„Was willst du über­haupt?“ raun­te er genervt durch die Gegen­sprech­an­la­ge. Erst nach dem drit­ten Klin­geln hat­te er reagiert, und es ver­gin­gen wei­te­re fünf Minu­ten, bis er ihr end­lich die Tür öff­ne­te. Sie war zu ihm gefah­ren, am Vor­mit­tag vor dem Abflug in den gemein­sa­men Urlaub mit ihrem Ver­lob­ten, um etwas mit ihm zu bere­den, das sie bedrück­te, das sie in den Urlaub ver­folgt hät­te, wenn sie es nun nicht ansprach.
Seit Mona­ten ver­hielt er sich anders, irgend­wie fremd, unge­wohnt und merk­wür­dig. Ihr war es von all sei­nen Freun­den als ers­te auf­ge­fal­len. Anfangs dach­te sie, sie bil­de sich das alles bloß ein, doch mit der Zeit wur­den die Zei­chen sei­ner Ver­än­de­rung deut­li­cher und für alle offen­sicht­lich. Er ging nicht mehr ans Tele­fon. Als er damit ange­fan­gen hat­te, sprach sie ihm kur­ze Nach­rich­ten auf den Anruf­be­ant­wor­ter und bat ihn um Rück­ruf. Die Rück­ru­fe wur­den immer sel­te­ner. Mit der Zeit kamen sie nur noch, wenn sie ver­si­cher­te, es han­de­le sich um einen Not­fall. Die Not­fäl­le wur­den immer zahl­rei­cher und er durch­schau­te, was sie tat. Er rief sie gar nicht mehr zurück. Es war nicht nur sie, zu der er den Kon­takt auf die­se Art schlei­fen ließ. Sogar ihr Ver­lob­ter bemerk­te sei­ne Ver­än­de­rung, obwohl die bei­den, seit sie sich kann­ten, nur wenig Kon­takt mit­ein­an­der gehabt hat­ten. Schließ­lich fiel es auch ihren gemein­sa­men Freun­den auf. Er rief nie­man­den zurück, er woll­te nie­man­den sehen.
Man schrieb ihm SMS, die er per Email beant­wor­te­te, halb­her­zig und mit eini­gen Tagen Ver­spä­tung. Ihr regel­mä­ßi­ger Kon­takt, den er und sie einst glei­cher­ma­ßen schätz­ten, wur­de zäh. Zwar erwi­der­te er noch immer jede Email, die sie ihm schrieb, aber auch dies erst Tage spä­ter und mit For­mu­lie­run­gen, so knapp wie Noti­zen, die jeg­li­che Aus­schwei­fun­gen oder Details ver­mis­sen lie­ßen. Wie gern hat­te er immer Geschich­ten erzählt, stun­den­lang, die sei­ne Freun­de an ihm lieb­ten. Er konn­te Erleb­nis­se beschrei­ben wie kein Zwei­ter, sie aus­ma­len, sie dich­ten. Er hat­te Pro­ble­men gelauscht und Rat­schlä­ge erteilt oder bei einem Bier über die Welt phi­lo­so­phiert. Das alles war vor­bei und nie­mand wuss­te den Grund. Sei­ne Reak­tio­nen hat­ten den Cha­rak­ter eines Inter­views ange­nom­men, nur auf direk­te Fra­gen ant­wor­te­te er über­haupt noch, und auch das tat er nicht immer. Die­je­ni­gen sei­ner Freun­de, die ihn nicht auf­ga­ben, ver­such­ten sei­ner trü­ben Lau­ne auf den Grund zu gehen. Wäh­rend die einen ihm ihr Mit­ge­fühl zeig­ten, um es ihm leich­ter zu machen, sich zu öff­nen, stell­ten ihn ande­re direkt zur Rede. Er ant­wor­te­te ihnen allen, es gin­ge ihm gut und sie bräuch­ten sich sei­net­we­gen wirk­lich kei­ne Sor­gen zu machen. Die­se Ant­wort aller­dings beun­ru­hig­te sei­ne Freun­de noch mehr, denn es war so offen­sicht­lich gelo­gen. Er hat­te nicht nur den Kon­takt zu ande­ren Men­schen redu­ziert, auch kör­per­lich ging es ihm schlecht. Sein Gesicht war ein­ge­fal­len, das Resul­tat sei­ner andau­ern­den Abma­ge­rung. Wenn er sich über­haupt noch mit sei­nen Freun­den traf, war er wort­karg und hat­te eine Lau­ne, als käme er von einer Beer­di­gung. Dun­kels­te Augen­rin­ge präg­ten sein Gesicht, Hus­ten unter­brach fast jeden sei­ner Sät­ze. Schlaf fand er kaum. Die weni­gen rich­tig guten Freun­de, die er noch hat­te, waren rat­los. Nie­mand kam an ihn her­an. So stand nun also sie, sei­ne bes­te Freun­din, vor sei­ner Tür. Sie wür­de blei­ben, bis er ihr end­lich gesagt hät­te, was mit ihm los sei.
Wider­wil­lig bat er sie her­ein und bot ihr pflicht­schul­dig etwas Bier an, das sie freund­lich ablehn­te. Sie sag­te, sie wol­le gleich auf den Punkt kom­men. Er habe sich ver­än­dert. Nie­mand wis­se, was mit ihm los sei, aber man mache sich gro­ße Sor­gen. Sei­ne Freun­de mach­ten sich gro­ße Sor­gen. Sie ver­si­cher­te ihm, er habe noch immer Freun­de, die ihm bereit­wil­lig hel­fen wür­den, soll­te er Pro­ble­me irgend­ei­ner Art zu bewäl­ti­gen haben. Soll­te es um finan­zi­el­le Din­ge gehen, wäre das schnell aus der Welt zu schaf­fen, ermu­tig­te sie ihn. Er wink­te ab und schüt­tel­te den Kopf. Kei­ne finan­zi­el­len Pro­ble­me. Er dank­te für das Ange­bot. Auch sonst gäbe es kei­ne Pro­ble­me, bei denen sei­ne Freun­de ihm behilf­lich sein könn­ten. Aber sein Ver­hal­ten sei doch nicht nor­mal, beharr­te sie. Irgend­et­was müs­se doch sein. Er wie­gel­te ab. Es gin­ge ihm gut, sie sol­le sich sei­net­we­gen kei­ne Sor­gen machen. Das war ihr zu viel. Sie blaff­te ihn an, er kön­ne viel­leicht ande­re belü­gen, dass sie als sei­ne bes­te Freun­din aber etwas mehr Ehr­lich­keit von ihm erwar­te. Immer­hin sei sie mit den bes­ten Absich­ten zu ihm gefah­ren, noch dazu so kurz vor ihrem Urlaub mit ihrem Ver­lob­ten.
Sie ent­schul­dig­te sich bei ihm, nicht schon frü­her das Gespräch gesucht zu haben. Als er ange­fan­gen hat­te, sich zu ver­än­dern, war sie bis zur Erschöp­fung mit der eige­nen Ver­än­de­rung ihres Lebens beschäf­tigt gewe­sen und hat­te kei­ne pas­sen­de Gele­gen­heit gefun­den, um ein­mal in Ruhe mit ihm zu reden. Gewollt hät­te sie, aber ihr fehl­te die Zeit. Sie wuss­te, die meis­ten sag­ten das als Aus­re­de, weil man für sol­che Ange­le­gen­hei­ten eigent­lich immer Zeit hat­te, man konn­te sie sich neh­men, gera­de für gute Freun­de. Aber sie war wirk­lich nicht dazu gekom­men. Gemein­sam mit ihrem Freund hat­te sie ein bau­fäl­li­ges Haus gekauft, kün­dig­te ihre alte Woh­nung, muss­te umzie­hen, reno­vie­ren. Als das Haus in einem eini­ger­ma­ßen guten Zustand war und der gröbs­te Stress all­mäh­lich nach­ließ, hielt ihr Freund, dann ihr Ver­lob­ter, um ihre Hand an. Nun hat­te sie eine Hoch­zeit zu pla­nen.
Er aber sag­te bloß ver­ständ­nis­voll, er wis­se ja, dass sie mit Umzug und Hoch­zeits­vor­be­rei­tun­gen in letz­ter Zeit sicher schwer beschäf­tigt gewe­sen sein muss­te, er kön­ne das ver­ste­hen. Über­haupt sei es nicht so wich­tig, sei er nicht so wich­tig, er neh­me es ihr nicht übel. Sie frag­te ihn, was er mit ‚nicht so wich­tig‘ eigent­lich mei­ne. Ihm sei gar nichts mehr wich­tig, so ihr Ein­druck, gestand sie ihm, nicht ein­mal der Kon­takt zu ihr, den er doch stets mit Freu­de gepfleg­te hat­te. Als er dar­auf­hin ver­schämt den Blick senk­te, tat er ihr leid und sie hät­te sich am liebs­ten geohr­feigt, ihm nun auch noch einen Vor­wurf dar­aus zu machen. Aber viel­leicht war das ja ein Weg, ihn aus der Reser­ve zu locken. Sie ließ es dar­auf ankom­men. Wenn alles in Ord­nung sei, bohr­te sie, wes­halb kom­me er dann kaum noch aus sei­ner Woh­nung. Wes­halb ver­wei­ge­re er bei­na­he jeg­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on. Wes­halb ver­nach­läs­si­ge er sich selbst, sei­ne Freun­de, sogar sie, die ihm immer wich­tig gewe­sen sei. So etwas kön­ne er nicht machen. Er kön­ne nicht ein­fach alle Brü­cken abbren­nen und erwar­ten, nie­mand wür­de sich um ihn sor­gen. Und dann auch noch sein Job! In der Fir­ma, für die er arbei­te­te, war auch ihr Ver­lob­ter beschäf­tigt und hat­te ihr erzählt, er käme nur noch sehr spo­ra­disch sei­ner Arbeit nach. In letz­ter Zeit kom­me er so sel­ten und mit faden­schei­ni­gen Aus­re­den, dass er kurz davor stün­de, gefeu­ert zu wer­den und sein Ein­kom­men zu ver­lie­ren. Er sag­te bloß, das sei ihm egal. Sie wur­de laut. Wie kön­ne ihm das egal sein. Der Job sei sei­ne exis­ten­ti­el­le Grund­la­ge, ohne ihn kön­ne er ein­pa­cken. Er zuck­te die Schul­tern. Es wur­de ihr zu viel. Wie kön­ne er ein­fach so dasit­zen, alles scheiß­egal fin­den, sei­nen Job, sei­ne Freun­de, die sich Sor­gen um ihn mach­ten, sogar sie. Er kam nicht aus der Reser­ve. Sie seufz­te, war wütend, ent­täuscht, sag­te zu ihm, sie ver­mis­se ihre gemein­sa­men Gesprä­che, die regel­mä­ßi­gen Tele­fo­na­te, die Emails, aber das sei ihm wahr­schein­lich auch egal. Er sähe aus, als wäre er kurz vorm Ster­ben, erklär­te sie, er gehe kaum noch raus, und dann erzäh­le er allen, es gin­ge ihm gut. Für wie dumm hal­te er sie denn, alle woll­ten ihm doch bloß hel­fen, beson­ders sie. Die Käl­te in sei­ner Stim­me traf sie am meis­ten, als er ihr ins Gesicht sag­te, ihre Hil­fe kön­ne sie sich spa­ren. Wenn das so ist, kön­ne er sie ein­mal kreuz­wei­se, ent­geg­ne­te sie ver­letzt, denn eigent­lich müs­se sie ja Kof­fer packen, doch statt­des­sen sei sie hier­her gefah­ren, zu ihm, um mit ihm zu spre­chen, und er beneh­me sich wie ein Arsch­loch und lüge sie an. Dar­auf­hin schmiss er sie raus. Er habe sie nicht dar­um gebe­ten, hier­her zu kom­men, sie sol­le mit ihrem tol­len Ver­lob­ten in ihren blö­den Urlaub fah­ren und ein­fach ver­schwin­den. Sie fing an zu wei­nen, sie brüll­te ihn beim Raus­ge­hen an, was sein ver­damm­tes Pro­blem sei und was er über­haupt wol­le. Er mur­mel­te einen letz­ten Satz und schloss hin­ter ihr die Tür: „Alles, was ich woll­te, warst du.“

I want someone who is fier­ce and will love me until death and know that love is as strong as death, and be on my side for ever and ever. I want someone who will des­troy and be des­troy­ed by me. The­re are many forms of love and affec­tion, some peo­p­le can spend their who­le lives tog­e­ther wit­hout kno­wing each other’s names. Naming is a dif­fi­cult and time-con­­sum­ing pro­cess; it con­cerns essen­ces, and it means power. But on wild nights who can call you home? Only the one who knows your name. Roman­tic love has been diluted into paper­back form and has sold thou­sands and mil­li­ons of copies. Some­whe­re it is still in the ori­gi­nal, writ­ten on tablets of stone. I would cross seas and suf­fer sun­stro­ke and give away all I have, but not for a man, becau­se they want to be the des­troy­er and never be des­troy­ed. That is why they are unfit for roman­tic love. The­re are excep­ti­ons and I hope they are happy.
(Jea­nette Win­ter­son – Oran­ges Are Not The Only Fruit)

Lie­be soll bekannt­lich Ber­ge ver­set­zen kön­nen, doch manch­mal schei­tert sie bereits an einem Kie­sel­stein. Seit knapp sechs Mona­ten waren sie ein Paar. Sie hat­ten sich in einem Bis­tro ken­nen­ge­lernt, die Num­mern getauscht und bald dar­auf eini­ge Dates gehabt. Es war ihr Lachen, in das er sich zuerst ver­liebt hat, und ihr gefiel, wie er sich gab. An einem küh­len Diens­tag im Dezem­ber, kurz vor ihrem halb­jäh­ri­gen Jubi­lä­um, sag­te er zu ihr: „Du bist die, nach der ich gesucht habe“. Dann ging er zur Arbeit. Auf dem Nach­hau­se­weg wür­de er ihr Blu­men mit­brin­gen, ein­fach so, weil er wuss­te, wie sehr sie sich doch jedes Mal dar­über freu­te. Sie war die Frau, mit der er alt wer­den, eine Fami­lie grün­den woll­te, und er lieb­te sie von gan­zem Herzen.

Sie hin­ge­gen saß noch eine Wei­le am Küchen­tisch sei­ner Woh­nung, in der sie über­nach­tet hat­te, und dach­te über sei­ne Wor­te nach. Was woll­te er ihr damit sagen? Er hat­te sie gesucht. Woher woll­te er das wis­sen? Wenn sie bei­de in einem Jahr nicht mehr zusam­men wären, so wäre sie für ihn wohl nicht mehr die Gesuch­te. Nie gewe­sen. Dann wäre es eine neue. Such­te er also immer, was er gera­de gefun­den hat­te? Was für eine beque­me Lebens­phi­lo­so­phie! Sucht man nach Gold und fin­det bloß Eisen, so dekla­riert man die­se Suche ein­fach um. Schon immer habe man nach Eisen gesucht, sagt man dann. Etwas ande­res als Eisen wol­le man gar nicht haben, behaup­tet man mit erns­ter Mie­ne. Das Eisen wür­de sich geschmei­chelt füh­len, wäre es zu Emo­tio­nen in der Lage, und es wür­de nie infra­ge stel­len, ob die Suche wirk­lich ihm galt. Eine ange­neh­me Illu­si­on mit einer har­ten Wahr­heit auf die Pro­be stel­len? Nein!

War sie etwa sein Eisen? Er hat­te sie gefun­den, das stand außer Fra­ge, aber hat­te er sie auch gesucht? Sie? Wirk­lich sie? Sie begann zu zwei­feln. Er hat­te ihr nie erzählt, wie sei­ne Freun­din­nen vor ihr gewe­sen sind. Pass­te sie in ein Mus­ter, frag­te sie sich. Dann hat­te er viel­leicht wirk­lich nach ihr gesucht und alle Frau­en vor ihr waren fehl­ge­schla­ge­ne Ver­su­che in einer Art von Annä­he­rungs­ver­fah­ren. Bloß woher soll­te sie dann wis­sen, wirk­lich am Ende die­ser Suche zu ste­hen. War es nicht viel wahr­schein­li­cher, dass auch sie nur eine Annä­he­rung an die Frau war, die er wirk­lich such­te? Sie hat­te Eigen­schaf­ten, die er nicht moch­te. Was soll­te ihr das bedeu­ten? War sie von die­ser Frau, die er such­te, so weit ent­fernt? Er nahm sie hin, die­se Eigen­schaf­ten, sehr gedul­dig sogar, aber tat er das viel­leicht nicht nur, weil es bes­ser ist, anstel­le gar kei­ner wenigs­tens eine hal­be Ver­si­on der Frau zu haben, die man sucht? War sie eine Kom­pro­miss­lö­sung, ein Zwi­schen­schritt in der Evo­lu­ti­on sei­ner Beziehungen?

Was wäre wie­der­um, wenn sie und die Frau­en sei­ner frü­he­ren Bezie­hun­gen nicht in ein sol­ches Mus­ter pass­ten? Dann wäre sei­ne Aus­wahl doch recht belie­big. Sie wäre nicht ein­mal ein evo­lu­tio­nä­rer Zwi­schen­schritt auf dem Weg zu der von ihm gesuch­ten Frau, son­dern aus­tausch­bar. Völ­lig aus­tausch­bar. Wenn er wirk­lich sie gesucht hät­te, war­um wäre er dann mit Frau­en zusam­men gewe­sen, die ihr so unähn­lich waren? Da gab es kei­ne Linie, kei­ne Annä­he­rung, nur aus­tausch­ba­re Part­ner. Jede hat­te er gefun­den. Hat­te er auch jede gesucht? Hat­te er über­haupt eine von ihnen gesucht?

Was soll­te das über­haupt hei­ßen, sie sei die, nach der er gesucht habe? Er sprach in der Ver­gan­gen­heit. Wenn es also stim­men soll­te, hie­ße es dann, er such­te sie gar nicht mehr? Glaub­te er, er hat­te sie gefun­den? Ein­mal, und dann für immer und ewig? Wenn man etwas fin­det, hört man auf, danach zu suchen, dach­te sie. Wenn man weiß, wo etwas liegt, beach­tet man es kaum, es liegt dort schließ­lich immer. Nahm er sie also für selbst­ver­ständ­lich? Er hat­te sie gefun­den und nun war die Suche vor­bei. Sie war für ihn nichts mehr, das er erkun­den woll­te. Konn­te das sein? War das nicht gera­de das Gegen­teil von Lie­be, jeman­den ein­mal zu fin­den und dann auf­zu­hö­ren, in ihm zu suchen – nach ihm selbst. „Ich habe dich gefun­den“ redu­zier­te doch die Lie­be auf „Ich möch­te, dass du für immer so bleibst“. Das war kei­ne Lie­be. Jeman­den zu fin­den, ein für alle Mal, das ist unmög­lich, so wie es doch unmög­lich ist, sich jemals selbst zu fin­den, ohne sich dabei zu ver­lie­ren. In der Suche steckt die Lie­be und in der Suche steckt die Selbst­er­kennt­nis. Wer fin­det, der hat nichts mehr zu ent­de­cken, mit dem Fin­den stirbt das Leben, das Stre­ben und die Lie­be. Wie also konn­te er allen Erns­tes behaup­ten, er habe sie gefun­den? Sie kann­ten sich doch gera­de erst ein hal­bes Jahr! Wie ver­mes­sen es war, bereits nach die­ser kur­zen Zeit nichts mehr an ihr ent­de­cken zu wol­len. Er war fer­tig mit ihr, dach­te sie. Schade.

Sie pack­te alles ein, was ihr gehör­te, und ver­ließ sei­ne Woh­nung. Dies­mal wür­de er sie suchen, ja, aber fin­den wür­de er sie nicht mehr.

Es war ein­mal ein Jun­ge, der bekam zu sei­nem vier­zehn­ten Geburts­tag ein Pferd, und alle im Dorf sagen: „Oh, wie wun­der­bar! Der Jun­ge hat ein Pferd!“, und der Zen-Meis­­ter sagt: „Man wird sehen.“

Zwei Jah­re spä­ter fällt der Jun­ge vom Pferd, bricht sich das Bein, und alle im Dorf schrei­en: „Wie grau­en­voll!“ Der Zen-Meis­­ter sagt: „Man wird sehen.“

Dann bricht Krieg aus und alle jun­gen Män­ner müs­sen in den Kampf, bis auf ihn, wegen sei­nes kaput­ten Beins, und alle im Dorf sagen: „Wie wun­der­bar!“, und der Zen-Meis­­ter sagt: „Man wird sehen.“
(Der Krieg des Char­lie Wilson)

In all den Dis­kus­sio­nen um die Vor- und Nach­tei­le sowie die rea­len oder nur pro­ji­zier­ten Gefah­ren sozia­ler Inter­­net-Diens­­te ver­mis­se ich bis­lang einen Aspekt, den ich für sehr zen­tral und für mit weit­rei­chen­den Fol­gen ver­bun­den hal­te: Effizienz.

Ver­steht man bei­spiels­wei­se Twit­ter, Face­book oder Form­spring als cha­rak­te­ris­ti­sche Stell­ver­tre­ter der Social-Media-Diens­­te, bedeu­tet dies unterm Strich, die 1:1‑Relationen in der Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Freun­den oder „Freun­den“ wer­den mit­tels die­ser Diens­te wesent­lich leich­ter, wesent­lich öfter in 1:n‑Relationen umgewandelt.

Für einen Dienst wie Form­spring, bei dem User ande­ren Usern Fra­gen stel­len kön­nen, auch anonym, die dann inklu­si­ve der dazu­ge­hö­ri­gen Ant­wor­ten allen ande­ren Usern zum Lesen zur Ver­fü­gung ste­hen, bedeu­tet dies kon­kret: Hat nur ein ein­zi­ger der User eine Fra­ge an einen bestimm­ten User gestellt, brau­chen sämt­li­che ande­ren User die­sel­be Fra­ge die­sem bestimm­ten User nicht noch ein­mal zu stel­len. Im Gegen­teil: Oft ist zu beob­ach­ten, dass es die Ant­wor­ten­den in der Regel nervt, wenn ein Fra­gen­der eine bereits beant­wor­te­te Fra­ge noch ein­mal stellt. Wenn nun bei­spiels­wei­se ein User in sei­ner for­m­­spring-Kar­rie­­re unge­fähr 500 Fra­gen beant­wor­tet hat, brau­chen alle ande­ren, die jene Fra­gen und deren Ant­wor­ten gele­sen haben, die­se 500 Fra­gen und zig Mil­lio­nen ande­re Fra­gen, die zu ähn­li­chen Ant­wor­ten geführt hät­ten, nicht mehr stel­len und wer­den mög­li­cher­wei­se vom Ant­wor­ten­den sogar dar­auf hin­ge­wie­sen, er wol­le die­se Fra­ge nicht noch ein­mal beant­wor­ten, denn das habe er ja bereits. Schon beim Umgang mit Blogs, Twit­ter oder Face­book ist bis­wei­len Ähn­li­ches zu beob­ach­ten, sodass es dann mit­un­ter zu Dia­lo­gen kommt, die wie folgt ver­lau­fen: „Hab ich dir schon das Neu­es­te erzählt?“ „Nein, aber ich hab’s in dei­nem Blog/in dei­nem Tweet/auf Face­book gele­sen.“ „Ach so.“

Es ist nicht mehr nötig, jedem der eige­nen Freun­de die neu­en Urlaubs­fo­tos zu zei­gen, wenn man sie ein­fach auf Face­book stel­len kann, wo sie jeder bequem anse­hen kann, wann immer es beliebt. Die Gesprä­che mit Freun­den über den neu­en Part­ner wer­den ersetzt durch eine Ände­rung des Bezie­hungs­sta­tus, der sofort von allen Freun­den zur Kennt­nis genom­men wer­den kann, ohne mit jedem von ihnen ein­zeln dar­über spre­chen zu müs­sen. Direk­te Kom­mu­ni­ka­ti­on weicht der Ver­öf­fent­li­chung von Infor­ma­tio­nen für ein Publi­kum, so als gebe man eine Pres­se­kon­fe­renz über die eige­ne Person.

All das bedeu­tet trotz bewuss­ter Über­zeich­nung, die Kom­mu­ni­ka­ti­on ver­schiebt sich auf­grund der neu­en Ein­fach­heit, die die­se sozia­len Diens­te bie­ten, vom Schwer­punkt ein wenig weg von direk­ter 1:1‑Kommunikation, die aber natür­lich nicht ver­schwin­det, hin zu brei­te­ren 1:n‑Kommunikationskanälen, was bedeu­tet, dass es mög­lich wird, via Face­book, Twit­ter oder auch Form­spring vie­le Men­schen gleich­zei­tig über sei­ne Akti­vi­tä­ten, Gedan­ken, Mei­nun­gen und so wei­ter zu informieren.

Eine ehe­ma­li­ge Kom­mi­li­to­nin hielt Stu­diVZ gera­de des­we­gen für so prak­tisch, weil sie dann nicht mehr all ihren Freun­den sepa­rat (1:1) von Neue­run­gen in ihrem Leben erzäh­len müs­se, son­dern das ein­fach nur noch ins Stu­diVZ zu schrei­ben habe (1:n). Das ist zwar nun in die­sem Bei­spiel ein Extrem­fall, wenn auch wahr, den­noch lässt sich die all­ge­mei­ne Ten­denz all die­ser Diens­te damit beschrei­ben, dass sie objek­tiv ein Mit­tel zur Effi­zi­enz­stei­ge­rung der Kon­takt­ver­wal­tung dar­stel­len und Red­un­danz abbauen.

Wenn man fünf Freun­den oder „Freun­den“ nicht mehr sepa­rat erzäh­len muss, was man ges­tern gemacht, wen man ken­nen­ge­lernt, was man gekauft oder gese­hen hat, son­dern das ledig­lich ein ein­zi­ges Mal auf einem Blog schrei­ben oder auf Face­book ver­öf­fent­li­chen muss, wo es alle fünf dann jeder­zeit nach­le­sen kön­nen, dann habe ich den Umgang mit mei­nen Freun­den opti­miert und des­sen Effi­zi­enz gestei­gert, weil ich Red­un­dan­zen abge­baut habe. Gleich­zei­tig erleich­tert das den Auf­bau eines wesent­lich grö­ße­ren „Freundes“-Kreises und erhöht das eige­ne »sozia­le Kapi­tal« (Bour­dieu), auf das man zugrei­fen kann. Zudem erstellt man gewis­ser­ma­ßen sein eige­nes Dos­sier, das man Inter­es­sen­ten an der eige­nen Per­son nur noch in die Hand zu drü­cken braucht – auch das Ken­nen­ler­nen oder viel­mehr das, was man dann für Ken­nen­ler­nen hält, wird dadurch opti­miert, beschleu­nigt, ver­ein­facht und letzt­lich effi­zi­en­ter. Das Sozia­le wird zunächst auf Daten reduziert.

Der Begriff der Objek­ti­vi­tät ist hier von gro­ßer Rele­vanz. Mei­ne beschrei­ben­den Wor­te möch­ten nicht aus­drü­cken, dass die­ser Effekt der Effi­zi­enz­stei­ge­rung in jedem Fall die sub­jek­ti­ve Inten­ti­on der Nut­zer ist, aber er ist den­noch das objek­ti­ve Resul­tat, so wie auch nie­mand mit der sub­jek­ti­ven Inten­ti­on ein­kau­fen geht, das Wirt­schafts­sys­tem zu erhal­ten oder den Staat mit­tels Steu­ern unter­stüt­zen zu wol­len, wäh­rend all die­se Din­ge jedoch gleich­zei­tig objek­ti­ves Ergeb­nis des Ein­kau­fens sind, ganz egal was die sub­jek­ti­ve Inten­ti­on sein mag.

Vie­le gesell­schaft­li­che oder indi­vi­du­el­le Ent­wick­lun­gen haben teil­wei­se ver­hee­ren­de Neben­fol­gen, die uns in den sel­tens­ten Fäl­len wirk­lich bewusst sind und die wir kei­nes­wegs als Inten­ti­on die­ses Han­delns anfüh­ren wür­den. Nie­mand beginnt mit dem Rau­chen, weil es so schön gesund­heits­ge­fähr­dend ist, und auch wenn das nicht sub­jek­ti­ve Inten­ti­on des Rau­chens ist, so ist es doch objek­ti­ver Effekt. Das glei­che trifft auf Umwelt­zer­stö­rung zu, da nie­mand (oder zumin­dest fast nie­mand) mor­gens mit dem Vor­ha­ben auf­steht, heu­te bewusst die Umwelt zu zer­stö­ren, son­dern weil es häu­fig der mehr oder weni­ger unbe­wuss­te Neben­ef­fekt vie­ler als völ­lig selbst­ver­ständ­lich erach­te­ter Hand­lungs­wei­sen ist, der nur dann über­haupt als Pro­blem begrif­fen und besei­tigt wer­den kann, wenn man sich die­ses Neben­ef­fekts tat­säch­lich bewusst wird.

Bei all den Vor­tei­len, die sol­che Social-Media-Diens­­te bie­ten, ist dies, die­ser gesell­schaft­lich sank­tio­nier­te bis beding­te, unter ande­rem durch pre­kä­re Arbeits­ver­hält­nis­se und der For­de­rung nach zuneh­men­der Mobi­li­tät und Fle­xi­bi­li­tät befeu­er­te und in Form die­ser Diens­te recht trans­pa­rent auf­tre­ten­de Effi­zi­enz­ge­sichts­punkt in zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen, einer die­ser unbe­wuss­ten Neben­ef­fek­te, über den etwas mehr Refle­xi­on viel­leicht ange­bracht wäre, um den Umgang mit die­sen Diens­ten ent­spre­chend bewuss­ter zu gestal­ten. Letzt­lich stellt sich näm­lich zumin­dest mir die Fra­ge, in wel­chem Maße eine sol­che Effi­zi­enz­stei­ge­rung des Zwi­schen­mensch­li­chen über­haupt wün­schens­wert erscheint und ob größt­mög­li­che Quan­ti­tät sowie der Gesichts­punkt der Effi­zi­enz dem Kon­zept ernst­haf­ter Freund­schaft nicht dia­me­tral widersprechen.