Die Trau­er ist das eine. Das ande­re ist der Ein­tritt in eine Sphä­re des Ver­lusts. Anders gesagt: Der Ver­lust ist das eine, das ande­re aber ist, ihn dau­ern zu sehen und zu wis­sen, wie er über­dau­ern wird: Nicht im Medi­um des Schmer­zes und nicht als Kla­ge, nicht ein­mal expres­siv, son­dern sach­lich, als gra­du­el­le Ver­schie­bung der Erleb­nis­in­ten­si­tät.
Man könn­te auch sagen: Etwas Rela­ti­ves tritt ein. Was kommt, misst sich an die­sem Erle­ben und geht gleich­falls durch den Knacks. Es ist der nega­ti­ve Kon­junk­tiv: Etwas ist schön, wäre da nicht… Es tritt ein Moment ein, in dem alles auch das eige­ne Gegen­teil ist. Als kämen, auf die Spit­ze getrie­ben, die Din­ge unmit­tel­bar aus dem Tod und müss­ten sich im Leben erst behaup­ten und bewäh­ren.
(…)
Viel­leicht wird jemand sagen, die­ser eine Ver­lust sei ein Kon­trast­mit­tel. In der Kon­fron­ta­ti­on mit ihm wirk­ten die Far­ben der Welt nun leuch­ten­der, als sei das Dau­ern­de durch die Begeg­nung mit dem Ver­gäng­li­chen noch wun­der­ba­rer. Es ist die Dia­lek­tik der Sonn­tags­re­de. Als müss­te man dem eige­nen Leben nur Ver­lus­te zufüh­ren und wür­de gleich des­sen froh, was man hat. Nein, man kann ganz gut unter­schei­den zwi­schen der Schlap­pe, dem Unglück, dem Schei­tern, der Ein­bu­ße, dem Ver­lust, der über­wun­den wer­den kann. Man kann ja in man­chem Ver­lust die­sen selbst nicht ein­mal füh­len, son­dern möch­te lachen: über die Pan­to­mi­me des Tra­gö­den, über das Stum­m­­film-Pathos der Trau­er. Man wird dar­über hin­weg­kom­men, über die Trau­er und über das Geläch­ter, das sie weck­te.
Aber der Knacks ist etwas ande­res, über ihn kommt man nicht hin­weg. Er ist ein Schub, meist bewegt er sich laut­los und unmerk­lich. Erst im Rück­blick kann man sagen: Dann war nichts mehr wie zuvor. Eine post­hu­me Per­spek­ti­ve, die des Pas­sé. Die Far­ben neh­men jetzt Pati­na an, die Genüs­se büßen ihre Fri­sche ein, die Erfah­rung wählt einen fla­chen Ein­falls­win­kel, sie kommt eher ver­mit­telt, wie durch eine Mem­bran gegan­gen. Das Leben wech­selt die Sphä­re, es reift, es altert, und irgend­wann ist zum ers­ten Mal das Gefühl da, über­haupt ein eige­nes Alter zu haben, das heißt, es füh­len zu können.
(Roger Wil­lem­sen – Der Knacks)

Art is that thing having to do only with its­elf – the pro­duct of a suc­cessful attempt to make a work of art. Unfort­u­na­te­ly, the­re are no examp­les of art, nor good reasons to think that it will ever exist. (Ever­y­thing that has been made has been made with a pur­po­se, ever­y­thing with an end that exists out­side that thing, i.e., ›I want to sell this‹, or ›I want this to make me famous and loved‹, or ›I want this to make me who­le‹, or worse, ›I want this to make others who­le‹.) And yet we con­ti­nue to wri­te, paint, sculpt, and com­po­se. Is this foo­lish of us?
(Jona­than Safran Foer – Ever­y­thing is Illuminated)

Wünschst du dir nicht auch manch­mal, du fän­dest eine Insel? Wenn du dich schla­fen legst und das nicht kannst, wenn du durch Stra­ßen einer Groß­stadt gehst, wenn du in frem­de Augen blickst, dann tust du es viel­leicht. Ein Ort, der nir­gend­wo ver­zeich­net ist, ein Platz fern­ab vom trau­ri­gen Gewühl, ein Unter­schlupf, der dich mit Kraft ver­sorgt, mit Glück und Mut und Eupho­rie, ja ein Idyll, das nur für dich dein Eden ist. Suchst du das auch?
In all dem Cha­os die­ser Welt, da fand ich eine Insel. Wenn­gleich sie kei­nen Gold­schatz birgt, so über­trifft sie doch an Reich­tum alles ande­re auf die­ser Welt. Ein Eiland fand ich und erkor es mir zum Para­dies. Nichts hat je so gro­ßen Wert gehabt wie die­ses klei­ne Stück­chen Land; weder König­rei­che, Staa­ten noch die größ­ten Dynas­tien besa­ßen jemals so viel Ein­fluss wie die­ser unschein­ba­re Fleck. Als eine Art Schiff­brü­chi­ger bin ich durch puren Zufall hier gestran­det, doch für nichts auf die­ser Erde gin­ge ich hier jemals wie­der fort.
Es wird nach mir gesucht wer­den, denn man wird mich ret­ten wol­len, fürch­te ich, doch mei­ne Ret­tung habe ich bereits gefun­den, sie liegt hier und nir­gends sonst. Man wird mich für ver­lo­ren erklä­ren und nie erfah­ren, wie falsch man doch in Wahr­heit liegt, denn alles, was es sich zu fin­den lohn­te, fin­de ich allei­ne hier. Kraft einer glück­li­chen Strö­mung setz­te ich einen Fuß auf die­sen Strand. Was ich hier fand, das ist ein Eiland weit, allein im Meer, das ich zu mei­ner Hei­mat nahm, weil eine bes­se­re die Welt mir nie­mals bie­ten kann. Was ich hier fand, bedeu­tet für mich alles, wofür es sich zu leben lohnt.
Ist es Iso­la­ti­on, mich nun an die­sen Ort zurück­zu­zie­hen? Viel­leicht ver­schlie­ße ich die Augen vor dem Rest der Welt, doch hier erst wuch­sen mir die Augen, dank derer mir die Welt beach­tens­wert erscheint. Hier erst neh­me ich die Far­ben wahr, in denen schil­lernd alles strahlt, wäh­rend sich doch mei­ne Umwelt vor­mals oft genug in Grau ertrank. Es ist kei­ne Flucht, kein Eska­pis­mus, wie manch Zyni­ker viel­leicht behaup­ten mag, wenn ich mich auf die­ser Insel nun häus­lich ein­rich­te. Sie gibt mir jene Kraft, der Welt mit offe­nen Augen ent­ge­gen­tre­ten zu kön­nen, sie aus­zu­hal­ten, so wie sie ist. Sie kann einen nicht län­ger erschüt­tern, nicht mehr bedrän­gen, sie kann einen nie wie­der aus der Bahn wer­fen, jene Welt, wenn man die­ses Eiland erst ein­mal für sich gefun­den hat, das allen Gewal­ten so stand­haft trotzt.
Kei­ne Legen­den und kei­ne Erzäh­lun­gen ver­mö­gen die Ein­zig­ar­tig­keit die­ses wun­der­ba­ren Ortes ange­mes­sen zu beschrei­ben, er ist undenk- und nicht mal vor­stell­bar, solan­ge man nicht selbst sein Leben hier ver­bringt. All jene Belang­lo­sig­kei­ten, nach denen ein Mensch im Lau­fe sei­nes Lebens strebt, ver­lie­ren voll­ends an Bedeu­tung, wenn man die Wun­der die­ser Insel kennt, all ihre Schön­heit, wenn man Fuß auf sie gesetzt, sie bloß ein­mal betre­ten hat. Es gibt hier alles, was ein Mensch zum Über­le­ben braucht, zum Leben gar, nicht bloß zum Exis­tie­ren.
Was ich hier fand, ist eine Insel jen­seits aller Schiff­fahrts­rou­ten. Ein Stück der Welt, das kei­ne Kar­te offen­bart, weil sich das Land hier nicht ver­mes­sen lässt. Ein Platz, der kei­ne Gren­zen kennt, der kei­ne Mau­ern hat und kei­ne Grä­ben zieht, der blin­de Orts­kennt­nis ver­langt und an zwei Tagen nie der glei­che ist. Ein Land so weit von aller Zivi­li­sa­ti­on. Kei­ne Armeen, kei­ne Legio­nen, kei­ne Heer­scha­ren die­ser Welt, wie groß und mäch­tig sie auch sein mögen, wer­den im Stan­de sein, auf die­ser Insel jemals ein­zu­fal­len und damit alles zu zer­stö­ren. Sie haben es ver­sucht und sie sind jedes Mal geschei­tert. Wäh­rend die größ­ten Rei­che unter­ge­hen, hat die­ses Eiland hier bestand. Auf die­ser Insel lebt, was all­seits sonst bereits im Ster­ben liegt. Hier wächst, was auf dem Rest der Welt ver­dorrt.
Ent­ge­gen einer kal­ten Welt, die mehr und mehr in Arg­wohn zu ver­sin­ken droht, ist die­ses Eiland hier ein Ort der Wär­me und des völ­li­gen Ver­trau­ens. Immer und immer wie­der gelingt es den Eigen­ar­ten die­ser Insel, mir ein herz­li­ches Lächeln ins Gesicht zu zeich­nen, und noch in den dun­kels­ten Stun­den der Trau­er fin­de ich hier etwas, das mich die gan­ze Welt umar­men, das sie lie­bens­wert erschei­nen lässt. Alles, was es wert ist, gewusst zu wer­den, habe ich hier gelernt und ler­ne ich hier noch heu­te. Es gibt Din­ge, die so wun­der­voll beschaf­fen sind, dass man gar nicht mehr bemerkt, wie man lau­fend älter wird und eines Tages ster­ben muss, die sogar so uner­hört bezau­bernd sind, dass man ent­ge­gen aller land­läu­fi­gen Furcht das Älter­wer­den und sogar das Ster­ben als etwas Gutes betrach­tet, als Voll­endung sei­nes Lebens, weil man rund­um glück­lich ist.
Nichts auf die­ser Welt ist es wert, hier jemals wie­der fort­zu­ge­hen, weil kei­ner, der sie je betrat, ver­ges­sen kann, was die­se Insel einem offe­riert. Was ich bis­her mein Leben genannt habe, die­ses Dasein, die­se blo­ße Exis­tenz, wur­de erst zu einem Leben, als ich die­sen Ort hier fand. Mein Eiland, das bist du.

Man braucht nur eine Insel
allein im wei­ten Meer.
Man braucht nur einen Men­schen,
den aber braucht man sehr.
(Mascha Kaléko)

Mr. Black said, „I once went to report on a vil­la­ge in Rus­sia, a com­mu­ni­ty of artists who were forced to flee the cities! I’d heard that pain­tings hung ever­y­whe­re! I heard you could­n’t see the walls through all of the pain­tings! They’d pain­ted the cei­lings, the pla­tes, the win­dows, the lamp­sha­des! Was it an act of rebel­li­on! An act of expres­si­on! Were the pain­tings good, or was that bes­i­de the point! I nee­ded to see it for mys­elf, and I nee­ded to tell the world about it! I used to live for report­ing like that! Sta­lin found out about the com­mu­ni­ty and sent his thugs in, just a few days befo­re I got the­re, to break all of their arms! That was worse than kil­ling them! It was a hor­ri­ble sight, Oskar: their arms in cru­de splints, straight in front of them like zom­bies! They could­n’t feed them­sel­ves, becau­se they could­n’t get their hands to their mouths! So you know what they did!“ „They star­ved?“ „They fed each other! That’s the dif­fe­rence bet­ween hea­ven and hell! In hell we star­ve! In hea­ven we feed each other!“ „I don’t belie­ve in the after­li­fe.“ „Neither do I, but I belie­ve in the story!“
(Jona­than Safran Foer – Extre­me­ly Loud & Incre­di­bly Close)

Let me tell you a sto­ry, the Dial went on. The house that your gre­at-gre­at-gre­at-gran­d­­mo­­ther and I moved into when we first beca­me mar­ried loo­ked out onto the small falls (…). It had wood flo­ors, long win­dows, and enough room for a lar­ge fami­ly. It was a hand­so­me house. A good house.
But the water, your gre­at-gre­at-gre­at-gran­d­­mo­­ther said, I can’t hear mys­elf think.
Time, I urged her. Give it time.
And let me tell you, while the house was unre­ason­ab­ly humid, and the front lawn per­pe­tu­al mud from all the spray, while the walls nee­ded to be repa­pe­red every six months, and chips of paint fell from the cei­ling like snow for all sea­sons, what they say about peo­p­le who live next to water­falls is true.
What
, my grand­fa­ther asked, do they say?
They say that peo­p­le who live next to water­falls don’t hear the water.
They say that?
They do. Of cour­se, your gre­at-gre­at-gre­at-gran­d­­mo­­ther was right. It was ter­ri­ble at first. We could­n’t stand to be in the house for more than a few hours at a time. The first two weeks were fil­led with nights of inter­mit­tent sleep and quar­re­ling for the sake of being heard over the water. We fought so much just to remind our­sel­ves that we were in love, and not in hate.
But the next weeks were a litt­le bet­ter. It was pos­si­ble to sleep a few good hours each night and eat in only mild dis­com­fort. Your gre­at-gre­at-gre­at-gran­d­­mo­­ther still cur­sed the water (who­se per­so­ni­fi­ca­ti­on had beco­me ana­to­mic­al­ly refi­ned), but less fre­quent­ly, and with less fury. Her attacks on me also quie­ted. It’s your fault, she would say. You wan­ted to live here.
Life con­tin­ued, as life con­ti­nues, and time pas­sed, as time pas­ses, and after a litt­le more than two months: Do you hear that? I asked her on one of the rare mor­nings we sat at the table tog­e­ther. Hear it? I put down my cof­fee and rose from my chair. You hear that thing?
What thing? she asked.
Exact­ly! I said, run­ning out­side to pump my fist at the water­fall. Exact­ly!
We danced, thro­wing handfuls of water in the air, hea­ring not­hing at all. We alter­na­ted hugs of for­gi­ve­ness and shouts of human tri­umph at the water. Who wins the day? Who wins the day, water­fall? We do! We do!
And this is what living next to a water­fall is like, Safran. Every widow wakes one mor­ning, per­haps after years of pure and unwa­ve­ring grie­ving, to rea­li­ze she slept a good night’s sleep, and will be able to eat break­fast, and does­n’t hear her husband’s ghost all the time, but only some of the time. Her grief is repla­ced with a useful sad­ness. Every parent who loses a child finds a way to laugh again. The tim­bre beg­ins to fade. The edge dulls. The hurt les­sens. Every love is car­ved from loss. Mine was. Yours is. Your great-great-great-grandchildren’s will be. But we learn to live in that love.

(Jona­than Safran Foer – Ever­y­thing is Illuminated)