Es ist ein Irr­tum zu glau­ben, die ent­schei­den­den Momen­te eines Lebens, in denen sich sei­ne gewohn­te Rich­tung für immer ändert, müß­ten von lau­ter und grel­ler Dra­ma­tik sein, unter­spült von hef­ti­gen inne­ren Auf­wal­lun­gen. Das ist ein kit­schi­ges Mär­chen, das sau­fen­de Jour­na­lis­ten, blitz­licht­süch­ti­ge Fil­me­ma­cher und Schrift­stel­ler, in deren Köp­fen es aus­sieht wie in einem Bou­le­vard­blatt, in die Welt gesetzt haben. In Wahr­heit ist die Dra­ma­tik einer lebens­be­stim­men­den Erfah­rung oft von unglaub­lich lei­ser Art. Sie ist dem Knall, der Stich­flam­me und dem Vul­kan­aus­bruch so wenig ver­wandt, daß die Erfah­rung im Augen­blick, wo sie gemacht wird, oft gar nicht bemerkt wird. Wenn sie ihre revo­lu­tio­nä­re Wir­kung ent­fal­tet und dafür sorgt, daß ein Leben in ein ganz neu­es Licht getaucht wird und eine voll­kom­men neue Melo­die bekommt, so tut sie das laut­los, und in die­ser wun­der­vol­len Laut­lo­sig­keit liegt ihr beson­de­rer Adel.
(Pas­cal Mer­cier – Nacht­zug nach Lissabon)

Unser Bewusst­sein hat sich im Lau­fe eini­ger Jahr­hun­der­te sehr ver­än­dert, unser Gefühls­le­ben sehr viel weni­ger. Daher eine Dis­kre­panz zwi­schen unse­rem intel­lek­tu­el­len und unse­rem emo­tio­na­len Niveau. Die meis­ten von uns haben so ein Paket mit fleisch­far­be­nem Stoff, näm­lich Gefüh­le, die sie von ihrem intel­lek­tu­el­len Niveau aus nicht wahr­ha­ben wol­len. Es gibt zwei Aus­we­ge, die zu nichts füh­ren; wir töten unse­re pri­mi­ti­ven und also unwür­di­gen Gefüh­le ab, soweit als mög­lich, auf die Gefahr hin, daß dadurch das Gefühls­le­ben über­haupt abge­tö­tet wird, oder wir geben unse­ren unwür­di­gen Gefüh­len ein­fach einen ande­ren Namen. Wir lügen sie um. Wir eti­ket­tie­ren sie nach dem Wunsch unse­res Bewusst­seins. Je wen­di­ger unser Bewusst­sein, je bele­se­ner, um so zahl­rei­cher und um so nobler unse­re Hin­ter­tü­ren, um so geist­vol­ler die Selbst­be­lü­gung! Man kann sich ein Leben lang damit unter­hal­ten, und zwar vor­treff­lich, nur kommt man damit nicht zum Leben, son­dern unwei­ger­lich in die Selbst­ent­frem­dung. (…) Es ist merk­wür­dig, was sich uns, sobald wir in der Selbst­über­for­de­rung und damit in der Selbst­ent­frem­dung sind, nicht alles als Gewis­sen anbie­tet. Die inne­re Stim­me, die berühm­te, ist oft genug nur die koket­te Stim­me eines Pseu­­do-Ich, das nicht dul­det, daß ich es end­lich auf­ge­be, daß ich mich selbst erken­ne, und es mit allen Lis­ten der Eitel­keit, nöti­gen­falls sogar mit Falsch­mel­dun­gen aus dem Him­mel ver­sucht, mich an mei­ne töd­li­che Selbst­über­for­de­rung zu fes­seln. Wir sehen wohl unse­re Nie­der­la­ge, aber begrei­fen sie nicht als Signa­le, als Kon­se­quen­zen eines ver­kehr­ten Stre­bens, eines Stre­bens weg von unse­rem Selbst.
(Max Frisch – Stiller)

Über­haupt fürch­ten sie sich vor jeder offe­nen Fra­ge; sie den­ken immer gera­de so weit, wie sie die Ant­wort schon in der Tasche haben, eine prak­ti­sche Ant­wort, eine Ant­wort, die ihnen nütz­lich ist. Und inso­fern den­ken sie über­haupt nicht; sie recht­fer­ti­gen nur. Sie wagen es unter kei­nen Umstän­den, sich selbst in Zwei­fel zu zie­hen. Ist das nicht gera­de das Zei­chen geis­ti­ger Unfreiheit?
(Max Frisch – Stiller)

Die Men­schen ver­ler­nen das Schen­ken. Der Ver­let­zung des Tausch­prin­zips haf­tet etwas Wider­sin­ni­ges und Unglaub­wür­di­ges an; da und dort mus­tern selbst Kin­der miß­trau­isch den Geber, als wäre das Geschenk nur ein Trick, um ihnen Bürs­ten oder Sei­fe zu ver­kau­fen. […] Der Ver­fall des Schen­kens spie­gelt sich in der pein­li­chen Erfin­dung der Geschenk­ar­ti­kel, die bereits dar­auf ange­legt sind, daß man nicht weiß, was man schen­ken soll, weil man es eigent­lich gar nicht will. Die­se Waren sind bezie­hungs­los wie ihre Käu­fer. Sie waren Laden­hü­ter schon am ers­ten Tag. Ähn­lich der Vor­be­halt des Umtauschs, der dem Beschenk­ten bedeu­tet: hier hast du dei­nen Kram, fang damit an, was du willst, wenn dir´s nicht paßt, ist es mir einer­lei, nimm dir etwas ande­res dafür.
(Theo­dor W. Ador­no – Mini­ma Moralia)

Was ist die gesell­schaft­li­che Funk­ti­on der Fach­spra­che? Ich habe gesagt, ech­te Kom­mu­ni­ka­ti­on sei Gemein­sam­keit und Ver­än­de­rung. Die Fach­spra­che ist nicht unschul­dig. Der Mann, der sie spricht, der vor uns von Rol­len und auf der Basis von Wech­sel­be­zie­hun­gen funk­tio­nie­ren­den Grup­pen schwatzt, und von Wert­vor­stel­lun­gen und den Zie­len des Lehr­plans und bes­se­rer Über­ein­stim­mung und über­ge­ord­ne­ten und unter­ge­ord­ne­ten Per­so­nen, der hat die Absicht, uns auf Distanz zu hal­ten; er will sei­ne Spe­zia­li­tät – sein klei­nes Stück eines im Wesent­li­chen unteil­ba­ren Gan­zen – eben als Spe­zia­li­tät für sich behal­ten. Er hat kein Inter­es­se dar­an, sich uns anzu­nä­hern, uns sei­ne Fähig­kei­ten zu ver­mit­teln, son­dern über uns zu ste­hen und uns zu mani­pu­lie­ren. Kurz­um, er will ein »Exper­te« blei­ben. Der Phi­lo­soph möch­te, im Gegen­satz dazu, dass alle Men­schen zu Phi­lo­so­phen wer­den. Sei­ne Rede­wei­se erzeugt Gleich­heit. Er hat die Absicht, sich uns anzu­nä­hern und uns die Fähig­keit zum selbst­stän­di­gen Den­ken und Han­deln zu vermitteln.
(Geor­ge Den­ni­son – The Lives of Child­ren; zitiert nach: John Holt – Kin­der ler­nen selbst­stän­dig oder gar nicht(s)