„Ich mag dich sehr“, sagte sie zu ihm, als sich die U‑Bahn-Türen zwischen ihnen langsam schlossen und er alleine auf dem Bahnsteig zurückblieb, ohne jede Möglichkeit, darauf irgendwie zu antworten.
Nun war sie zuhause, lag auf ihrem Bett und zerbrach sich den Kopf. Sie kam sich so dumm vor. Da wurde sie einmal für einen absurd kurzen Augenblick von ihren Gefühlen übermannt und brachte in diesem Zustand dann gleich einen derartigen Satz hervor, eine entlarvende Aussage, ein Geständnis. Sie wusste, er würde nie das gleiche für sie empfinden, das sie für ihn empfand. Daran gab es für sie keinen Zweifel. Wieso also musste sie sich unbedingt mit einem solchen Satz blamieren, der das Verhältnis zwischen ihnen unbarmherzig verändern würde. Alles würde komplizierter werden. Er würde auf Distanz gehen, er würde Abstand zwischen sie beide bringen, ob sie das wollte oder nicht, dabei war das doch genau das, was sie am wenigsten verkraften würde. Sie schlug mit der Faust auf ihr Bett. So ein kleiner, unwichtiger, absolut lächerlicher Satz sollte alles ruinieren.
Aber nein. Was genau habe ich denn wirklich gesagt, dachte sie. Es war doch bloß: „Ich mag dich sehr“. Das war kein Geständnis. Das war nicht einmal eine Andeutung, wenn man es genau nimmt. „Ich mag dich sehr“ lässt Raum für Interpretationen. Interpretationen erlauben Freiheit, Interpretationen erlauben Hintertüren. Zwar war sie gewöhnlich sehr darauf bedacht, eine präzise Ausdrucksweise an den Tag zu legen, doch in Situationen wie diesen hatte sie sich angewöhnt, sich möglichst vage auszudrücken. Vage Aussagen eröffnen Handlungsspielraum; man tänzelt und laviert um das Feuer herum. Bloß nicht festlegen. Bloß nicht festlegen lassen. Präzision der Sprache war ihr unerwünscht, zumindest in Sachlagen dieser Art, sobald Emotionen ins Spiel kamen. Man kann etwas sagen und völlig offen lassen, was damit gemeint ist. Es bleibt die Interpretation; ein Schild, ein Schutzwall, ein Notausgang. Der andere soll sagen, was er darunter versteht, was er in das Gesagte hineininterpretiert. Ist es das Falsche, kann man sich bequem hinter das Schutzschild sprachlicher Unschärfe zurückziehen und behaupten, man habe nie gemeint, was man gemeint hat.
Was also hatte sie wirklich zu ihm gesagt? „Ich mag dich sehr“ – das konnte alles heißen! Von „Du bist ein guter Freund“ über „Deine Art gefällt mir“ oder „Ich liebe dich“ bis hin zu „Ich möchte mit dir schlafen“ war doch alles und nichts, waren ganze Bedeutungsuniversen in diesem Satz enthalten, der so vage war, dass es sie freute. Er konnte sie nicht damit festnageln. Was er in diesem Satz las, entschied einzig und allein seine Interpretation. Vermutlich dachte er, sie sei in ihn verliebt. Das war die Wahrheit, aber es war eben eine Wahrheit, die sie ihn nicht wissen lassen wollte, denn er, er war doch nicht in sie verliebt, das war ihr klar.
Seit Monaten bereits hegte sie Gefühle für ihn. Sie freute sich, wenn er ihre Bücher las, wenn er die Musik hörte, die sie ihm empfahl, wenn er Zeit mit ihr verbrachte, wenn er ihr Briefe schrieb oder sie einfach bloß anschaute, mit seinen bezaubernden blauen Augen. Sie hatte versucht, sein Verhalten zu deuten, hatte herausbekommen wollen, ob er seinerseits Gefühle für sie hegte, doch eindeutig sagen ließ sich das nicht. Es blieb die Interpretation. Nach einigen Wochen war sie zu dem Schluss gelangt, dass er offenbar nichts für sie empfand. Das war schade, doch sie fand sich damit ab und seine Gesellschaft war ihr weiterhin das Paradies.
Den Kontakt zu ihm jetzt zu verlieren, nur weil ihr in einem unkontrollierten Moment eine Reihe lächerlicher Wörter über die Lippen gekommen war, wäre für sie unerträglich gewesen. Wie also würde er nun reagieren auf diesen törichten Satz, fragte sie sich, den sie so unbeholfen in die Welt hinaus geflüstert hatte. Sie wusste es. Er würde sagen: „Ich mag dich auch, aber…“ und dabei versuchen, sie nicht zu verletzen, während er in Gedanken bereits das Ende ihrer Freundschaft konstruierte. Sie jedoch würde sich erhobenen Hauptes hinter ihr sprachliches Schutzschild zurückziehen, hinter den Interpretationsspielraum ihrer vagen Worte. Sie würde lachen und sagen: „So habe ich das doch gar nicht gemeint“. Sie würde klarstellen, dass sie diesen Satz rein freundschaftlich begriffen hatte. Dann würden sie gemeinsam lachen, beide wären erleichtert, und alles bliebe so wie immer. Das war ihr Plan. Sie war stolz auf sich, auf dieses sprachliche Hintertürchen, das alles letztlich retten und damit ihr Gesicht wahren würde.
Plötzlich brummte es leise. Sie stand vom Bett auf, sah nach und erschrak. Er hatte ihr geschrieben; eine SMS wartete darauf, von ihr gelesen zu werden. Doch was würde er schon schreiben, dachte sie. „Ich mag dich auch, aber…“ würde dort stehen, wie sie es erwartete, und sie würde sich enttäuscht durch ihr Hintertürchen davonmachen, würde sich nichts anmerken lassen, würde ihm antworten, es sei nur ein Missverständnis und dass er den Satz bloß ungünstig interpretiere. Es bleibt die Interpretation.
Sie musste sich regelrecht dazu überwinden, das Handy nicht einfach beiseitezulegen, und so sah sie schließlich nach, was er ihr geschrieben hatte. „Ich mag dich auch sehr“, stand dort, „das wollte ich dir schon lange sagen, aber ich hab mich nicht getraut. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“
Das überraschte sie. Es war eine Reaktion, die sie in ihrem Plan nicht bedacht hatte, denn sie war so unwahrscheinlich, so unmöglich. Damit hatte sie nicht gerechnet, darauf war sie nicht vorbereitet. Sie hatte sich so sehr mit der bevorstehenden Enttäuschung abgefunden, ja sogar angefreundet, dass seine Antwort sie nun beinahe wütend machte, denn jetzt enttäuschte er sie mit dem Ausbleiben dieser nur allzu vorhersehbaren, allzu erwarteten Enttäuschung.
Panik stieg in ihr auf. Und wenn sie nun einfach zugab, dass sie es genauso gemeint, wie er es auch verstanden hatte? Mit einer derartigen Situation hatte sie keinerlei Erfahrung. Enttäuschungen war sie gewohnt, mit Enttäuschungen konnte sie umgehen, musste sie umgehen, denn sie war zu oft enttäuscht worden, doch das hier überforderte sie. Was war das?
„Du … interpretier da nicht zu viel hinein. Du bist ein sehr guter Freund“, antwortete sie ihm und warf sich weinend auf ihr Bett, überwältigt von dem traurigen Gefühl, einmal mehr enttäuscht worden zu sein.
Der Journalismus ist tatsächlich einer der Orte, an dem die politische Magie entsteht und bestätigt wird. Damit Magie entsteht (…), braucht es eine Menge sozialer Voraussetzungen: Zauberer, Assistenten, Publikum usf. Und auch die Welt der politischen Magie macht eine Reihe von Teilnehmern erforderlich, nicht nur Parlamente und Abgeordnete: Journalisten, Umfrageinstitute, Kommunikationsberater – auch Intellektuelle, oder genauer: Journalisten, die sich als Intellektuelle aufspielen.
Man spricht (…) über die Rolle der Journalisten im Golfkrieg. Man spricht aber nicht – oder zuwenig – über den Alltag, über das, was der Journalismus alltäglich macht, wenn er eigentlich nur funktioniert, um die Reden, die die Politiker füreinander halten, zu verstärken und ihnen einen Resonanzboden zu geben. Heute reden die Politiker nämlich eigentlich zu niemand anderem mehr als zu sich selbst. Sie reden, um nichts zu sagen, und innerhalb stundenlanger, nichtssagender Ausführungen fällt dann ein Halbsatz, der gezielt eingesetzt wird, damit er von den Journalisten verstanden, aufgenommen und als Spielball in das politische Spiel eingebracht wird. Das Ganze hat Ähnlichkeit mit einem Schachspiel, bei dem gewiefte Spieler ihre Strategien erproben. Und wie ein Schachspiel schottet sich das Machtspiel nach außen ab, wird hermetisch, Objekt »kennerischer« Kommentare von Insidern, gesellschaftlich belanglos. Die Politiker sprechen zueinander, sie sprechen nicht zur Gesellschaft. Sie geben sich den Anschein, zur Gesellschaft zu sprechen.
(Pierre Bourdieu – Politik und Medienmacht, in: Der Tote packt den Lebenden)
Everything a lie. Everything you hear, everything you see. So much to spew out. They just keep coming, one after another. You’re in a box. A moving box. They want you dead, or in their lie… Only one thing a man can do – find something that’s his, make an island for himself.
(The Thin Red Line)
»Aoki war ein sehr guter Schüler, er hatte fast immer die beste Note. Ich ging auf eine private Jungenschule, und Aoki war ziemlich beliebt. Die Klasse schätzte ihn, und er war der Liebling der Lehrer. Aber ich konnte seine pragmatische Einstellung und seine intuitiv berechnende Art von Anfang an nicht ausstehen. Wenn man mich fragte, was mich genau an ihm störte, müßte ich passen. Ich wüßte kein Beispiel. Ich weiß nur, daß ich ihn durchschaute. Ich konnte diese Egozentrik und Überheblichkeit, die er ausstrahlte, instinktiv nicht ertragen. Wie bei jemandem, dessen Körpergeruch man physisch nicht erträgt. Aber Aoki war klug und verstand es, diesen Geruch geschickt zu verbergen. Die meisten meiner Klasse hielten ihn für gerecht, bescheiden und freundlich. Das zu hören empörte mich – doch ich sagte natürlich nichts.«
(…)
Im Gegensatz [zu mir] stand Aoki mit allem, was er tat, im Mittelpunkt – wie ein weißer Schwan auf einem dunklen See. Er war der Star der Klasse, der, auf den alle hörten. Er war klug, das mußte auch ich zugeben. Er war schnell. Er wußte im voraus, was der andere wollte oder dachte, und verstand es, dementsprechend zu reagieren. Alle bewunderten ihn. Aber ich war nicht beeindruckt. Mir war Aoki zu oberflächlich. Wenn er ein kluger Kopf war, machte es mir nichts, kein kluger Kopf zu sein. Er war scharfsinnig, aber er besaß keine Persönlichkeit. Er hatte nichts mitzuteilen. Wenn alle ihn bestätigten, war Aoki glücklich. Er war hingerissen von seinen eigenen Fähigkeiten. Er drehte sich immer nach dem Wind. Er hatte keine Substanz. Aber niemand erkannte das.
(…)
»Es sind nicht Menschen wie Aoki, vor denen ich Angst habe. Solche Menschen gibt es überall. Was das angeht, habe ich resigniert. Wenn ich ihnen begegne, versuche ich möglichst nichts mit ihnen zu tun zu haben. Ich gehe ihnen aus dem Weg. Das ist nicht besonders schwer. Ich erkenne sie sofort. Zugleich bewundere ich Leute wie Aoki aber auch. Nicht jeder besitzt die Fähigkeit, so lange stillzuhalten, bis die Gelegenheit sich ergibt, und sie dann sicher zu ergreifen; die Fähigkeit, sich geschickt der Gefühle anderer zu bemächtigen und sie gegen jemanden aufzuhetzen. Ich hasse diese Charakterzüge zwar so sehr, daß ich kotzen könnte, dennoch sind es Fähigkeiten. Das muß ich anerkennen.
Wovor ich aber wirklich Angst habe, sind Leute, die Typen wie Aoki alles blind glauben. Diese Leute, die selbst nichts zuwege bringen, nichts verstehen, die sich von den bequemen und leicht übernehmbaren Meinungen anderer leiten lassen und nur in Gruppen auftreten. Diese Leute, die nie auf die Idee kämen, daß sie vielleicht irgend etwas falsch machen könnten. Denen niemals auffällt, daß sie einen anderen sinnlos und brutal verletzen könnten. Sie übernehmen keine Verantwortung für das, was sie tun. Vor solchen Leuten habe ich wirklich Angst. Und wenn ich nachts träume, dann von ihnen. In Träumen ist nur das Schweigen. Die Leute in meinen Träumen haben keine Gesichter. Wie eisiges Wasser dringt das Schweigen überall ein.«
(Haruki Murakami – Das Schweigen)
Haruki Murakamis „Das Schweigen“ hat mich fasziniert. Aus verletztem Stolz macht darin Aoki, ein scheinbar umgänglicher, freundlicher, cleverer Schüler, mithilfe seiner Mitschüler, die der charmante Aoki um den Finger gewickelt hat, das Leben des Erzählers zur Hölle. Die Geschichte hat mich fasziniert, weil ich Menschen wie Aoki kenne, immer wieder treffe, im Offline-Leben wie auch im Internet, wo es teilweise noch viel einfacher ist, diese Fähigkeiten erfolgreich zum Einsatz zu bringen und sich darzustellen. Es hat mich gefesselt, weil es mir manchmal nicht viel anders geht als dem Erzähler, wenn ich Menschen treffe, bei denen ich recht schnell durchschaue, dass all ihre Bescheidenheit, Gerechtigkeit und Freundlichkeit bloß aufgesetzt sind, dass sich dahinter berechnende Egozentriker verstecken, Bestätigungssüchtige, die zur Stillung ihrer Sucht auch Schaden anderer Menschen in Kauf nehmen, manchmal sogar gezielt herbeiführen. Die es schaffen, so gut den netten, freundlichen, gerechten, herzlichen Menschen zu spielen, dass ihre Umwelt ihnen diese Maske größtenteils unhinterfragt abkauft und diesen Menschen bereitwillig alles glaubt, von der trügerischen Selbstinszenierung bis hin zu gezielten Lügen, um andere zu diskreditieren.
Auch ich muss zugeben, von dieser Fähigkeit auf eine sehr abstoßende Art beeindruckt zu sein. Menschen, die für ihren Lebensunterhalt lügen und betrügen, stützen sich auf diese Fähigkeit. Werbung und Marketing nutzen sie ebenfalls, genau wie Demagogen und Heiratsschwindler. Eine Fähigkeit, die ich in Anlehnung an die Vorstellung von „dunkler Magie“ als „dunkle Empathie“ bezeichnen möchte. Über Empathie als solche verfügen diese Menschen ohne Zweifel, denn sonst wären sie nicht so gut in dem, was sie tun, in ihrer täuschenden Selbstdarstellung und dem Knüpfen emotionaler Bindungen mit anderen Menschen. Aber es ist Empathie, die einzig dazu dient, die Gefühle anderer zum eigenen Nutzen zu manipulieren.
Genau wie dem Erzähler machen mir diese Menschen selbst keine Angst. Ich kann ihnen aus dem Weg gehen oder kann versuchen, ihre Maskierung in Frage zu stellen und ihr Bühnenbild zum Wackeln zu bringen. Aber auch ich habe Angst vor denen, die darauf hereinfallen, die sich emotional verzaubern und (ver)führen lassen, die solchen Menschen bereitwillig alles glauben, ihre Meinungen übernehmen und sich mitunter sogar instrumentalisieren lassen, ohne irgendetwas zu hinterfragen, womit sie großen Schaden anrichten können.
Man kann einem Menschen nichts Schlimmeres antun, als ihm zu sagen, man habe sich in ihn verliebt. Das gilt natürlich nur, wenn die Gefühle nicht auf Gegenseitigkeit beruhen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man mit allem anderen davonkommt, bloß nicht mit dem schlimmsten aller möglichen Geständnisse, dem Geständnis der Liebe.
Ich habe Freunde beleidigt und einigen Menschen die hässlichsten Wörter an den Kopf geworfen, die man sich nur vorstellen kann, ich habe sie verletzt, vernachlässigt, verraten, enttäuscht und angeschwärzt, aber es brauchte nur ein wenig Zeit, eine Entschuldigung, ein gutes Wort, das andere für mich einlegten, oder eine Art der Wiedergutmachung, damit sie mir meine Taten schließlich doch wieder verziehen.
Alles wurde mir vergeben, keine Beleidigung war zu groß, keine Enttäuschung zu hart, um letzten Endes nicht darüber hinwegsehen zu können. Ich war ein Lügner, ein Betrüger, ein Schläger. Einmal wäre ich sogar fast zum Mörder geworden. Ich ging fremd, ich war ein lausiger Freund und ich habe Menschen um ihr Geld gebracht, doch alle meine bösen Taten, so schlimm sie auch waren, konnte ich irgendwie wieder geradebiegen. Es blieb kein ernsthafter Schaden zwischen mir und diesen Leuten zurück. Im schlimmsten Fall ging man auf separaten Pfaden seiner Wege, ohne sich aber im Bösen voneinander zu trennen, ohne den Anderen von nun an nicht länger im eigenen Leben wissen zu wollen.
Mit allem kam ich durch, nur nicht mit dem einen. Gestehe jemandem deine Liebe und er wird dich fortan meiden, er wird mit dir nicht mehr reden wollen, er wird sich weiter und weiter von dir distanzieren und deine Anwesenheit wird ihm Unwohlsein bereiten. Eine Liebeserklärung besitzt mehr destruktives Potential als alle bösartigen Verhaltensweisen, denn keine von ihnen verfügt über die geballte Zerstörungskraft einer emotionalen Zuwendung.
Was soll man davon halten, wenn das eigentlich Gute so viel Schlechtes mit sich bringt, während das Böse keine nennenswerten Folgen nach sich zieht, weil es von denjenigen, auf die es zielt, offenbar leichter zu verkraften ist. Es heißt, im Krieg und in der Liebe sei alles erlaubt. Ist eine Liebes- somit eine Kriegserklärung? Vielleicht also sollte ich einfach aufhören, andere Menschen zu lieben, und sie stattdessen bloß noch wie Dreck behandeln. Damit kommen sie zurecht. Nur nicht mit der Liebe.
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