Fragst Du Dich auch manch­mal, was mit den gan­zen Wör­tern pas­siert, die Du im Lau­fe des Tages nicht gespro­chen oder geschrie­ben hast?

Ich stel­le mir ger­ne vor, dass ich für man­ches ein täg­li­ches oder wöchent­li­ches Kon­tin­gent habe, z.B. für zwi­schen­mensch­li­che Kon­tak­te, für Lächeln, oder eben für Wör­ter. So wie das jähr­li­che Bud­get für Stra­ßen­bau in mei­ner Hei­mat­stadt. Im Herbst wur­den an den unmög­lichs­ten Stel­len Ver­kehrs­in­seln und Brems­schwel­len gebaut, um im nächs­ten Jahr nicht etwa weni­ger Geld aus dem gro­ßen Topf zuge­wie­sen zu bekommen.

Wenn das per­sön­li­che Bud­get aus­ge­schöpft ist, dann hat man viel­leicht schon um 15 Uhr kein Lächeln mehr übrig und ist schon vom Atmen eines ande­ren Men­schen genervt, oder aber man hat noch was über, lächelt völ­lig unmo­ti­viert Brems­schwel­len und Ver­kehrs­in­seln in die Luft und wird in der Bahn weit­räu­mig umgan­gen, hat als ein­zi­ger noch einen Sitz­platz neben sich frei, weil Leu­te, die ohne erkenn­ba­ren Grund lächeln, unheim­lich sind.

Übrig­ge­blie­be­ne Wör­ter kann man viel­leicht durch Selbst­ge­sprä­che los­wer­den, oder durch sinn­lo­se Blog­bei­trä­ge wie die­sen, aber das ist ja doch bei­des nicht jeder­manns Sache. Ich emp­fin­de es schon als merk­wür­dig, mit den Kat­zen zu reden. Selbst­ge­sprä­che kom­men also für mich nicht in Fra­ge. Zumin­dest jetzt noch nicht. In 30 bis 40 Jah­ren, wenn ich eine bös­ar­ti­ge alte Frau gewor­den bin, so eine, vor der alle Kin­der in der Stra­ße Angst haben und bei der sie beim Mar­ti­ni­s­in­gen nicht klin­geln, gehe ich vor mich hin brum­melnd umher und habe nie­mals mehr Wör­ter übrig, wenn ich ein­schla­fen will.

Es ist näm­lich so, des­sen bin ich mir sicher, dass man von die­sen Übrig­ge­blie­be­nen am Ende des Tages heim­ge­sucht wird. Dro­hend bal­len sie sich in den Ecken des Kop­fes zusam­men und tuscheln. Die­ses Tuscheln knapp über der Gren­ze, an der es gehört wer­den kann. Ein Cre­scen­do von Zisch­lau­ten, har­ten Ts und Ps (mit Spu­cke­t­röpf­chen) und bedeu­tungs­schwan­ge­ren drei Punk­ten. Und dann kann man nicht oder nur schlecht schla­fen. Im Kopf setzt sich Staub ab. Du siehst, es ist alles sehr dramatisch.

Wochen­en­den und Urlau­be kön­nen beson­ders gefähr­lich sein!
Mit drei Punk­ten wird es noch erns­ter:
Wochen­en­den und Urlau­be kön­nen beson­ders gefähr­lich sein…

Den­ken heißt zer­stö­ren. Der Denk­vor­gang opfert den Gedan­ken, denn Den­ken heißt aus­ein­an­der­neh­men. Könn­ten die Men­schen das Geheim­nis des Lebens sin­nend erfah­ren, könn­ten sie die tau­send Ver­stri­ckun­gen erah­nen, die der See­le bei der gerings­ten Regung dro­hen, sie wür­den nicht einen Fin­ger rüh­ren, geschwei­ge­denn leben. Sie wür­den vor Schreck ver­ge­hen, wie all jene, die Selbst­mord bege­hen, um nicht anderen­tags unter der Guil­lo­ti­ne zu enden.
(Fer­nan­do Pes­soa – Das Buch der Unruhe)

Dein Seuf­zen treibt eine Wei­le auf dem Was­ser. Ers­te Son­nen­strah­len umhül­len es mit rosa-gol­­de­­nem Licht, bevor es in den Wel­len des Flus­ses versinkt.

Wir sit­zen auf einem Steg am Leine­ufer. Ein paar Enten schwim­men vor dem Steg her­um. Jede von ihnen trägt einen klei­nen Trench­coat mit hoch­ge­schla­ge­nem Kra­gen, eine Zigar­re im Schna­bel­win­kel und hält in den Flü­geln eine Zei­tung mit dis­kre­ten Löchern zum Durchgucken.

„Ihre Beschat­tungs­tech­nik ist nicht mehr sehr zeit­ge­mäß“, flüs­te­re ich verschwörerisch.

Du schaust mich ver­ständ­nis­los an und ich begrei­fe, dass das stun­den­lan­ge Gespräch in der end­gül­ti­gen Tren­nung mün­det, denn frü­her hät­test Du ver­stan­den und gelacht, jetzt siehst Du nur noch eini­ge der all­ge­gen­wär­ti­gen Enten.

Es gilt, sehr schnell zu sein, bevor das Ver­ständ­nis und der Wil­le zur Nach­sicht in eine Schlamm­schlacht aus­ar­ten. Es ist der Trick, sich das vor­her ein­zu­ge­ste­hen, die Ide­al­vor­stel­lung einer freund­schaft­li­chen Tren­nung zu demas­kie­ren und dem neu­ge­won­ne­nen Geg­ner einen Schritt vor­aus zu sein.“

So hät­te es Mac­chia­vel­li in sei­ner Bri­­gi­t­­te-Kolum­­ne geschrieben.

Ich atme die apri­ko­sen­far­be­ne Luft ein und star­re auf die ver­schwim­men­den Buch­sta­ben des Lei­b­­nitz-Zitats an der Mau­er des his­to­ri­schen Muse­ums. Mit zusam­men­ge­knif­fe­nen Augen kann ich gera­de noch die Turm­uhr der Markt­kir­che erken­nen. Schon halb fünf.

Kei­ner von uns sagt etwas. Die Stil­le hat die Kon­sis­tenz einer der zähen Rinds­rou­la­den, die mei­ne Mut­ter frü­her auf den Tisch brach­te, wenn die Fami­lie gegen malay­ischen Lin­sen­ein­topf mit Bana­nen oder Grün­kern­auf­lauf das Veto ein­leg­te. Auf denen konn­te man auch stun­den­lang rum­kau­en wie auf einem Kau­gum­mi. War der Geschmack ver­braucht, blieb der fase­ri­ge, grau­brau­ne Klum­pen zurück, den wir alle mit Todes­ver­ach­tung schluck­ten. Ich fra­ge mich, ob mei­ne Mut­ter wirk­lich glaub­te, uns wür­den die Rou­la­den schmecken.

„Jetzt, wo wir getrenn­te Leu­te sind, ist gegen­sei­ti­ges Ver­ständ­nis im Prin­zip obso­let. Trotz­dem möch­te ich Dir eine Geschich­te erzäh­len. Und zwar die von den Russen:

Als ich nach der Arbeit nach Hau­se kom­me, sit­zen zwei Män­ner im Ess­zim­mer. Ein­fach so. Mit der Selbst­ver­ständ­lich­keit von Fami­li­en­mit­glie­dern. Bei­de haben Senf­kris­tall vor sich ste­hen und eine gro­ße Fla­sche Wod­ka. Der eine ist bestimmt schon Anfang 50, sein Gesicht sieht aus wie von einem geschick­ten Künst­ler in rotem Lehm model­liert, etwas blas­ser, aber im glei­chen Farb­ton. Selbst die Fal­ten und Ker­ben haben etwas Mine­ra­li­sches an sich, sogar sein Haar, wie das einer bil­li­gen Perü­cke, passt farb­lich ganz Ton in Ton zum Rest. Jemand soll­te ihm mal sagen, dass Ton in Ton out ist. Die hell­blau­en Augen schwim­men in wäss­ri­ger Gleich­gül­tig­keit. Gleich­zei­tig ist er eine ein­zi­ge For­de­rung, immer­zu bereit, auf­zu­sprin­gen und die ihm zuge­dach­ten Gaben des Lebens an sich zu reißen.

Der ande­re macht einen eher emp­find­sa­men Ein­druck, mit fei­ne­ren Gesichts­zü­gen, fei­nem schwar­zen Haar und Augen, die man nur als see­len­voll bezeich­nen kann. Ich stel­le ihn mir sofort mit poma­di­sier­tem Haar, in Frack und blank­ge­putz­ten Lack­schu­hen in einem Rauch­zim­mer vor, auf dem Tisch­chen neben ihm ein Kris­tall­glas mit Likör. Mit fei­nen Herr­schaf­ten phi­lo­so­phi­sche und sozia­le Pro­ble­me der Jahr­hun­dert­wen­de dis­ku­tie­rend. Albern, was einem wäh­rend der Sekun­den des ers­ten Anse­hens durch den Kopf schießt. Mein Vater ist im gan­zen Haus nicht zu fin­den und ich bin unsi­cher, was ich mit die­sen bei­den Män­nern anfan­gen soll.

Ich rufe Ger­da an. Das Gespräch mit ihr ist eine Art Tau­zie­hen mit Gum­mi­sei­len, aber immer­hin weiß ich danach, dass die bei­den Her­ren Juri und Michail hei­ßen, zwei Deutsch­rus­sen und Musi­ker sind, die nun bei uns woh­nen. Im Zim­mer neben mei­nem. Sie sei­en wert­vol­le Künst­ler im Stil ver­folg­ter Dis­si­den­ten. Nahe­zu Kleinodien.

Ich ver­su­che, mich über die­se Berei­che­rung zu freu­en und gehe zurück um mich zumin­dest vor­zu­stel­len. Danach will ich eigent­lich nur Ruhe. Statt­des­sen bekom­me ich ein Glas Wod­ka auf­ge­nö­tigt und Ziga­ret­ten angeboten.

Nach einem gefühl­ten Liter Schnaps kommt die Gleich­gül­tig­keit. Juris Hand auf mei­nem Bein ist mir egal. Juris Hand an mei­nen Brüs­ten ist mir egal. Wäre ich nüch­tern, täte ich aus Anstand etwas geziert, wäre aber trotz­dem gleich­gül­tig. Mein Kör­per ist etwas, das eben an mir und mei­nen Gedan­ken dran­hängt. Ste­cken kaum Emp­fin­dun­gen drin. Im Lau­fe des Abends haben sich die bei­den wohl geei­nigt, denn Juri schleppt mich ganz selbst­ver­ständ­lich in mein Bett, zieht mich aus und fasst mich an. Kein Strei­cheln, eher ein lust­lo­ses Rei­ben, als müs­se das eben sein, bevor man wei­ter­ma­chen kann. Wäre ich nüch­tern, ich täte so, als gefie­le mir das. Stöhn­te etwas, beweg­te das Becken, wie ich das sonst tat, wenn ich mit jeman­dem mit­ging. Jetzt lie­ge ich aber ein­fach da. Er zieht erst mei­ne Hosen run­ter, dann sei­ne eige­nen. Kei­nen Ton gibt er von sich, als er vehe­ment in mich ein­dringt, nicht mal ein Äch­zen oder Grun­zen. Als brin­ge er eine Pflicht­übung hin­ter sich. Sein Kör­per­ge­ruch über­wäl­tigt mei­nen eige­nen Dunst in einer resi­gnier­ten feind­li­chen Über­nah­me. Es dau­ert über­ra­schend lan­ge, bis er sei­nen Prü­gel aus mir her­aus­zieht und sich, immer noch geräusch­los, anzieht und das Zim­mer ver­lässt. Auf dem Max Ernst Druck an der Wand neben mir ent­de­cke ich Details, die mir bis­her ver­bor­gen gewe­sen waren, obwohl der wei­ße Schlei­er des Mos­ki­to­net­zes dar­über liegt. Die Wol­ke links oben im Bild sieht fast aus wie ein Pan­da­ge­sicht. Ein Comic­pan­da. Ich mag Max Ernst lie­ber als H.R. Giger. Die Bil­der sind auf eine weni­ger pla­ka­ti­ve Art düs­ter und beklem­mend. Wenn man will, kann man eine Ahnung von Hoff­nung dar­aus zusam­men­su­chen, muss aber nicht.

Sper­ma läuft aus mir her­aus, es fühlt sich an, als mache ich ins Bett. Irgend­wie ist es auch genau­so. Ich mache stell­ver­tre­tend für den Mine­ra­li­schen in mein Bett. Besud­le es. Die gro­ße Eule schaut mir wohl­wol­lend mit plü­schig umrahm­ten Glas­au­gen dabei zu.

Ich krie­che durch die Löcher in der grü­nen Höh­le, das Licht drau­ßen ver­liert sich, die Pan­da­wol­ke ist jetzt ein Rochen, oder eine Schlan­ge. Sobald man in dem Bild drin ist, kann man sie nicht mehr sehen, doch die Wol­ken müs­sen sich ver­än­dern und wei­ter­zie­hen, denn mit mir in der Sze­ne muss zwangs­läu­fig Zeit ver­ge­hen, Dyna­mik entstehen.

Das Moos, das die Höh­len­ein­gän­ge weich auf­pols­tert und den Boden zu einer ers­ten Ruhe­stät­te macht, drü­cke ich mit Knien und Hän­den platt. Wo ich län­ger ver­har­re, rich­tet es sich nicht wie­der auf und an ande­ren Stel­len kann ich hören, wie es auf­at­met, weil mei­ne Last fort ist. Ich bin schon so weit in den Berg vor­ge­drun­gen, dass das Klop­fen und Öff­nen mei­ner Zim­mer­tür kaum noch zu hören ist. Jemand setzt sich neben mich auf die Bett­kan­te. Der Boden aus wei­chem Gestein knarrt lei­se und gibt unter dem zusätz­li­chen Gewicht nach. Eine Feder streicht über mein Haar und die Wan­gen. Sie schei­nen ganz feucht zu sein. Das Dun­kel ver­krampft sich, etwas nähert sich. Etwas Süß­li­ches, Dump­fes. Zwei wei­che Kis­sen legen sich auf mei­ne Stirn, die Feder streicht über mei­nen Bauch. Ich zie­he die Bei­ne an und dre­he den Kopf und den Rest von mir weg, wie­der dem Bild und der Wand zu. Die Höh­le hat mich in das fau­li­ge Bett aus­ge­spuckt. Gän­se­haut dringt auch dort hin, wo mich noch das eine Hosen­bein bedeckt. Mehr geht nicht, nur weg­dre­hen mit letz­ter Kraft. Die Feder löst sich nicht mit einem Puff in Luft auf, viel­mehr bohrt sie sich pene­trant sanft hin­ein. Nicht in den Kör­per, son­dern in mich. Es ist ange­nehm und absto­ßend gleich­zei­tig, wie Obst kurz vor dem Ver­fau­len. Wie an Ste­fa­nies Geburts­tag auf dem Schoß ihres Stief­va­ters. Michail gibt fort­wäh­rend Schhhs von sich, wie ein Zug. Er soll aus mir ver­schwin­den. Nie­mand darf in mich hinein.“

Die Frau starrt blick­los in mei­ne Rich­tung. Ihre Augen wogen selbst­stän­dig auf und ab mit den Wel­len des Fluss­was­sers. Vor­hin hat sie mich noch ange­se­hen, als hät­te sie mich erkannt und es war die­ser Blick, der mich bewog, den bei­den eine der kost­ba­ren, unend­li­chen Minu­ten für ihre Tren­nung zu schen­ken. Jetzt ist ihre Prä­senz ein Loch in der Luft. Der Mann legt den Arm um sie und ich schwim­me mit den ande­ren Enten am Ufer ent­lang auf eine alte Dame zu, die Brot­stü­cke ins Was­ser wirft. Auf dem Uhren­turm der Markt­kir­che schubst ein spiel­zeug­gro­ßer Mensch den Zei­ger an.

Teil I – Die Menschen

Han­no­ver Südstadt.
01.10.2014

Julia schloss die Tür zu ihrer Woh­nung auf und hat­te nur noch einen ein­zi­gen Gedan­ken. Im Ver­lauf der U‑Bahnfahrt nach Hau­se hat­te er sich zuneh­mend ver­fes­tigt und die Vor­stel­lung wur­de immer rea­ler, war schon fast so wär­mend und trös­tend wie die Rea­li­tät es sein würde.

Julia dach­te an ein hei­ßes Bad. Ein schau­mi­ges, woh­li­ges Bad mit einem Glas Pro­sec­co am Wan­nen­rand und einem Hör­buch. Die gan­ze Anspan­nung des Tages wür­de von ihr ablas­sen. Der star­ke Griff, den die Sor­ge um ihre Pati­en­ten immer häu­fi­ger fest um ihren Nacken drü­cken ließ, wür­de mit dem Was­ser ein­fach den Abfluss runterrauschen.

Julia ließ den neu­en, roten Man­tel von ihren Schul­tern glei­ten und sah sich einen Moment lang im Spie­gel neben ihrer Gar­de­ro­be in die Augen und in das müde drein­bli­cken­de Gesicht.

Ihre Freun­din­nen behaup­te­ten, es sei ein Bar­­bie-Gesicht. Mit fei­nen Gesichts­zü­gen, hohen, aber nicht zu har­ten Wan­gen­kno­chen, korn­blu­men­blau­en Augen, einer zier­li­chen Nase und einem klei­nen, run­den Mund. Das gan­ze Kunst­werk wur­de umrahmt von vol­lem, blon­den Haar. Sie selbst fand, jedem müss­te genau wie ihr die schie­fe Nasen­schei­de­wand auf­fal­len, als wei­se eine Leucht­re­kla­me dar­auf hin. Die Haut, die im Som­mer nie brau­ner als ein gol­de­ner Honig wur­de, war nicht makel­los. Außer­dem war sie zwar lang­bei­nig und groß, immer­hin fast 1,80, aber ein­fach zu mollig.

Bar­bie! Dass sie nicht lachte!

Sie ging ins Bade­zim­mer und dreh­te den Was­ser­hahn ihrer Wan­ne auf, goss etwas Bade­schaum dazu und ging dann in die Küche, um sich ein Glas wohl­ver­dien­ten Fei­er­abend­pro­sec­co einzuschenken.

Gera­de, als sie den ers­ten köst­li­chen Schluck neh­men woll­te, hör­te sie ein Rascheln, das aus dem Wohn­zim­mer zu kom­men schien. Julia ging mit einem mul­mi­gen Gefühl hin­über. Die Fei­er­abend­ent­span­nung ver­schwand augenblicklich.

Im Wohn­zim­mer war jedoch nichts zu sehen.

Dann beweg­te sich ein Blatt der gro­ßen Yuc­ca­pal­me in der Ecke am Fens­ter. Das Ding war zwar so rie­sig, dass es fast bis zur Decke reich­te, aber nicht groß genug, um einem Ein­bre­cher Schutz vor Ent­de­ckung zu bie­ten. Komisch, dach­te Julia.

Dann ent­deck­te sie den klei­nen Spalt an der Tür zum Bal­kon. Offen­bar hat­te sie die­se am Mor­gen nicht rich­tig geschlossen.

Beru­higt ging Julia mit dem Pro­sec­co, den sie schon völ­lig ver­ges­sen hat­te, hin­aus und zün­de­te sich eine Ziga­ret­te an. Jetzt wür­de auf Teu­fel komm raus ent­spannt werden!

Sie inha­lier­te tief und stieß dann mit einem unda­men­haf­ten Grun­zen den Rauch wie­der aus. Mit jedem Zug ver­schwan­den die alten Leu­te, die wegen Dia­be­tes und Ein­sam­keit das War­te­zim­mer der Gemein­schafts­pra­xis bevöl­ker­ten, im Dampf. Mit jedem Zug stieß sie die Besorg­nis über das mager­süch­ti­ge jun­ge Mäd­chen aus. Sie alle bekä­men kei­nen Qua­drat­zen­ti­me­ter Platz in ihrem Heim. Die­se Schutz­maß­nah­me war not­wen­dig, das wuss­te sie.

Zum Baden wür­de sie einen harm­lo­sen Lie­bes­ro­man hören und sich mit rosa­ro­ter Zucker­wat­te umhüllen.

Die Wan­ne war jetzt voll und sie dreh­te den Was­ser­hahn zu. Schaum rag­te in gro­ßen Ber­gen in die Höhe und es knis­ter­te wun­der­bar, als sie ins Was­ser stieg und sich hin­ei­naal­te. Durch die offe­ne Bade­zim­mer­tür erzähl­te das Hör­buch, wie eine jun­ge Büro­kauf­frau den ers­ten Blick auf den Mann warf, der die Lie­be ihres Lebens sein muss­te. Ja, sein musste.

Julia schloss die Augen.

Ein Rascheln. Sie schrak hoch. Da war es schon wie­der. Dabei hat­te sie die Bal­kon­tür fest verschlossen!

Die­ses Mal kam es aus dem Flur.

Sie kniff die Lider fest zusam­men und öff­ne­te sie wie­der. Sie sah in die dunk­len Knopf­au­gen einer Ente.

Erneut schloss sie kräf­tig die Augen und schüt­tel­te den Kopf. Das war doch unmöglich.

Augen wie­der auf. Die Ente war noch da und schau­te sie an. Ganz gelas­sen, so schien es. Ihre pad­deln­den Füße ver­ur­sach­ten Strö­mun­gen im Badewasser.

Ich muss sie berüh­ren, um sicher­zu­ge­hen, dass das Vieh kei­ne Ein­bil­dung ist, dach­te Julia. So stres­sig war der Pra­xis­all­tag nun auch wie­der nicht.

Gemäch­lich, um das Tier nicht zu ver­schre­cken, streck­te sie den Zei­ge­fin­ger aus und strich über den lin­ken Flü­gel. Er fühl­te sich zugleich glatt und etwas rau an.

Die Ente schrak nicht zusam­men, schlug nicht panisch mit den Flü­geln auf und ab, son­dern sah sie nur sto­isch an. Dann wackel­te sie mit dem Bürzel.

Julia konn­te sich gera­de noch ein ent­zück­tes Quiet­schen verkneifen.

Han­no­ver List
01.10.2014

Er war erschöpft. Mehr als erschöpft. Er war eigent­lich nur zu erle­digt, um tot umzu­fal­len. Für die­se 36 Stun­­den-Diens­­te wur­de er lang­sam zu alt.

Sven wuss­te schon jetzt, dass er am ers­ten der bei­den frei­en Tage nichts von sei­ner To-do-Lis­­te schaf­fen und es dann Ärger mit ihm selbst geben wür­de. Es wäre klü­ger, sich nicht mehr so viel… Nein. Er wür­de es nie ler­nen. Die­se und ande­re uncle­ve­re Eigen­ar­ten waren schon untrenn­bar mit sei­nem Cha­rak­ter verschmolzen.

Er schloss sei­ne klei­ne Ein­zim­mer­woh­nung auf, ließ sei­nen Ruck­sack auf den Boden fal­len und stapf­te in den schwe­ren Stie­feln in die Küche.

Die Lache vor der Wasch­ma­schi­ne war inzwi­schen kom­plett von dem Berg Schmutz­wä­sche auf­ge­saugt wor­den. Scheiße.

Er wür­de den Gerä­te­ser­vice sofort anru­fen. Viel­leicht hat­te er Glück und es käme schon mor­gen jemand.

Sven hol­te sich ein Bier aus dem Kühl­schrank, nahm das Tele­fon von der Sta­ti­on und rief die Hot­line an.

Es raschel­te ganz lei­se aus der Wasch­ma­schi­ne. Er zuck­te zusam­men. Genau in die­sem Moment ver­stumm­te die War­te­schlei­fen­mu­sik, wich einem Kla­cken in der Lei­tung und eine Frau, deren pro­fes­sio­nel­le Freund­lich­keit etwas gequält klang, mel­de­te sich. Einen Moment lang wuss­te Sven nicht genau, was er jetzt tun soll­te und sag­te nichts. Wie­der die­ses lei­se Rascheln. Kaput­te Wasch­ma­schi­nen lau­fen aus, aber sie raschel­ten nicht. Was war das?

Mit dem Hörer in der Hand näher­te er sich dem offe­nen Bull­au­ge des Geräts. Die Tür stand noch genau­so offen, wie er sie ges­tern zurück­ge­las­sen hatte.

„Hal­lo! Sind Sie noch dran?“ tön­te es aus dem Tele­fon. Sven konn­te noch immer nicht ant­wor­ten. Er war zu verblüfft.

„Hal­lo! Sie! Wenn Sie sich nicht mel­den, kann ich Ihnen lei­der nicht wei­ter­hel­fen und muss zum nächs­ten Kun­den umschal­ten. Hallo?!“

Aus dem Dun­kel der Wasch­ma­schi­nen­trom­mel lunz­te eine Ente und sah Sven direkt an. Sie, nein er, es war ein Erpel, schwamm in dem nicht abge­pump­ten Was­ser. Sei­ne Knopf­au­gen blick­ten ihn ruhig und gelas­sen an. Das Tier schien kei­ne Angst zu haben, dafür war jedoch Sven kurz davor, in sei­ner klei­nen Küche in Ohn­macht zu fallen.

Der Erpel wackel­te auf­mun­ternd mit dem Bür­zel. Fast so, als wol­le er sagen: „Nimm es nicht so schwer, Kum­pel. Wir alle ken­nen sol­che Tage.“

Sven ließ sich auf den Boden plump­sen und starr­te in das Gesicht der Ente. Sie gab kei­nen Laut von sich. Sven ächz­te und leg­te das Tele­fon zur Sei­te. Aus dem Hörer klang noch das Frei­zei­chen, aber das nahm er gar nicht wahr. In der ande­ren Hand hielt er noch die Bier­fla­sche fest umklam­mert. Er nahm einen gro­ßen Schluck, schüt­tel­te den Kopf und guck­te noch ein­mal in die Wasch­ma­schi­ne hin­ein. Da schwamm der Erpel und schau­te ihn unver­än­dert gelas­sen an.

Noch ein gro­ßer Schluck. Noch ein Kopf­schüt­teln. Erneu­ter Blick, die­ses Mal von der Sei­te. Der Erpel dreh­te den Kopf in sei­ne Rich­tung und sah ihm tief in die Augen.

Sven streck­te vor­sich­tig die Hand aus und tipp­te sach­te nach einem der Flü­gel. Der fühl­te sich über­ra­schend rau an. Über­haupt, er fühl­te sich an. Das bedeu­te­te, er hat­te tat­säch­lich eine leben­di­ge Ente in sei­ner Wasch­ma­schi­ne und jetzt wuss­te er auch nicht weiter.

Für der­ar­ti­ge Vor­komm­nis­se gab es kei­nen Leit­fa­den, kein stan­dar­di­sier­tes Vor­ge­hen aus einem Hand­buch. Das ein­zi­ge, was ihm gera­de zu tun ein­fiel, war, sein Bier auf­zu­trin­ken. Even­tu­ell könn­te er noch ein zwei­tes trinken.

Was er dann auch tat.

Eine gro­tes­ke Situa­ti­on war das. Sven fühl­te sich hilf­los ange­sichts die­ser Ente. Dabei war es doch nur eine Ente! Ein Vogel. Er könn­te die­sen Vogel ein­fach neh­men und nach drau­ßen brin­gen. Dann wür­de er noch ein­mal 15 kost­ba­re Minu­ten sei­ner Frei­zeit in der War­te­schlei­fe eines Call­cen­ters ver­plem­pern, um einen Ter­min für das defek­te Gerät ver­ein­ba­ren. Pro­blem gelöst, Wochen­en­de gerettet.

Wie war das Tier über­haupt in sei­ne Woh­nung hin­ein­ge­kom­men? Dass es in der Wasch­ma­schi­ne saß, konn­te er noch nach­voll­zie­hen, schließ­lich stand Was­ser drin. Aber sonst. Nein. Es wäre ja auch nicht so, als mache die­ser, zuge­ge­ben recht hüb­sche Erpel auch nur Anstal­ten, aus der beeng­ten Wasch­trom­mel wie­der raus zu wollen.

Und das er selbst nicht schon längst etwas getan hat­te, um Abhil­fe zu schaf­fen, war auch mehr als eigen­ar­tig. Gro­tesk, ein Begriff, den er bis­her eher mit Taran­ti­no Fil­men ver­bun­den hat­te, war das ein­zi­ge Wort, fand Sven, wel­ches das alles pas­send beschrieb.

Er pros­te­te der Ente zu. Die Ente bürzelte.

Sven war ent­zückt. Noch ein Bür­zeln. Sven quiekte.

Es sah fast so aus, als sei der Erpel zufrieden.

Han­no­ver Lin­den – Ener­ci­ty Gebäude
01.10.2014

Ralf sah aus dem gro­ßen Fens­ter im Büro des Abtei­lungs­lei­ters für Netz­er­wei­te­rung auf die Ihme. Es war ein sehr hüb­sches Büro, nicht nur wegen des Aus­blicks und weil es groß war. Der jun­ge Hin­richs hat­te es auch geschafft, den Raum sowohl gemüt­lich, als auch funk­tio­nell ein­zu­rich­ten. Ein viel­sei­ti­ger Mann. Sein Vater, der alte Hin­richs, der im Vor­stand des Unter­neh­mens saß, hat­te es dem Sohn auf dem Weg in die Füh­rungs­eta­ge nicht leicht gemacht. Ralf war trotz­dem ein wenig nei­disch. Ein biss­chen Neid ist erlaubt, ent­schied er. Sei­ne Eltern waren kei­ne ein­fluss­rei­chen Leu­te gewe­sen und so war er selbst zwar flei­ßig, aber den­noch nur ein Elek­tri­ker. Ein Elek­tri­ker, der im schi­cken Büro eines immer mäch­ti­ger wer­den­den Man­nes Hilfs­ar­bei­ten verrichtete.

Drau­ßen beweg­ten sich Jog­ger und Rad­fah­rer, Fami­li­en mit Kin­dern und Hun­den am Was­ser ent­lang. Die Son­ne schien auf sie alle her­ab, die sie da glück­lich einen der letz­ten wär­me­ren Tage des Früh­herbs­tes genossen.

Eine Oma samt Enkel, er ver­mu­te­te mal, dass es Oma und Enkel waren, stand am Ufer des Kanals und füt­ter­te eine Hor­de Enten. Ihre Brot­stü­cke flo­gen weit auf die Mit­te des Was­sers hin­aus. Der pumm­li­ge Arm des klei­nen Jun­gens beför­der­te das begehr­te Back­werk gera­de mal bis auf die Stei­ne zwi­schen Was­ser und Wiese.

Die Enten stürz­ten sich auf­ge­regt auf jeden neu­en Bro­cken Fut­ter. Er konn­te das Schnat­tern bei­na­he hören. Lei­der drang davon kein Laut bis in das obers­te Stock­werk des Ener­ci­ty Gebäu­des. Selbst den Ver­kehrs­lärm hör­te man hier oben nicht.

Ralf stell­te sich vor, wie es wäre, hier zu arbei­ten. Umge­ben nur von Stil­le. Das Leben außer­halb der Wän­de wäre zum Schwei­gen ver­don­nert, zur Bedeutungslosigkeit.

Im obers­ten Stock wäre man Gott. Durch Öff­nen und Schlie­ßen der Fens­ter durf­te das Leben sein oder eben nicht sein, drin­nen herrsch­te der Inha­ber des Büros, und es wäre auch kein Büro mehr, son­dern eine Schalt­zen­tra­le der Macht.

Wer hier saß, thron­te, herrsch­te bereits über die Strom­ver­sor­gung der Region.

„Ohne Strom sind wir alle nicht mehr weit ent­fernt vom Cha­os“ dach­te Ralf philosophisch.

Sein Meis­ter wäh­rend der Lehr­zeit war manch­mal von solch schwer­ge­wich­ti­gen Gedan­ken befal­len wor­den und ließ jeden, der nicht schnell genug fort­kom­men konn­te, dar­an teil­ha­ben. Das meis­te war zum einen Ohr rein und zum ande­ren wie­der raus­ge­gan­gen aber es blieb hän­gen, dass Elek­tri­zi­tät Wohl­tat und Gefahr zugleich war und äußers­te Sorg­falt im Umgang mit ihr lebenswichtig.

Er wand­te sich der kaput­ten Steck­do­sen­leis­te zu. Die Siche­run­gen und ande­ren dazu­ge­hö­ri­gen Abneh­mer hat­te er schon über­prüft. Alle waren in Ord­nung, nur die­se eine nicht, was eigent­lich unmög­lich war. Unter­wegs konn­te kein Strom ein­fach so ver­lo­ren gehen, oder im San­de ver­lau­fen. Am liebs­ten wür­de er den Boden auf­rei­ßen. Nur eine Über­brü­ckung zwi­schen Haupt­lei­tung und der Steck­do­se konn­te das Pro­blem ver­ur­sa­chen. Er hat­te alles abge­sucht und nichts gefun­den. Für alles, was er noch tun könn­te um die Stö­rung zu fin­den muss­te er zuerst Rück­spra­che hal­ten. Außer ihm war kei­ner mehr im Haus. Hat­ten schon Wochenende.

Für ihn war es jetzt auch Zeit.

Zeit, beim Rewe auf der ande­ren Sei­te des Kanals etwas Brot zu holen und die Enten zu füt­tern. Nie­mand leg­te schließ­lich fest, dass Enten­füt­tern nur für Kin­der sei. Und es war­te­te auch nie­mand mehr sehn­süch­tig auf ihn. Olga hat­te ihn letz­te Woche ver­las­sen. War einem in sei­nen Augen win­di­gen Foto­gra­fen aufgesessen.

„Er fin­det mich schön! Und er sagt es mir auch! Nicht wie Du! Du bist wie ein Stein!“ Ihren melo­dra­ma­ti­schen Abgang krön­te sie mit Tür­knal­len und wüten­dem Kla­ckern ihrer schwin­del­erre­gend hohen Schu­he. Zurück blieb eine ersti­ckend auf­dring­li­che Wol­ke von Par­fum, diver­ser Kos­me­ti­ka und dem bil­li­gen Weich­spü­ler. Sei­ne Trau­er um ihren Fort­gang wur­de von die­ser Kako­pho­nie der Gerü­che sofort im Keim erstickt.

Ralf schrieb Hin­richs eine Notiz und sich selbst eine Erin­ne­rung, recht­zei­tig vor Wochen­be­ginn eine Mail bezüg­lich der not­wen­di­gen Maß­nah­men zu schrei­ben. So was mach­te einen guten Eindruck.

Dann pack­te er sein Werk­zeug zusam­men und nahm die Trep­pen statt des Fahrstuhls.

Ein leich­tes Flat­tern durch­ström­te ihn und ein Taten­drang, den er schon lan­ge nicht mehr gespürt hatte.

Er war frei. Wenn er woll­te, konn­te er nach dem Enten­füt­tern einen Döner holen, im Pub Bier trin­ken und die Nacht zum Tag machen. Den Döner mit vie­len Zwie­beln und Knob­lauch. Kei­ne Vor­hal­tun­gen. Abso­lu­te Freiheit.

Aber das Bett wäre auch noch leer, wenn der Döner dann schwer im Magen lag.

„Idi­ot!“ schalt er sich selbst.

„Geht´s jetzt end­lich auch ins Wochen­en­de Herr Möller?“

Der Pfört­ner Herr Masow­ski war hol­ly­wood­reif ält­lich und väter­lich wohl­wol­lend. Er kann­te fast alle Mit­ar­bei­ter mit Namen. Sein Kol­le­ge von der Nacht­schicht war noch jung, von der Wich­tig­keit sei­ner Auf­ga­be so durch­drun­gen, dass es ihm eng wur­de zwi­schen Bei­nen und Armen. Der saß nicht am Emp­fang, son­dern stand breit­bei­nig dane­ben, oder patrouil­lier­te geschmei­dig wie eine mit Ste­ro­iden voll­ge­pump­te Mario­net­te durch die Eta­ge. Also er waren eigent­lich vie­le. Fast jede Nacht ein ande­rer. Sie sahen aber alle gleich aus, also waren sie einer.

„Ja. Gleich gehe ich die Enten an der Ihme füt­tern. Hab ich ewig nicht mehr gemacht.“

Der alte Herr Masow­ski lach­te. „Mei­ne Rena­te und ich, wir sind frü­her ganz oft Enten füt­tern gewe­sen. Viel­leicht, wenn das Wet­ter mor­gen noch mal so schön ist, wie heu­te…“ Er lach­te wie­der. „Und danach set­zen wir uns roman­tisch auf eine Bank und hän­gen unse­ren Erin­ne­run­gen nach.“ Ein Zwinkern.

„So sei es!“ ver­kün­de­te Ralf thea­tra­lisch, wedel­te mit den Armen und ent­schwand dra­ma­tisch durch die sich öff­nen­den Türen in den Lärm der Stadt.

HAZ vom 24.10.2014

Der OB der Stadt Han­no­ver, Ste­fan Schos­tok, hat ein neu­es Fami­li­en­mit­glied adoptiert.

„Edwin saß eines Tages ganz uner­war­tet in unse­rem Zim­mer­brun­nen. Offen­sicht­lich moch­te er uns. Die Zunei­gung beruht natür­lich auf Gegen­sei­tig­keit. Nun haben wir ihm offi­zi­ell ein Heim im Gar­ten­teich ange­bo­ten. Nach har­ten Ver­hand­lun­gen bewohnt er jetzt auch ein gro­ßes Kis­sen im Wohn­zim­mer. Dem treu­her­zi­gen Blick und dem Wackeln eines Enten­bür­zels hät­te nicht ein­mal die Oppo­si­ti­on wider­ste­hen können.“

Wir freu­en uns auf eine Home­sto­ry mit Edwin, Herr Oberbürgermeister!

HAZ vom 30.10.2014

Wir berich­te­ten vor einer Woche über den Erpel Edwin Schos­tok. Die Fami­lie des Ober­bür­ger­meis­ters hat dies­be­züg­lich ihren Exklu­si­vi­täts­sta­tus ver­lo­ren. Immer mehr Ein­woh­ner der Regi­on Han­no­ver berich­ten von tie­ri­schem Besuch, u.a. der Lan­des­vor­sit­zen­de der CDU Nie­der­sach­sen, David McAllister.

Wel­cher Fügung die Stadt die­ses neue Mit­ein­an­der von Ente und Mensch zu ver­dan­ken hat, lässt Orni­tho­lo­gen rät­seln und, dank Twit­ter und Co., Men­schen in den ent­le­gens­ten Win­keln der Welt gespannt teilhaben.

Eine Ente in der Stra­ßen­bahn ist kein unge­wohn­ter Anblick mehr für Hannoveraner.

„Noch muss für eine Ente kein Ticket gelöst wer­den, aber wir arbei­ten bereits dar­an.“ So Pres­se­spre­che­rin der Üstra, Brit­ta Kiel­mann, mit einem ver­schmitz­ten Lachen.

Auch die Deut­sche Bahn muss sich inzwi­schen mit die­ser neu­en Situa­ti­on aus­ein­an­der­set­zen. Immer mehr Rei­sen­de aus Han­no­ver möch­ten ihre Ente nicht allein zu Hau­se lassen.

Nicht nur in den öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln ist die fried­li­che Inva­si­on der „Was­ser­vö­gel von neben­an“ ein wich­ti­ges The­ma geworden.

„In die Biblio­thek dür­fen kei­ne Haus­tie­re hin­ein­ge­bracht wer­den. Das gilt nicht nur für Hun­de son­dern auch für jedes ande­re Tier.“ Sulei­ka Azman war in der ver­gan­ge­nen Woche mehr­fach gezwun­gen gewe­sen, die glück­li­chen Enten­part­ner, die nicht ohne den neu­en Mit­be­woh­ner Bücher aus­lei­hen woll­ten, der Biblio­thek zu ver­wei­sen. Dies ver­lief in ein­zel­nen Fäl­len nicht ganz gewaltfrei.

Vor Lebens­mit­tel­ge­schäf­ten und Kinos, Bars und Arzt­pra­xen wur­den ähn­li­che Sze­nen beob­ach­tet. „Nicht ohne mei­ne Ente!“

Han­no­ver Linden
02.11.2014

Ralf sah auf. Die Stim­me fuhr ihm durch Mark und Bein. Vor­sich­tig und, wie er hoff­te, unauf­fäl­lig sah er sich um.

Olga hat­te mit ihrem neu­en Lover den Pub betre­ten. Ihm ging in die­sem Moment auf, dass er sie doch ver­miss­te. Es war kein inne­rer Schmerz, der ihm das mit­teil­te, son­dern die Tat­sa­che, dass sein Schwanz sich ver­här­tet hat­te wie Gra­nit und er gleich­zei­tig nur sei­nen Kopf in ihren Schoß bet­ten woll­te, um sich von ihr den Kopf strei­cheln zu lassen.

Olga hat­te das oft getan, wenn sie der Mei­nung war, er sei auf­ge­wühlt. Das wie­der­um hat­te sie immer vor ihm wahrgenommen.

Wäh­rend sie dann mit leich­ten Hän­den ruhig und gleich­mä­ßig über sein dunk­les, dich­tes Haar strich und gur­rend vor sich hin plap­per­te, war es, als brä­che der Stress in ihm auf und ver­teil­te sich in der Luft wie Gas.

Jetzt also woll­te er das. Die gan­zen letz­ten Wochen hat­te er das gewollt. Das und ihre schlan­ken Bei­ne um sei­ne Hüften.

Erschüt­tert von der Erkennt­nis nahm er einen gro­ßen Schluck Cuba libre.

Man­ni stups­te ihn ver­ständ­nis­in­nig mit dem Schna­bel am Ellenbogen.

Ralf sah in die dunk­len Knopf­au­gen sei­nes neu­en Freun­des und fühl­te sich sofort besser.

Sei­ne Kum­pel und Arbeits­kol­le­gen waren Ralf seit der Tren­nung und seit die­sem einen Tag im Büro des jun­gen Hin­richs immer frem­der gewor­den. Anfangs hat­ten sie noch ver­sucht, ihm Aus­sa­gen der Trau­er oder auch Wut zu ent­lo­cken, waren aber gekränkt, weil er ihnen das mit Olga nicht sofort erzählt hat­te. Sie scho­ben es auf sei­nen Stolz, dann auf man­geln­de Freund­schaft, dann frag­ten sie nicht mehr und die The­men der weni­ger wer­den­den Tref­fen wand­ten sich wie­der dem aktu­el­len Tages­ge­sche­hen zu.

Ralf fand es sowie­so viel spannender.

In fast jedem Haus­halt wohn­te inzwi­schen eine Ente freund­schaft­lich mit den Men­schen zusam­men. Das war ein­fach so umwäl­zend spannend!

In sei­nem Fit­ness­club, in dem kei­ne Hun­de erlaubt waren, saßen Enten fröh­lich schnat­ternd neben den Cross­trai­nern und Gewicht­bän­ken, wäh­rend ihre Men­schen schwitz­ten und trainierten.

Ja, es wirk­te ein biss­chen so, als sei­en die Men­schen die Haus­tie­re der Enten, genau wie bei Katzen.

Die­se Par­al­le­le zwi­schen den Fress­fein­den amü­sier­te Ralf.

„Was meinst Du“, frag­te er sei­nen Erpel, „soll­te ich zu Olga rüber gehen und Hal­lo sagen? Ganz läs­sig und über den Dingen?“

Man­ni schüt­tel­te ener­gisch den Kopf und schau­te etwas mitleidig.

„Du hast Recht. Soll sie doch kommen.“

Man­ni stups­te ihn erneut an.

„Wol­len wir auf­bre­chen? Was essen und den Rest des Abends auf dem Sofa sit­zen wie die zwei Jung­ge­sel­len, die wir sind?“

Man­ni nick­te ernst.

„Home­land gucken?“

Man­ni nick­te wie­der. Es sah aus, als grins­te er.

„Car­rie ist scharf. Irre, aber scharf.“

Der Erpel bürzelte.

Als sie zur The­ke gin­gen, um zu bezah­len, sah Olga demons­tra­tiv in eine ande­re Rich­tung und leg­te beson­ders fröh­lich lachend den Kopf in den Nacken.

„So gut, wie sie tut, geht es ihr nicht“, stell­te Ralf befrie­digt fest. „Ich ken­ne sie gut genug, um das sofort zu erkennen.“

Er sah zu Man­ni hin­un­ter, der aber nur ziel­stre­big in Rich­tung Woh­nung zur Ampel wat­schel­te und kei­nen Blick für Gehäs­sig­kei­ten übrig hatte.

„Herr Möl­ler!“

Ralf erschrak. Auch Man­ni zuck­te zusammen.

Er dreh­te sich um und sah eine gro­ße blon­de Frau auf sich zu lau­fen. Sehr hübsch, das muss­te er sagen. Sie lächel­te ihn keu­chend an. Eine Ente drück­te sich schüch­tern an ihr Schienbein.

Als sie ihm die Hand ent­ge­gen­streck­te, wuss­te er auch wie­der, wer sie war: Sei­ne Haus­ärz­tin, Frau Dr. Thie­le­mann. Ohne den wei­ßen Kit­tel sah sie ganz fremd aus.

„Immer wie­der komisch, die Leu­te außer­halb ihrer natür­li­chen Umge­bung zu sehen“, dach­te Ralf.

„Frau Dr. Thie­le­mann. Wie geht es Ihnen?“

„Das ist eigent­lich mein Text“, sag­te sie und lächel­te noch strahlender.

„Es geht mir gut. Dan­ke. Eben war ich im Bronco´s mit Nata­lie.“ Sie nick­te in Rich­tung der Ente, die sich bereits ange­regt mit Man­ni zu unter­hal­ten schien.

„Da gibt es die bes­ten Moji­tos, fin­de ich. Ach, und sagen Sie doch Julia.“

„Freut mich, Julia. Ich hei­ße Ralf.“

Sie schüt­tel­ten sich erneut, dies­mal etwas ver­le­gen, die Hän­de. Dann waren sie bei­de sprachlos.

„Die bei­den ver­ste­hen sich ja schon sehr gut, wie es aus­sieht“, lach­te Julia.

„Es sieht ganz so aus“, sag­te Ralf und ärger­te sich sofort über die­se lah­me Erwiderung.

Julia fiel das gar nicht auf. Sie war zu sehr damit beschäf­tigt, Ralf nicht anzustarren.

Ihre Freun­din­nen wür­den natür­lich unum­wun­den läs­tern, viel­leicht etwas ver­rucht lachen und sie dar­an erin­nern, dass ein Elek­tri­ker höchs­tens fürs Bett in Ord­nung war. Kein Grund, sich ins Spit­zen­hös­chen zu machen.

Gera­de jetzt wur­de ihr bewusst, wie lan­ge sie sich schon nicht mehr mit den Mädels getrof­fen hat­te. Seit dem Stu­di­um hat­ten sie sich ein­mal in der Woche gese­hen, oder zumin­dest tele­fo­niert. Jetzt, da Nata­lie bei ihr „ein­ge­zo­gen“ war, hat­ten sie sich nicht mehr gese­hen oder ausgetauscht.

In die­sem Moment sah sie hin­un­ter, direkt in die dunk­len, freund­li­chen Enten­au­gen, und ver­gaß die ver­nach­läs­sig­ten Freun­din­nen sofort wieder.

Eben ent­fern­ten sich die bei­den Enten von ihnen.

„Wol­len die uns etwas Pri­vat­sphä­re gön­nen, oder selbst unter sich sein?“

Ralf kicher­te.

„Sogar, wenn er kichert, ist er sexy!“ Julia über­leg­te, was sie jetzt sagen könn­te. Etwas Schlag­fer­ti­ges. Aber nicht zu sehr, das wirk­te meist abschreckend.

„Nata­lie ist sonst eher zurück­hal­tend. Das spricht wohl für die­sen Erpel. Na ja, ich eigent­lich auch.“

„Das spricht dann wohl für mich!“

Sie lach­ten.

Teil II – Die Enten

Han­no­ver Lin­den – Ihme-Ufer unter der Benno-Ohnsorg-Brücke
02.11.2014

„Ruhe! Seid still und hört zu!“ Der bul­lig wir­ken­de Erpel reck­te den Kopf in die Höhe und begann dro­hend die Flü­gel zu öffnen.

„Schwimm etwas von mir weg, wir müs­sen Platz für Otto schaf­fen“, zisch­te Han­no sei­nem Kol­le­gen Erik zu. Erik war eben­so bul­lig und kräf­tig wie Han­no selbst und tat sofort, was von ihm erwar­tet wur­de. Heu­te Abend war es beson­ders wich­tig, dass ihr Anfüh­rer Otto die ange­mes­se­ne Büh­ne für sei­ne Rede bekam. Der Plan ging nun in die zwei­te Pha­se über, die Her­de brauch­te jetzt kla­re Anwei­sun­gen und straf­fe Füh­rung, damit nichts schiefging.

Sie dräng­ten die auf­ge­regt schnat­tern­de Schar zurück und schu­fen zwi­schen Ufer und War­ten­den einen frei­en Platz auf dem Was­ser. Dann wat­schel­te Otto an den Was­ser­rand und glitt in die Mit­te des müh­sam gehal­te­nen Freiraums.

Ihr Feld­herr, wie er sich gern selbst bezeich­ne­te, mach­te sich groß, zeig­te einen Moment lang die gan­ze Spann­brei­te sei­ner per­fek­ten Flü­gel, und erhob macht­voll sei­ne voll­tö­nen­de Stimme.

„Freun­de!“ rief er. „Mit­strei­ter und Mitenten!“

Die Men­ge verstummte.

Am Gelän­der der Brü­cke stand ein Pär­chen Men­schen und wun­der­te sich dar­über, dass die ins Was­ser gewor­fe­nen Brot- und Kuchen­stü­cke von den vie­len Enten unbe­ach­tet zum Grund des Kanals sanken.

„Enten!“ Otto streck­te erneut die Flü­gel und warf sich in die Brust.

Eini­ge weib­li­che Enten in der ers­ten Rei­he beka­men glän­zen­de Augen bei die­ser Demons­tra­ti­on des Herr­schafts­an­spruchs und bür­zel­ten hingebungsvoll.

„Die Welt schaut auf uns! Wir haben uns den Men­schen ange­nä­hert, zuge­las­sen, dass sie sich in uns und unse­re Art ver­lie­ben. Wir haben sie ver­führt und von­ein­an­der gelöst! Das ist groß­ar­tig! Eine Leis­tung und gleich­zei­tig der Beweis, wie über­le­gen wir die­sen angeb­li­chen Herr­schern der Erde sind!“

Begeis­ter­tes Schnat­tern und Joh­len erhob sich in die Luft.

„Ihr. Seid. Groß­ar­tig.“ Otto beton­te jedes Wort.

Wie­der Jubel.

„Eure Ziel­ob­jek­te wol­len und kön­nen nicht mehr ohne euch sein. Ihr habt Zugang zu allen Berei­chen ihres Lebens bekom­men. Das war har­te Arbeit und hat euch zum Teil ein erheb­li­ches Maß an Selbst­ver­leug­nung abver­langt, aber ihr habt es geschafft. Für unse­re Sache!“

Otto ließ den Blick über die Ver­samm­lung glei­ten und stell­te zufrie­den fest, wie viel Zustim­mung ihm ent­ge­gen flog. Er konn­te kei­ne Que­ru­lan­ten erken­nen. Wäre Wider­stand erkenn­bar gewe­sen, hät­ten sich die Mit­glie­der sei­ner per­sön­li­chen Leib­gar­de sofort dar­um geküm­mert. Alles lief bes­tens. Die Men­ge hing an sei­nem Schnabel.

Eini­ge Nach­züg­ler schwam­men her­an und füg­ten sich geräusch­los in die erwar­tungs­vol­le Stille.

„Wir haben den ers­ten Schritt getan. Die ers­te Pha­se unse­res Plans ist ein vol­ler Erfolg!“

Otto mach­te eine bedeu­tungs­schwan­ge­re Pau­se, um dem Jubel und der Freu­de Raum zu geben. Er schau­te nach links und rechts zu den treu­en und loya­len Anfüh­rern sei­ner Leib­gar­de. Auch Han­no und Erik wirk­ten ergrif­fen vom Zau­ber sei­ner Worte.

„Die Zeit ist jetzt reif, um die zwei­te Pha­se unse­res Plans ein­zu­läu­ten! Pha­se zwei wird noch heu­te Nacht begin­nen! Alle habt ihr eure beson­de­ren Instruk­tio­nen bekommen.“

Otto erhob don­nernd die Stimme.

„Seid! Ihr! Bereit?“

„Ja!“ schrien alle. „Ja! Wir sind bereit!“

„Seid! Ihr! Ent­schlos­sen. Und. Bereit?“

„Wir sind ent­schlos­sen und bereit!“ Die Enten ver­lo­ren sich in einem Tau­mel der Eupho­rie. „Ja! Ja! Jaaa!“

„DANN WER­DEN WIR DEN KAMPF BEGINNEN!“

Die Enten ras­te­ten aus. Ottos Leib­gar­de ver­such­te gar nicht erst, Ruhe in die Ver­samm­lung zu brin­gen. Man muss­te ihnen die Freu­de und den Wahn lassen.

Otto hat­te ihnen vor die­sem Abend den Ablauf genau erklärt. „Die Eupho­rie brau­chen sie. Das stärkt ihren Wil­len. Wir brau­chen die­sen Wil­len. Ohne die Kraft und den Wil­len der ein­fa­chen Enten kön­nen wir nicht gewinnen.“

„WIR WER­DEN GEWIN­NEN!“ Ottos Stim­me über­schlug sich.

Die geball­ten Emo­tio­nen die­ser Nacht steck­ten auch ihn an. Wochen­lang unter­drück­te Anspan­nung und der Ver­zicht bra­chen sich nun Bahn. Vie­le von ihnen hat­ten in der letz­ten Zeit ohne ihre Part­ner aus­kom­men müs­sen. Aber nie­mand hat­te gemurrt. Otto hat­te ent­schie­den, dass paar­wei­se auf­tau­chen­de Enten Miss­trau­en her­vor­ru­fen und ein Gefühl der Bedro­hung aus­lö­sen könn­te. Kei­ner hat­te die Weis­heit sei­ner Ent­schei­dung ange­zwei­felt. Man ver­trau­te ihm, ver­trau­te auf sei­ne Klug­heit und Intel­li­genz. Sein Füh­rungs­an­spruch war abso­lut und unangefochten.

Er hat­te Opfer gebracht. Jah­re­lan­ge Iso­la­ti­on war not­wen­dig gewe­sen, um sich all das Wis­sen anzu­eig­nen, das unab­ding­bar war zur Füh­rung aller Enten. Wis­sen war Macht. Und die­se Macht wür­de er nun aus­spie­len, um die Welt­herr­schaft an sich zu reißen.

Er dach­te an die vie­len ein­sa­men Näch­te in zahl­rei­chen Biblio­the­ken. Hor­te des Wis­sens, die für ihn nur zugäng­lich waren, wenn die Men­schen schlie­fen oder ver­bo­te­nen Heim­lich­kei­ten im Schut­ze der Dun­kel­heit nach­gin­gen. Ver­stoh­len und immer auf der Hut. Genau wie er selbst.

So hat­te er auch sei­nen Namen gefun­den, oder sein Name ihn. Otto. Nach dem ers­ten Kai­ser des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches deut­scher Nati­on. Die­ser Otto hat­te die Men­schen ver­eint. Er hat­te sei­nen Ein­fluss­be­reich ver­grö­ßert und eine Ein­heit geschaf­fen, die bis dahin auf die­sem Wege uner­reicht war. Ein gro­ßer Mann, der ihm, dem Erpel Otto, eben­bür­tig war, wie er befand. Und der Name war ein­fach und eingängig.

Wäh­rend alle ande­ren Enten umein­an­der balz­ten, sich fan­den und Fami­li­en grün­de­ten, Jahr um Jahr ihre Gele­ge durch die Kind­heit in eige­ne Fami­li­en­grün­dung hiev­ten und beglei­te­ten, hat­te er auf­ge­passt und gelernt. Otto hat­te früh erkannt, wie sehr die­se ubi­qui­tä­ren, um- unter- und über­ein­an­der wim­meln­den­den Para­si­ten, die sich Mensch nann­ten und die Idea­le erschu­fen und im glei­chen Atem­zug ver­ga­ßen, der Welt scha­de­ten. Sie höhl­ten alles auf der Suche nach einem Mehr voll­kom­men aus. Auf der Jagd nach Besitz­tum über­war­fen sie sich mit­ein­an­der, über­roll­ten und zer­stör­ten sich. Nach logi­schen Gesichts­punk­ten hät­te das genü­gen müs­sen, um sich selbst vom Ant­litz der Erde zu til­gen, aber es ging zum Einen nicht schnell genug, und zum Ande­ren, was das Schlimms­te war, ris­sen sie auch jedes ande­re Lebe­we­sen auf die­sem Pla­ne­ten mit in den Abgrund.

Sie began­nen sogar, ihr uner­sätt­li­ches Stre­ben auf ande­re Pla­ne­ten aus­zu­wei­ten. Otto wur­de klar, dass sie auf­ge­hal­ten wer­den muss­ten. Von ihm. Auf ihm las­te­te die gro­ße Ver­ant­wor­tung der Auf­ga­be, ihnen Ein­halt zu gebie­ten. Und er soll­te ver­dammt sein, wenn er sie nicht erfül­len würde.

Doch jetzt, wo sein Plan auf­ging und die Span­nung von ihm wich, traf ihn die Ein­sam­keit mit vol­ler Wucht.

Dort hin­ten trieb Eva.

„Mein Evchen“, dach­te er.

Die jun­ge, auf­fal­lend schö­ne Ente war umzin­gelt von halb­star­ken Erpeln, die sich gegen­sei­tig in Demons­tra­tio­nen ihrer Männ­lich­keit zu über­trump­fen such­ten. Eva ver­such­te sich spie­le­risch von ihnen zu ent­fer­nen. Ihr gol­de­nes Gefie­der strahl­te über die Wasseroberfläche.

Otto war nicht mehr so jung wie ihre Ver­eh­rer, aber er war immer­hin ihr Anfüh­rer. Er besaß Macht über alle Enten. Wenn das kei­ne Demons­tra­ti­on von Männ­lich­keit war, wuss­te er auch nicht. Die Art, wie sie sich den Erpeln immer wie­der ent­zog, ließ ihn hoffen.

Spä­ter, bevor er zurück­kehr­te in das Heim des Ober­bür­ger­meis­ters, wür­de er Han­no nach Eva schicken.

Nata­lie und Man­ni schnä­bel­ten zärt­lich mit­ein­an­der. Sie konn­ten es kaum fas­sen. So ein Glück, dass ihre Men­schen zuein­an­der gefun­den hat­ten. Ein unglaub­li­cher Zufall, oder hat­te Otto das in sei­ner schier unend­li­chen Weis­heit etwa gewusst und geplant?

Es war ihnen egal. Sie hat­ten sich so viel zu berich­ten. Und sie hat­ten ein­an­der so sehr ver­misst. Es war das ers­te Mal gewe­sen, dass sie län­ger als eine Fut­ter­su­che für die Küken von­ein­an­der getrennt waren. Eine schreck­li­che Zeit, die sie nur mit dem gro­ßen Ziel im Auge über­stan­den hatten.

Aus Juli­as Schlaf­zim­mer dran­gen immer lau­ter wer­den­de Schreie, und so muss­ten auch sie nicht lei­se und heim­lich sein. Kurz, sehr kurz, bedau­er­ten sie ande­re Paa­re, die nicht so viel Glück bei der Aus­wahl der ihnen zuge­teil­ten Men­schen hat­ten. Dann wen­de­ten sie sich wie­der ihrem eige­nen Glück zu.

Ralf und Julia hat­ten es in ihrer Tur­tel­ei gar nicht bemerkt, als Nata­lie und Man­ni lei­se die Woh­nung ver­lie­ßen, um an der Gene­ral­ver­samm­lung teil­neh­men zu können.

Die bei­den Enten waren noch erfüllt von der unglaub­li­chen Ener­gie des Abends. Vor­freu­de und ein Schau­der der Auf­re­gung erfüll­ten sie.

Dass ihre bei­den Men­schen jetzt zusam­men waren, mach­te ihre Auf­ga­be, die zwei zu über­wäl­ti­gen und ein­zu­sper­ren, gleich­zei­tig ein­fa­cher, weil sie ja selbst zu zweit waren, aber auch schwie­ri­ger, denn ver­eint wür­den sich Julia und Ralf nicht so schnell ein­schüch­tern lassen.

„Am bes­ten war­ten wir, bis sie wie­der zusam­men im Bett beim Kuscheln sind. Wuss­test Du“, kicher­te Man­ni, „dass die Men­schen es auch ‚Vögeln‘ nennen?“

„Was?!“ kreisch­te Nata­lie. Sie fass­te sich wie­der. „Gute Idee, dann sind sie gar nicht in der Lage, schnell zu reagieren.“

„Wir könn­ten sie ein­fach ein­schlie­ßen. Müs­sen nur den Schlaf­zim­mer­schlüs­sel umge­dreht kriegen.“

„Du bist ja wit­zig. Der steckt nicht mal im Schloss.“

„Dann“, über­leg­te Man­ni, „müs­sen wir sie irgend­wie dazu brin­gen, sich selbst einzuschließen.“

„Das ist ein­fach“, sag­te Nata­lie. „Sobald sie wie­der vögeln wol­len“, sie kicher­te albern, „ner­ven wir sie so lan­ge, bis sie abschließen.“

„Und dann? Die Tür kann dann jeder­zeit wie­der von innen geöff­net wer­den, aber wir kön­nen nicht mehr rein und müs­sen Wache hal­ten bis zum Ende unse­rer Tage!“

Man­ni schnaub­te. „Wir brau­chen eine ande­re Lösung.“

Han­no­ver – Zooviertel
02.11.2014

Ste­fan Schos­tok war auf dem Weg zu sei­nem Arbeits­zim­mer. Es war schon spät, aber es war noch so viel zu tun. Er seufz­te. Die Kin­der hat­ten ihn auf­ge­hal­ten. Edwin war ver­schwun­den und er hat­te mit ihnen zusam­men nach dem abgän­gi­gen Erpel gesucht. Lei­der ohne Erfolg.

„Er ist, das haben wir alle ver­ges­sen, noch immer ein Wild­tier. Viel­leicht hat­te er genug von uns. Oder er braucht ein­fach mal eine Nacht für sich, in einem schö­nen Teich.“

Die Kin­der waren nicht zu trös­ten gewe­sen und er hat­te ein Macht­wort spre­chen müs­sen, damit sie zu Bett gingen.

In der Poli­tik war so etwas ein­fa­cher als zuhause.

Er öff­ne­te die Tür zum Arbeits­zim­mer. Ein Licht­schein kam ihm entgegen.

Dann sah er Edwin auf dem Schreib­tisch vor dem Com­pu­ter sitzen.

„Da bist Du ja, Du Enten­vieh! Wir haben Dich über­all gesucht!“

Ste­fan Schos­tok ging um den Tisch her­um und ließ sich in den Schreib­tisch­ses­sel fallen.

„Die Kin­der waren völ­lig krank vor Sor­ge.“ Edwin sah ihn neu­tral an. „Und ich auch“, füg­te er hinzu.

Der Schna­bel des Erpels saus­te auf die Tas­ta­tur nie­der. Erst jetzt sah der Bür­ger­meis­ter, dass der Rech­ner ein­ge­schal­tet und Word geöff­net war.

‚Wenn Du um Hil­fe rufst, hacke ich Dir mit dem Schna­bel die Augen aus‘, stand dort.

„Edwin, was…“

‚Du und die Stadt befin­den sich ab sofort in der Gewalt der Enten‘, hack­te Edwin.

„Aber Edwin…“, ver­such­te Ste­fan Schos­tok es erneut.

Der Erpel hack­te wie­der mit dem Schna­bel auf die Tas­ta­tur ein.

‚Außer­dem hei­ße ich nicht Edwin. Mein Name ist Otto‘, las er.

Er woll­te auf­ste­hen. Irgend­et­was machen. Das war doch völ­lig grotesk!

Da flog ihm der Erpel ins Gesicht. Die Federn stri­chen über sei­ne Haut und er nahm den Geruch des Vogels, sei­ne Wär­me wahr. Es fühl­te sich merk­wür­dig an.

Er hat­te Edwin, nein, Otto schon zuvor berührt, aber da war die Initia­ti­ve von ihm aus­ge­gan­gen. Das hier war etwas anderes.

Sicher, den Kin­dern hat­te er gesagt, Edwin… Nein, er muss­te sich schon wie­der ver­bes­sern. Das Mist­vieh nann­te sich ja selbst Otto.

Also Otto sei ein Wild­tier, hat­te er den Kin­dern gesagt, dabei aber nur gedacht, der Erpel sei unter ein Auto gera­ten, oder von einem eif­ri­gen Jäger geschos­sen wor­den. Er hat­te kei­nes­wegs an so etwas gedacht.

Und der ver­damm­te Vogel konn­te einen Com­pu­ter bedienen!

Er sank in den Ses­sel zurück.

‚Schön brav bleiben.‘

„Okay. Ich blei­be ein­fach hier sit­zen und tue nichts. Okay?“

‚Ja.‘

Otto sah ihm fest ins Gesicht. Sei­ne Enten­au­gen starr­ten feind­lich und kalt.

Jetzt bür­zel­te das Vieh auch noch. Ste­fan Schos­tok mein­te, dar­in Häme wahr­zu­neh­men. Das könn­te natür­lich Ein­bil­dung oder Über­tra­gung sein. Konn­te eine Ente hämisch bür­zeln? Nein. Bestimmt nicht.

Ande­rer­seits hät­te er bis vor fünf Minu­ten auch jeden in die Klaps­müh­le schi­cken wol­len, der behaup­te­te, Enten könn­ten mit­hil­fe von Word irgend­je­man­dem drohen.

‚Otto, nach Otto I., dem Kai­ser des hl. röm. Rei­ches deut­scher Nati­on.‘ Otto quak­te zufrie­den. Der Mann im Ses­sel starr­te ihn völ­lig ent­geis­tert an.

‚Also. Fol­gen­des…‘

Ste­fan Schos­tok, Ober­bür­ger­meis­ter der nie­der­säch­si­schen Lan­des­haupt­stadt Han­no­ver, pass­te jetzt sehr genau auf.

Der Mor­gen danach

Han­no­ver Mit­te – U‑Bahnstation Kröpcke
03.11.2014

Seit die Enten in die Hei­me der Men­schen ein­ge­zo­gen waren, war bereits Ruhe in die Stadt ein­ge­kehrt. Nachts und in den frü­hen Mor­gen­stun­den waren, im Gegen­satz zu Zei­ten davor, kaum noch Nacht­schwär­mer unter­wegs. Aber an die­sem frü­hen Mor­gen war gar kei­ner unter­wegs. In einem Wes­tern wür­den Büschel von Prä­rie­gras umher rollen.

Julia und Ralf trau­ten die­ser Ruhe jedoch nicht und zuck­ten bei jedem Geräusch zusam­men. Inter­es­san­ter­wei­se mach­te die zen­tra­le U‑Bahnstation auch Geräu­sche, wenn sie völ­lig leer war.

Kei­ne Men­schen­see­le, und auch kei­ne Ente war zu sehen. Nicht mal die all­ge­gen­wär­ti­gen Tauben.

Sie hat­ten beschlos­sen, es sei am bes­ten, sich unter­ir­disch zu ver­ste­cken und fortzubewegen.

In den Wohn­ge­bie­ten patrouil­lier­ten Enten durch die Stra­ßen. Julia frag­te sich, ob die dienst­ha­ben­den Vögel ihre Men­schen so, wie Nata­lie und Man­ni das bei ihnen getan hat­ten, zusam­men­ge­legt hat­ten, um kei­nen Men­schen ohne enti­sche Wache las­sen zu müs­sen. Woll­ten sie ande­re befrei­en, war das eine wich­ti­ge Information.

Viel­leicht schlie­fen noch eini­ge und hat­ten noch gar nicht bemerkt, was in die­ser Nacht pas­siert war.

Zuerst hat­ten sie über­haupt nicht ver­stan­den, was los war. Ralf hat­te ins Bad gewollt und die Tür hat­te sich nicht öff­nen las­sen. Irgend­wann im Lau­fe die­ser unglaub­li­chen Nacht began­nen die Enten, immer wie­der ins Schlaf­zim­mer zu stür­men. Sie hüpf­ten aufs Bett, dräng­ten sich an sie und waren nicht zum Ver­las­sen des Zim­mers zu bewegen.

Eifer­sucht, hat­ten sie gedacht und schwe­ren Her­zens bei­de Vögel gepackt und ins Wohn­zim­mer ver­frach­tet. Dann waren sie zurück­ge­flitzt und hat­ten die Tür von innen abge­schlos­sen. Kurz mach­te sich ein schlech­tes Gewis­sen bemerk­bar, aber bei­de ver­ga­ßen das schnell.

Und dann beka­men sie die Tür nicht mehr auf. Kau­gum­mi im Schloss.

Im Flur hör­ten sie die Enten schnat­tern, als führ­ten die­se ein ange­reg­tes Gespräch. Nach einer Wei­le wur­de die Woh­nungs­tür geöff­net, das Gera­schel von Flü­geln, und sie waren allein.

Ralf hat­te das Schlaf­zim­mer­fens­ter ein­schla­gen müs­sen, und sie flo­hen ohne Zögern über den Bal­kon aus dem Haus. Der Weg zum Kröp­cke war eine nerv­li­che Zer­reiß­pro­be gewe­sen, bei­na­he wären sie einer Enten­pa­trouil­le in die Hän­de geraten.

Sie hat­ten an der Archiv­stra­ße kurz Halt gemacht und konn­ten beob­ach­ten, wie zwei Enten neben einer Frau her­lie­fen. Julia und Ralf ver­steck­ten sich hin­ter einem gro­ßen Rho­do­den­dron. Zuerst schien es, die Enten gehör­ten zu ihr, denn sie wat­schel­ten nied­lich wie immer, doch die Frau beach­te­te die Enten kaum. Eine von ihnen sprin­te­te vor­aus, was beson­ders put­zig aus­sah, und bür­zel­te hef­tig. Die Frau igno­rier­te es. Bei­de Enten stopp­ten kurz und sahen sich an. Dann flo­gen sie auf, lan­de­ten kurz vor der Frau erneut und bür­zel­ten nun bei­de. Die Frau blick­te stur gera­de­aus. Eine der Enten bür­zel­te unauf­hör­lich wei­ter und wat­schel­te dabei stän­dig zwi­schen den Füßen der Frau hin­durch, blick­te fra­gend nach oben, bis die­se der Ente einen klei­nen Tritt ver­setz­te. Die­se flat­ter­te ein wenig mit den Flü­geln, bis sie sich gefan­gen hat­te, und begann dann wie wild zu qua­ken. Im Nu war die Frau von unge­fähr einem Dut­zend wei­te­rer Enten umge­ben. Eini­ge setz­ten sich auf ihre Schul­tern, eine sogar auf ihren Kopf. Die Frau ver­such­te sie mit den Armen zu ver­scheu­chen, da began­nen die Enten auf sie ein­zu­ha­cken. Julia sah erschreckt, wie eine der Enten wie wild ihren Schna­bel in das lin­ke Auge der Frau ramm­te, bis ein plop­pen­des Geräusch ertön­te. Die Vögel erstarr­ten. Auf­ge­regt lie­ßen sie von ihrem Opfer ab und umkreis­ten sie mehr­mals, eini­ge schlu­gen kon­fus die Flü­gel auf und ab. Julia kam es so vor, als sei­en die Tie­re von ihrer eige­nen Tat über­wäl­tigt. Im nächs­ten Moment lag die kläg­lich Wim­mern­de allein auf der Stra­ße. Julia erhob sich, um der Frau zu hel­fen, doch Ralf nahm ihre Hand und hielt sie zurück.

„Sie kön­nen jeder­zeit zurück­kom­men“, sag­te er ein­dring­lich. „Wir müs­sen sofort hier weg!“

„Aber…“

„Nein! Sofort! Du hast doch gese­hen, was gera­de pas­siert ist.“

Nach­dem sie sich ver­ge­wis­sert hat­ten, dass sie allein waren, ver­lie­ßen sie ihre Deckung und rann­ten, so schnell sie konnten.

Nun waren sie ange­kom­men und konn­ten end­lich auf­at­men, die Situa­ti­on begrei­fen. Das alles war so völ­lig fern­ab ihrer Vorstellungskraft.

Plötz­lich gin­gen alle Lich­ter aus. Es war mit einem Mal stock­dun­kel. Ralf zerr­te sein Han­dy aus der Jeans­ta­sche und ent­sperr­te es. Das Leuch­ten des Dis­plays schuf eine grau­si­ge Atmosphäre.

„Kein Netz“, sag­te er lang­sam. „Sie müs­sen über­all den Strom abge­stellt haben.“

„Sie haben was?!“, rief Julia. „Es sind doch Enten!“

„Enten“, erwi­der­te Ralf, „die uns ein­ge­sperrt haben. Enten, die dabei ganz offen­sicht­lich plan­voll vor­ge­gan­gen sind.“

„Ich kann noch gar nicht glau­ben, dass mei­ne Nata­lie das getan haben soll. Sie ist doch so lieb und anhäng­lich.“ Sie schnief­te lei­se. Im Tun­nel wur­de das Geräusch laut und hall­te ihr von den Wän­den des Schachts entgegen.

„Es hat sich tat­säch­lich kei­ner gefragt, wie es zu die­ser Annä­he­rung der Enten an uns kam. Wir waren alle so ver­zückt von ihren Knopf­au­gen über den Schnä­beln, dem Bür­zeln… Kei­ner ist miss­trau­isch geworden.“

„Und jetzt ist es zu spät.“

„Ja, jetzt ist es anschei­nend zu spät.“ Ralf straff­te die Schul­tern. „Also gut. Wir müs­sen die Situa­ti­on und unse­re Mög­lich­kei­ten zusam­men­fas­sen und über­le­gen, was wir tun wollen.“

„Wir kön­nen kei­nen anru­fen. Und wir kön­nen auch nicht durch die Tun­nel aus der Stadt ent­kom­men, denn die Bah­nen fah­ren alle irgend­wann ober­ir­disch wei­ter. Und wir haben bei­de kein Auto.“

„Das sieht doch ganz gut aus. Wir haben reich­lich Mög­lich­kei­ten“, wit­zel­te Ralf.

„Lus­tig!“

Ent­mu­tigt lie­ßen sie sich auf die Schie­nen sinken.

Han­no­ver, auf jedem Fernsehbildschirm
09.11.2014

Neben Ste­fan Schos­tok, auf dem Red­ner­pult, thron­te Otto und sah ernst in die Kamera.

„Lie­be Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­ger, ich spre­che heu­te an die­sem bedeut­sa­men Tag zu Ihnen, um die ver­än­der­te Situa­ti­on in der Stadt zu erklären.

Neben jedem von Ihnen sitzt eine Ente, von der Sie, und da gebe ich Ihnen mein Ehren­wort, ich wie­der­ho­le, mein Ehren­wort, nichts zu befürch­ten haben.“ Mit einem schnel­len Sei­ten­blick konn­te er erken­nen, dass Otto ihn ansah.

„Die Enten wer­den auch wei­ter­hin unse­re Freun­de sein. Sie haben nichts als unser Wohl im Sinn. Zwar wer­den Sie sicher­lich fest­ge­stellt haben, dass vie­le Berei­che des öffent­li­chen Lebens von Enten über­nom­men wor­den sind, doch dies geschieht zu unse­rem eige­nen Schutz. Enten an den Uni­ver­si­täts­fa­kul­tä­ten, bei den Stadt­wer­ken, im Poli­zei­dienst und der Stadt­ver­wal­tung bemü­hen sich nach Kräf­ten die öffent­li­che Ord­nung auf­recht zu erhal­ten und sol­len Sie kei­nes­falls verunsichern.

Wahr­schein­lich haben Sie in den letz­ten Wochen eben­so wie ich ein­ge­se­hen, dass das bis­he­ri­ge Macht­ge­fäl­le zwi­schen Men­schen und Enten uns kei­ner­lei Frie­den gebracht hat. Viel­mehr befin­det sich unse­re Gesell­schaft in einem deso­la­ten Zustand, den wir als Ver­ur­sa­cher kaum noch wahr­ge­nom­men haben. Wir Men­schen sind immer mehr zu Para­si­ten ver­kom­men. Die Enten wer­den uns hel­fen, die­sem Teu­fels­kreis zu ent­flie­hen und ein neu­er Mensch zu wer­den. Das bedeu­tet aber auch, dass wir die Weis­heit unse­rer neu­en Füh­rer aner­ken­nen und uns ihr bedin­gungs­los unter­wer­fen müssen.

Es ist in unse­rem eige­nen Inter­es­se, den Enten Gehor­sam zu leis­ten und kei­nen Wider­spruch aus unse­ren Rei­hen zu dul­den. Sehen Sie die Enten als das, was sie sind: Uns überlegen.“

Ste­fan Schos­tok war ein Medi­en­pro­fi, dem es gelang, wäh­rend die­ser Rede sei­ne eige­nen Gefüh­le nicht nach außen drin­gen zu las­sen. Er fuhr fort.

„Unse­re glor­rei­chen Füh­rer hal­ten in den Bür­ger­bü­ros für jeden Han­no­ve­ra­ner einen per­sön­li­chen Pas­sier­schein bereit, der zur kos­ten­lo­sen Nut­zung der öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel inner­halb der Stadt sowie der Biblio­the­ken und Muse­en berech­tigt. Die­se wur­den von jeder Art Glo­ri­fi­zie­rung der para­si­tä­ren mensch­li­chen Kul­tur berei­nigt. Hal­ten Sie Ihren Pas­sier­schein jeder­zeit bereit und zei­gen Sie ihn bei jeder Enten­pa­trouil­le unauf­ge­for­dert vor. Zuwi­der­hand­lung wird zu Ihrem eige­nen Bes­ten streng geahn­det. Sehen Sie die­se Maß­nah­men als eine Hil­fe, die wir dan­ken anneh­men, und ein Licht, das uns den Weg zur Wahr­heit weist.

Und nun möch­te ich Ihnen vol­ler Stolz den gro­ßen Geist vor­stel­len, der uns in eine bes­se­re Zukunft füh­ren wird.“ Ste­fan Schos­tok klatsch­te in die Hän­de, ver­beug­te sich leicht und wies auf ihn: Otto.

Der Erpel reck­te den Hals, warf sich in die Brust, öff­ne­te leicht die Flü­gel, und nick­te bedäch­tig. Dann ent­spann­te er sich wie­der und bürzelte.

Die Enten vor den Emp­fangs­ge­rä­ten tob­ten und jubel­ten fre­ne­tisch, die Men­schen neben ihnen starr­ten betre­ten ins Leere.

Han­no­ver List
09.11.2014

Sven hat­te die Rede von Ste­fan Schos­tok gemein­sam mit sei­nem Erpel Chris­toph gebannt ver­folgt. Chris­toph hüpf­te auf dem Sofa auf und ab und schlug mit den Flü­geln. Zwi­schen­durch erzit­ter­te sein Bür­zel. Sven betrach­te­te das Schau­spiel und konn­te in der Freu­de des Erpels nichts Böses erken­nen. Sie hat­ten sich vor der ange­kün­dig­ten Rede ein Bier geteilt und Sven heg­te den Ver­dacht, der noch nicht so trink­fes­te Chris­toph sei schon besof­fen. Eine Wel­le unend­li­cher Zunei­gung durch­flu­te­te ihn. Der Erpel strahl­te ihn an. In die­sem Moment erkann­te Sven, was er schon seit eini­ger Zeit geahnt hat­te: ‚Ich muss pissen!‘

„Ich muss mal weg“, sag­te er zu Christoph.

Chris­toph beäug­te ihn miss­trau­isch und wirk­te mit einem Mal gar nicht mehr betrun­ken. ‚Wohin?‘ schie­nen sei­ne Augen zu fragen.

„Bier weg­brin­gen. Soll ich deins mitnehmen?“

Der Erpel gab ein Geräusch von sich, das wie ein Lachen klang. Dann schüt­tel­te er den Kopf.

Als Sven aus dem Bade­zim­mer kam, begeg­ne­te ihm eine Ente mit Koch­schür­ze. Sie blieb ste­hen. Auf ihrer Schür­ze stand: „Küss mich, ich bin der Koch“. Sven glotz­te ver­dat­tert. Die Ente starr­te ihn keck an, bür­zel­te kurz und wat­schel­te dann in die Küche. Sven folg­te ihr. In sei­ner klei­nen Küche wühl­te ein Erpel in der Besteck­schub­la­de. Auch er trug eine Koch­schür­ze und dreh­te sich fra­gend zu Sven um. Auf sei­ner Schür­ze stand: „Geht eine Ente in eine Bar…“. Chris­toph streck­te sei­nen Kopf aus der Wasch­ma­schi­ne und nick­te ihm auf­mun­ternd zu, fast so als wol­le er sagen: „Hey, Kum­pel, ich habe da mal ein paar Leu­te für ein unge­zwun­ge­nes Sit-In ein­ge­la­den. Das ist doch okay für dich, oder?“

Sven fühl­te sich über­for­dert und schüt­tel­te sich. Obwohl die Enten ihn freund­lich anschau­ten, fühl­te er sich bedroht. Er warf schnel­le Bli­cke in die ande­ren Zim­mer, aber dort war nie­mand. Kurz­ent­schlos­sen warf er die Küchen­tür zu, schnapp­te sich Jacke und Diens­t­ruck­sack und rann­te aus der Woh­nung, aus dem Haus. Von oben, aus der Woh­nung, hör­te er ein lau­tes Klop­fen, als die Enten mit ihren Schnä­beln gegen das Küchen­fens­ter hack­ten. Chris­tophs ent­täusch­ter Blick ver­folg­te ihn.

Han­no­ver Linden
09.11.2014

Sven wuss­te nicht so recht, wie er es bis hier­hin geschafft hat­te, aber jetzt stand er vor einem der ver­wais­ten Laden­lo­ka­le des Ihme-Zen­­trums. Erst jetzt bemerk­te er, dass er völ­lig außer Atem war. Er sah nach oben. Dort brann­te ein Licht. Ohne genaue Vor­stel­lung, was ihn dort erwar­ten wür­de, stieg er die Außen­trep­pen hin­auf. Nicht ein ein­zi­ges Mal schau­te er sich um, son­dern stie­fel­te Stu­fe um Stu­fe auf­wärts. Daher wuss­te er auch nicht genau, auf wel­chem Stock­werk er sich gera­de befand, als er die eksta­ti­schen Rufe meh­re­rer Enten ver­nahm. Sie kamen aus der Woh­nung direkt an der Trep­pe. Kurz frag­te er sich, ob sie ihn gehört hat­ten. Er blieb ste­hen und lausch­te von Sekun­de zu Sekun­de ent­setz­ter dem, was da zu ihm aus der Woh­nung drang. Die Wor­te klan­gen unbe­hol­fen, wie ein Kind, das gera­de sei­ne ers­ten Schrit­te tat, doch er war sich sicher, es waren die Enten. Sie konn­ten spre­chen. Also doch.

Aus dem Dun­kel des Flu­res kam ein lei­ses „Psst!“

Erschro­cken wand­te er sich um. Ein Paar am auf ihn zu. Man konn­te ihnen anse­hen, dass sie schon seit meh­re­ren Tagen unter­wegs gewe­sen sein mussten.

„Das ist Otto“, sag­te die Frau. „Er schwört sei­ne Leib­gar­de auf sich ein. Wir erklä­ren dir alles, wenn wir oben sind. Hier kön­nen wir nicht bleiben.“

Sie pack­te Svens Hand. Gemein­sam rann­ten sie wei­ter die Trep­pen hinauf.

„In die obers­te Woh­nung kom­men sie nicht hin­ein, frag mich nicht, wie­so. Ich bin übri­gens Ralf“, rief ihm der Mann über die Schul­ter hin­weg zu.

Bei­de leg­ten ein ordent­li­ches Tem­po vor und Sven wur­de lang­sam die Schwe­re sei­nes Ruck­sacks bewusst. War­um hat­te er ihn über­haupt mitgenommen?

Hin­ter sich hör­ten sie Flü­gel­schla­gen und lau­tes Quaken.

„Da sind sie“, rief die Frau. „Wir müs­sen noch schnel­ler laufen!“

„Es sind nur noch drei Stock­wer­ke“, rief nun Ralf. Sei­ne Stim­me über­schlug sich bei­na­he vor Auf­re­gung und Panik. „Wir haben es fast geschafft!“

Sie rann­ten. Ihnen schmerz­ten die Bei­ne. Dann sahen sie die ret­ten­de Tür. Sie öff­ne­te sich einen Spalt. Förm­lich war­fen sie sich dage­gen und stol­per­ten über­ein­an­der in einen klei­nen Woh­nungs­flur. Es roch nach Kek­sen und Gemütlichkeit.

Hin­ter ihnen schloss eine klei­ne alte Dame behut­sam die Tür. „Bei mir seid ihr in Sicher­heit. Setzt euch doch erst mal. Kann ich euch ein paar Kek­se anbie­ten? Sie sind auch ohne Rosi­nen. Ich weiß ja, dass ihr sie nicht mögt.“

An der Tür kratz­te und schab­te es. Sie hör­ten Otto, der mit lau­ter Stim­me Befeh­le erteil­te: „Bewacht die Tür, ihr dum­men Küken! Jetzt sind sie bei IHR!“

Die vier sahen sich an. „Habt ihr Angst?“ frag­te die klei­ne alte Dame liebenswürdig.

„Ja“, ant­wor­te­ten sie im Chor.

„Gut. Aber noch nicht annä­hernd genug.“

Ralf ver­schluck­te sich an sei­nem Keks.

Der Kampf beginnt.

…wird fort­ge­setzt…

Vor etwas mehr als acht Mona­ten fand ich dank Twit­ter die tolls­te Frau der Welt. Alles begann mit zwei belang­lo­sen Tweets, auf die der jeweils ande­re reagier­te. Aus Rep­lys wur­den bald Direkt­nach­rich­ten und schließ­lich der Gedan­ke an ein Tref­fen. Wir hat­ten bis dahin weder tele­fo­niert noch ander­wei­tig Kon­takt gesucht als über Twitter.

Wir ver­ab­re­de­ten uns für einen Nach­mit­tag und ich blieb fast für eine Woche. Seit dem ers­ten Tref­fen sehen wir uns nun an jedem Wochen­en­de, und das macht mich zum glück­lichs­ten Men­schen der Welt. Die auf Twit­ter oft ver­schrie­ne Pär­chen­schei­ße war nur eklig, bis sie kam, und sie ist der ers­te Mensch, bei dem ich nach län­ge­rem Rund-um-die-Uhr-Kon­­­takt nicht das Bedürf­nis habe, nun mal wie­der für mich allein zu sein. Bei ihr bin ich zuhau­se, bei ihr bin ich ganz ich. Wir tun uns gegen­sei­tig gut.

Seit­dem benut­zen wir Twit­ter gemein­sam, wenn man das so nen­nen mag. Wir zei­gen uns gegen­sei­tig Tweets aus der eige­nen Time­line, wir star­ten gemein­sam Meme, wir hof­fen auf Rep­lys von ner­vi­gen Leu­ten, wir trol­len unse­re Fol­lower mit iro­nisch gemein­ten Tweets, wir läs­tern über ande­re, wir erstel­len Vide­os und tei­len sie, kurz­um: wir haben Spaß. Twit­ter hilft, Gesprächs­pau­sen zu über­brü­cken, und Twit­ter dient auch als eine Art Rück­zugs­ort, in den man kurz ver­schwin­den kann, wenn hier drau­ßen alles zu viel wird.

Aber das Medi­um, das uns zusam­men­brach­te, trennt uns auch immer wie­der, wenn­gleich zum Glück nur tem­po­rär, für Augen­bli­cke, Momen­te. Wir grei­fen hin und wie­der zum Smart­phone, wenn wir früh­stü­cken, wenn wir einen Film schau­en, wenn wir aus­ge­hen, wenn wir im Café sit­zen. Es ist ein klei­nes Time­out, so als wür­de einer von uns zur Tür raus­ge­hen, kurz ande­re Leu­te tref­fen, und dann wie­der rein­kom­men, als wäre nichts gesche­hen. Die Welt steht kurz still, der Raum wird gebro­chen, einer fällt aus der Zeit.

Manch­mal erhal­ten wir Nach­rich­ten, Rep­lys, DMs, E‑Mails, dann kommt jemand zur Tür her­ein, setzt sich frech zwi­schen uns ins Wohn­zim­mer oder an den Früh­stücks­tisch, plau­dert nur mit einem von uns, ver­drängt den ande­ren aus der Welt, und ver­schwin­det wie­der so plötz­lich, wie er auf­ge­tre­ten ist.

Wir beäu­gen manch­mal das Smart­phone des jeweils ande­ren, wenn es ein Geräusch macht, wie einen Ein­dring­ling. Wir sind dann nicht wirk­lich allein, unter uns, zumin­dest kommt es mir zuwei­len so vor. Da sind immer die Ande­ren, ent­we­der pas­siv, indem sie ein­fach greif­bar, les­bar, ver­füg­bar sind, oder aktiv, indem sie mit einem von uns kom­mu­ni­zie­ren. Das ist auf sei­ne Art schön, hin und wie­der; als Dau­er­zu­stand ver­än­dert es jedoch die kost­ba­re Zwei­sam­keit. Sozia­le Medi­en wer­den zum Ein­dring­ling, weil wir sie ein­drin­gen las­sen, selbst in unse­re Köp­fe. Nicht sel­ten denkt einer von uns oder wir bei­de bei einer Äuße­rung, einem Anblick, einer Kurio­si­tät: „Das wäre ein schö­ner Tweet“. Wie ein Foto­graf, der kei­ne Land­schaf­ten und kei­ne Men­schen mehr sieht, nur noch poten­ti­el­le Fotos. Man kann die Momen­te zwar lau­fend tei­len, rui­niert sie dadurch aber auch.

Ich kom­me mir blöd vor, es zu erwäh­nen, weil es mir lächer­lich erscheint, aber ich kom­me mir genau­so vor, wenn ich es nicht tue, weil es mich doch stört.