­len wie Bil­dungs­se­lek­ti­on führt, „die dem eigent­li­chen Ziel von ‚Bil­dung‘, näm­lich für das Leben zu ler­nen, ent­ge­gen­steht“ (Bitt­ling­may­er & Grund­mann, 2006, S. 94):

„Wenn wir auf allen Gebie­ten das Ver­lan­gen nach der Ein­füh­rung von gere­gel­ten Bil­dungs­gän­gen und Fach­prü­fun­gen laut wer­den hören, so ist selbst­ver­ständ­lich nicht ein plötz­lich erwa­chen­der ‚Bil­dungs­drang‘, son­dern das Stre­ben nach Beschrän­kung des Ange­bots für die Stel­lun­gen und deren Mono­po­li­sie­rung zuguns­ten der Besit­zer von Bil­dungs­pa­ten­ten der Grund“ (Weber, 1980, S. 577).

Schu­li­sche Bil­dungs­pro­zes­se legen weni­ger Wert auf Bil­dung an sich, als viel­mehr auf Bil­dungs­zer­ti­fi­ka­te, die „über herr­schafts­ab­hän­gi­ge Zer­ti­fi­zie­rungs­pro­zes­se“ (Sol­ga, 2005, S. 28) erwor­ben wer­den müs­sen. Das Schul­sys­tem bezieht sich folg­lich in ers­ter Linie auf einen sys­tem­funk­tio­na­len Bil­dungs­be­griff und weni­ger auf eine indi­vi­du­ell-lebens­welt­li­che und gesamt­ge­sell­schaft­lich-eman­zi­pa­ti­ve Ebe­ne, fun­giert mit sei­ner „bedarfs­an­ge­mes­se­nen Begren­zung höhe­rer Bil­dung“ (Büch­ner, 2003, S. 9) somit „als Akteur der Pro­duk­ti­on der Pro­du­zen­ten“ (Hepp, 2009, S. 30). Was inner­halb des Schul­sys­tems statt­fin­det, ori­en­tiert sich nur vor­der­grün­dig an den Bedürf­nis­sen der Schü­ler und stellt viel­mehr „dem Aus­bil­dungs- und Arbeits­markt für die Zuord­nung von Per­so­nen zu Posi­tio­nen Qua­li­fi­ka­ti­ons- bzw. Kom­pe­tenz­si­gna­le zur Ver­fü­gung“ (Sol­ga, 2005, S. 27; vgl. Huis­ken, 2005). Die­se sys­tem­funk­tio­na­le, dem Pri­mat des Arbeits­markts unter­wor­fe­ne Per­spek­ti­ve, die die Ver­wert­bar­keit von Bil­dung in den Fokus rückt, nicht die All­tags­re­le­vanz, wird von einem Groß­teil der Erzie­hungs- und Bil­dungs­for­schung über­nom­men, die damit ihrer­seits – bewusst oder unbe­wusst – zur Repro­duk­ti­on sozia­ler (Bildungs-)Ungleichheiten beiträgt:

„In den meis­ten Arbei­ten zur Bil­dungs­un­gleich­heit wird das leis­tungs­fi­xiert hier­ar­chi­sie­ren­de Bil­dungs­sys­tem nicht in Fra­ge gestellt, obwohl es selbst in einem ver­gleichs­wei­se ega­li­tär aus­ge­rich­te­ten sozia­len Gefü­ge not­wen­dig Bil­dungs­hier­ar­chien erzeugt“ (Grund­mann, Dra­ven­au, & Bitt­ling­may­er, 2006, S. 250; vgl. Grund­mann, 2011).

Die Ana­ly­se der Bil­dungs­pro­zes­se und ‑ungleich­hei­ten, selbst die kri­ti­sche, ori­en­tiert sich häu­fig ergo zu sehr an den hege­mo­nia­len nor­ma­ti­ven Grund­an­nah­men und den fak­ti­schen Gege­ben­hei­ten, ohne die­se in Fra­ge zu stel­len, was aber gera­de kri­ti­sche Wis­sen­schaft aus­zeich­nen wür­de[2]. Da Schu­le als sol­che unhin­ter­fragt über­nom­men wird und sich die Bil­dungs­for­schung an ihr ori­en­tiert, „kom­men nur die­je­ni­gen indi­vi­du­el­len Kom­pe­tenz­ent­wick­lun­gen in den Blick, die in gewis­ser Hin­sicht schul­bil­dungs­kon­form sind“ (Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Edel­stein, 2006, S. 16; vgl. Grund­mann, Dra­ven­au, & Bitt­ling­may­er, 2006), d.h. „alle nicht schul­kon­for­men Wis­sens­be­stän­de [wer­den] bil­dungs­so­zio­lo­gisch abge­wer­tet“ (Bitt­ling­may­er, 2006, S. 53). Solan­ge die das Schul­sys­tem rah­men­den gesell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se, die Arbeits­markt­ori­en­tie­rung und die kul­tu­rel­le Hier­ar­chi­sie­rung an sich nicht in Fra­ge gestellt wer­den, „darf auch der Suche nach neu­en, den gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen ange­pass­ten Erzie­hungs­idea­len eine gesun­de Skep­sis ent­ge­gen­ge­bracht wer­den“ (Grund­mann, 2011, S. 82). Gera­de die deut­sche PISA-Dis­kus­si­on belegt die ana­ly­ti­sche Kurz­sich­tig­keit wei­ter Tei­le von Poli­tik und Bil­dungs­for­schung, da – den öko­no­misch-funk­tio­na­lis­ti­schen, defi­zit­ori­en­tier­ten Bil­dungs­be­griff der OECD über­neh­mend, der zuguns­ten eines Bil­dungs­ver­ständ­nis­ses der ‚Qua­li­fi­ka­tio­nen‘ die unter­schied­li­chen sozia­len Bil­dungs­be­din­gun­gen ver­nach­läs­sigt (vgl. Otto & Schröd­ter, 2010; Raidt, 2009) – grö­ße­rer Fokus auf die unter­durch­schnitt­li­che Leis­tung deut­scher Schul­kin­der als auf sozia­le Ungleich­heit gelegt wur­de (vgl. Sol­ga, 2005, S. 30) und in der Fol­ge­zeit eine ver­stärk­te Aus­rich­tung der Schu­le an wirt­schaft­li­chen Maß­stä­ben (vgl. Ball & You­dell, 2008; Roh­lfs, 2011; Raidt, 2009) gefor­dert und auch umge­setzt wur­de. Bil­dung und Bil­dungs­er­folg wer­den in die­sem Kon­text redu­ziert auf eine Stei­ge­rung der Kon­kur­renz­fä­hig­keit, sowohl auf indi­vi­du­el­ler sowie auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne: „Ins­ge­samt wird deut­lich, dass PISA ein nor­ma­ti­ves und funk­tio­na­les Bil­dungs­ver­ständ­nis trans­por­tiert, das auf die effi­zi­en­te Aus­bil­dung von Human­res­sour­cen aus­ge­rich­tet ist“ (Raidt, 2009, S. 205).

Ange­sichts die­ser Funk­ti­on des Schul­sys­tems und der ein­ge­schränk­ten kri­ti­schen Debat­te, die dar­über geführt wird, ist frag­lich, ob eine umfas­sen­de Reform des Bil­dungs­sys­tems zur Redu­zie­rung sozia­ler Bil­dungs­un­gleich­hei­ten unter die­sen Vor­zei­chen über­haupt mög­lich ist – selbst eine ratio­na­le Päd­ago­gik (vgl. Bour­dieu 2001) bei­spiels­wei­se dürf­te mit ihrer an den indi­vi­du­el­len Bil­dungs­be­dürf­nis­sen ori­en­tier­ten Per­spek­ti­ve recht schnell in Wider­spruch zur arbeits­markt­ori­en­tier­ten Per­spek­ti­ve tre­ten, wenn­gleich das Gros bis­he­ri­ger Unter­su­chun­gen zur Bil­dungs­un­gleich­heit doch gezeigt hat, dass weni­ger die von PISA bewer­te­ten ‚Qua­li­fi­ka­tio­nen‘, son­dern viel­mehr mate­ri­el­le Mit­tel, kul­tu­rel­les Kapi­tal und ent­spre­chen­de Habi­tus Vor­aus­set­zun­gen für schu­li­schen Erfolg sind.


[1] Damit sol­len die posi­ti­ven Effek­te der Schu­le nicht igno­riert wer­den, nur sind die­se auch ohne der­ar­ti­ge Insti­tu­ti­on rea­li­sier­bar, wäh­rend die Selek­ti­ons- und Legi­ti­ma­ti­ons­funk­tio­nen dem Schul­we­sen eigen sind.

[2] Die­ser ein­ge­schränk­te sozio­lo­gi­sche Blick ist zum Teil sicher auch dem Umstand geschul­det, im Rah­men des poli­tisch Gewünsch­ten blei­ben zu wol­len, um über­haupt poli­ti­sches Gehör zu finden.


Lite­ra­tur:

  1. Ball, S. J., & You­dell, D. (2008). Hid­den Pri­va­tis­a­ti­on in Public Edu­ca­ti­on. Brüs­sel: Edu­ca­ti­on Inter­na­tio­nal. Online ver­füg­bar unter: http://download.ei-ie.org/docs/IRISDocuments/Research%20Website%20Documents/2009–00034-01‑E.pdf (28.07.2012).
  2. Bitt­ling­may­er, U. H. (2006). Grund­zü­ge einer mehr­di­men­sio­na­len sozi­al­struk­tu­rel­len Sozia­li­sa­ti­ons­for­schung. In M. Grund­mann, D. Dra­ven­au, U. H. Bitt­ling­may­er, & W. Edel­stein, Hand­lungs­be­fä­hi­gung und Milieu. Zur Ana­ly­se milieu­spe­zi­fi­scher All­tags­prak­ti­ken und ihrer Ungleich­heits­re­le­vanz (S. 37–55). Ber­lin: LIT Verlag.
  3. Bitt­ling­may­er, U. H., & Grund­mann, M. (2006). Die Schu­le als (Mit-)Erzeugerin des sozia­len Raums. Zur Eta­blie­rung von Bil­dungs­mi­lieus im Zuge rapi­der Moder­ni­sie­rung. Das Bei­spiel Island. In M. Grund­mann, D. Dra­ven­au, U. H. Bitt­ling­may­er, & W. Edel­stein, Hand­lungs­be­fä­hi­gung und Milieu. Zur Ana­ly­se milieu­spe­zi­fi­scher All­tags­prak­ti­ken und ihrer Ungleich­heits­re­le­vanz (S. 75–95). Ber­lin: LIT Verlag.
  4. Bock, K. (2008). Ein­wür­fe zum Bil­dungs­be­griff. Fra­gen für die Kin­der- und Jugend­hil­fe­for­schung. In H.-U. Otto, & T. Rau­schen­bach (Hrsg.), Die ande­re Sei­te der Bil­dung. Zum Ver­hält­nis von for­mel­len und infor­mel­len Bil­dungs­pro­zes­sen (2. Auf­la­ge) (S. 91–105). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  5. Bour­dieu, P. (2001). Die kon­ser­va­ti­ve Schu­le. In P. Bour­dieu, Wie die Kul­tur zum Bau­ern kommt (S. 25–52). Ham­burg: VSA-Verlag.
  6. Büch­ner, P. (2003). Stich­wort: Bil­dung und sozia­le Ungleich­heit. Zeit­schrift für Erzie­hungs­wis­sen­schaft, 6. Jahrg. (Heft 1/2003), S. 5–24.
  7. Grund­mann, M. (2011). Sozia­li­sa­ti­on – Erzie­hung – Bil­dung: Eine kri­ti­sche Begriffs­be­stim­mung. In R. Becker (Hrsg.), Lehr­buch der Bil­dungs­so­zio­lo­gie (2. Auf­la­ge) (S. 63–85). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  8. Grund­mann, M., Bitt­ling­may­er, U. H., Dra­ven­au, D., & Edel­stein, W. (2006). Bil­dungs­struk­tu­ren und sozi­al­struk­tu­rel­le Sozia­li­sa­ti­on. In M. Grund­mann, U. H. Bitt­ling­may­er, D. Dra­ven­au, & W. Edel­stein, Hand­lungs­be­fä­hi­gung und Milieu. Zur Ana­ly­se milieu­spe­zi­fi­scher All­tags­prak­ti­ken und ihrer Ungleich­heits­re­le­vanz (S. 13–35). Ber­lin: LIT Verlag.
  9. Grund­mann, M., Dra­ven­au, D., & Bitt­ling­may­er, U. H. (2006). Milieu­spe­zi­fi­sche Hand­lungs­be­fä­hi­gung an der Schnitt­stel­le zwi­schen Sozia­li­sa­ti­on, Ungleich­heit und Lebens­füh­rung? In M. Grund­mann, D. Dra­ven­au, U. H. Bitt­ling­may­er, & W. Edel­stein, Hand­lungs­be­fä­hi­gung und Milieu. Zur Ana­ly­se milieu­spe­zi­fi­scher All­tags­prak­ti­ken und ihrer Ungleich­heits­re­le­vanz (S. 237–251). Ber­lin: LIT Verlag.
  10. Hepp, R.-D. (2009). Das Feld der Bil­dung in der Sozio­lo­gie Pierre Bour­dieus: Sys­te­ma­ti­sche Vor­über­le­gun­gen. In B. Frie­berts­häu­ser, M. Rie­ger-Ladich, & L. Wig­ger (Hrsg.), Refle­xi­ve Erzie­hungs­wis­sen­schaft (2. Auf­la­ge) (S. 21–39). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  11. Holt, J. (1976). Ins­tead of Edu­ca­ti­on: Ways to Help Peo­p­le Do Things Bet­ter. New York: Dutton.
  12. Huis­ken, F. (2005). Der »PISA-Schock« und sei­ne Bewäl­ti­gung. Ham­burg: VSA-Verlag.
  13. Illich, I. (1995). Ent­schu­lung der Gesell­schaft. Mün­chen: Beck.
  14. Otto, H.-U., & Schröd­ter, M. (2010). „Kom­pe­ten­zen“ oder „Capa­bi­li­ties“ als Grund­be­griff einer kri­ti­schen Bil­dungs­for­schung und Bil­dungs­po­li­tik? In H.-H. Krü­ger, U. Rabe-Kle­berg, R.-T. Kra­mer, & J. Bud­de (Hrsg.), Bil­dungs­un­gleich­heit revi­si­ted (S. 163–183). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  15. Raidt, T. (2009). Bil­dungs­re­for­men nach PISA. Para­dig­men­wech­sel und Wer­te­wan­del (Diss.). Hein­rich-Hei­ne-Uni­ver­si­tät Düs­sel­dorf. Online ver­füg­bar unter: http://www.pisa-bildung.de/ (28.07.2012).
  16. Roh­lfs, C. (2011). Bil­dungs­ein­stel­lun­gen. Schu­le und for­ma­le Bil­dung aus der Per­spek­ti­ve von Schü­le­rin­nen und Schü­lern. Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  17. Sol­ga, H. (2005). Meri­to­kra­tie – die moder­ne Legi­ti­ma­ti­on unglei­cher Bil­dungs­chan­cen. In P. A. Ber­ger, & H. Kah­lert (Hrsg.), Insti­tu­tio­na­li­sier­te Ungleich­hei­ten. Wie das Bil­dungs­we­sen Chan­cen blo­ckiert (S. 19–38). Wein­heim und Mün­chen: Juventa.
  18. Weber, M. (1980). Wirt­schaft und Gesell­schaft. Tübin­gen: Mohr (Sie­beck).

Wenn ein Duft gefällt, so ver­sucht man ihn fest­zu­hal­ten, ihn wie­der­zu­fin­den; man läßt sich nicht voll­stän­dig von ihm berau­schen, um ihn ana­ly­sie­ren zu kön­nen und ihn all­mäh­lich in sich auf­zu­neh­men, bis sich der Sin­nes­ein­druck durch die blo­ße Erin­ne­rung wie­der­her­stel­len läßt; wenn der Duft wie­der­kommt, atmet man ihn lang­sa­mer, vor­sich­ti­ger ein, um auch die feins­ten Nuan­cen zu erfas­sen. Eine star­ke Duft­wol­ke steigt einem zu Kopf, hin­ter­läßt jedoch das auf­rei­zen­de Gefühl von etwas Unfer­ti­gem, Unvoll­ende­tem. Oder sie läßt einem auf unan­ge­neh­me Wei­se den Atem sto­cken, man möch­te sie los­wer­den, um wie­der frei zu atmen, oder aber es ist ein hef­ti­ger, zu schnell wie­der ver­gan­ge­ner Rausch, weil nur das Ner­ven­sys­tem berührt wor­den ist. Es ist Glück, über­wäl­tigt zu wer­den und nichts mehr zu wis­sen. Doch noch ein Eck­chen Bewußt­sein zu haben, das immer weiß, was geschieht, und das durch die­ses Wis­sen dem gesam­ten intel­lek­tu­el­len, ver­nünf­ti­gen Wesen erlaubt, in jeder Sekun­de an dem gegen­wär­ti­gen Glück teil­zu­ha­ben, die­ses Eck­chen Bewußt­sein zu haben, das die Ent­wick­lung der Freu­de lang­sam nach­voll­zieht, das ihr bis an die äußers­ten Enden folgt, ist das nicht auch Glück? Es gibt ein Eck­chen, das nicht mit­schwingt, doch die­ses Eck­chen bleibt Zeu­ge der erleb­ten Freu­de – das, was sich erin­nert und sagen kann: Ich bin glück­lich gewe­sen und ich weiß war­um. Ich will ger­ne den Kopf ver­lie­ren, aber ich will den Augen­blick begrei­fen, da ich den Kopf ver­lie­re, und die Erkennt­nis des abdan­ken­den Bewußt­seins soweit wie mög­lich trei­ben. Man soll sein Glück nicht in Abwe­sen­heit erleben.
Mar­cel­le Sau­va­geot – Fast ganz die Deine

»Ich wür­de sagen, die Men­ge an Lan­ge­wei­le, falls Lan­ge­wei­le meß­bar ist, ist heu­te viel grö­ßer als frü­her. Weil die dama­li­gen Beru­fe, jeden­falls zu einem gro­ßen Teil, nicht ohne eine lei­den­schaft­li­che Nei­gung denk­bar waren: die Bau­ern, die ihr Land lieb­ten; mein Groß­va­ter, der schö­ne Tische zau­ber­te; die Schus­ter, die die Füße aller Dorf­be­woh­ner aus­wen­dig kann­ten; die Förs­ter; die Gärt­ner; ich ver­mu­te, sogar die Sol­da­ten töte­ten damals mit Lei­den­schaft. Der Sinn des Lebens stand nicht in Fra­ge, er beglei­te­te sie, in ihren Werk­stät­ten, auf ihren Fel­dern. Jeder Beruf hat­te sei­ne eige­ne Men­ta­li­tät, sei­ne eige­ne Seins­wei­se geschaf­fen. Ein Arzt dach­te anders als ein Bau­er, ein Sol­dat ver­hielt sich anders als ein Leh­rer. Heu­te sind wir alle gleich, alle durch die gemein­sa­me Gleich­gül­tig­keit für unse­re Arbeit geeint. Die­se Gleich­gül­tig­keit ist eine Lei­den­schaft gewor­den. Die ein­zi­ge gro­ße kol­lek­ti­ve Lei­den­schaft unse­rer Zeit.«
Chan­tal sag­te: »Aber sag mir doch: du selbst, als du Ski­leh­rer warst, als du in Zeit­schrif­ten über Innen­ar­chi­tek­tur geschrie­ben hast oder spä­ter über Medi­zin, oder als du als Zeich­ner in einer Tisch­le­rei gear­bei­tet hast …«
»… ja, das habe ich am liebs­ten gemacht, aber es ist nicht gelaufen …«
»… oder als du arbeits­los warst und gar nichts getan hast, da hät­test du dich doch auch lang­wei­len müssen!«
»Alles hat sich ver­än­dert, als ich dich ken­nen­ge­lernt habe. Nicht, weil mei­ne klei­nen Arbei­ten span­nen­der gewor­den sind. Son­dern weil ich alles, was um mich her­um geschieht, in Stoff für unse­re Gesprä­che verwandle.«
»Wir könn­ten von etwas ande­rem sprechen!«
»Zwei Men­schen, die sich lie­ben, allein, von der Welt abge­schie­den, das ist sehr schön. Aber womit wür­den sie ihr Tête-à-Tête aus­fül­len? So ver­ächt­lich die Welt auch sein mag, sie brau­chen sie, um mit­ein­an­der reden zu können.«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

»Am Ende mei­nes Besuchs im Kran­ken­haus hat er ange­fan­gen, Erin­ne­run­gen zu erzäh­len. Er hat mir ins Gedächt­nis geru­fen, was ich mit sech­zehn gesagt haben muß. In dem Moment habe ich den ein­zi­gen Sinn von Freund­schaft, wie sie heu­te prak­ti­ziert wird, begrif­fen. Der Mensch ist auf sie ange­wie­sen, damit sein Gedächt­nis funk­tio­niert. Sich an sei­ne Ver­gan­gen­heit zu erin­nern, sie immer bei sich zu haben ist viel­leicht die not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung dafür, die Inte­gri­tät sei­nes Ichs zu wah­ren, wie man so sagt. Damit das Ich nicht schrumpft, damit es sein Volu­men behält, müs­sen die Erin­ne­run­gen begos­sen wer­den wie Topf­blu­men, und die­ses Gie­ßen erfor­dert den regel­mä­ßi­gen Kon­takt mit Zeu­gen der Ver­gan­gen­heit. Sie sind unser Spie­gel; unser Gedächt­nis; man ver­langt nichts von ihnen, außer daß sie von Zeit zu Zeit die­sen Spie­gel polie­ren, damit man sich dar­in anschau­en kann. Aber mich inter­es­siert nicht im gerings­ten, was ich auf dem Gym­na­si­um gemacht habe! Was ich mir seit mei­ner frü­hen Jugend, viel­leicht seit mei­ner Kind­heit immer gewünscht habe, war etwas ganz ande­res: die Freund­schaft als obers­ter Wert. Ich sage oft: vor die Wahl zwi­schen der Wahr­heit und dem Freund gestellt, wäh­le ich immer den Freund. Ich sag­te es, um zu pro­vo­zie­ren, aber ich mein­te es ernst. Heu­te weiß ich, daß die­se Maxi­me archa­isch ist. Sie moch­te für Achill gel­ten, den Freund des Patro­klos, für Alex­and­re Dumas‘ Mus­ke­tie­re, sogar für Sancho, der trotz all ihrer Zwis­tig­kei­ten ein ech­ter Freund sei­nes Herrn war. Aber sie gilt nicht für uns. Ich gehe in mei­nem Pes­si­mis­mus so weit, daß ich heu­te bereit bin, die Wahr­heit der Freund­schaft vor­zu­zie­hen. (…) Die Freund­schaft war für mich der Beweis, daß es etwas Stär­ke­res gibt als die Ideo­lo­gie, als die Reli­gi­on, als die Nati­on. In Dumas‘ Roman befin­den sich die Freun­de oft in geg­ne­ri­schen Lagern, so daß sie gezwun­gen sind, gegen­ein­an­der zu kämp­fen. Aber das ändert nichts an ihrer Freund­schaft. Sie hel­fen ein­an­der trotz­dem heim­lich, lis­tig und set­zen sich über die Wahr­heit ihres jewei­li­gen Lagers hin­weg. Sie haben die Freund­schaft über die Wahr­heit, die Sache, die Befeh­le von oben gestellt, über den König, über die Köni­gin, über alles.«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

»Ver­giß nicht, ich habe zwei Gesich­ter. Ich habe gelernt, eine gewis­se Freu­de dar­an zu haben, aber trotz­dem ist es nicht leicht, zwei Gesich­ter zu haben. Das erfor­dert Anstren­gung, das erfor­dert Dis­zi­plin! Du mußt ver­ste­hen, daß ich alles, was ich, gern oder ungern, tue, mit dem Ehr­geiz tue, es gut zu machen. Und sei es nur, um mei­ne Stel­le nicht zu ver­lie­ren. Es ist sehr schwer, per­fekt zu arbei­ten und die­se Arbeit gleich­zei­tig zu verachten.«
»Oh, du kannst es, du bist dazu imstan­de, du bist geni­al«, sagt Jean-Marc.
»Ja, ich kann zwei Gesich­ter haben, aber ich kann sie nicht gleich­zei­tig haben. Bei dir habe ich das Gesicht, das sich lus­tig macht. Wenn ich im Büro bin, tra­ge ich das seriö­se Gesicht. Ich bekom­me die Unter­la­gen der Leu­te vor­ge­legt, die sich bei uns um eine Stel­le bewer­ben. Ich muß sie emp­feh­len oder ein nega­ti­ves Votum abge­ben. Man­che drü­cken sich in ihrem Brief in einer so per­fekt moder­nen Spra­che aus, mit all den Kli­schees, mit dem Jar­gon, mit dem gan­zen obli­ga­to­ri­schen Opti­mis­mus. Ich brau­che sie nicht zu sehen oder mit ihnen zu spre­chen, um sie zu ver­ab­scheu­en. Ich weiß aber, daß sie gut und eif­rig arbei­ten wer­den. Und dann gibt es jene, die sich unter ande­ren Umstän­den sicher­lich der Phi­lo­so­phie, der Kunst­ge­schich­te, dem Fran­zö­sisch­un­ter­richt gewid­met hät­ten, heu­te aber, in Erman­ge­lung von etwas Bes­se­rem, fast aus Ver­zweif­lung, suchen sie bei uns Arbeit. Ich weiß, daß sie die Stel­le, um die sie sich bewer­ben, ins­ge­heim ver­ach­ten und daß sie also mei­ne Brü­der sind. Und ich muß entscheiden.«
»Und wie ent­schei­dest du?«
»Ein­mal emp­feh­le ich den, der mir sym­pa­thisch ist, ein­mal den, der gut arbei­ten wird. Ich hand­le halb als Ver­rä­ter an mei­ner Fir­ma, halb als Ver­rä­ter an mir selbst. Ich bin ein dop­pel­ter Ver­rä­ter. Und die­sen dop­pel­ten Ver­rat betrach­te ich nicht als Nie­der­la­ge, son­dern als tol­le Leis­tung. Wie lan­ge denn wer­de ich noch in der Lage sein, mei­ne zwei Gesich­ter zu wah­ren? Das ist sehr anstren­gend. Der Tag wird kom­men, an dem ich nur ein ein­zi­ges Gesicht haben wer­de. Das schlech­te­re von bei­den natür­lich. Das seriö­se. Das zustim­men­de. Wirst du mich dann noch lieben?«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

Dei­nem Leben fehlt die Würze,
es geschmack­lich abzurunden,
mäkeln sie und streun dir darum
reich­lich Salz in dei­ne Wunden.

(2010÷2014)

Als ich die Wor­te zum ers­ten Mal aus sei­nem Mund ver­nahm, fand ich sie furcht­bar flach: »Wir alle brau­chen manch­mal einen Lotsen«.

Die­ser nichts­sa­gen­de Satz, die­se inhalts­lee­re Belang­lo­sig­keit war einer sei­ner Lieb­lings­sprü­che, sein Man­tra, sei­ne Lösung für alles und sei­ne Lösung für jeden. Nun, für fast jeden, muss ich ergän­zen. Er selbst, der gro­ße Kapi­tän, schien kei­nen Lot­sen nötig zu haben, auf kei­ner Rei­se sei­nes Lebens, nein, im Gegen­teil, stets bot er sich ande­ren als Bei­stand an, weil er wohl glaub­te, er sei der ein­zi­ge, der ver­stan­den habe, wo im Leben die Untie­fen lie­gen und wel­che unsi­che­ren Gewäs­ser es zu mei­den gilt.

Es war ein Satz wie einer die­ser uner­träg­lich opti­mis­ti­schen Kalen­der­sprü­che, die Unzu­frie­de­nen das Leben etwas freund­li­cher gestal­ten sol­len und in ihrer Bot­schaft so belang­los, so stu­pi­de sind, dass nie­mand je etwas Ver­nünf­ti­ges dage­gen ein­zu­wen­den ver­mag. Was hät­te jemand auch gegen die­sen Satz ein­wen­den sol­len? Er war ja rich­tig. Das war es, was mich dar­an zur Weiß­glut brach­te. Aus­ge­rech­net er muss­te es sein, der mir die­sen bedeu­tungs­lo­sen Satz mit einer Ernst­haf­tig­keit vor­pre­dig­te, so als wüss­te er genau, wor­um es im Leben gehe und wie man es sich ein­zu­rich­ten habe. Er wähn­te sich nicht nur als stol­zer Kapi­tän sei­nes eige­nen, wind­schnit­ti­gen Lebens und Lot­se der Leben aller ande­ren, son­dern gleich als Kar­to­graf für Leben über­haupt. In mei­nen Augen war er ein arro­gan­ter, chau­vi­nis­ti­scher Idiot.

Mit der Zeit fing ich an, die­sen Satz zu has­sen, und dadurch letzt­lich auch des­sen Urhe­ber. Er mach­te mich rasend, zumin­dest inner­lich, und ich muss­te mich schier beherr­schen, ihm nicht offen ins Gesicht zu fau­chen. Mit einer gelas­se­nen Regel­mä­ßig­keit wag­te er es hin und wie­der, die­se Plat­ti­tü­de in Dis­kus­sio­nen ein­zu­streu­en, die er mit mir führ­te, oder den Satz zu vari­ie­ren, ihm ein Tro­ja­ni­sches Pferd als Vehi­kel zu kon­stru­ie­ren und ihn einer Meta­pher unter­zu­schie­ben, damit die Wor­te nachts her­vor­kom­men und in mei­nem Kopf ihre Wir­kung ent­fal­ten konn­ten. Wenn er sich mit ande­ren unter­hielt oder wenn wir in einer Grup­pe unter­wegs waren und er jeman­dem die­sen Tipp, die­se Nich­tig­keit zuteil­wer­den ließ, blick­te er mit einem süf­fi­san­ten Lächeln in mei­ne Rich­tung, so als woll­te er ganz sicher­stel­len, dass ich den Satz auch zwei­fel­los ver­nom­men hätte.

War­um war es ihm so wich­tig, mir die­sen Satz immer und immer wie­der unter die Nase zu rei­ben? Es kotz­te mich ehr­lich gesagt an. Ich war doch Kapi­tän mei­nes eige­nen Lebens und ich brauch­te kei­nen Lot­sen. Schon gar nicht ihn!

Was also woll­te er mir mit die­sem dümm­li­chen Satz sagen, was pass­te ihm nicht an mir? Ich ver­stand es nicht und ich wuss­te nicht, ob ich es über­haupt ver­ste­hen wollte.

In den fol­gen­den Mona­ten hat­ten wir sel­ten mit­ein­an­der zu tun, wir tra­fen uns nur dann und wann rein zufäl­lig, so auch an Sil­ves­ter. Wir plau­der­ten ganz ober­fläch­lich über die­ses und jenes, denn auch ihm muss­te auf­ge­fal­len sein, dass unser Kon­takt sich ver­rin­gert hat­te. Bei einem Bier erzähl­te ich ihm kurz von jenen Din­gen, die mich zu die­ser Zeit beweg­ten, belas­te­ten, ganz nor­ma­ler All­tags­kram, und er sprach bloß leicht ange­trun­ken von einem Schiff, das auf Grund lau­fen wür­de, wenn ihm ein Lot­se fehl­te, denn schließ­lich bräuch­te selbst der bes­te Kapi­tän manch­mal einen Lot­sen und so wei­ter. Er spul­te sein Pro­gramm ab.

Mir war klar, dass er mich mein­te. Ich wür­de mit mei­nen Pro­ble­men auf Grund lau­fen, wenn nicht er, der gro­ße, all­wis­sen­de Lot­se mich ret­ten wür­de. Arsch­loch! Er kam sich in die­sem Moment sicher unglaub­lich lus­tig und über­le­gen vor, und es war wie­der ein­mal typisch für ihn, der glaub­te, ich hät­te nur auf sei­ne, gera­de sei­ne ret­ten­de Hil­fe gewar­tet. Sah ich so aus, als hät­te ich das nötig? Nein! Er konn­te mich mal.

Als er mir von sei­ner neu­en Woh­nung vor­zu­schwär­men begann, hör­te ich ihm schon nicht mehr rich­tig zu. Völ­lig unver­bind­lich ließ ich mir das Ver­spre­chen abrin­gen, ihn irgend­wann ein­mal besu­chen zu kom­men, und ver­schwand sofort dar­auf im anony­men Tru­bel der Sil­ves­ter­fei­ern­den. Ich sah noch, wie er mir nach­wink­te. Er schien mit die­ser Ant­wort glück­lich zu sein, aber ich hat­te nicht vor, ihn tat­säch­lich zu besuchen.

Ein Jahr ver­ging, in dem ich ihn kaum sah. Jedes Mal, wenn es doch geschah, leb­te in mir die Erin­ne­rung an jenen Satz auf. Ich ver­mied es schließ­lich voll­ends, ihm zu begeg­nen, und ging ihm aus dem Weg. Es war kei­ne bewuss­te Ent­schei­dung, die mich dazu gebracht hat­te, son­dern die­ses auf eine vage Art ver­un­si­chern­de Gefühl, das mich über­kam, wenn ich durch ihn an sei­nen Satz erin­nert wur­de. Ich ertapp­te mich dabei und fand es albern, konn­te mich aller­dings nie über­win­den, ihn ein­fach anzu­ru­fen oder ein Tref­fen mit ihm zu ver­ein­ba­ren. Mir fiel wie­der ein, dass er in der Stadt eine neue Woh­nung gefun­den hat­te und ich nun weder sei­ne neue Anschrift noch sei­ne Tele­fon­num­mer besaß. Das beru­hig­te mich, denn selbst wenn ich ihn hät­te errei­chen wol­len, so hät­te ich es nicht gekonnt. Es lag nicht in mei­ner Macht.

Er wie­der­um mach­te eben­so weni­ge Anstal­ten, sich bei mir zu mel­den, und so ver­gaß ich ihn fast, bis ich eines Tages im Super­markt auf jeman­den traf, den er mir einst als einen Freund vor­ge­stellt hat­te. Unschlüs­sig, ob ich die­sen Freund ein­fach anspre­chen soll­te, blieb ich zwi­schen den Rega­len ste­hen und dach­te nach, bis mir die Ent­schei­dung abge­nom­men wur­de und er sei­ner­seits auf mich zukam. Von der Situa­ti­on über­rum­pelt, ent­fuhr mir ein »Hal­lo!«, er aber griff bloß nach einer Packung Corn­flakes. Ich stand genau davor. Das war alles. Wort­los mus­ter­te er mich, bis ich ihn schließ­lich unbe­hol­fen frag­te, ob er sich an mich erin­ne­re, wir hät­ten einen gemein­sa­men Freund, und wo die­ser gemein­sa­me Freund denn hin­ge­zo­gen sei. Sein Gesicht ver­riet mir, dass er mich erkann­te. Zunächst erstaunt, dann bedrückt sah er mich an, bejah­te, sah sich um, als sei­en sei­ne Wor­te für die­sen Ort unge­eig­net, und sprach in gedämpf­tem Ton:

„Du weißt es noch gar nicht, hm? Man fand ihn vor, ja, knapp andert­halb Mona­ten in sei­ner Woh­nung. Tablet­ten oder so. Er hat­te sogar einen Abschieds­brief geschrie­ben, na ja, mehr eine Abschieds­no­tiz: »Ohne dich lau­fe ich auf Grund«. Selt­sam, was? Nie­mand weiß, wen oder was er damit gemeint hat.“

Und da ver­stand ich sei­nen Satz.

Es stimmt, daß ich unge­schickt bin; ich kann kei­ne Gefüh­le aus­drü­cken; kaum habe ich ein paar Wor­te dazu gesagt, mache ich mich über mich sel­ber lus­tig, mache ich mich über den ande­ren lus­tig, zer­stö­re ich die gan­ze Wir­kung durch einen iro­ni­schen Satz. Es ist ein Miß­trau­en gegen mich selbst; ich stau­ne, mich mei­ne Emp­fin­dun­gen preis­ge­ben zu hören, wie alle ande­ren es tun. Ich höre mir zu, als wäre es jemand ande­res, der da spricht, und glau­be, nicht mehr auf­rich­tig zu sein; durch die Wor­te erschei­nen mir mei­ne Gefüh­le auf­ge­bla­sen und fremd. Ich mei­ne dann, man wird mich belä­cheln wie ein klei­nes Mäd­chen, das von Din­gen spricht, die es nicht kennt. Es ist nicht mög­lich, daß ich es bin, die sagt: Ich lie­be Sie. Wenn man mir nun glaub­te, und ich hät­te mich getäuscht! Also muß ich mei­ne Sät­ze immer mit einer Pirou­et­te been­den, die zu sagen scheint: «Sie lie­ben mich, da Sie es mir ja sagen; wenn ich jedoch lie­be, wie ich es tue, fürch­te ich, das ist so nicht rich­tig – gewiß kön­nen alle ande­ren bes­ser lie­ben und es bes­ser sagen als ich.» Ich habe Angst, eines Tages zu ent­de­cken, daß ich nicht lie­be, und las­se schon im vor­aus Zwei­fel an mei­nen Gefüh­len ent­ste­hen, da ich befürch­te, man könn­te mir am Ende Unauf­rich­tig­keit vor­wer­fen; also male ich mir tau­sen­der­lei Umstän­de aus, in denen mei­ne Lie­be ver­mut­lich nicht aus­rei­chen wür­de. Ich behaup­te, ich wür­de nicht treu sein, dabei ver­weh­re ich es jedem ande­ren, mich ins Thea­ter zu beglei­ten oder mir die Fin­ger­spit­zen zu küs­sen, um dem­je­ni­gen, dem ich gesagt habe, ich lieb­te ihn nicht, nicht zu miß­fal­len, und sei es nur in Gedan­ken. Indem ich also leug­ne, daß mein Herz liebt, bin­de ich mich stär­ker als der­je­ni­ge, der mir sagt: Ich lie­be dich.
Ich wünsch­te, man wür­de mich durch­schau­en; doch man sieht nur die Pirou­et­ten und die Ironie.
Mar­cel­le Sau­va­geot – Fast ganz die Deine

Um ver­ste­hen zu kön­nen, habe ich mich zer­stört. Ver­ste­hen heißt das Lie­ben ver­ges­sen. Ich ken­ne nichts, was zugleich fal­scher und bedeut­sa­mer wäre als der Aus­spruch Leo­nar­do da Vin­cis, dem­nach wir etwas nur lie­ben oder has­sen kön­nen, wenn wir es ver­stan­den haben.
Fer­nan­do Pes­soa – Das Buch der Unruhe