Schon Dos­to­jew­ski mach­te dar­auf auf­merk­sam, daß das Bibel­wort »Lie­be dei­nen Nächs­ten wie dich selbst« wahr­schein­lich anders­rum zu ver­ste­hen ist – näm­lich in dem Sin­ne, daß man den Nächs­ten nur dann lie­ben kann, wenn man sich selbst liebt.

Weni­ger ele­gant, dafür um so prä­gnan­ter, drück­te Marx (Grou­cho, nicht Karl) die­sel­be Idee Jahr­zehn­te spä­ter aus: »Es wür­de mir nicht im Traum ein­fal­len, einem Klub bei­zu­tre­ten, der bereit wäre, jeman­den wie mich als Mit­glied auf­zu­neh­men.« Wenn Sie sich die Mühe neh­men, die Tie­fe die­ses Wit­zes zu ergrün­den, sind Sie bereits gut auf das nun Fol­gen­de vorbereitet.

Geliebt zu wer­den ist auf jeden Fall mys­te­ri­ös. Nach­zu­fra­gen, um Klar­heit zu schaf­fen, emp­fiehlt sich nicht. Bes­ten­falls kann es der ande­re Ihnen über­haupt nicht sagen; schlimms­ten­falls stellt sich sein Grund als etwas her­aus, das Sie selbst bis­her nicht für Ihre char­man­tes­te Eigen­schaft hiel­ten; zum Bei­spiel das Mut­ter­mal auf Ihrer lin­ken Schul­ter. Schwei­gen ist da wie­der ein­mal ganz ein­deu­tig Gold.

Was wir dar­aus für unser The­ma ler­nen kön­nen, zeich­net sich nun schon kla­rer ab. Neh­men Sie nicht ein­fach dank­bar hin, was Ihnen das Leben durch Ihren (offen­sicht­lich selbst lie­bens­wer­ten) Part­ner bie­tet. Grü­beln Sie. Fra­gen Sie sich, aber nicht ihn, war­um. Denn er muß ja irgend­ei­nen Hin­ter­ge­dan­ken haben. Und den ent­hüllt er Ihnen bestimmt nicht.

(…)

[F]ür den Unglück­lich­keits­be­darf des Anfän­gers mag das eben Gesag­te aus­rei­chen. Der Fort­ge­schrit­te­ne aber gibt sich damit nicht zufrie­den. Aus die­sen Zusam­men­hän­gen läßt sich näm­lich wei­te­res Kapi­tal schla­gen, das aller­dings nur den Grou­cho Mar­xens unter uns zugäng­lich ist. Es setzt eben vor­aus, daß man sich selbst für lie­ben­s­un­wür­dig hält. Damit ist jeder, der einen liebt, prompt dis­kre­di­tiert. Denn wer einen liebt, der kei­ne Lie­be ver­dient, mit des­sen Innen­le­ben stimmt etwas nicht. Ein Cha­rak­ter­de­fekt wie Maso­chis­mus, eine neu­ro­ti­sche Bin­dung an eine kas­trie­ren­de Mut­ter, eine mor­bi­de Fas­zi­na­ti­on durch das Min­der­wer­ti­ge – von die­ser Art sind die Grün­de, die sich als Erklä­rung für die Lie­be des oder der Betref­fen­den anbie­ten und sie uner­träg­lich machen. (Zur Aus­wahl der befrie­di­gends­ten Dia­gno­se ist eine gewis­se Kennt­nis der Psy­cho­lo­gie oder wenigs­tens die Teil­nah­me an Selbst­er­fah­rungs­grup­pen von gro­ßem Wert.)

Und damit ist nicht nur das gelieb­te Wesen, son­dern auch der Lie­ben­de selbst und die Lie­be als sol­che in ihrer Schä­big­keit ent­hüllt. Was kann man schon mehr wünschen?

(…)

Nur auf den ers­ten Blick erscheint das absurd, denn die Kom­pli­ka­tio­nen, die mit die­ser Auf­fas­sung ein­her­ge­hen, lie­gen doch so klar auf der Hand. Dies dürf­te aber noch nie­man­den abge­hal­ten haben, oder, wie Shake­speare es in einem sei­ner Sonet­te sagt: »Dies weiß jed­we­der, doch nicht wie man flieht den Him­mel, der zu die­ser Höl­le zieht.« Prak­tisch ver­lie­be man sich also in hoff­nungs­lo­ser Wei­se: in einen ver­hei­ra­te­ten Part­ner, einen Pries­ter, einen Film­star oder eine Opern­sän­ge­rin. Auf die­se Wei­se reist man hoff­nungs­froh, ohne anzu­kom­men, und zwei­tens bleibt einem die Ernüch­te­rung erspart, fest­stel­len zu müs­sen, daß der ande­re gege­be­nen­falls durch­aus bereit ist, in eine Bezie­hung ein­zu­tre­ten – womit er sofort unat­trak­tiv wird.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Mit Mes­sern kann man sich ver­let­zen, daher soll man sie ver­mei­den; Tür­klin­ken sind tat­säch­lich mit Bak­te­ri­en bedeckt. Wer weiß, ob man mit­ten im Sym­pho­nie­kon­zert nicht doch plötz­lich auf die Toi­let­te muß, oder ob man das Schloß beim Nach­prü­fen nicht irr­tüm­lich auf­ge­schlos­sen hat? Der Ver­nünf­ti­ge ver­mei­det daher schar­fe Mes­ser, öff­net Türen mit dem Ell­bo­gen, geht nicht ins Kon­zert und über­zeugt sich fünf­mal, daß die Tür wirk­lich abge­sperrt ist. Vor­aus­set­zung ist aller­dings, daß man das Pro­blem nicht lang­sam aus den Augen ver­liert. Die fol­gen­de Geschich­te zeigt, wie man das ver­mei­den kann:

Eine alte Jung­fer, die am Fluß­u­fer wohnt, beschwert sich bei der Poli­zei über die klei­nen Jun­gen, die vor ihrem Haus nackt baden. Der Inspek­tor schickt einen sei­ner Leu­te hin, der den Ben­geln auf­trägt, nicht vor dem Haus, son­dern wei­ter fluß­auf­wärts zu schwim­men, wo kei­ne Häu­ser mehr sind. Am nächs­ten Tage ruft die Dame erneut an: Die Jun­gen sind immer noch in Sicht­wei­te. Der Poli­zist geht hin und schickt sie noch wei­ter fluß­auf­wärts. Tags dar­auf kommt die Ent­rüs­te­te erneut zum Inspek­tor und beschwert sich: »Von mei­nem Dach­bo­den­fens­ter aus kann ich sie mit dem Fern­glas immer noch sehen!«

Man kann sich nun fra­gen: Was macht die Dame, wenn die klei­nen Jun­gen nun end­gül­tig außer Sicht­wei­te sind? Viel­leicht begibt sie sich jetzt auf lan­ge Spa­zier­gän­ge fluß­auf­wärts, viel­leicht genügt ihr die Sicher­heit, daß irgend­wo nackt geba­det wird. Eines scheint sicher: Die Idee wird sie wei­ter­hin beschäf­ti­gen. Und das Wich­tigs­te an einer so fest geheg­ten Idee ist, daß sie ihre eige­ne Wirk­lich­keit erschaf­fen kann.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Es dau­er­te zwei gan­ze Tage, bis mir so lang­sam klar wur­de, was er wirk­lich zu mir gesagt hat­te. Er wol­le nicht den Teu­fel an die Wand malen, doch es sähe nicht gut aus, hat­te der Arzt mit einem kur­zen Kopf­schüt­teln gemeint, jedoch gleich noch hin­zu­ge­fügt, wahr­schein­lich um der Aus­sa­ge etwas von ihrer Bedroh­lich­keit zu neh­men, ein end­gül­ti­ges Ergeb­nis kön­ne er mir erst in eini­gen Tagen mit­tei­len. Wie schlimm denn „nicht gut“ sei, hat­te ich gefragt, und er ant­wor­te­te bloß knapp, im schlimms­ten Fall stün­den die Chan­cen nicht sehr gut, dass ich das Ende des Jah­res noch erle­ben wür­de, soll­te die genaue Unter­su­chung sei­ne Ver­mu­tung denn bestä­ti­gen. Viel­leicht war er etwas vor­schnell, doch ich schätz­te sei­ne Auf­rich­tig­keit, denn die meis­ten Ärz­te hät­ten sich davor gedrückt, solch eine Ver­mu­tung offen aus­zu­spre­chen, solan­ge sie nicht über eine defi­ni­ti­ve Dia­gno­se ver­füg­ten, um, wie sie sagen wür­den, ihre Pati­en­ten nicht unnö­tig zu ver­ängs­ti­gen. Zwei Tage spä­ter saß ich in einem Bus, es war Nach­mit­tag, und erst da begriff ich plötz­lich, wie mei­ne Per­spek­ti­ven sich ver­än­dert hat­ten. Ich wür­de viel­leicht ster­ben, und zwar sehr bald.
Ich sprach mit nie­man­dem dar­über, außer mit mei­nen Eltern. Wie­so auch? Noch stand das Ergeb­nis gar nicht fest und ich woll­te nie­man­den unnö­tig beun­ru­hi­gen, also ver­hielt ich mich wie jene Ärz­te, die ihre Pati­en­ten erst ein­mal im Dun­keln las­sen. Ich hät­te es nicht ertra­gen, von Freun­den oder den­je­ni­gen Men­schen, die sich dafür hiel­ten, mit­lei­di­ge Bli­cke und wohl­mei­nen­den Zuspruch zu erhal­ten, der bes­ten­falls gut gemeint und im schlimms­ten Fall ein­fach nur lächer­lich ist. Nein, ich behielt es für mich, denn es han­del­te sich ja um eine höchst pri­va­te Ange­le­gen­heit, die zual­ler­erst bloß mich etwas anging. Und wie sie mich etwas anging!
Was in mir geschah, nach­dem ich erst ein­mal begrif­fen hat­te, wie mei­ne Chan­cen stan­den und dass ich viel­leicht bald ster­ben wür­de, kann ich gar nicht so genau beschrei­ben. Es war jedoch nicht wirk­lich schlecht, was in mir vor­ging, so wie man es viel­leicht von jeman­dem erwar­ten wür­de, der dem Tod ins Auge blickt, denn genau das tat ich ja, mehr oder weni­ger. Ich ver­fiel nicht in tie­fe Depres­si­on, ich wur­de weder apa­thisch und hoff­nungs­los, noch begann ich plötz­lich, mich für Extrem­sport zu inter­es­sie­ren, um auf die letz­ten Tage noch mög­lichst vie­le Kicks zu bekom­men. Ich blieb, wenn man das so sagen kann, ober­fläch­lich betrach­tet ziem­lich nor­mal.
Unter der Ober­flä­che jedoch voll­zog sich ein Wan­del, der zwar nicht beson­ders spek­ta­ku­lär erschien, aber mei­nem Leben eine gewis­se neue Rich­tung geben soll­te. Bis­lang hat­te ich ein Leben geführt, das sich in der Regel dar­an ori­en­tier­te, den Weg des gerings­ten Wider­stands zu gehen und mög­lichst wenig auf­zu­fal­len, weil Auf­fal­len in der Regel bedeu­te­te, ziem­lich schnell in Situa­tio­nen zu gera­ten, die sich zu Pro­ble­men ent­wi­ckeln könn­ten. Ich war der Mann, der immer da, aber nie dabei sein woll­te, der immer anwe­send, aber nie betei­ligt war. Das soll­te sich ändern.
Es gab da eine Frau. Ich wür­de nicht so weit gehen zu sagen, dass ich in sie ver­liebt gewe­sen sei. Ein wenig viel­leicht. Mehr woll­te ich mir nicht erlau­ben, weil es zu Pro­ble­men hät­te füh­ren kön­nen. Wir gin­gen eini­ge Male aus, ja, aber nur unter Vor­wän­den, nur mit Beglei­tung, und nie fiel das Wort Date, geschwei­ge denn ein Kuss. An schlech­ten Tage fühl­te ich mich fei­ge und hass­te mich dafür, nicht den Mut auf­zu­brin­gen, sie ein­fach zu küs­sen, doch an guten Tagen klopf­te ich mir auf die Schul­ter, die Sache nicht noch wei­ter zu ver­tie­fen, wür­de sie doch sowie­so in einer Kata­stro­phe oder auf eine ande­re pein­li­che Art enden, aber jeden­falls enden. Es gab Men­schen in mei­nem Leben, zu denen ich freund­lich war, obwohl ich sie nicht aus­ste­hen konn­te. Mein Chef zum Bei­spiel, um ein Kli­schee zu erfül­len, denn wer mag schon sei­nen Chef, aber auch Leu­te in mei­nem Freun­des­kreis, Freun­de von Freun­den, irgend­wel­che Bekann­te sowie natür­lich die­je­ni­gen, von denen man sich erhofft, für die gespiel­te Freund­lich­keit irgend­wann ein­mal etwas zurück­zu­be­kom­men. Ich war ordent­lich und brav, könn­te man sagen, denn ich erfüll­te Auf­ga­ben, die mir zuge­tra­gen wur­den, in der Regel ohne zu mur­ren, befolg­te die Regeln, auch wenn sie mir noch so unsin­nig erschie­nen, wag­te nichts und ord­ne­te mich unter, wo es nur ging, weil alles ande­re nur wie­der zu Pro­ble­men geführt hät­te. Es war kein unan­ge­neh­mes Leben, doch es war ein Leben, das mich auch nicht wirk­lich befrie­dig­te. Ich ließ mich trei­ben.
Nach den Wor­ten des Arz­tes jedoch war alles anders. Mei­ne Per­spek­ti­ve, mei­ne Rol­le in der Welt und auch mei­ne Selbst­be­trach­tung hat­ten sich ver­än­dert. Ich wür­de viel­leicht bald ster­ben. Haben wir nicht alle die­sen Gedan­ken in uns, schlicht und ein­fach das zu tun, was uns wirk­lich glück­lich macht, wenn wir nur noch einen Tag zu leben hät­ten. Wenn es für mich auch nicht ein ein­zel­ner sein soll­te, so schie­nen mei­ne Tage doch gezählt. Wie lan­ge hät­te ich noch gehabt? Sechs Mona­te? Ein Jahr? Was ist in einem sol­chen Fall schon der Unter­schied zwi­schen einem Tag und einem Jahr? Oder anders gefragt: Was ist der Unter­schied zwi­schen einem Tag und einem Leben? Wie­so tra­gen wir die­se Vor­stel­lung mit uns her­um, wir wür­den plötz­lich alles ganz anders leben und erle­ben, wenn wir wüss­ten, es wäre unser letz­ter Tag? Wenn ich mor­gen ganz unspek­ta­ku­lär in der Dusche aus­rut­schen soll­te, wäre mein letz­ter Tag dann nicht der heu­ti­ge, also belie­big? Immer und nie zugleich? War­um ändern so vie­le Men­schen ihr Leben, wenn sie ein mehr oder weni­ger vages Datum für ihren Tod erfah­ren? Ver­brin­gen wir unse­re Leben viel­leicht so unglück­lich, so unbe­frie­di­gend, so leer, weil wir glau­ben, wir leb­ten für immer, wir könn­ten alles noch irgend­wann nach­ho­len, was wir ver­säu­men – und erst das bal­di­ge Ende, die­ser Gedan­ke an End­lich­keit bringt uns dazu, unser Leben wahr­haft zu genie­ßen, wenn es dafür schon fast zu spät ist? Ich weiß es nicht.
Was ich jedoch wuss­te, war, mein Leben soll­te anders wer­den. Ich woll­te die weni­ge Zeit, die mir viel­leicht noch blieb, sinn­voll nut­zen, sinn­vol­ler als bis­her. In mei­nem Kopf mal­te ich mir aus, wie mein Leben in Zukunft aus­se­hen soll­te. Zual­ler­erst wür­de ich sie anru­fen und um ein Date bit­ten, ein kla­res, ein­deu­ti­ges Date, um dem vor­sich­ti­gen Antas­ten end­lich ein Ende zu berei­ten. Es wäre ris­kant, natür­lich, so wie jede Lie­bes­er­klä­rung, aber ich hat­te nichts mehr zu ver­lie­ren. Vor mei­nem Chef wür­de ich nicht län­ger krie­chen, wenn er mich für sei­ne eige­ne Inkom­pe­tenz bestraft. Anstatt zu heu­cheln, wür­de ich immer mei­ne ehr­li­che Mei­nung zum Aus­druck brin­gen, auch wenn sie eini­gen Men­schen viel­leicht nicht gefal­len mag. Ich wür­de die­je­ni­gen mei­den, die mir nicht gut­tun, und wür­de mir Zeit für Men­schen und Din­ge neh­men, die mir beson­ders am Her­zen lie­gen. Ich wür­de ein bes­se­rer Freund sein, ein bes­se­rer Sohn, ein bes­se­rer Lieb­ha­ber, ein bes­se­rer Mensch. Das war es, was ich mir vor­stell­te, was in mir brann­te. Ich wür­de, wenigs­tens auf mei­ne letz­ten Tage, end­lich das Leben füh­ren, das ich schon die gan­ze Zeit hät­te füh­ren sol­len.
Drei Tage spä­ter erhielt ich die Ergeb­nis­se. Der Arzt sag­te zu mir, ich hät­te rie­si­ges Glück, und was er damit mein­te, war wohl, ich bekä­me mein ewi­ges, unda­tier­tes Leben zurück. Ich ging nach Hau­se, setz­te mich auf mei­ne Couch und ver­ar­bei­te­te, was eben gesche­hen war. Ich dach­te an die Frau, mit der ich schon seit lan­ger Zeit so ger­ne aus­ge­hen wür­de, und ver­teu­fel­te mich dafür, sie noch immer nicht ange­ru­fen zu haben. Dann end­lich nahm ich das Tele­fon in die Hand, wähl­te die Num­mer mei­ner Eltern, erzähl­te ihnen die gute Nach­richt, und führ­te mein Leben wei­ter­hin wie zuvor.

In den Gesell­schaf­ten, die kei­nen »self-regu­la­­ting mar­ket« (Karl Pol­anyi), kein Unter­richts­sys­tem und kei­nen juris­ti­schen oder staat­li­chen Appa­rat auf­wei­sen, kön­nen sich die Herr­schafts­be­zie­hun­gen, da sie nicht den objek­ti­ven Struk­tu­ren selbst ein­ge­schrie­ben sind, nur kraft stän­dig erneu­er­ter und fort­wäh­rend ange­wand­ter Stra­te­gien auf Dau­er durch­set­zen. Solan­ge sol­che rela­tiv auto­no­men objek­ti­ven Bezie­hungs­fel­der der Kon­kur­renz um das Mono­pol einer bestimm­ten Kapi­tal­form sich noch nicht kon­sti­tu­iert haben, feh­len die Bedin­gun­gen für die mit­tel­ba­re und dau­er­haf­te Aneig­nung der Arbeit, der Diens­te und Ehren­be­zeu­gun­gen ande­rer Indi­vi­du­en. (…) Sehr sche­ma­tisch vor­ge­hend könn­te man sagen, daß in dem einen Fall sich die Herr­schafts­be­zie­hun­gen inner­halb und durch die Inter­ak­ti­on der Hand­lungs­sub­jek­te bil­den, auf­lö­sen und wie­der­her­stel­len, wohin­ge­gen sie in dem ande­ren Fall durch objek­ti­ve und insti­tu­tio­na­li­sier­te Mecha­nis­men ver­mit­telt wer­den, die, nach Art jener, die den Wert der schu­li­schen, mone­tä­ren und Stan­des­ti­tel her­vor­brin­gen und absi­chern, den undurch­dring­li­chen und bestän­di­gen Cha­rak­ter von Din­gen auf­wei­sen und die sich glei­cher­ma­ßen den Zugrif­fen des indi­vi­du­el­len Bewußt­seins wie der indi­vi­du­el­len Macht ent­zie­hen. (…) Unter sol­chen Bedin­gun­gen bil­den und voll­zie­hen sich die Macht- und Abhän­gig­keits­ver­hält­nis­se nicht mehr unmit­tel­bar zwi­schen Ein­zel­per­so­nen, son­dern, im Raum der Objek­ti­vi­tät selbst, zwi­schen Insti­tu­tio­nen, d.h. zwi­schen sozi­al garan­tier­ten Titeln und sozi­al defi­nier­ten Stel­lun­gen, sowie, ver­mit­tels die­ser, zwi­schen sozia­len Mecha­nis­men, die den gesell­schaft­li­chen Wert der Titel und Stel­lun­gen erzeu­gen und absi­chern, und der Ver­tei­lung die­ser sozia­len Attri­bu­te auf die bio­lo­gi­schen Ein­zel­we­sen. (…) Wie zu sehen ist, kommt die Legi­ti­ma­ti­on der herr­schen­den Ord­nung nicht allein den Mecha­nis­men zu, die, wie das Recht, tra­di­tio­nel­ler­wei­se dem ideo­lo­gi­schen Sys­tem zuge­rech­net wer­den. Auch sol­che Appa­ra­tu­ren wie das Pro­duk­ti­ons­sys­tem oder das Sys­tem der Pro­duk­ti­on von Pro­du­zen­ten [also das Bil­dungs­sys­tem] erfül­len dar­über hin­aus, d.h. gera­de kraft der Logik ihres Funk­ti­ons­ab­laufs, ideo­lo­gi­sche Funk­tio­nen. (…) Je mehr die Repro­duk­ti­on der Herr­schafts­ver­hält­nis­se objek­ti­ven Mecha­nis­men über­las­sen wird, die den Herr­schen­den die­nen, ohne daß die­se sich ihrer zu bedie­nen brau­chen, des­to indi­rek­ter und, wenn man so sagen darf, unper­sön­li­cher wer­den die auf die Repro­duk­ti­on aus­ge­rich­te­ten Stra­te­gien: Indem der Inha­ber öko­no­mi­schen oder kul­tu­rel­len Kapi­tals für sein Geld die güns­tigs­te Anla­ge und für sei­nen Sohn die vor­teil­haf­tes­te, die bes­te, Aus­bil­dungs­stät­te wählt – und nicht, indem er gegen­über sei­ner Auf­war­te­frau (oder einem ande­ren, inner­halb der Sozi­al­struk­tur eine unter­ge­ord­ne­te Stel­lung ein­neh­men­den Indi­vi­du­um) höf­lich oder freund­lich ist und groß­zü­gi­ge Geschen­ke macht –, sichert er den Fort­be­stand der Herr­schafts­be­zie­hung, die ihn objek­tiv mit sei­ner Auf­war­te­frau und selbst noch deren Nach­kom­men verbindet.
(Pierre Bour­dieu – Sym­bo­li­sches Kapi­tal und Herr­schafts­for­men, in: Ent­wurf einer Theo­rie der Pra­xis auf der Grund­la­ge der kaby­li­schen Gesellschaft)

Das Gegen­teil von Arbeit ist nicht bloß Faul­heit. (…) So sehr ich das Ver­gnü­gen der Träg­heit schät­ze, ist sie doch wohl am loh­nends­ten, wenn sie ande­ren Genuß und Zeit­ver­treib unter­bricht. Genau­so­we­nig wer­be ich für das gelenk­te und zeit­lich fest­ge­leg­te Not­ven­til namens „Frei­zeit“; nichts läge mir fer­ner. Frei­zeit ist Nicht-Arbeit zum Nut­zen der Arbeit. Frei­zeit ist die Zeit, die man damit ver­bringt, sich von der Arbeit zu erho­len und ver­zwei­felt zu ver­su­chen, die Arbeit zu ver­ges­sen. Vie­le Leu­te kom­men aus den Feri­en so zer­schla­gen wie­der, daß sie sich dar­auf freu­en, wie­der arbei­ten zu gehen. Der wesent­li­che Unter­schied zwi­schen Arbeit und Frei­zeit besteht dar­in, daß man bei der Arbeit wenigs­tens für die Ent­frem­dung und Ent­ner­vung bezahlt wird. (…)
Tun wir mal für einen Moment so, als wür­de Arbeit aus Leu­ten kei­ne ver­blö­de­ten Unter­ta­nen machen. Tun wir auch so, ent­ge­gen jeder nach­voll­zieh­ba­ren Psy­cho­lo­gie und der Ideo­lo­gie ihrer För­de­rer, daß sie kei­nen Effekt auf die Cha­rak­ter­bil­dung hat. Und tun wir so, als wäre Arbeit nicht so lang­wei­lig und ermü­dend und ent­wür­di­gend, wie sie es ist. Auch dann wür­de sie alle huma­nis­ti­schen und demo­kra­ti­schen Bemü­hun­gen ver­spot­ten, ein­fach weil sie so viel Zeit bean­sprucht. Sokra­tes beharr­te, daß Hand­ar­bei­ter schlech­te Freun­de und schlech­te Staats­bür­ger abgä­ben, da ihnen die Zeit man­ge­le, die Ver­ant­wort­lich­kei­ten einer Freund­schaft und ihrer Staats­bür­ger­schaft aus­zu­fül­len. Er hat­te Recht. Wegen der Arbeit schau­en wir dau­ernd auf die Uhr. Das ein­zig „freie“ an der soge­nann­ten Frei­zeit ist, daß sie den Boss von der Lohn­fort­zah­lung befreit. Die Frei­zeit wird haupt­säch­lich genutzt, um sich auf die Arbeit vor­zu­be­rei­ten, zur Arbeit zu gehen, von der Arbeit zu kom­men und sich von ihr zu erho­len. Frei­zeit ist ein Euphe­mis­mus für die beson­de­re Art, mit der die Arbeits­kraft als ein Pro­duk­ti­ons­fak­tor nicht nur sich selbst zum und vom Arbeits­platz trans­por­tiert, son­dern auch die Haupt­ver­ant­wor­tung für die eige­ne Ver­sor­gung und Wie­der­her­stel­lung übernimmt.
(Bob Black – Die Abschaf­fung der Arbeit; im Ori­gi­nal: The Aboli­ti­on of Work)