Eigene Kurzgeschichten

Dein Seufzen treibt eine Weile auf dem Wasser. Erste Sonnenstrahlen umhüllen es mit rosa-goldenem Licht, bevor es in den Wellen des Flusses versinkt.

Wir sitzen auf einem Steg am Leineufer. Ein paar Enten schwimmen vor dem Steg herum. Jede von ihnen trägt einen kleinen Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen, eine Zigarre im Schnabelwinkel und hält in den Flügeln eine Zeitung mit diskreten Löchern zum Durchgucken.

„Ihre Beschattungstechnik ist nicht mehr sehr zeitgemäß“, flüstere ich verschwörerisch.

Du schaust mich verständnislos an und ich begreife, dass das stundenlange Gespräch in der endgültigen Trennung mündet, denn früher hättest Du verstanden und gelacht, jetzt siehst Du nur noch einige der allgegenwärtigen Enten.

Es gilt, sehr schnell zu sein, bevor das Verständnis und der Wille zur Nachsicht in eine Schlammschlacht ausarten. Es ist der Trick, sich das vorher einzugestehen, die Idealvorstellung einer freundschaftlichen Trennung zu demaskieren und dem neugewonnenen Gegner einen Schritt voraus zu sein.“

So hätte es Macchiavelli in seiner Brigitte-Kolumne geschrieben.

Ich atme die aprikosenfarbene Luft ein und starre auf die verschwimmenden Buchstaben des Leibnitz-Zitats an der Mauer des historischen Museums. Mit zusammengekniffenen Augen kann ich gerade noch die Turmuhr der Marktkirche erkennen. Schon halb fünf.

Keiner von uns sagt etwas. Die Stille hat die Konsistenz einer der zähen Rindsrouladen, die meine Mutter früher auf  den Tisch brachte, wenn die Familie gegen malayischen Linseneintopf mit Bananen oder Grünkernauflauf das Veto einlegte. Auf denen konnte man auch stundenlang rumkauen wie auf einem Kaugummi. War der Geschmack verbraucht, blieb der faserige, graubraune Klumpen zurück, den wir alle mit Todesverachtung schluckten. Ich frage mich, ob meine Mutter wirklich glaubte, uns würden die Rouladen schmecken.

„Jetzt, wo wir getrennte Leute sind, ist gegenseitiges Verständnis im Prinzip obsolet. Trotzdem möchte ich Dir eine Geschichte erzählen. Und zwar die von den Russen:

Als ich nach der Arbeit nach Hause komme, sitzen zwei Männer im Esszimmer. Einfach so. Mit der Selbstverständlichkeit von Familienmitgliedern. Beide haben Senfkristall vor sich stehen und eine große Flasche Wodka. Der eine ist bestimmt schon Anfang 50, sein Gesicht sieht aus wie von einem geschickten Künstler in rotem Lehm modelliert, etwas blasser, aber im gleichen Farbton. Selbst die Falten und Kerben haben etwas Mineralisches an sich, sogar sein Haar, wie das einer billigen Perücke, passt farblich ganz Ton in Ton zum Rest. Jemand sollte ihm mal sagen, dass Ton in Ton out ist. Die hellblauen Augen schwimmen in wässriger Gleichgültigkeit. Gleichzeitig ist er eine einzige Forderung, immerzu bereit, aufzuspringen und die ihm zugedachten Gaben des Lebens an sich zu reißen.

Der andere macht einen eher empfindsamen Eindruck, mit feineren Gesichtszügen, feinem schwarzen Haar und Augen, die man nur als seelenvoll bezeichnen kann. Ich stelle ihn mir sofort mit pomadisiertem Haar, in Frack und blankgeputzten Lackschuhen in einem Rauchzimmer vor, auf dem Tischchen neben ihm ein Kristallglas mit Likör. Mit feinen Herrschaften philosophische und soziale Probleme der Jahrhundertwende diskutierend. Albern, was einem während der Sekunden des ersten Ansehens durch den Kopf schießt. Mein Vater ist im ganzen Haus nicht zu finden und ich bin unsicher, was ich mit diesen beiden Männern anfangen soll.

Ich rufe Gerda an. Das Gespräch mit ihr ist eine Art Tauziehen mit Gummiseilen, aber immerhin weiß ich danach, dass die beiden Herren Juri und Michail heißen, zwei Deutschrussen und Musiker sind, die nun bei uns wohnen. Im Zimmer neben meinem. Sie seien wertvolle Künstler im Stil verfolgter Dissidenten. Nahezu Kleinodien.

Ich versuche, mich über diese Bereicherung zu freuen und gehe zurück um mich zumindest vorzustellen. Danach will ich eigentlich nur Ruhe. Stattdessen bekomme ich ein Glas Wodka aufgenötigt und Zigaretten angeboten.

Nach einem gefühlten Liter Schnaps kommt die Gleichgültigkeit. Juris Hand auf meinem Bein ist mir egal. Juris Hand an meinen Brüsten ist mir egal. Wäre ich nüchtern, täte ich aus Anstand etwas geziert, wäre aber trotzdem gleichgültig. Mein Körper ist etwas, das eben an mir und meinen Gedanken dranhängt. Stecken kaum Empfindungen drin. Im Laufe des Abends haben sich die beiden wohl geeinigt, denn Juri schleppt mich ganz selbstverständlich in mein Bett, zieht mich aus und fasst mich an. Kein Streicheln, eher ein lustloses Reiben, als müsse das eben sein, bevor man weitermachen kann. Wäre ich nüchtern, ich täte so, als gefiele mir das. Stöhnte etwas, bewegte das Becken, wie ich das sonst tat, wenn ich mit jemandem mitging. Jetzt liege ich aber einfach da. Er zieht erst meine Hosen runter, dann seine eigenen. Keinen Ton gibt er von sich, als er vehement in mich eindringt, nicht mal ein Ächzen oder Grunzen. Als bringe er eine Pflichtübung hinter sich. Sein Körpergeruch überwältigt meinen eigenen Dunst in einer resignierten feindlichen Übernahme. Es dauert überraschend lange, bis er seinen Prügel aus mir herauszieht und sich, immer noch geräuschlos, anzieht und das Zimmer verlässt. Auf dem Max Ernst Druck an der Wand neben mir entdecke ich Details, die mir bisher verborgen gewesen waren, obwohl der weiße Schleier des Moskitonetzes darüber liegt. Die Wolke links oben im Bild sieht fast aus wie ein Pandagesicht. Ein Comicpanda. Ich mag Max Ernst lieber als H.R. Giger. Die Bilder sind auf eine weniger plakative Art düster und beklemmend. Wenn man will, kann man eine Ahnung von Hoffnung daraus zusammensuchen, muss aber nicht.

Sperma läuft aus mir heraus, es fühlt sich an, als mache ich ins Bett. Irgendwie ist es  auch genauso. Ich mache stellvertretend für den Mineralischen in mein Bett. Besudle es. Die große Eule schaut mir wohlwollend mit plüschig umrahmten Glasaugen dabei zu.

Ich krieche durch die Löcher in der grünen Höhle, das Licht draußen verliert sich, die Pandawolke ist jetzt ein Rochen, oder eine Schlange. Sobald man in dem Bild drin ist, kann man sie nicht mehr sehen, doch die Wolken müssen sich verändern und weiterziehen, denn mit mir in der Szene muss zwangsläufig Zeit vergehen, Dynamik entstehen.

Das Moos, das die Höhleneingänge weich aufpolstert und den Boden zu einer ersten Ruhestätte macht, drücke ich mit Knien und Händen platt. Wo ich länger verharre, richtet es sich nicht wieder auf und an anderen Stellen kann ich hören, wie es aufatmet, weil meine Last fort ist. Ich bin schon so weit in den Berg vorgedrungen, dass das Klopfen und Öffnen meiner Zimmertür kaum noch zu hören ist. Jemand setzt sich neben mich auf die Bettkante. Der Boden aus weichem Gestein knarrt leise und gibt unter dem zusätzlichen Gewicht nach. Eine Feder streicht über mein Haar und die Wangen. Sie scheinen ganz feucht zu sein. Das Dunkel verkrampft sich, etwas nähert sich. Etwas Süßliches, Dumpfes. Zwei weiche Kissen legen sich auf meine Stirn, die Feder streicht über meinen Bauch. Ich ziehe die Beine an und drehe den Kopf und den Rest von mir weg, wieder dem Bild und der Wand zu. Die Höhle hat mich in das faulige Bett ausgespuckt. Gänsehaut dringt auch dort hin, wo mich noch das eine Hosenbein bedeckt. Mehr geht nicht, nur wegdrehen mit letzter Kraft. Die Feder löst sich nicht mit einem Puff in Luft auf, vielmehr bohrt sie sich penetrant sanft hinein. Nicht in den Körper, sondern in mich. Es ist angenehm und abstoßend gleichzeitig, wie Obst kurz vor dem Verfaulen. Wie an Stefanies Geburtstag auf dem Schoß ihres Stiefvaters. Michail gibt fortwährend Schhhs von sich, wie ein Zug. Er soll aus mir verschwinden. Niemand darf in mich hinein.“

Die Frau starrt blicklos in meine Richtung. Ihre Augen wogen selbstständig auf und ab mit den Wellen des Flusswassers. Vorhin hat sie mich noch angesehen, als hätte sie mich erkannt und es war dieser Blick, der mich bewog, den beiden eine der kostbaren, unendlichen Minuten für ihre Trennung zu schenken. Jetzt ist ihre Präsenz ein Loch in der Luft. Der Mann legt den Arm um sie und ich schwimme mit den anderen Enten am Ufer entlang auf eine alte Dame zu, die Brotstücke ins Wasser wirft. Auf dem Uhrenturm der Marktkirche schubst ein spielzeuggroßer Mensch den Zeiger an.

Teil I – Die Menschen

Hannover Südstadt.
01.10.2014

Julia schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf und hatte nur noch einen einzigen Gedanken. Im Verlauf der U-Bahnfahrt nach Hause hatte er sich zunehmend verfestigt und die Vorstellung wurde immer realer, war schon fast so wärmend und tröstend wie die Realität es sein würde.

Julia dachte an ein heißes Bad. Ein schaumiges, wohliges Bad mit einem Glas Prosecco am Wannenrand und einem Hörbuch. Die ganze Anspannung des Tages würde von ihr ablassen. Der starke Griff, den die Sorge um ihre Patienten immer häufiger fest um ihren Nacken drücken ließ, würde mit dem Wasser einfach den Abfluss runterrauschen.

 

Julia ließ den neuen, roten Mantel von ihren Schultern gleiten und sah sich einen Moment lang im Spiegel neben ihrer Garderobe in die Augen und in das müde dreinblickende Gesicht.

Ihre Freundinnen behaupteten, es sei ein Barbie-Gesicht. Mit feinen Gesichtszügen, hohen, aber nicht zu harten Wangenknochen, kornblumenblauen Augen, einer zierlichen Nase und einem kleinen, runden Mund. Das ganze Kunstwerk wurde umrahmt von vollem, blonden Haar. Sie selbst fand, jedem müsste genau wie ihr die schiefe Nasenscheidewand auffallen, als weise eine Leuchtreklame darauf hin. Die Haut, die im Sommer nie brauner als ein goldener Honig wurde, war nicht makellos. Außerdem war sie zwar langbeinig und groß, immerhin fast 1,80, aber einfach zu mollig.

Barbie! Dass sie nicht lachte!

Sie ging ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn ihrer Wanne auf, goss etwas Badeschaum dazu und ging dann in die Küche, um sich ein Glas wohlverdienten Feierabendprosecco einzuschenken.

Gerade, als sie den ersten köstlichen Schluck nehmen wollte, hörte sie ein Rascheln, das aus dem Wohnzimmer zu kommen schien. Julia ging mit einem mulmigen Gefühl hinüber. Die Feierabendentspannung verschwand augenblicklich.

Im Wohnzimmer war jedoch nichts zu sehen.

Dann bewegte sich ein Blatt der großen Yuccapalme in der Ecke am Fenster. Das Ding war zwar so riesig, dass es fast bis zur Decke reichte, aber nicht groß genug, um einem Einbrecher Schutz vor Entdeckung zu bieten. Komisch, dachte Julia.

Dann entdeckte sie den kleinen Spalt an der Tür zum Balkon. Offenbar hatte sie diese am Morgen nicht richtig geschlossen.

Beruhigt ging Julia mit dem Prosecco, den sie schon völlig vergessen hatte, hinaus und zündete sich eine Zigarette an. Jetzt würde auf Teufel komm raus entspannt werden!

Sie inhalierte tief und stieß dann mit einem undamenhaften Grunzen den Rauch wieder aus. Mit jedem Zug verschwanden die alten Leute, die wegen Diabetes und Einsamkeit das Wartezimmer der Gemeinschaftspraxis bevölkerten, im Dampf. Mit jedem Zug stieß sie die Besorgnis über das magersüchtige junge Mädchen aus. Sie alle bekämen keinen Quadratzentimeter Platz in ihrem Heim. Diese Schutzmaßnahme war notwendig, das wusste sie.

Zum Baden würde sie einen harmlosen Liebesroman hören und sich mit rosaroter Zuckerwatte umhüllen.

 

Die Wanne war jetzt voll und sie drehte den Wasserhahn zu. Schaum ragte in großen Bergen in die Höhe und es knisterte wunderbar, als sie ins Wasser stieg und sich hineinaalte. Durch die offene Badezimmertür erzählte das Hörbuch, wie eine junge Bürokauffrau den ersten Blick auf den Mann warf, der die Liebe ihres Lebens sein musste. Ja, sein musste.

Julia schloss die Augen.

Ein Rascheln. Sie schrak hoch. Da war es schon wieder. Dabei hatte sie die Balkontür fest verschlossen!

Dieses Mal kam es aus dem Flur.

Sie kniff die Lider fest zusammen und öffnete sie wieder. Sie sah in die dunklen Knopfaugen einer Ente.

Erneut schloss sie kräftig die Augen und schüttelte den Kopf. Das war doch unmöglich.

Augen wieder auf. Die Ente war noch da und schaute sie an. Ganz gelassen, so schien es. Ihre paddelnden Füße verursachten Strömungen im Badewasser.

Ich muss sie berühren, um sicherzugehen, dass das Vieh keine Einbildung ist, dachte Julia. So stressig war der Praxisalltag nun auch wieder nicht.

Gemächlich, um das Tier nicht zu verschrecken, streckte sie den Zeigefinger aus und strich über den linken Flügel. Er fühlte sich zugleich glatt und etwas rau an.

Die Ente schrak nicht zusammen, schlug nicht panisch mit den Flügeln auf und ab, sondern sah sie nur stoisch an. Dann wackelte sie mit dem Bürzel.

Julia konnte sich gerade noch ein entzücktes Quietschen verkneifen.

 

Hannover List
01.10.2014

Er war erschöpft. Mehr als erschöpft. Er war eigentlich nur zu erledigt, um tot umzufallen. Für diese 36 Stunden-Dienste wurde er langsam zu alt.

Sven wusste schon jetzt, dass er am ersten der beiden freien Tage nichts von seiner To-do-Liste schaffen und es dann Ärger mit ihm selbst geben würde. Es wäre klüger, sich nicht mehr so viel… Nein. Er würde es nie lernen.  Diese und andere unclevere Eigenarten waren schon untrennbar mit seinem Charakter verschmolzen.

Er schloss seine kleine Einzimmerwohnung auf, ließ seinen Rucksack auf den Boden fallen und stapfte in den schweren Stiefeln in die Küche.

Die Lache vor der Waschmaschine war inzwischen komplett von dem Berg Schmutzwäsche aufgesaugt worden. Scheiße.

Er würde den Geräteservice sofort anrufen. Vielleicht hatte er Glück und es käme schon morgen jemand.

Sven holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, nahm das Telefon von der Station und rief die Hotline an.

Es raschelte ganz leise aus der Waschmaschine. Er zuckte zusammen. Genau in diesem Moment verstummte die Warteschleifenmusik, wich einem Klacken in der Leitung und eine Frau, deren professionelle Freundlichkeit etwas gequält klang, meldete sich. Einen Moment lang wusste Sven nicht genau, was er jetzt tun sollte und sagte nichts. Wieder dieses leise Rascheln. Kaputte Waschmaschinen laufen aus, aber sie raschelten nicht. Was war das?

Mit dem Hörer in der Hand näherte er sich dem offenen Bullauge des Geräts. Die Tür stand noch genauso offen, wie er sie gestern zurückgelassen hatte.

„Hallo! Sind Sie noch dran?“ tönte es aus dem Telefon. Sven konnte noch immer nicht antworten. Er war zu verblüfft.

„Hallo! Sie! Wenn Sie sich nicht melden, kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen und muss zum nächsten Kunden umschalten. Hallo?!“

Aus dem Dunkel der Waschmaschinentrommel lunzte eine Ente und sah Sven direkt an. Sie, nein er, es war ein Erpel, schwamm in dem nicht abgepumpten Wasser. Seine Knopfaugen blickten ihn ruhig und gelassen an. Das Tier schien keine Angst zu haben, dafür war jedoch Sven kurz davor, in seiner kleinen Küche in Ohnmacht zu fallen.

Der Erpel wackelte aufmunternd mit dem Bürzel. Fast so, als wolle er sagen: „Nimm es nicht so schwer, Kumpel. Wir alle kennen solche Tage.“

Sven ließ sich auf den Boden plumpsen und starrte in das Gesicht der Ente. Sie gab keinen Laut von sich. Sven ächzte und legte das Telefon zur Seite. Aus dem Hörer klang noch das Freizeichen, aber das nahm er gar nicht wahr. In der anderen Hand hielt er noch die Bierflasche fest umklammert. Er nahm einen großen Schluck, schüttelte den Kopf und guckte noch einmal in die Waschmaschine hinein. Da schwamm der Erpel und schaute ihn unverändert gelassen an.

Noch ein großer Schluck. Noch ein Kopfschütteln. Erneuter Blick, dieses Mal von der Seite. Der Erpel drehte den Kopf in seine Richtung und sah ihm tief in die Augen.

Sven streckte vorsichtig die Hand aus und tippte sachte nach einem der Flügel. Der fühlte sich überraschend rau an. Überhaupt, er fühlte sich an. Das bedeutete, er hatte tatsächlich eine lebendige Ente in seiner Waschmaschine und jetzt wusste er auch nicht weiter.

 

Für derartige Vorkommnisse gab es keinen Leitfaden, kein standardisiertes Vorgehen aus einem Handbuch. Das einzige, was ihm gerade zu tun einfiel, war, sein Bier aufzutrinken. Eventuell könnte er noch ein zweites trinken.

Was er dann auch tat.

Eine groteske Situation war das. Sven fühlte sich hilflos angesichts dieser Ente. Dabei war es doch nur eine Ente! Ein Vogel. Er könnte diesen Vogel einfach nehmen und nach draußen bringen. Dann würde er noch einmal 15 kostbare Minuten seiner Freizeit in der Warteschleife eines Callcenters verplempern, um einen Termin für das defekte Gerät vereinbaren. Problem gelöst, Wochenende gerettet.

Wie war das Tier überhaupt in seine Wohnung hineingekommen? Dass es in der Waschmaschine saß, konnte er noch nachvollziehen, schließlich stand Wasser drin. Aber sonst. Nein. Es wäre ja auch nicht so, als mache dieser, zugegeben recht hübsche Erpel auch nur Anstalten, aus der beengten Waschtrommel wieder raus zu wollen.

Und das er selbst nicht schon längst etwas getan hatte, um Abhilfe zu schaffen, war auch mehr als eigenartig. Grotesk, ein Begriff, den er bisher eher mit Tarantino Filmen verbunden hatte, war das einzige Wort, fand Sven, welches das alles passend beschrieb.

Er prostete der Ente zu. Die Ente bürzelte.

Sven war entzückt. Noch ein Bürzeln. Sven quiekte.

Es sah fast so aus, als sei der Erpel zufrieden.

 

Hannover Linden – Enercity Gebäude
01.10.2014

Ralf sah aus dem großen Fenster im Büro des Abteilungsleiters für Netzerweiterung auf die Ihme. Es war ein sehr hübsches Büro, nicht nur wegen des Ausblicks und weil es groß war. Der junge Hinrichs hatte es auch geschafft, den Raum sowohl gemütlich, als auch funktionell einzurichten. Ein vielseitiger Mann. Sein Vater, der alte Hinrichs, der im Vorstand des Unternehmens saß, hatte es dem Sohn auf dem Weg in die Führungsetage nicht leicht gemacht. Ralf war trotzdem ein wenig neidisch. Ein bisschen Neid ist erlaubt, entschied er. Seine Eltern waren keine einflussreichen Leute gewesen und so war er selbst zwar fleißig, aber dennoch nur ein Elektriker. Ein Elektriker, der im schicken Büro eines immer mächtiger werdenden Mannes Hilfsarbeiten verrichtete.

 

Draußen bewegten sich Jogger und Radfahrer, Familien mit Kindern und Hunden am Wasser entlang.  Die Sonne schien auf sie alle herab, die sie da glücklich einen der letzten wärmeren Tage des Frühherbstes genossen.

Eine Oma samt Enkel, er vermutete mal, dass es Oma und Enkel waren, stand am Ufer des Kanals und fütterte eine Horde Enten. Ihre Brotstücke flogen weit auf die Mitte des Wassers hinaus. Der pummlige Arm des kleinen Jungens beförderte das begehrte Backwerk gerade mal bis auf die Steine zwischen Wasser und Wiese.

Die Enten stürzten sich aufgeregt auf jeden neuen Brocken Futter. Er konnte das Schnattern beinahe hören. Leider drang davon kein Laut bis in das oberste Stockwerk des Enercity Gebäudes. Selbst den Verkehrslärm hörte man hier oben nicht.

 

Ralf stellte sich vor, wie es wäre, hier zu arbeiten. Umgeben nur von Stille. Das Leben außerhalb der Wände wäre zum Schweigen verdonnert, zur Bedeutungslosigkeit.

Im obersten Stock wäre man Gott. Durch Öffnen und Schließen der Fenster durfte das Leben sein oder eben nicht sein, drinnen herrschte der Inhaber des Büros, und es wäre auch kein Büro mehr, sondern eine Schaltzentrale der Macht.

Wer hier saß, thronte, herrschte bereits über die Stromversorgung der Region.

„Ohne Strom sind wir alle nicht mehr weit entfernt vom Chaos“ dachte Ralf philosophisch.

Sein Meister während der Lehrzeit war manchmal von solch schwergewichtigen Gedanken befallen worden und ließ jeden, der nicht schnell genug fortkommen konnte, daran teilhaben. Das meiste war zum einen Ohr rein und zum anderen wieder rausgegangen aber es blieb hängen, dass Elektrizität Wohltat und Gefahr zugleich war und äußerste Sorgfalt im Umgang mit ihr lebenswichtig.

Er wandte sich der kaputten Steckdosenleiste zu. Die Sicherungen und anderen dazugehörigen Abnehmer hatte er schon überprüft. Alle waren in Ordnung, nur diese eine nicht, was eigentlich unmöglich war. Unterwegs konnte kein Strom einfach so verloren gehen, oder im Sande verlaufen. Am liebsten würde er den Boden aufreißen. Nur eine Überbrückung zwischen Hauptleitung und der Steckdose konnte das Problem verursachen. Er hatte alles abgesucht und nichts gefunden. Für alles, was er noch tun könnte um die Störung zu finden musste er zuerst Rücksprache halten. Außer ihm war keiner mehr im Haus. Hatten schon Wochenende.

Für ihn war es jetzt auch Zeit.

Zeit, beim Rewe auf der anderen Seite des Kanals etwas Brot zu holen und die Enten zu füttern. Niemand legte schließlich fest, dass Entenfüttern nur für Kinder sei. Und es wartete auch niemand mehr sehnsüchtig auf ihn. Olga hatte ihn letzte Woche verlassen. War einem in seinen Augen windigen Fotografen aufgesessen.

„Er findet mich schön! Und er sagt es mir auch! Nicht wie Du! Du bist wie ein Stein!“ Ihren melodramatischen Abgang krönte sie mit Türknallen und wütendem Klackern ihrer schwindelerregend hohen Schuhe. Zurück blieb eine erstickend aufdringliche Wolke von Parfum, diverser Kosmetika und dem billigen Weichspüler. Seine Trauer um ihren Fortgang wurde von dieser Kakophonie der Gerüche sofort im Keim erstickt.

 

Ralf schrieb Hinrichs eine Notiz und sich selbst eine Erinnerung, rechtzeitig vor Wochenbeginn eine Mail bezüglich der notwendigen Maßnahmen zu schreiben. So was machte einen guten Eindruck.

Dann packte er sein Werkzeug zusammen und nahm die Treppen statt des Fahrstuhls.

Ein leichtes Flattern durchströmte ihn und ein Tatendrang, den er schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Er war frei. Wenn er wollte, konnte er nach dem Entenfüttern einen Döner holen, im Pub Bier trinken und die Nacht zum Tag machen. Den Döner mit vielen Zwiebeln und Knoblauch. Keine Vorhaltungen. Absolute Freiheit.

Aber das Bett wäre auch noch leer, wenn der Döner dann schwer im Magen lag.

„Idiot!“ schalt er sich selbst.

 

„Geht´s jetzt endlich auch ins Wochenende Herr Möller?“

Der Pförtner Herr Masowski war hollywoodreif ältlich und väterlich wohlwollend. Er kannte fast alle Mitarbeiter mit Namen. Sein Kollege von der Nachtschicht war noch jung, von der Wichtigkeit seiner Aufgabe so durchdrungen, dass es ihm eng wurde zwischen Beinen und Armen. Der saß nicht am Empfang, sondern stand breitbeinig daneben, oder patrouillierte  geschmeidig wie eine mit Steroiden vollgepumpte Marionette durch die Etage. Also er waren eigentlich viele. Fast jede Nacht ein anderer. Sie sahen aber alle gleich aus, also waren sie einer.

„Ja. Gleich gehe ich die Enten an der Ihme füttern. Hab ich ewig nicht mehr gemacht.“

Der alte Herr Masowski lachte. „Meine Renate und ich, wir sind früher ganz oft Enten füttern gewesen. Vielleicht, wenn das Wetter morgen noch mal so schön ist, wie heute…“ Er lachte wieder. „Und danach setzen wir uns romantisch auf eine Bank und hängen unseren Erinnerungen nach.“ Ein Zwinkern.

„So sei es!“ verkündete Ralf theatralisch, wedelte mit den Armen und entschwand dramatisch durch die sich öffnenden Türen in den Lärm der Stadt.

 

HAZ vom 24.10.2014

Der OB der Stadt Hannover, Stefan Schostok, hat ein neues Familienmitglied adoptiert.

„Edwin saß eines Tages ganz unerwartet in unserem Zimmerbrunnen. Offensichtlich mochte er uns. Die Zuneigung beruht natürlich auf Gegenseitigkeit. Nun haben wir ihm offiziell ein Heim im Gartenteich angeboten. Nach harten Verhandlungen bewohnt er jetzt auch ein großes Kissen im Wohnzimmer. Dem treuherzigen Blick und dem Wackeln eines Entenbürzels hätte nicht einmal die Opposition widerstehen können.“

Wir freuen uns auf eine Homestory mit Edwin, Herr Oberbürgermeister!

 

HAZ vom 30.10.2014

Wir berichteten vor einer Woche über den Erpel Edwin Schostok. Die Familie des Oberbürgermeisters hat diesbezüglich ihren Exklusivitätsstatus verloren. Immer mehr Einwohner der Region Hannover berichten von tierischem Besuch, u.a. der Landesvorsitzende der CDU Niedersachsen, David McAllister.

Welcher Fügung die Stadt dieses neue Miteinander von Ente und Mensch zu verdanken hat, lässt Ornithologen rätseln und, dank Twitter und Co., Menschen in den entlegensten Winkeln der Welt gespannt teilhaben.

Eine Ente in der Straßenbahn ist kein ungewohnter Anblick mehr für Hannoveraner.

„Noch muss für eine Ente kein Ticket gelöst werden, aber wir arbeiten bereits daran.“ So Pressesprecherin der Üstra, Britta Kielmann, mit einem verschmitzten Lachen.

Auch die Deutsche Bahn muss sich inzwischen mit dieser neuen Situation auseinandersetzen. Immer mehr Reisende aus Hannover möchten ihre Ente nicht allein zu Hause lassen.

Nicht nur in den öffentlichen Verkehrsmitteln ist die friedliche Invasion der „Wasservögel von nebenan“ ein wichtiges Thema geworden.

„In die Bibliothek dürfen keine Haustiere hineingebracht werden. Das gilt nicht nur für Hunde sondern auch für jedes andere Tier.“ Suleika Azman war in der vergangenen Woche mehrfach gezwungen gewesen, die glücklichen Entenpartner, die nicht ohne den neuen Mitbewohner Bücher ausleihen wollten, der Bibliothek zu verweisen. Dies verlief in einzelnen Fällen nicht ganz gewaltfrei.

Vor Lebensmittelgeschäften und Kinos, Bars und Arztpraxen wurden ähnliche Szenen beobachtet. „Nicht ohne meine Ente!“

 

Hannover Linden
02.11.2014

Ralf sah auf. Die Stimme fuhr ihm durch Mark und Bein. Vorsichtig und, wie er hoffte, unauffällig sah er sich um.

Olga hatte mit ihrem neuen Lover den Pub betreten. Ihm ging in diesem Moment auf, dass er sie doch vermisste. Es war kein innerer Schmerz, der ihm das mitteilte, sondern die Tatsache, dass sein Schwanz sich verhärtet hatte wie Granit und er gleichzeitig nur  seinen Kopf in ihren Schoß betten wollte, um sich von ihr den Kopf streicheln zu lassen.

Olga hatte das oft getan, wenn sie der Meinung war, er sei aufgewühlt. Das wiederum hatte sie immer vor ihm wahrgenommen.

Während sie dann mit leichten Händen ruhig und gleichmäßig über sein dunkles, dichtes Haar strich und gurrend vor sich hin plapperte, war es, als bräche der Stress in ihm auf und verteilte sich in der Luft wie Gas.

Jetzt also wollte er das. Die ganzen letzten Wochen hatte er das gewollt. Das und ihre schlanken Beine um seine Hüften.

Erschüttert von der Erkenntnis nahm er einen großen Schluck Cuba libre.

Manni stupste ihn verständnisinnig mit dem Schnabel am Ellenbogen.

Ralf sah in die dunklen Knopfaugen seines neuen Freundes und fühlte sich sofort besser.

 

Seine Kumpel und Arbeitskollegen waren Ralf seit der Trennung und seit diesem einen Tag im Büro des jungen Hinrichs immer fremder geworden. Anfangs hatten sie noch versucht, ihm Aussagen der Trauer oder auch Wut zu entlocken, waren aber gekränkt, weil er ihnen das mit Olga nicht sofort erzählt hatte. Sie schoben es auf seinen Stolz, dann auf mangelnde Freundschaft, dann fragten sie nicht mehr und die Themen der weniger werdenden Treffen wandten sich wieder dem aktuellen Tagesgeschehen zu.

Ralf fand es sowieso viel spannender.

In fast jedem Haushalt wohnte inzwischen eine Ente freundschaftlich mit den Menschen zusammen. Das war einfach so umwälzend spannend!

In seinem Fitnessclub, in dem keine Hunde erlaubt waren, saßen Enten fröhlich schnatternd neben den Crosstrainern und Gewichtbänken, während ihre Menschen schwitzten und trainierten.

Ja, es wirkte ein bisschen so, als seien die Menschen die Haustiere der Enten, genau wie bei Katzen.

Diese Parallele zwischen den Fressfeinden amüsierte Ralf.

„Was meinst Du“, fragte er seinen Erpel, „sollte ich zu Olga rüber gehen und Hallo sagen? Ganz lässig und über den Dingen?“

Manni schüttelte energisch den Kopf und schaute etwas mitleidig.

„Du hast Recht. Soll sie doch kommen.“

Manni stupste ihn erneut an.

„Wollen wir aufbrechen? Was essen und den Rest des Abends auf dem Sofa sitzen wie die zwei Junggesellen, die wir sind?“

Manni nickte ernst.

„Homeland gucken?“

Manni nickte wieder. Es sah aus, als grinste er.

„Carrie ist scharf. Irre, aber scharf.“

Der Erpel bürzelte.

Als sie zur Theke gingen, um zu bezahlen, sah Olga demonstrativ in eine andere Richtung und legte besonders fröhlich lachend den Kopf in den Nacken.

„So gut, wie sie tut, geht es ihr nicht“, stellte Ralf befriedigt fest. „Ich kenne sie gut genug, um das sofort zu erkennen.“

Er sah zu Manni hinunter, der aber nur zielstrebig in Richtung Wohnung zur Ampel watschelte und keinen Blick für Gehässigkeiten übrig hatte.

„Herr Möller!“

Ralf  erschrak. Auch Manni zuckte zusammen.

Er drehte sich um und sah eine große blonde Frau auf sich zu laufen. Sehr hübsch, das musste er sagen. Sie lächelte ihn keuchend an. Eine Ente drückte sich schüchtern an ihr Schienbein.

Als sie ihm die Hand entgegenstreckte, wusste er auch wieder, wer sie war: Seine Hausärztin, Frau Dr. Thielemann. Ohne den weißen Kittel sah sie ganz fremd aus.

„Immer wieder komisch, die Leute außerhalb ihrer natürlichen Umgebung zu sehen“, dachte Ralf.

„Frau Dr. Thielemann. Wie geht es Ihnen?“

„Das ist eigentlich mein Text“, sagte sie und lächelte noch strahlender.

„Es geht mir gut. Danke. Eben war ich im Bronco´s mit Natalie.“ Sie nickte in Richtung der Ente, die sich bereits angeregt mit Manni zu unterhalten schien.

„Da gibt es die besten Mojitos, finde ich. Ach, und sagen Sie doch Julia.“

„Freut mich, Julia. Ich heiße Ralf.“

Sie schüttelten sich erneut, diesmal etwas verlegen, die Hände. Dann waren sie beide sprachlos.

„Die beiden verstehen sich ja schon sehr gut, wie es aussieht“, lachte Julia.

„Es sieht ganz so aus“, sagte Ralf und ärgerte sich sofort über diese lahme Erwiderung.

 

Julia fiel das gar nicht auf. Sie war zu sehr damit beschäftigt, Ralf nicht anzustarren.

Ihre Freundinnen würden natürlich unumwunden lästern, vielleicht etwas verrucht lachen und sie daran erinnern, dass ein Elektriker höchstens fürs Bett in Ordnung war. Kein Grund, sich ins Spitzenhöschen zu machen.

Gerade jetzt wurde ihr bewusst, wie lange sie sich schon nicht mehr mit den Mädels getroffen hatte. Seit dem Studium hatten sie sich einmal in der Woche gesehen, oder zumindest telefoniert. Jetzt, da Natalie bei ihr „eingezogen“ war, hatten sie sich nicht mehr gesehen oder ausgetauscht.

In diesem Moment sah sie hinunter, direkt in die dunklen, freundlichen Entenaugen, und vergaß die vernachlässigten Freundinnen sofort wieder.

Eben entfernten sich die beiden Enten von ihnen.

„Wollen die uns etwas Privatsphäre gönnen, oder selbst unter sich sein?“

Ralf kicherte.

 

„Sogar, wenn er kichert, ist er sexy!“ Julia überlegte, was sie jetzt sagen könnte. Etwas Schlagfertiges. Aber nicht zu sehr, das wirkte meist abschreckend.

„Natalie ist sonst eher zurückhaltend. Das spricht wohl für diesen Erpel. Na ja, ich eigentlich auch.“

„Das spricht dann wohl für mich!“

Sie lachten.

 

Teil II – Die Enten

Hannover Linden – Ihme-Ufer unter der Benno-Ohnsorg-Brücke
02.11.2014

„Ruhe! Seid still und hört zu!“ Der bullig wirkende Erpel reckte den Kopf in die Höhe und begann drohend die Flügel zu öffnen.

„Schwimm etwas von mir weg, wir müssen Platz für Otto schaffen“, zischte Hanno seinem Kollegen Erik zu. Erik war ebenso bullig und kräftig wie Hanno selbst und tat sofort, was von ihm erwartet wurde. Heute Abend war es besonders wichtig, dass ihr Anführer Otto die angemessene Bühne für seine Rede bekam. Der Plan ging nun in die zweite Phase über, die Herde brauchte jetzt klare Anweisungen und straffe Führung, damit nichts schiefging.

 

Sie drängten die aufgeregt schnatternde Schar zurück und schufen zwischen Ufer und Wartenden einen freien Platz auf dem Wasser. Dann watschelte Otto an den Wasserrand und glitt in die Mitte des mühsam gehaltenen Freiraums.

Ihr Feldherr, wie er sich gern selbst bezeichnete, machte sich groß, zeigte einen Moment lang die ganze Spannbreite seiner perfekten Flügel, und erhob machtvoll seine volltönende Stimme.

„Freunde!“ rief er. „Mitstreiter und Mitenten!“

Die Menge verstummte.

 

Am Geländer der Brücke stand ein Pärchen Menschen und wunderte sich darüber, dass die ins Wasser geworfenen Brot- und Kuchenstücke von den vielen Enten unbeachtet zum Grund des Kanals sanken.

 

„Enten!“ Otto streckte erneut die Flügel und warf sich in die Brust.

Einige weibliche Enten in der ersten Reihe bekamen glänzende Augen bei dieser Demonstration des Herrschaftsanspruchs und bürzelten hingebungsvoll.

„Die Welt schaut auf uns! Wir haben uns den Menschen angenähert, zugelassen, dass sie sich in uns und unsere Art verlieben. Wir haben sie verführt und voneinander gelöst! Das ist großartig! Eine Leistung und gleichzeitig der Beweis, wie überlegen wir diesen angeblichen Herrschern der Erde sind!“

Begeistertes Schnattern und Johlen erhob sich in die Luft.

„Ihr. Seid. Großartig.“ Otto betonte jedes Wort.

Wieder Jubel.

„Eure Zielobjekte wollen und können nicht mehr ohne euch sein. Ihr habt Zugang zu allen Bereichen ihres Lebens bekommen. Das war harte Arbeit und hat euch zum Teil ein erhebliches Maß an Selbstverleugnung abverlangt, aber ihr habt es geschafft. Für unsere Sache!“

Otto ließ den Blick über die Versammlung gleiten und stellte zufrieden fest, wie viel Zustimmung ihm entgegen flog. Er konnte keine Querulanten erkennen. Wäre Widerstand erkennbar gewesen, hätten sich die Mitglieder seiner persönlichen Leibgarde sofort darum gekümmert. Alles lief bestens. Die Menge hing an seinem Schnabel.

Einige Nachzügler schwammen heran und fügten sich geräuschlos in die erwartungsvolle Stille.

„Wir haben den ersten Schritt getan. Die erste Phase unseres Plans ist ein voller Erfolg!“

Otto machte eine bedeutungsschwangere Pause, um dem Jubel und der Freude Raum zu geben. Er schaute nach links und rechts zu den treuen und loyalen Anführern seiner Leibgarde. Auch Hanno und Erik wirkten ergriffen vom Zauber seiner Worte.

„Die Zeit ist jetzt reif, um die zweite Phase unseres Plans einzuläuten! Phase zwei wird noch heute Nacht beginnen! Alle habt ihr eure besonderen Instruktionen bekommen.“

Otto erhob donnernd die Stimme.

„Seid! Ihr! Bereit?“

„Ja!“ schrien alle. „Ja! Wir sind bereit!“

„Seid! Ihr! Entschlossen. Und. Bereit?“

„Wir sind entschlossen und bereit!“ Die Enten verloren sich in einem Taumel der Euphorie. „Ja! Ja! Jaaa!“

„DANN WERDEN WIR DEN KAMPF BEGINNEN!“

 

Die Enten rasteten aus. Ottos Leibgarde versuchte gar nicht erst, Ruhe in die Versammlung zu bringen. Man musste ihnen die Freude und den Wahn lassen.

Otto hatte ihnen vor diesem Abend den Ablauf genau erklärt. „Die Euphorie brauchen sie. Das stärkt ihren Willen. Wir brauchen diesen Willen. Ohne die Kraft und den Willen der einfachen Enten können wir nicht gewinnen.“

 

„WIR WERDEN GEWINNEN!“ Ottos Stimme überschlug sich.

 

Die geballten Emotionen dieser Nacht steckten auch ihn an. Wochenlang unterdrückte Anspannung und der Verzicht brachen sich nun Bahn. Viele von ihnen hatten in der letzten Zeit ohne ihre Partner auskommen müssen. Aber niemand hatte gemurrt. Otto hatte entschieden, dass paarweise auftauchende Enten Misstrauen hervorrufen und ein Gefühl der Bedrohung auslösen könnte. Keiner hatte die Weisheit seiner Entscheidung angezweifelt. Man vertraute ihm, vertraute auf seine Klugheit und Intelligenz. Sein Führungsanspruch war absolut und unangefochten.

Er hatte Opfer gebracht. Jahrelange Isolation war notwendig gewesen, um sich all das Wissen anzueignen, das unabdingbar war zur Führung aller Enten. Wissen war Macht. Und diese Macht würde er nun ausspielen, um die Weltherrschaft an sich zu reißen.

Er dachte an die vielen einsamen Nächte in zahlreichen Bibliotheken. Horte des Wissens, die für ihn nur zugänglich waren, wenn die Menschen schliefen oder verbotenen Heimlichkeiten im Schutze der Dunkelheit nachgingen. Verstohlen und immer auf der Hut. Genau wie er selbst.

So hatte er auch seinen Namen gefunden, oder sein Name ihn. Otto. Nach dem ersten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Dieser Otto hatte die Menschen vereint. Er hatte seinen Einflussbereich vergrößert und eine Einheit geschaffen, die bis dahin auf diesem Wege unerreicht war. Ein großer Mann, der ihm, dem Erpel Otto, ebenbürtig war, wie er befand. Und der Name war einfach und eingängig.

Während alle anderen Enten umeinander balzten, sich fanden und Familien gründeten, Jahr um Jahr ihre Gelege durch die Kindheit in eigene Familiengründung hievten und begleiteten, hatte er aufgepasst und gelernt. Otto hatte früh erkannt, wie sehr diese ubiquitären, um- unter- und übereinander wimmelndenden Parasiten, die sich Mensch nannten und die Ideale erschufen und im gleichen Atemzug vergaßen, der Welt schadeten. Sie höhlten alles auf der Suche nach einem Mehr vollkommen aus. Auf der Jagd nach Besitztum überwarfen sie sich miteinander, überrollten und zerstörten sich. Nach logischen Gesichtspunkten hätte das genügen müssen, um sich selbst vom Antlitz der Erde zu tilgen, aber es ging zum Einen nicht schnell genug, und zum Anderen, was das Schlimmste war, rissen sie auch jedes andere Lebewesen auf diesem Planeten mit in den Abgrund.

Sie begannen sogar, ihr unersättliches Streben auf andere Planeten auszuweiten. Otto wurde klar, dass sie aufgehalten werden mussten. Von ihm. Auf ihm lastete die große Verantwortung der Aufgabe, ihnen Einhalt zu gebieten. Und er sollte verdammt sein, wenn er sie nicht erfüllen würde.

Doch jetzt, wo sein Plan aufging und die Spannung von ihm wich, traf ihn die Einsamkeit mit voller Wucht.

Dort hinten trieb Eva.

„Mein Evchen“, dachte er.

Die junge, auffallend schöne Ente war umzingelt von halbstarken Erpeln, die sich gegenseitig in Demonstrationen ihrer Männlichkeit zu übertrumpfen suchten. Eva versuchte sich spielerisch von ihnen zu entfernen. Ihr goldenes Gefieder strahlte über die Wasseroberfläche.

Otto war nicht mehr so jung wie ihre Verehrer, aber er war immerhin ihr Anführer. Er besaß Macht über alle Enten. Wenn das keine Demonstration von Männlichkeit war, wusste er auch nicht. Die Art, wie sie sich den Erpeln immer wieder entzog, ließ ihn hoffen.

Später, bevor er zurückkehrte in das Heim des Oberbürgermeisters, würde er Hanno nach Eva schicken.

 

Natalie und Manni schnäbelten zärtlich miteinander. Sie konnten es kaum fassen. So ein Glück, dass ihre Menschen zueinander gefunden hatten. Ein unglaublicher Zufall, oder hatte Otto das in seiner schier unendlichen Weisheit etwa gewusst und geplant?

Es war ihnen egal. Sie hatten sich so viel zu berichten. Und sie hatten einander so sehr vermisst. Es war das erste Mal gewesen, dass sie länger als eine Futtersuche für die Küken voneinander getrennt waren. Eine schreckliche Zeit, die sie nur mit dem großen Ziel im Auge überstanden hatten.

Aus Julias Schlafzimmer drangen immer lauter werdende Schreie, und so mussten auch sie nicht leise und heimlich sein. Kurz, sehr kurz, bedauerten sie andere Paare, die nicht so viel Glück bei der Auswahl der ihnen zugeteilten Menschen hatten. Dann wendeten sie sich wieder ihrem eigenen Glück zu.

 

Ralf und Julia hatten es in ihrer Turtelei gar nicht bemerkt, als Natalie und Manni leise die Wohnung verließen, um an der Generalversammlung teilnehmen zu können.

Die beiden Enten waren noch erfüllt von der unglaublichen Energie des Abends. Vorfreude und ein Schauder der Aufregung erfüllten sie.

Dass ihre beiden Menschen jetzt zusammen waren, machte ihre Aufgabe, die zwei zu überwältigen und einzusperren, gleichzeitig einfacher, weil sie ja selbst zu zweit waren, aber auch schwieriger, denn vereint würden sich Julia und Ralf nicht so schnell einschüchtern lassen.

„Am besten warten wir, bis sie wieder zusammen im Bett beim Kuscheln sind. Wusstest Du“, kicherte Manni, „dass die Menschen es auch ‚Vögeln‘ nennen?“

„Was?!“ kreischte Natalie. Sie fasste sich wieder. „Gute Idee, dann sind sie gar nicht in der Lage, schnell zu reagieren.“

„Wir könnten sie einfach einschließen. Müssen nur den Schlafzimmerschlüssel umgedreht kriegen.“

„Du bist ja witzig. Der steckt nicht mal im Schloss.“

„Dann”, überlegte Manni, „müssen wir sie irgendwie dazu bringen, sich selbst einzuschließen.“

„Das ist einfach“, sagte Natalie. „Sobald sie wieder vögeln wollen“, sie kicherte albern, „nerven wir sie so lange, bis sie abschließen.“

„Und dann? Die Tür kann dann jederzeit wieder von innen geöffnet werden, aber wir können nicht mehr rein und müssen Wache halten bis zum Ende unserer Tage!“

Manni schnaubte. “Wir brauchen eine andere Lösung.”

 

Hannover – Zooviertel
02.11.2014

Stefan Schostok war auf dem Weg zu seinem Arbeitszimmer. Es war schon spät, aber es war noch so viel zu tun. Er seufzte. Die Kinder hatten ihn aufgehalten. Edwin war verschwunden und er hatte mit ihnen zusammen nach dem abgängigen Erpel gesucht. Leider ohne Erfolg.

„Er ist, das haben wir alle vergessen, noch immer ein Wildtier. Vielleicht hatte er genug von uns. Oder er braucht einfach mal eine Nacht für sich, in einem schönen Teich.“

Die Kinder waren nicht zu trösten gewesen und er hatte ein Machtwort sprechen müssen, damit sie zu Bett gingen.

In der Politik war so etwas einfacher als zuhause.

Er öffnete die Tür zum Arbeitszimmer. Ein Lichtschein kam ihm entgegen.

Dann sah er Edwin auf dem Schreibtisch vor dem Computer sitzen.

„Da bist Du ja, Du Entenvieh! Wir haben Dich überall gesucht!“

Stefan Schostok ging um den Tisch herum und ließ sich in den Schreibtischsessel fallen.

„Die Kinder waren völlig krank vor Sorge.“ Edwin sah ihn neutral an. „Und ich auch“, fügte er hinzu.

Der Schnabel des Erpels sauste auf die Tastatur nieder. Erst jetzt sah der Bürgermeister, dass der Rechner eingeschaltet und Word geöffnet war.

‚Wenn Du um Hilfe rufst, hacke ich Dir mit dem Schnabel die Augen aus‘, stand dort.

„Edwin, was…“

‚Du und die Stadt befinden sich ab sofort in der Gewalt der Enten‘, hackte Edwin.

„Aber Edwin…“, versuchte Stefan Schostok es erneut.

Der Erpel hackte wieder mit dem Schnabel auf die Tastatur ein.

‚Außerdem heiße ich nicht Edwin. Mein Name ist Otto‘, las er.

Er wollte aufstehen. Irgendetwas machen. Das war doch völlig grotesk!

Da flog ihm der Erpel ins Gesicht. Die Federn strichen über seine Haut und er nahm den Geruch des Vogels, seine Wärme wahr. Es fühlte sich merkwürdig an.

Er hatte Edwin, nein, Otto schon zuvor berührt, aber da war die Initiative von ihm ausgegangen. Das hier war etwas anderes.

Sicher, den Kindern hatte er gesagt, Edwin… Nein, er musste sich schon wieder verbessern. Das Mistvieh nannte sich ja selbst Otto.

Also Otto sei ein Wildtier, hatte er den Kindern gesagt, dabei aber nur gedacht, der Erpel sei unter ein Auto geraten, oder von einem eifrigen Jäger geschossen worden. Er hatte keineswegs an so etwas gedacht.

Und der verdammte Vogel konnte einen Computer bedienen!

Er sank in den Sessel zurück.

‚Schön brav bleiben.‘

„Okay. Ich bleibe einfach hier sitzen und tue nichts. Okay?“

‚Ja.‘

Otto sah ihm fest ins Gesicht. Seine Entenaugen starrten feindlich und kalt.

Jetzt bürzelte das Vieh auch noch. Stefan Schostok meinte, darin Häme wahrzunehmen. Das könnte natürlich Einbildung oder Übertragung sein. Konnte eine Ente hämisch bürzeln? Nein. Bestimmt nicht.

Andererseits hätte er bis vor fünf Minuten auch jeden in die Klapsmühle schicken wollen, der behauptete, Enten könnten mithilfe von Word irgendjemandem drohen.

‚Otto, nach Otto I., dem Kaiser des hl. röm. Reiches deutscher Nation.‘ Otto quakte zufrieden. Der Mann im Sessel starrte ihn völlig entgeistert an.

‚Also. Folgendes…‘

Stefan Schostok, Oberbürgermeister der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover, passte jetzt sehr genau auf.

 

Der Morgen danach

Hannover Mitte – U-Bahnstation Kröpcke
03.11.2014

Seit die Enten in die Heime der Menschen eingezogen waren, war bereits Ruhe in die Stadt eingekehrt. Nachts und in den frühen Morgenstunden waren, im Gegensatz zu Zeiten davor, kaum noch Nachtschwärmer unterwegs. Aber an diesem frühen Morgen war gar keiner unterwegs. In einem Western würden Büschel von Präriegras umher rollen.

Julia und Ralf trauten dieser Ruhe jedoch nicht und zuckten bei jedem Geräusch zusammen. Interessanterweise machte die zentrale U-Bahnstation auch Geräusche, wenn sie völlig leer war.

Keine Menschenseele, und auch keine Ente war zu sehen. Nicht mal die allgegenwärtigen Tauben.

Sie hatten beschlossen, es sei am besten, sich unterirdisch zu verstecken und fortzubewegen.

In den Wohngebieten patrouillierten Enten durch die Straßen. Julia fragte sich, ob die diensthabenden Vögel ihre Menschen so, wie Natalie und Manni das bei ihnen getan hatten, zusammengelegt hatten, um keinen Menschen ohne entische Wache lassen zu müssen. Wollten sie andere befreien, war das eine wichtige Information.

Vielleicht schliefen noch einige und hatten noch gar nicht bemerkt, was in dieser Nacht passiert war.

Zuerst hatten sie überhaupt nicht verstanden, was los war. Ralf hatte ins Bad gewollt und die Tür hatte sich nicht öffnen lassen. Irgendwann im Laufe dieser unglaublichen Nacht begannen die Enten, immer wieder ins Schlafzimmer zu stürmen. Sie hüpften aufs Bett, drängten sich an sie und waren nicht zum Verlassen des Zimmers zu bewegen.

Eifersucht, hatten sie gedacht und schweren Herzens beide Vögel gepackt und ins Wohnzimmer verfrachtet. Dann waren sie zurückgeflitzt und hatten die Tür von innen abgeschlossen. Kurz machte sich ein schlechtes Gewissen bemerkbar, aber beide vergaßen das schnell.

Und dann bekamen sie die Tür nicht mehr auf. Kaugummi im Schloss.

Im Flur hörten sie die Enten schnattern, als führten diese ein angeregtes Gespräch. Nach einer Weile wurde die Wohnungstür geöffnet, das Geraschel von Flügeln, und sie waren allein.

Ralf hatte das Schlafzimmerfenster einschlagen müssen, und sie flohen ohne Zögern über den Balkon aus dem Haus. Der Weg zum Kröpcke war eine nervliche Zerreißprobe gewesen, beinahe wären sie einer Entenpatrouille in die Hände geraten.

Sie hatten an der Archivstraße kurz Halt gemacht und konnten beobachten, wie zwei Enten neben einer Frau herliefen. Julia und Ralf versteckten sich hinter einem großen Rhododendron. Zuerst schien es, die Enten gehörten zu ihr, denn sie watschelten niedlich wie immer, doch die Frau beachtete die Enten kaum. Eine von ihnen sprintete voraus, was besonders putzig aussah, und bürzelte heftig. Die Frau ignorierte es.  Beide Enten stoppten kurz und sahen sich an. Dann flogen sie auf, landeten kurz vor der Frau erneut und bürzelten nun beide. Die Frau blickte stur geradeaus. Eine der Enten bürzelte unaufhörlich weiter und watschelte dabei ständig zwischen den Füßen der Frau hindurch, blickte fragend nach oben, bis diese der Ente einen kleinen Tritt versetzte. Diese flatterte ein wenig mit den Flügeln, bis sie sich gefangen hatte, und begann dann wie wild zu quaken. Im Nu war die Frau von ungefähr einem Dutzend weiterer Enten umgeben. Einige setzten sich auf ihre Schultern, eine sogar auf ihren Kopf. Die Frau versuchte sie mit den Armen zu verscheuchen, da begannen die Enten auf sie einzuhacken. Julia sah erschreckt, wie eine der Enten wie wild ihren Schnabel in das linke Auge der Frau rammte, bis ein ploppendes Geräusch ertönte. Die Vögel erstarrten. Aufgeregt ließen sie von ihrem Opfer ab und umkreisten sie mehrmals, einige schlugen konfus die Flügel auf und ab. Julia kam es so vor, als seien die Tiere von ihrer eigenen Tat überwältigt. Im nächsten Moment lag die kläglich Wimmernde allein auf der Straße. Julia erhob sich, um der Frau zu helfen, doch Ralf nahm ihre Hand und hielt sie zurück.

„Sie können jederzeit zurückkommen“, sagte er eindringlich. „Wir müssen sofort hier weg!“

„Aber…“

„Nein! Sofort! Du hast doch gesehen, was gerade passiert ist.“

Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass sie allein waren, verließen sie ihre Deckung und rannten, so schnell sie konnten.

 

Nun waren sie angekommen und konnten endlich aufatmen, die Situation begreifen. Das alles war so völlig fernab ihrer Vorstellungskraft.

Plötzlich gingen alle Lichter aus. Es war mit einem Mal stockdunkel. Ralf zerrte sein Handy aus der Jeanstasche und entsperrte es. Das Leuchten des Displays schuf eine grausige Atmosphäre.

„Kein Netz“, sagte er langsam. „Sie müssen überall den Strom abgestellt haben.“

„Sie haben was?!“, rief Julia. „Es sind doch Enten!“

„Enten“, erwiderte Ralf, „die uns eingesperrt haben. Enten, die dabei ganz offensichtlich planvoll vorgegangen sind.“

„Ich kann noch gar nicht glauben, dass meine Natalie das getan haben soll. Sie ist doch so lieb und anhänglich.“ Sie schniefte leise. Im Tunnel wurde das Geräusch laut und hallte ihr von den Wänden des Schachts entgegen.

„Es hat sich tatsächlich keiner gefragt, wie es zu dieser Annäherung der Enten an uns kam. Wir waren alle so verzückt von ihren Knopfaugen über den Schnäbeln, dem Bürzeln… Keiner ist misstrauisch geworden.“

„Und jetzt ist es zu spät.“

„Ja, jetzt ist es anscheinend zu spät.“ Ralf straffte die Schultern. „Also gut. Wir müssen die Situation und unsere Möglichkeiten zusammenfassen und überlegen, was wir tun wollen.“

„Wir können keinen anrufen. Und wir können auch nicht durch die Tunnel aus der Stadt entkommen, denn die Bahnen fahren alle irgendwann oberirdisch weiter. Und wir haben beide kein Auto.“

„Das sieht doch ganz gut aus. Wir haben reichlich Möglichkeiten“, witzelte Ralf.

„Lustig!“

Entmutigt ließen sie sich auf die Schienen sinken.

 

Hannover, auf jedem Fernsehbildschirm
09.11.2014

Neben Stefan Schostok, auf dem Rednerpult, thronte Otto und sah ernst in die Kamera.

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich spreche heute an diesem bedeutsamen Tag zu Ihnen, um die veränderte Situation in der Stadt zu erklären.

Neben jedem von Ihnen sitzt eine Ente, von der Sie, und da gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, ich wiederhole, mein Ehrenwort, nichts zu befürchten haben.“ Mit einem schnellen Seitenblick konnte er erkennen, dass Otto ihn ansah.

„Die Enten werden auch weiterhin unsere Freunde sein. Sie haben nichts als unser Wohl im Sinn. Zwar werden Sie sicherlich festgestellt haben, dass viele Bereiche des öffentlichen Lebens von Enten übernommen worden sind, doch dies geschieht zu unserem eigenen Schutz. Enten an den Universitätsfakultäten, bei den Stadtwerken, im Polizeidienst und der Stadtverwaltung bemühen sich nach Kräften die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten und sollen Sie keinesfalls verunsichern.

Wahrscheinlich haben Sie in den letzten Wochen ebenso wie ich eingesehen, dass das bisherige Machtgefälle zwischen Menschen und Enten uns keinerlei Frieden gebracht hat. Vielmehr befindet sich unsere Gesellschaft in einem desolaten Zustand, den wir als Verursacher kaum noch wahrgenommen haben. Wir Menschen sind immer mehr zu Parasiten verkommen. Die Enten werden uns helfen, diesem Teufelskreis zu entfliehen und ein neuer Mensch zu werden. Das bedeutet aber auch, dass wir die Weisheit unserer neuen Führer anerkennen und uns ihr bedingungslos unterwerfen müssen.

Es ist in unserem eigenen Interesse, den Enten Gehorsam zu leisten und keinen Widerspruch aus unseren Reihen zu dulden. Sehen Sie die Enten als das, was sie sind: Uns überlegen.“

Stefan Schostok war ein Medienprofi, dem es gelang, während dieser Rede seine eigenen Gefühle nicht nach außen dringen zu lassen. Er fuhr fort.

„Unsere glorreichen Führer halten in den Bürgerbüros für jeden Hannoveraner einen persönlichen Passierschein bereit, der zur kostenlosen Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel innerhalb der Stadt sowie der Bibliotheken und Museen berechtigt. Diese wurden von jeder Art Glorifizierung der parasitären menschlichen Kultur bereinigt. Halten Sie Ihren Passierschein jederzeit bereit und zeigen Sie ihn bei jeder Entenpatrouille unaufgefordert vor. Zuwiderhandlung wird zu Ihrem eigenen Besten streng geahndet. Sehen Sie diese Maßnahmen als eine Hilfe, die wir danken annehmen, und ein Licht, das uns den Weg zur Wahrheit weist.

Und nun möchte ich Ihnen voller Stolz den großen Geist vorstellen, der uns in eine bessere Zukunft führen wird.“ Stefan Schostok klatschte in die Hände, verbeugte sich leicht und wies auf ihn: Otto.

Der Erpel reckte den Hals, warf sich in die Brust, öffnete leicht die Flügel, und nickte bedächtig. Dann entspannte er sich wieder und bürzelte.

 

Die Enten vor den Empfangsgeräten tobten und jubelten frenetisch, die Menschen neben ihnen starrten betreten ins Leere.

 

Hannover List
09.11.2014

Sven hatte die Rede von Stefan Schostok gemeinsam mit seinem Erpel Christoph gebannt verfolgt. Christoph hüpfte auf dem Sofa auf und ab und schlug mit den Flügeln. Zwischendurch erzitterte sein Bürzel. Sven betrachtete das Schauspiel und konnte in der Freude des Erpels nichts Böses erkennen. Sie hatten sich vor der angekündigten Rede ein Bier geteilt und Sven hegte den Verdacht, der noch nicht so trinkfeste Christoph sei schon besoffen. Eine Welle unendlicher Zuneigung durchflutete ihn. Der Erpel strahlte ihn an. In diesem Moment erkannte Sven, was er schon seit einiger Zeit geahnt hatte: ‚Ich muss pissen!‘

„Ich muss mal weg“, sagte er zu Christoph.

Christoph beäugte ihn misstrauisch und wirkte mit einem Mal gar nicht mehr betrunken. ‚Wohin?‘ schienen seine Augen zu fragen.

„Bier wegbringen. Soll ich deins mitnehmen?“

Der Erpel gab ein Geräusch von sich, das wie ein Lachen klang. Dann schüttelte er den Kopf.

 

Als Sven aus dem Badezimmer kam, begegnete ihm eine Ente mit Kochschürze. Sie blieb stehen. Auf ihrer Schürze stand: „Küss mich, ich bin der Koch“. Sven glotzte verdattert. Die Ente starrte ihn keck an, bürzelte kurz und watschelte dann in die Küche. Sven folgte ihr. In seiner kleinen Küche wühlte ein Erpel in der Besteckschublade. Auch er trug eine Kochschürze und drehte sich fragend zu Sven um. Auf seiner Schürze stand: „Geht eine Ente in eine Bar…“. Christoph streckte seinen Kopf aus der Waschmaschine und nickte ihm aufmunternd zu, fast so als wolle er sagen: „Hey, Kumpel, ich habe da mal ein paar Leute für ein ungezwungenes Sit-In eingeladen. Das ist doch okay für dich, oder?“

Sven fühlte sich überfordert und schüttelte sich. Obwohl die Enten ihn freundlich anschauten, fühlte er sich bedroht. Er warf schnelle Blicke in die anderen Zimmer, aber dort war niemand. Kurzentschlossen warf er die Küchentür zu, schnappte sich Jacke und Dienstrucksack und rannte aus der Wohnung, aus dem Haus. Von oben, aus der Wohnung, hörte er ein lautes Klopfen, als die Enten mit ihren Schnäbeln gegen das Küchenfenster hackten. Christophs enttäuschter Blick verfolgte ihn.

 

Hannover Linden
09.11.2014

Sven wusste nicht so recht, wie er es bis hierhin geschafft hatte, aber jetzt stand er vor einem der verwaisten Ladenlokale des Ihme-Zentrums. Erst jetzt bemerkte er, dass er völlig außer Atem war. Er sah nach oben. Dort brannte ein Licht. Ohne genaue Vorstellung, was ihn dort erwarten würde, stieg er die Außentreppen hinauf. Nicht ein einziges Mal schaute er sich um, sondern stiefelte Stufe um Stufe aufwärts. Daher wusste er auch nicht genau, auf welchem Stockwerk er sich gerade befand, als er die ekstatischen Rufe mehrerer Enten vernahm. Sie kamen aus der Wohnung direkt an der Treppe. Kurz fragte er sich, ob sie ihn gehört hatten. Er blieb stehen und lauschte von Sekunde zu Sekunde entsetzter dem, was da zu ihm aus der Wohnung drang. Die Worte klangen unbeholfen, wie ein Kind, das gerade seine ersten Schritte tat, doch er war sich sicher, es waren die Enten. Sie konnten sprechen. Also doch.

Aus dem Dunkel des Flures kam ein leises „Psst!“

Erschrocken wandte er sich um. Ein Paar am auf ihn zu. Man konnte ihnen ansehen, dass sie schon seit mehreren Tagen unterwegs gewesen sein mussten.

„Das ist Otto“, sagte die Frau. „Er schwört seine Leibgarde auf sich ein. Wir erklären dir alles, wenn wir oben sind. Hier können wir nicht bleiben.“

Sie packte Svens Hand. Gemeinsam rannten sie weiter die Treppen hinauf.

„In die oberste Wohnung kommen sie nicht hinein, frag mich nicht, wieso. Ich bin übrigens Ralf“, rief ihm der Mann über die Schulter hinweg zu.

Beide legten ein ordentliches Tempo vor und Sven wurde langsam die Schwere seines Rucksacks bewusst. Warum hatte er ihn überhaupt mitgenommen?

Hinter sich hörten sie Flügelschlagen und lautes Quaken.

„Da sind sie“, rief die Frau. „Wir müssen noch schneller laufen!“

„Es sind nur noch drei Stockwerke“, rief nun Ralf. Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung und Panik. „Wir haben es fast geschafft!“

Sie rannten. Ihnen schmerzten die Beine. Dann sahen sie die rettende Tür. Sie öffnete sich einen Spalt. Förmlich warfen sie sich dagegen und stolperten übereinander in einen kleinen Wohnungsflur. Es roch nach Keksen und Gemütlichkeit.

Hinter ihnen schloss eine kleine alte Dame behutsam die Tür. „Bei mir seid ihr in Sicherheit. Setzt euch doch erst mal. Kann ich euch ein paar Kekse anbieten? Sie sind auch ohne Rosinen. Ich weiß ja, dass ihr sie nicht mögt.“

An der Tür kratzte und schabte es. Sie hörten Otto, der mit lauter Stimme Befehle erteilte: „Bewacht die Tür, ihr dummen Küken! Jetzt sind sie bei IHR!“

 

Die vier sahen sich an. „Habt ihr Angst?“ fragte die kleine alte Dame liebenswürdig.

„Ja“, antworteten sie im Chor.

„Gut. Aber noch nicht annähernd genug.“

Ralf verschluckte sich an seinem Keks.

 

Der Kampf beginnt.

 

…wird fortgesetzt…

 

 

Als ich die Worte zum ersten Mal aus seinem Mund vernahm, fand ich sie furchtbar flach: »Wir alle brauchen manchmal einen Lotsen«.

Dieser nichtssagende Satz, diese inhaltsleere Belanglosigkeit war einer seiner Lieblingssprüche, sein Mantra, seine Lösung für alles und seine Lösung für jeden. Nun, für fast jeden, muss ich ergänzen. Er selbst, der große Kapitän, schien keinen Lotsen nötig zu haben, auf keiner Reise seines Lebens, nein, im Gegenteil, stets bot er sich anderen als Beistand an, weil er wohl glaubte, er sei der einzige, der verstanden habe, wo im Leben die Untiefen liegen und welche unsicheren Gewässer es zu meiden gilt.

Es war ein Satz wie einer dieser unerträglich optimistischen Kalendersprüche, die Unzufriedenen das Leben etwas freundlicher gestalten sollen und in ihrer Botschaft so belanglos, so stupide sind, dass niemand je etwas Vernünftiges dagegen einzuwenden vermag. Was hätte jemand auch gegen diesen Satz einwenden sollen? Er war ja richtig. Das war es, was mich daran zur Weißglut brachte. Ausgerechnet er musste es sein, der mir diesen bedeutungslosen Satz mit einer Ernsthaftigkeit vorpredigte, so als wüsste er genau, worum es im Leben gehe und wie man es sich einzurichten habe. Er wähnte sich nicht nur als stolzer Kapitän seines eigenen, windschnittigen Lebens und Lotse der Leben aller anderen, sondern gleich als Kartograf für Leben überhaupt. In meinen Augen war er ein arroganter, chauvinistischer Idiot.

Mit der Zeit fing ich an, diesen Satz zu hassen, und dadurch letztlich auch dessen Urheber. Er machte mich rasend, zumindest innerlich, und ich musste mich schier beherrschen, ihm nicht offen ins Gesicht zu fauchen. Mit einer gelassenen Regelmäßigkeit wagte er es hin und wieder, diese Plattitüde in Diskussionen einzustreuen, die er mit mir führte, oder den Satz zu variieren, ihm ein Trojanisches Pferd als Vehikel zu konstruieren und ihn einer Metapher unterzuschieben, damit die Worte nachts hervorkommen und in meinem Kopf ihre Wirkung entfalten konnten. Wenn er sich mit anderen unterhielt oder wenn wir in einer Gruppe unterwegs waren und er jemandem diesen Tipp, diese Nichtigkeit zuteilwerden ließ, blickte er mit einem süffisanten Lächeln in meine Richtung, so als wollte er ganz sicherstellen, dass ich den Satz auch zweifellos vernommen hätte.

Warum war es ihm so wichtig, mir diesen Satz immer und immer wieder unter die Nase zu reiben? Es kotzte mich ehrlich gesagt an. Ich war doch Kapitän meines eigenen Lebens und ich brauchte keinen Lotsen. Schon gar nicht ihn!

Was also wollte er mir mit diesem dümmlichen Satz sagen, was passte ihm nicht an mir? Ich verstand es nicht und ich wusste nicht, ob ich es überhaupt verstehen wollte.

In den folgenden Monaten hatten wir selten miteinander zu tun, wir trafen uns nur dann und wann rein zufällig, so auch an Silvester. Wir plauderten ganz oberflächlich über dieses und jenes, denn auch ihm musste aufgefallen sein, dass unser Kontakt sich verringert hatte. Bei einem Bier erzählte ich ihm kurz von jenen Dingen, die mich zu dieser Zeit bewegten, belasteten, ganz normaler Alltagskram, und er sprach bloß leicht angetrunken von einem Schiff, das auf Grund laufen würde, wenn ihm ein Lotse fehlte, denn schließlich bräuchte selbst der beste Kapitän manchmal einen Lotsen und so weiter. Er spulte sein Programm ab.

Mir war klar, dass er mich meinte. Ich würde mit meinen Problemen auf Grund laufen, wenn nicht er, der große, allwissende Lotse mich retten würde. Arschloch! Er kam sich in diesem Moment sicher unglaublich lustig und überlegen vor, und es war wieder einmal typisch für ihn, der glaubte, ich hätte nur auf seine, gerade seine rettende Hilfe gewartet. Sah ich so aus, als hätte ich das nötig? Nein! Er konnte mich mal.

Als er mir von seiner neuen Wohnung vorzuschwärmen begann, hörte ich ihm schon nicht mehr richtig zu. Völlig unverbindlich ließ ich mir das Versprechen abringen, ihn irgendwann einmal besuchen zu kommen, und verschwand sofort darauf im anonymen Trubel der Silvesterfeiernden. Ich sah noch, wie er mir nachwinkte. Er schien mit dieser Antwort glücklich zu sein, aber ich hatte nicht vor, ihn tatsächlich zu besuchen.

Ein Jahr verging, in dem ich ihn kaum sah. Jedes Mal, wenn es doch geschah, lebte in mir die Erinnerung an jenen Satz auf. Ich vermied es schließlich vollends, ihm zu begegnen, und ging ihm aus dem Weg. Es war keine bewusste Entscheidung, die mich dazu gebracht hatte, sondern dieses auf eine vage Art verunsichernde Gefühl, das mich überkam, wenn ich durch ihn an seinen Satz erinnert wurde. Ich ertappte mich dabei und fand es albern, konnte mich allerdings nie überwinden, ihn einfach anzurufen oder ein Treffen mit ihm zu vereinbaren. Mir fiel wieder ein, dass er in der Stadt eine neue Wohnung gefunden hatte und ich nun weder seine neue Anschrift noch seine Telefonnummer besaß. Das beruhigte mich, denn selbst wenn ich ihn hätte erreichen wollen, so hätte ich es nicht gekonnt. Es lag nicht in meiner Macht.

Er wiederum machte ebenso wenige Anstalten, sich bei mir zu melden, und so vergaß ich ihn fast, bis ich eines Tages im Supermarkt auf jemanden traf, den er mir einst als einen Freund vorgestellt hatte. Unschlüssig, ob ich diesen Freund einfach ansprechen sollte, blieb ich zwischen den Regalen stehen und dachte nach, bis mir die Entscheidung abgenommen wurde und er seinerseits auf mich zukam. Von der Situation überrumpelt, entfuhr mir ein »Hallo!«, er aber griff bloß nach einer Packung Cornflakes. Ich stand genau davor. Das war alles. Wortlos musterte er mich, bis ich ihn schließlich unbeholfen fragte, ob er sich an mich erinnere, wir hätten einen gemeinsamen Freund, und wo dieser gemeinsame Freund denn hingezogen sei. Sein Gesicht verriet mir, dass er mich erkannte. Zunächst erstaunt, dann bedrückt sah er mich an, bejahte, sah sich um, als seien seine Worte für diesen Ort ungeeignet, und sprach in gedämpftem Ton:

„Du weißt es noch gar nicht, hm? Man fand ihn vor, ja, knapp anderthalb Monaten in seiner Wohnung. Tabletten oder so. Er hatte sogar einen Abschiedsbrief geschrieben, na ja, mehr eine Abschiedsnotiz: »Ohne dich laufe ich auf Grund«. Seltsam, was? Niemand weiß, wen oder was er damit gemeint hat.“

Und da verstand ich seinen Satz.

Ich habe letzte Nacht von dir geträumt, von uns, von den Wegen, die wir gemeinsam hätten gehen, den Geheimnisse, die wir alle hätten teilen können, von dem, was wir einst waren, und von dem, was wir noch alles hätten sein können. Die Träume sind der letzte Ort, an dem ich dir noch nah sein kann. Es ist vorbei, habe ich gedacht, und ich käme damit klar. Nun aber verbringe ich meine Tage im Bett, manchmal achtzehn Stunden und mehr, weil doch mit dir der letzte Grund zum Aufstehen schwand. Schlafen jedoch kann ich kaum, und ob ich wach bin oder nicht, meine Gedanken drehen sich um dich, um das, was von dir noch immer in mir übrig ist. Du bist in mir eingezogen, damals, als wir uns kennenlernten, und als du gegangen bist, hast du deine Sachen einfach in mir zurückgelassen. Sie stehen in meinen Räumen herum und erinnern mich an dich, sie belegen so viel Platz in meinen Kammern, dass mir zum Leben keiner bleibt. Mein Appetit hat mir den Rücken zugekehrt, genau wie du, doch ohne Nahrung kann ich überleben, bloß ohne dich fällt mir das reichlich schwer.

Mit Tränen gehe ich in jede Nacht und meine Augen sind am nächsten Tag so schwer wie rot. Morgens treibt mich nur die Hoffnung an, du könntest dich heute bei mir melden. Abends bange ich dann vor dem Schlafengehen, vielleicht ja meldest du dich morgen. Was zwischen diesen Punkten liegt, ist jene Zeit, in welcher ich ein Leben simuliere, frech und selbstbewusst, das sorglose Mädchen; diese Zeit, in der ich hoffnungslos versuchen muss, mit Kopf und Herz nicht jeden Augenblick bei dir zu sein. Ohne ein Zeichen von dir sind meine Tage leer.

Wann immer ich in letzter Zeit durch diese Stadt schlenderte, in der dein Leben das meine zum ersten Mal betrat, fühlte ich die Aura deiner Anwesenheit. Hier lebst du, arbeitest du, verbringst du deine Tage. Hier lachten wir, sprachen wir, teilten wir ein Dasein miteinander. Es ist deine Stadt, das war sie schon, als wir uns kennenlernten, und sie liegt vor mir wie ein Mahnmal, wie ein Tor zu einer besseren Zeit. Hinter jeder Ecke könntest du hervorkommen, auf jeder Straße könntest du spazieren, und tatsächlich wartest du auf mich an jedem Ort. Nicht du, nicht als Person, aber als Erinnerung, als Gespenst meiner Vergangenheit, unserer Vergangenheit, das mich auf Schritt und Tritt verfolgt. Du hast die Stadt für mich unbenutzbar gemacht, denn über allem liegt der Schleier deines Wesens. Keinen Meter kann ich gehen, ohne dass du mir erscheinst. So wie du mich im Schlaf in jeder Nacht verfolgst, verfolgst du mich bei jedem Schritt.

Du weißt, es beschränkt sich nicht auf eine leere Metapher, wenn ich dir sage, dass du für mich die Welt gewesen bist. Alles hier erinnert mich an dich. Die Stadt, sie schmeckt nach dir, sie riecht nach dir, der Wind verbreitet deinen Duft, die Häuser erzählen Geschichten über dich, die Brunnen speien dein Wasser. Straßen, Gebäude und Menschen erschöpfen sich in ihrer Relation zu dir, ich nehme sie wahr als Kulissen und Komparsen unseres vergangenen, gemeinsamen Lebens. Ich bewegte mich wie auf Schienen mit dir, war durch dich Zug geworden, der seine Gleise immer mit sich führt, was links und rechts von uns geschah, war mir egal, denn Augen hatte ich doch bloß für dich. Mit dir war alles schön, schon weil du da warst. Heute aber sind die Weichen umgestellt, die alten Trassen am Verrotten.

Mit bebendem Herzen kreuze ich in diesen Tagen dann und wann den weiten Platz, auf dem der kleine Brunnen steht, an dem wir uns so viele Nächte um die Ohren schlugen, bis das Morgenlicht uns unterbrach. Fast jeden Tag betrete ich den menschenleeren Bahnsteig, an dessen Ende du so oft auf mich gewartet hast. Wenn ich irgendwo bloß einen Zug vorüberrauschen sehe, fahre ich im Traum zu dir. Mit mattem Blick verfolge ich die Straßenbahn, die auch zu deiner Straße führt. An jeder Haltestelle suche ich nach dir. Manchmal schlendere ich durch den Park, in dem wir auf der Wiese saßen, um uns die Sterne anzusehen, doch wenn ich heute in den Himmel blicke, zeigt jedes Sternenbild bloß dein Gesicht. Wie Splitter der Vergangenheit sind all die Kneipen, Clubs und Restaurants, in denen wir zusammen saßen, tanzten und lachten, lose über diese Stadt verstreut. Wenn ich dort heute etwas trinken gehe, trinke ich dabei auf dich, und wenn ich hier und da ein wenig Nahrung zu mir nehme, hungere ich dabei nach dir.

Wie gern wir beide im Theater waren, wie oft wir Lesungen besuchten, das hat sich eingebrannt in meinen Kopf und geht dort niemals wieder raus. Bei jeder Vorstellung, bei jedem Wort, bei jedem Kunstwerk und bei jedem Exponat bist du im Geist noch immer neben mir und darum meide ich das alles nun fast ganz, aus Furcht, du könntest in der Menge sein. Manchmal lese ich in deinen Briefen, die du mir geschrieben hast, und wenn ich heute Post empfange, hoffe ich, sie ist von dir. All die Bands, die du so mochtest, sind mir keine Freude mehr, und in den Büchern, über die ich mit dir sprach, wohnst du auf ewig zwischen allen Zeilen. Alles Schöne, das ich neu für mich entdecke, jedes Buch, in dem ich mich verlieren kann, jeden Film, der mich begeistert, alles will ich weiterhin so gerne mit dir teilen – und dann denke ich mit tiefem Seufzen: ja, das würde dir gefallen.

Selbst meine Wohnung ist nicht länger mein Zuhause, die Dinge sprechen alle nur von dir. Ich bin hier niemals mehr allein. Jedes Klingeln führt mich hoffnungsfroh an meine Tür, doch hat sie mich noch allemal enttäuscht. Ich warte auf E-Mails, die nicht kommen, starre auf Telefone, die nicht klingeln. In meiner Küche stand ich nicht, seit wir gemeinsam dort zugange waren, und liege ich in meinem Bett, erdrückt mich deine Abwesenheit. Es fühlt sich leer an, denn du fehlst, nicht nur in meinem Bett, vor allem in meinem Leben.

Ich werde diese Stadt nicht länger ertragen können. An jeder Ecke treffe ich auf dich, ohne dich je berühren zu können; allerorts erscheinst du mir, an jeder Wand, in jeder Spiegelung auf einer Scheibe, auf dem Asphalt und in der Luft, ohne wirklich bei mir zu sein. Überall verstecken sich Gespenster. Bei jedem Menschen, der dir ähnelt, beginnt es schnell in mir zu pochen, bis die Hoffnung still verwelkt. Wie Fata Morganas schreiten deine Erscheinungen durch diese Stadt und blenden mich, doch keine davon stillt den Durst.

Nicht bloß die Stadt verkommt für mich zur Krypta unserer Vergangenheit. Bald wird er losgehen, der ungelenke Tanz durchs Minenfeld meiner Freunde, die sich zweifellos an dich erinnern werden, weil ich ihnen von dir vorliebte, ihnen alles über dich erzählte, mit einer Verve, wie das nur jemand kann, der dir von Kopf bis Fuß verfallen ist. Erzählt man etwas, dann verfestigt es sich mit jedem noch so kleinen Wort als Realität, und wenn es schiefgeht, dann wird es zur Hölle. Sie werden sich nach dir erkundigen, sie werden wissen wollen, was du machst und wie es dir so geht. Wie war noch gleich sein Name, werden sie mich beiläufig fragen, und während ich genau weiß, von wem die Rede ist, weil ich dich niemals vergessen kann, werde ich doch nichts anderes hervorbringen als: Wen meinst du? Wenn aber jemand deinen Namen ausspricht, kann man für einen kurzen Moment in meinen Augen sicher Welten aufblitzen sehen, ganze Galaxien, bevor sie kurz darauf als Schatten unbemerkt vergehen.

Glauben kann ich es dir nicht, dass da bei dir nichts mehr war, kein Wunsch nach Zukunft, kein Gefühl, und ich denke nicht einmal, dass du dir selbst das alles glaubst. Wo wir nun stehen, wäre mir begreiflicher, wenn es nicht du gewesen wärst, der diesen Stein erst ins Rollen gebracht hatte, der mit mir flirtete, ganz offensiv, obwohl du sonst so schüchtern bist. Dein Strahlen jedes Mal, wenn wir uns irgendwie begegneten, erwärmte meine ganze Welt. Ich fühlte, du bist mein Zuhause, und ich wollte dir das deine sein. Mein Lächeln muss mich schon von Anfang an verraten haben, diese Maske einer hoffnungslos Hoffnungsvollen, dieses gutmütige Grinsen, weil ich gänzlich glücklich war, und du, du lächeltest zurück.

Immer warst du so bemüht, mich fasziniert auf unsere Gemeinsamkeiten hinzuweisen, auf alle noch so kleinen Zufälle, auf die gewöhnlichen Ereignisse, die nicht mehr so gewöhnlich waren, weil du sie gleich mit mir verbunden hast und ich sie wiederum mit dir. Zwischen uns gedieh eine Art geistiger Intimität und wir vervollständigten uns, als hätten wir das immer schon getan. Du warst fröhlich, wenn wir Dinge zeitgleich erledigten, ohne uns irgendwie abgesprochen zu haben, oder wenn uns ein und dasselbe völlig unabhängig voneinander gefiel. Es waren solche Banalitäten, die dich glücklich machten, selbst wenn die Welt dir gerade lästig war, und ich war glücklich, schon weil du es warst.

Du merktest dir so vieles, was ich dir erzählte, all die Dinge, die ich mag. Ich stand für dich im Licht, war Sammelstelle deiner Aufmerksamkeit und das zeigtest du mir deutlich, nur zugegeben hättest du es nie. Noch über die dümmsten meiner Witze hast du gelacht, wie das nur jemand kann, der nicht mehr ganz bei Trost oder ernsthaft verliebt sein muss, was unterm Strich ja irgendwie das Gleiche ist, mit einem herzlich schönen Lachen, dem ich im ersten Augenblick sofort verfiel.

Du hast dich einmal als einen Menschen bezeichnet, der zuallererst an sich denkt, und dennoch machtest du so viel für mich, du sorgtest dich um mich, du wolltest, dass ich mich bei dir wohlfühle. Für jemanden, der nur an sich denkt, hast du erstaunlich viel an mich gedacht. Ich nahm in deinem Leben einen so großen Raum ein, dass es mir schon beinahe unangenehm wurde. Am Ende unserer Treffen hast du mich kein einziges Mal einfach so fortgehen lassen, ohne mir zwischen Tür und Angel nicht noch Vorschläge für ein Wiedersehen ans Herz zu legen. Deine Phantasie überschlug sich bei dem hölzernen Versuch, neue Vorwände für ein Treffen zu erdenken, mit einer beiläufigen Art, die sicher deine Schüchternheit verbergen sollte, die du immer schon für unmännlich gehalten hast. Dir lag etwas daran, dass wir uns wiedersehen, das war es, was für mich von alldem hängenblieb. Du organisiertest deine Zeit um mich herum, um meine Manifestation in deinem Leben, während ich dich sachte in dem meinen verankerte, als bautest du in meinem Vorhof dein Quartier. Ich nahm mir meine Zeit für dich, ich nahm mir alle Zeit der Welt. Heute willst du sie nicht mehr.

Es spielt keine Rolle, was ich glaube und was tatsächlich deine Gründe waren, denn es bringt uns nicht wieder zusammen, macht aus den Trümmern nicht mehr eins.

Meine Briefe, in denen ich dir schrieb, wie viel du mir bedeutest, hast du leider nie beantwortet, und meine Vorschläge, was wir gemeinsam unternehmen könnten, schlägst du seitdem alle aus. Du warst mit einem Mal wie ausgewechselt, kamst mir vor wie ein Magnet, dessen Polarität sich schlagartig verändert hatte. Was mir gefiel, konntest du plötzlich nicht mehr ausstehen. Bei jeder Angelegenheit, in der wir immer einer Meinung gewesen waren, behauptetest du nun das Gegenteil. Wenn wir uns doch noch einmal trafen, brachtest du stets irgendwelche Freunde mit, Bekannte oder Arbeitskollegen. Mein Eindruck war, es hätten Unbekannte sein können, solange das für dich bedeutete, nicht mit mir allein zu sein, als sei ich über Nacht zu einer düsteren Bedrohung geworden, die nur als Gruppe überhaupt bezwungen werden kann.

Du wolltest es mir verwehren, dich auch weiterhin zu mögen, so wie jemand, der einem armen Bettler etwas Geld verwehrt, nicht weil er selbst ein böser Mensch ist, sondern um die Brieftasche nicht öffnen zu müssen. Es sticht schon höllisch in der Brust, wenn man ernüchtert feststellen muss, dass eine Liebe nicht erwidert wird, doch wenn die eigenen Gefühle noch als Zumutung empfunden werden, ist das wie Starkstrom mitten durch das Herz. Du hast keine Vorstellung davon, wie sehr es schmerzt, auf einmal so behandelt zu werden. Nun muss ich mir ansehen, wie austauschbar ich allem Anschein nach für dich geworden bin. Ich wollte bei dir ankommen, aber für dich war ich in deinem Leben nur zu Gast.

Du konntest nie richtig begreifen, wieso ich etwas an dir fand, weshalb ich etwas an dir mag. Womöglich war ich dir nicht überzeugend genug, aber musste wirklich ich dich überzeugen oder nicht viel eher du dich selbst von deiner Liebenswürdigkeit.

Menschen wie du und ich machen sich mit ihrer Nachdenklichkeit das Leben so unnötig schwer. Gemeinsam hätten wir leichter sein können, leicht genug zum Fliegen, doch abzuheben trautest du dich nie. Ich baute für dich Brücken, wo keine Flüsse, Häuser, wo keine Städte, Tunnel, wo keine Berge waren. Du warst mein Leuchtturm in der Nacht, der selbst noch strahlt und mir als Reisendem die Richtung weist, wenn alles Sonstige in Dunkelheit versinkt. Es hat vor dir schon Andere in meinem Herzen gegeben, doch ich machte dich zum Allerersten und du wirst für mich der Letzte bleiben. Welche Zukunft es mit dir gegeben hätte, weiß ich nicht. Ohne dich gibt es keine Zukunft. Nach dir kommt nichts. Es gibt keine Zukunft mehr, nicht einmal Gegenwart, bloß noch Vergangenheit.

Was ich noch an Hoffnung hatte, setzte ich auf dich und verlor sie ein für alle Mal. Mit wachsender Verzweiflung habe ich versucht, sie zu bewahren. Jedes deiner Worte, auch die ungesagten, drehte ich in meinem Kopf herum, bis ich schließlich einen Ansatz fand, eine Interpretation, die mir ein wenig Zuversicht versprach. Deine Worte waren meine Hypothek, auf deren Darlehen ich mein Leben errichtete. Jeden meiner Schritte machte ich auf einem Steg aus Hoffnung, den ich mir aus den Brettern deiner Worte gezimmert hatte, bis es jeden Tag etwas weniger wurde, an dem ich mich noch festhalten, auf das ich mich noch stützen, mit dem ich mir einen Weg nach vorne hätte bauen können. Du warst meine letzte große Hoffnung auf Zukunft.

Sein ganzes Leben ist der Mensch ein Baum im Wind. Er trotzt den Gewalten, die auf ihn einwirken, er stemmt sich ihnen entgegen, tagein und tagaus, doch wenn der Baum erst einmal angesägt ist, genügt ein leichter Stoß, um ihn zu Fall zu bringen. Gesägt haben an mir schon viele, aber erst du hast mir den Stoß versetzt. Nun bin ich am Boden, habe keine Energie mehr, keine Kraft, um wieder aufzustehen. Je näher man jemanden an sich heranlässt, desto kürzere Messer braucht er. Meine Rüstung, die ich mit mir durchs Leben trage, mein Panzer, der mich vor der Welt beschützt, er ist verbraucht und abgenutzt.

Es gibt keinen unbegrenzten Vorrat an Energie, den man in ein Leben stecken kann. Jede frische Verletzung zehrt an den Kräften, bis irgendwann die Kraft erlischt. Eines Tages wächst einfach keine Haut mehr, wo eine neue Wunde entsteht. Der innere und der äußere Tod sollten in einer idealen Welt zur gleichen Zeit vonstattengehen, doch bei den meisten Menschen ist das nicht der Fall, denn unsere Welt ist alles andere als ideal. Es heißt, die Hoffnung stirbt zuletzt, doch meint das Sprichwort wirklich deren Langlebigkeit, oder bedeutet es denn nicht viel mehr, dass nach dem Tod der Hoffnung nichts mehr bleibt, das dann noch sterben kann. Wie sehr rühmt sich die moderne Medizin, Menschen am Leben erhalten zu können, aber was hilft das, wenn man im Inneren schon lange nicht mehr lebt. Es gibt keine Maschinen, keine lebensverlängernden Maßnahmen, an die man die Hoffnung eines Menschen anschließen könnte. Der biologische Tod wird reduziert auf eine Formsache.

Mach dir nichts draus, das Leben geht weiter, sagen sie dir mit herablassendem Mitleid. Ja, es geht weiter, denn das Hinterhältige an gebrochenen Herzen ist, dass der andere seine Tat nicht vollendet, sie nicht konsequent zum Abschluss führt, weil er einen nie wirklich umbringt. Man ist leer, ausgelaugt, verbraucht, man blickt in ein Schwarzes Loch und überschreitet den Ereignishorizont, man wird hineinsogen und kommt nicht mehr heraus. Das Leben geht weiter, ja, aber man selbst lebt nicht weiter, man existiert bloß noch vor sich hin.

Auch ich füge mich ein ins Heer der wandelnden Toten. Erst verliert man die Hoffnung und dann sich selbst. Nichts hat für mich noch irgendeine Bedeutung. Ich kann nichts mehr fühlen, wenn es nicht mit der Vergangenheit verbunden ist, mit dir. Ich spüre keine Gegenwart, nicht einmal Schmerz, nicht einmal Wut, schon gar nicht Liebe. Wie das Archiv einer längst vergangenen Kultur verwalte ich die Sammlung meiner Emotionen, aber es kommen keine neuen mehr hinzu. Du hast den Menschen aus mir entfernt.

Es gibt so viele wie mich. Ich sehe sie jeden Tag, kann sie durchschauen, sie sind leer, und doch simulieren sie ein Leben, genau wie ich, sie gehen ihrer Arbeit nach, sie essen und schlafen wie jeder andere Mensch auch. Das Scheitern beginnt, wenn man nicht mehr fragt, was man will, sondern bloß noch, was man kann. Mein Schicksal ist es, tot zu sein und weiterleben zu müssen. Ich wollte dir alles geben, du hast mir alles genommen. Nicht aus böser Absicht, vermutlich nicht einmal bewusst, doch unterm Strich zählt letztlich nur, wie alles endet. Du sagtest mir zum Abschied noch, ich sei ein unglaublicher Mensch, wie du ihn nie zuvor getroffen hast, doch was bedeutet das schon, wenn du mich daraufhin kalt abservierst. Ich bin in meinem Leben eine Fremde geworden.

Andere würden sagen, ich hätte meine Zeit mit dir verschwendet, aber verschwendet war sie nie, denn sie hat mich, wenn auch nur vorübergehend, zu einem glücklichen Menschen gemacht.

Es gäbe noch so vieles, das ich dir gerne sagen würde, so viel Unausgesprochenes, das noch auszusprechen wäre, doch ich werde dir nie wieder schreiben, ich werde mit dir nie wieder reden, ich werde dich nicht mehr zum Lachen bringen und dir keine Nachrichten mehr auf der Mailbox hinterlassen Ich werde dir keine Fragen mehr stellen und mich nicht länger für dein Leben interessieren, weil ich die Antworten nicht ertragen würde. Du wirst kein Lebenszeichen von mir erhalten, weil es dieses Leben nicht mehr gibt, das auf sich aufmerksam machen könnte. Wie sagt man jemandem Lebewohl, ohne den man nicht leben kann.

In dieser Stadt ist kein Platz mehr für mich, genauso wenig wie in deinem Leben. Was mich hier noch hält, ist mir ein Rätsel. Ziellos streife ich durch die Straßen dieser Stadt und ich wünschte mir dabei, ich wäre Nero. Ich möchte dich nicht nur vergessen, dich in meinem Kopf nicht bloß verblassen sehen, ich möchte sämtliche Andenken an dich vollständig ausradieren, in mir wie in der Welt. Diese Stadt soll brennen, sie soll verglühen und in Rauch aufgehen, denn sie ist für mich unbegehbar geworden. Ich möchte Feuer legen, rasend alles niederreißen, ich möchte sie zerstören, noch bis hinunter auf den letzten Stein. Die ganze Welt kann untergehen, es wäre mir egal. All die von dir besetzten Gebäude und meine Erinnerung an dich sollen ein für alle Mal in Flammen aufgehen und zu Asche zerfallen, woraus ich als Phönix neu hervorgehen kann.

Vielleicht ja würde es in einigen hundert Jahren eine Gruppe von Archäologen zu den Trümmern dieses lieblosen Ortes führen und sie würden sich eventuell fragen, was hier wohl vorgefallen sein mag. Es wäre nur ein weiteres Puzzleteil in der unendlichen Geschichte der Morde, Kriege und Zerstörungen aus purer Verzweiflung an menschlicher Liebe. Sie ist die edelste aller Kräfte, die auf einen Menschen jemals wirken kann, aber auch die unbarmherzigste und vernichtendste. Wie viele Burgen und Festungen, wie viele Städte und Reiche, wie viele Machthaber und Imperien gingen bereits zugrunde, nur weil ein Mensch sein Herz verlor.

Auch ich habe dich belagert, wenn man es so ausdrücken möchte, aber deine Mauern waren zu stark, dein Bollwerk zu massiv, und dennoch rannte ich voll Freude mit dem Herz dagegen an. Du hast dich am Ende gegen mich entschieden, hast deine Zugbrücke hochgefahren, als ich noch auf ihr stand. Nur zu gerne wäre ich ein wütendes Inferno, das mich wie alles andere im Flammenmeer verschlingt, doch statt den Glaspalästen in der Innenstadt, die mit Getöse auseinanderbrechen, ist es bloß mein Glück. Die Welt bleibt kalt und unberührt, während mein Innerstes heimlich verbrennt.

Dann geht es weiter, das Leben, die dunklen Wolken ziehen aus dem Kopf, ich esse wieder auswärts und mache mein Haar, ich trinke Cocktails und gehe ins Büro, ich flirte und lache und bin normal und habe keine Angst vor dem nächsten Tod. Der nächste wird wieder der letzte sein. Ich bin drei Mal schon gestorben und immer habe ich mir eingeredet, diesmal sei es besonders schlimm, und ich glaube, das ist gut. Das Leiden gehört dazu, wenn es schiefgeht, es zeugt von Bedeutung, es zeugt von Gefühlen, es zeugt von mir. Schlimm ist es erst, wenn man nicht mehr stirbt.

Es ist ein verregneter Samstagabend und ich sitze mit dir in einer kleinen Kneipe in Frankfurt Bockenheim. Du trägst Jeans und ein rotes Oberteil, dein Haar ist zu Zöpfen gebunden, du rauchst. Zuvor sind wir essen gewesen, beim Perser, ich habe dich eingeladen, du hast einen ehemaligen Mitbewohner getroffen, dann sind wir kurz durch die Nacht spaziert. Nun trinken wir Cocktails, wir unterhalten uns, wir werden kritisch, wir werden traurig, wir lachen und spinnen herum. Du bist jemand, bei dem ich sein kann, wer ich bin, ohne Unverständnis zu provozieren, ohne mich verstellen zu müssen, ohne Erwartungen zu begegnen, die mir so fremd sind wie eine außerirdische Kultur. Wir teilen eine Sicht auf die Welt, auf das, was uns stört, was wir mögen, und ich merke, ich mag vor allem dich.

Wir stehen uns politisch nahe, wenn man das so ausdrücken kann. Uns eint der Kampf gegen die Übel dieser Welt, doch Hoffnung treibt dich dabei nicht, eher sei es Rastlosigkeit, man könne eben etwas tun oder schweigend resignieren. Eigentlich aber möchtest du hier weg, sagst du, und mit hier meinst du Deutschland, nicht diesen Moment in dieser kleinen, gemütlichen Kneipe. Ein Häuschen, vielleicht ein Bauernhof, gemeinsam mit ein paar Freunden, das wäre das Richtige, erklärst du mir, und deine Augen funkeln ein wenig bei der Vorstellung daran. Du nennst es andächtig Utopia.

Es mangelt am Willen zur Umsetzung, antworte ich dir und es stimmt. Du bist nicht die erste, die mir von diesem Traum vorschwärmt, denn ich kenne viele, die vom Weggehen träumen, vom selbstbestimmten Leben, nur keinen, der es macht. Auch für dich sei es eher ein Plan B, eine Rückzugsmöglichkeit, gesellst du dich zu ihnen, für die Zeit, wenn dir das Leben hier in diesem Land nicht mehr angenehm erscheint.

Ich finde es jetzt schon nicht mehr angenehm, gestehe ich dir, und du bist der erste Mensch, der bei diesen Worten nicht lacht, nicht mindestens schmunzelt oder mich fragend ansieht. Du nämlich schaust mich an, mit einem Blick, der mir sagt, dass du genau verstehst. Wir führen den Gedanken weiter, bis du mir erklärst, wie du dir das Ganze vorstellst, vielleicht in Griechenland, mit ein paar Tieren und Gemüse und was man eben braucht, um so autark zu sein, wie es die Umstände erlauben. Der Abend klingt aus und ich stoße mit dir darauf an, ihn umzusetzen, deinen Plan B, und du lachst und freust dich und sagst: Ja, das machen wir. Ich sehe Zukunft, wo ein Fragezeichen war. Wir sind Komplizen, die den Ausbruch wagen.

In den Tagen darauf rechne ich zusammen, was ich gespart habe, drucke Immobilienangebote aus, reise um die halbe Welt, um mir einen guten Eindruck von den interessantesten Objekten zu machen, lese Bestimmungen, plane voraus. Drei Wochen später treffen wir uns in deiner Wohnung, ich lege dir Fotos vor, ohne dir meinen Favoriten zu verraten, und deine Wahl fällt auf das gleiche Haus. Wir lachen, freuen uns, gehen Planungen durch, überschlagen Finanzen. Ganz die Realistin, die du bist, wirfst du ein, du fändest das alles wunderbar, nur könntest du nicht von heute auf morgen deine Wohnung aufgeben und deinen Job kündigen, da gäbe es Fristen, und dein Kater mache dir Sorgen, der habe doch sein Revier, und all das Rechtliche. Das macht nichts, beschwichtige ich, dann fahre ich alleine schon mal vor, richte alles her, ich kümmere mich um unser Haus, widme mich dem Bürokratischen, freue mich auf dich, und dem Kater wird es gefallen. Du nickst und dann umarmst du mich auf eine Art, dass ich mich fühle, als würde ich nach langer Odyssee zu Hause ankommen.

Am nächsten Tag plündere ich meine Konten, besteige ein Flugzeug und fliege einem neuen Leben entgegen. Ich kaufe ein Haus, das Haus, unser Haus, mit riesigem Grundstück und modrigem Holzzaun rundherum, die Mauern in einem Rotton, der dir gefallen wird, die Zimmer groß genug, falls wir Besuch oder mal Kinder haben wollen. Das Dach ist nicht ganz dicht, wie ich beim ersten Regen feststellen muss, aber wir sind es auch nicht. Ich renoviere, ich streiche, verlege Böden und lerne mauern, ich lege mich ins Zeug und fühle mich zum ersten Mal als freier Mensch. So verbringe ich Wochen, dann Monate. Mit der Begeisterung eines Kindes schicke ich dir immer wieder Fotos und selbstgedrehte Videos, und du sagst, du willst noch deine Promotion fertigstellen, dann kommst du. Ich freue mich wahnsinnig darauf, wenn du kommst, antworte ich dir.

Das Dach ist mittlerweile gut, das Haus bezugsfertig, was auszubessern war, habe ich ausgebessert. Die Renovierung kommt voran, wenn auch langsam, und zwischendrin versuche ich mich als Gärtner, lese mich schlau, pflanze an, gieße, verteile Dünger, hoffe und warte. Einiges gedeiht, manches nicht, und ich bin stolz, weil das für einen ersten Versuch gar nicht so schlecht ist. Du hast von uns beiden den grüneren Daumen, du wirst mich auslachen, wenn du kommst.

Zwei Monate später bekommst du ein Angebot für eine Stelle an der Uni, ein Einjahresvertrag, und du sagst, so lange solle ich mich noch gedulden, danach aber kämst du. Mir macht es nichts aus, die Renovierung braucht noch etwas Zeit, und ich sage, ich freue mich darauf, wenn du kommst, du wirst ein wunderschönes Haus vorfinden.

Draußen wird es langsam grün und ich filme auch das, schicke es dir, will dir zeigen, dass selbst unter meiner Regie pflanzliches Leben möglich ist. Du lachst so herzlich über meine angestrengten Gärtnerversuche, dass alle Kilometer zwischen uns vergessen sind. Kurz bevor du auflegst, seufzt du, denn du wärst so gerne hier, und ich spiele es herunter, es ist doch nicht mal mehr ein Jahr.

Vier Monate vergehen, in denen wir mailen, chatten, telefonieren, ich schicke dir weiterhin Bilder und Videos, hege Vorfreude, und dann schreibst du mir, du bist jetzt an einem Forschungsprojekt beteiligt, das du super interessant findest, und man erwägt, dich fest einzustellen, und wie großartig das ist und ob ich mich freue.

Drei Tage später antworte ich dir, schicke dir einen Link auf ein kleines regionales Nachrichtenportal, schreibe sonst nichts. Du rufst mich an, obwohl du nicht viel Zeit hast, wie du mir erklärst, du machst gerade Pause, gleich musst du zurück. Du bist verwirrt, sagst du, und ob das ein Scherz sei, aber es ist alles echt, versichere ich dir, das Feuer und der Totalschaden. Utopia ist abgebrannt.

Es ist nur Widerstand, wenn dir Widerstand entgegenschlägt. Das klingt trivial und doch scheint es viele zu überfordern. Sie nennen sich Widerständler und – das ist das Tragische daran – sie fühlen sich auch so. Am Wochenende und nach Feierabend nehmen sie an Kundgebungen teil, verzichten dafür immerhin auf Party, Fernseher oder Shoppengehen, sie schreiben kritische Artikel, manche noch Leserbriefe, sie besuchen Kongresse und Diskussionsrunden, kurzum: Sie sagen ihre Meinung. Das halten sie für Widerstand, für radikal, manche gar für einen Umsturz des Systems, und das System lacht sich ins Fäustchen, weil es weiß, wie alles läuft: Eine Meinungsäußerung ist kein Widerstand, keine ernstzunehmende Provokation, vielmehr selbstverständlich oder wenigstens banal, und alles ist so herrlich relativ, dass jede Meinung recht hat, jeder Einwand wird umarmt und rasch osmotisch eingesaugt, kommt nie mehr raus, noch jeder Blödsinn wird als Blödsinn anerkannt. Jeder kritische Gedanke wird vereinnahmt. Die Welt ist schlecht, sagst du, und diese Welt sagt: Lass uns gemeinsam daran arbeiten, und schon bist du ein Kollaborateur.

Du kannst sagen, der Staat sei zum Kotzen, ein Monster und ein Menschenfeind, und wenn du schlechte Freunde hast, dann werden sie dich dafür auslachen, und wenn du etwas weniger schlechte Freunde hast, werden sie bloß mit ihren Köpfen nicken, und dem Staat ist es egal. Auf letzteres kommt es an. Die Staatsmacht hat kein Interesse an deiner persönlichen Privatmeinung, solange du noch höflich ihren Regeln folgst, denn darauf baut sie auf; sie schert sich nicht um deine Sympathie, so sicher ist ihr ihre Herrschaft. Das ist der so genannte Fortschritt gegenüber einem Unrechtsstaat, dem freie Meinung noch als Tücke gilt, weil er den Umstand nicht begriffen hat, wie manche Freiheit hier und da, großmütig gewährt, dem eigenen Bestehen hilft. Je länger die Leine, desto freier fühlt sich der Hund und hält sein Herrchen für den Heiland. Du kannst dir nun natürlich einbilden, du würdest Tag und Nacht verfolgt, kannst dich zum Helden verklären und einen Kämpfer nennen, kannst paranoid werden und dein Telefon nicht mehr benutzen, kannst hinter jedem nur noch Staatsmacht sehen, weil du glaubst, deine Meinung wäre irgendjemandem ein Dorn im Auge, doch die Wahrheit ist: Sie ist egal, so wie es deinen Chef nicht im geringsten schert, wie sehr du deine Arbeit auch verfluchen magst, solange du bloß jeden Morgen pünktlich bist.

Meinungsäußerung alleine ist kein Widerstand. Du kannst auf Demos gehen und deine Meinung kundtun, du kannst ganz schrecklich radikal ins Internet schreiben oder Flugzettel verteilen und damit Leute überzeugen, die schon längst überzeugt sind, oder ganz anderen Leuten deine Texte in die Hand drücken, die noch nicht überzeugt sind und die sich denken: Ach! Die dann nach Hause gehen und ihr Leben weiterleben wie bisher, weil es sie einen Scheiß interessiert, welche Fakten du ihnen ins Gesicht wirfst, denn sie haben schon ihre Meinung und die ist stärker als jeder Fakt. Es ist ein bildungsbürgerliches Märchen, man könne andere mit Fakten überzeugen. Spart euch eure Flyer, sie sind nur Umweltverschmutzung. Es geht nicht um Fakten und Argumente und Rationalität. Das ging es nie. Ginge es um Fakten, hätten wir eine andere Welt, eine schönere, für alle; Rassismus wäre kein Problem, es gäbe keine Intoleranz, Kriege würden selten, Armut wäre abgeschafft, dafür überall Frieden, Freude, Eierkuchen.

Es geht nicht um Fakten, es geht ums Gefühl. Das ist der wahre Klassengegensatz bei uns: Auf der einen Seite die Klasse derer, die sich gut fühlen, selbst wenn es ihnen schlecht geht, die positiven Denker, die Verdränger, die Ignoranten, die Arschlöcher und Naiven, und auf der anderen Seite jene, die an der Welt verzweifeln, die sich schlecht fühlen, selbst wenn es ihnen gut zu gehen hat. Wer sich gut fühlt, der meidet jene, die sich schlecht fühlen, weil sie ihn anstecken könnten mit ihrer schlechten Laune, mit ihrem Weltschmerz und ihrer negativen Aura, diese Miesmacher, die alles ändern wollen, die den neuen Mittelklassewagen nicht als heiße Schleuder, sondern bloß als Umweltschande sehen, als lächerliches Statussymbol. Das will doch keiner hören! Du kannst dich wohlfühlen, selbst wenn es allen scheiße geht, und daran krankt die Welt. Dann lebst du lieber in deiner wunderbaren Schaumstoffumgebung, deiner Gummizelle mit Vollpension, anstatt dich dem Leben auszusetzen, wie es dort draußen wütet, denn wüten tut es, mehr als du dir denkst. Wen interessieren Fakten, wenn du ein gutes Leben führen kannst.

Nein, Meinungsäußerung alleine ist kein Widerstand. Die effektivste Art des Widerstands, die alle Herrschaftsformen überdauern wird, ist die Verweigerung, wenn du dich dem verwehrst, das Besitz von dir ergreifen und dein Denken und dein Tun bestimmen will. Schick deine Kinder nicht zur Schule, und man wird sie dir schleunigst entreißen oder dich wenigstens für deinen Trotz bestrafen, bis du Einsicht zeigst, so nennen sie die Kapitulation. Geh nicht arbeiten, und man wird dich einer Zwangsarbeit zuweisen, die man flüchtig rosa anmalt und als gut gemeinte Eingliederungsmaßnahme tarnt, selbst wenn einer gar nicht eingegliedert werden will, weil das Böse immer schöne Namen trägt und mit guten Absichten daherkommt, oder aber man wird dich triezen, bis du zerbrichst und resignierst und dir »freiwillig« eine Arbeit suchst, nur um der Erniedrigung zu entgehen – das gilt hier heute schon als Freiheit. Geh in den Supermarkt und nimm dir, was du brauchst, ohne zu bezahlen, und man wird dich dafür anklagen. Deine Meinung ist kein Widerstand, solange du brav bist, unterwürfig, fügsam, treu, solange du arbeiten gehst, wenn man es von dir verlangt, solange du zahlst, was die Kasse anzeigt, solange du folgst, wenn man dir befiehlt. Meinungsäußerung ist ein Ventil, das man dir zugesteht, damit du nicht zum Widerständler wirst, denn du darfst ja alles sagen, frei und unbeschwert, und jeder darf es toll finden oder dumm oder lächerlich oder gemein und es hat alles keine Konsequenz.

Du kannst nicht gegen etwas sein und dich dann doch daran beteiligen, nicht wenn du ehrlich mit dir sein willst. Verweigerst du aber, bist du ein Fall für Moralisten und Pädagogen­propaganda, Sozialarbeits­kollaborateure oder Therapeuten­gaslighting, Politiker und sonstige Widerstandsbekämpfer. Nur in den seltensten Fällen steht dir ein Polizist mit Schild und Schlagstock gegenüber, die Macht hat viel subtilere Methoden. Du bist gestört, sagt der Therapeut, du bist ein Parasit, sagt der Politiker, du handelst unmoralisch, sagt der Prediger, du musst doch an die Zukunft denken, sagt deine Erziehung, und alle wollen sie dich wieder eingliedern in ihre Vorstellung von einem guten Leben und keiner begreift, warum du dich wehrst. Eingliederung, das ist der Punkt, und das Wort drückt es schon aus: Sei ein Glied in unserer Formation, marschiere mit, sei ständig frohen Mutes. Da stehen sie dann, studierte und kluge Leute, und fragen sich Beulen in den Kopf, wie sich einer gegen dieses tolle Leben auflehnen kann, dieses Leben in der Schaumstoffwelt, in der alles herrlich bunt ist, weich und wunderbar, man stößt nirgends an, solange man nur brav ist und gehorcht, sie kriegen das nicht in ihren Schädel rein. Sie haben studiert, um blöd zu werden, und dafür hat es sich gelohnt, sie sind konform, bestanden haben sie mit Bestnote.

Reine Meinungsäußerung ist kein Widerstand, niemand wird für seine Meinung an die Wand gestellt, keiner gefoltert, nicht hier, nicht heute, nicht wenn jede Meinung gleichgültig vorüberzieht, du bist nicht Hans und Sophie Scholl. Eine Meinungsäußerung ist bloß bequem, Schaumstoff um das tobende Gewissen. Äußere deine Meinung und beweise der Welt, vor allem aber beweise dir selbst: Ich habe meinen Unmut kundgetan, ich war nicht still. Es schläft sich ruhiger in der Nacht, nur ändern wird es freilich nichts.

Heute Morgen schloss ich eine Tür, obwohl ich wusste, sie wird sich nie wieder für mich öffnen. Manche Türen verschließen ein Zimmer, manche Türen verschließen ein Haus. Diese hier verschließt eine ganze Welt. Die Dielen knarzten, als ich in den Flur trat, ich schlich fast sanft darauf herum, sie sollten dich nicht wecken, auch wenn ein Teil von mir ganz heimlich hoffte, sie würden es doch, du stündest auf und alles wäre gut. Ich zog meine Jacke an und schaute in deine Richtung, ich ließ mir Zeit, blickte auf mein Handy, prüfte alle Taschen, legte meinen Schal um. Es war ein Abschied auf Raten, aber erst die Hand an der Tür ließ ihn wirklich offiziell werden, jener Moment, in dem sie hinter mir ins Schloss fiel, ein für alle Mal, quietschend und zäh, als würde sie es sich noch einmal überlegen. Wo bislang stets ein Durchgang gewesen ist, ein Tunnel zwischen den Welten, war nun bloß eine Fortsetzung der Wand. Als ich im Treppenhaus nach unten ging, war es der Abstieg vom Glück. Ich hätte dich zum Abschied gerne noch geküsst.

Letzte Nacht war ich dir so nah, und doch hättest du nicht unerreichbarer sein können. Das Mondlicht fiel fragend durch ein Fenster oder vielleicht waren es bloß die schimmernden Straßenlaternen vor deinem Haus, aber was immer es auch war, Erleuchtung brachte es nicht. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, zu schnell und mit grölender Musik, und dann war es für einen Augenblick dort draußen so laut wie in meinem Kopf. Wenn ich die Augen schloss, erschienst du mir, du tanztest quer durch meine Phantasie, nahmst jede Kammer meiner Welt, deine Stimme besetzte mein Ohr. Ich sprach mit dir zum allerletzten Mal, als du müde aus dem Badezimmer kamst, dein Kater saß schnurrend neben mir, da huschtest du lautlos an uns vorbei, du schautest mich nicht an, ich weiß nicht, warum. Geschlafen habe ich in dieser Nacht kaum, und wenn doch, dann träumte ich von dir.

Ich schloss die Tür und ging, nun stehe ich verloren in der U-Bahnstation. Eine Fastnachtskapelle stapft fröhlich die Treppen herunter und spielt das traurigste Lied der Welt, nicht weil es selbst traurig ist, sondern ich. Von rechts braust endlich der Zug ins Ungewisse heran, kommt mit Getöse zum Stehen, dann steige ich ein, wir rollen ins Nichts. Hinter mir im Wagen sitzt ein Mädchen und weint. Ich fahre mit der U-Bahn durch die Stadt, bestimmt ein paar Stunden; Menschen kommen und gehen, wie Landschaften ziehen sie vorbei, verwischt und unscharf, mein Fokus ruht immerfort auf dir. Irgendwann bin ich es leid, verlasse irgendwo den Zug und trotte in den Großstadtschluchten herum, apathisch und ziellos, hungernd nach Leben. Giganten aus Glas säumen meinen Weg und blicken unberührt auf mich herab. Eine Kioskverkäuferin sagt, es sei ein wunderschöner Tag, dabei lächelt sie mich an, sie meint es ernst. Auf dem Heimweg gerate ich in Schneeregen, der die Welt mit unschuldigem Weiß bedeckt, so als wäre alles gut, doch in mir ist es dunkel. Um die Sehnsucht zu übertönen, höre ich Musik, und der Zufall wählt ein Lied von Element of Crime – natürlich trägt es deinen Namen. Alles wirkt zunehmend surreal und ich verstehe, genau deswegen ist es Wirklichkeit.

Wenn ich auch traurig bin, gibst du mir doch Kraft, da ich nun weiß, dass du dort draußen bist und lebst und lachst und dafür einstehst, woran du glaubst, mit großem Herzen und so unbeirrt wie Sisyphos am Hang. Mein ganzes Leben habe ich nach dir gesucht, dich vermisst, das wurde mir mit voller Wucht bewusst, als ich langsam aus der Wohnung trat. Jemanden wie dich findet man nur ein Mal oder nie. Die großen Träume blieben hinter deiner Tür zurück, sie dringen bloß noch als Gespenster durch die Wand. Mein Kopf lebt immer noch bei dir, wenn du ihn findest, stell ihn bitte vor die Tür, der Rest ging irgendwo verloren. Die Zukunft wird Vergangenheit, die Gegenwart verfliegt. Nichts ist so vergänglich wie das Wunderbare, lebendig wäre alles nur mit dir.

Du weißt das nicht, weil ich am Morgen durch die Tür gegangen bin, als du noch tief und fest geschlafen hast.

Der blaue Brief starrte mich an. Nein, Quatsch, ich starrte den blauen Brief an. Der blaue Brief lag einfach nur da. Briefe konnten nicht starren. Gegenstände konnten überhaupt keine menschlichen Handlungen vollziehen. Vielerlei drittklassige Schriftsteller versuchten Dinge zu vermenschlichen, ließen sie starren, fühlen, rufen, staunen. Meist handelte es sich dabei um Menschen, die das Schreiben als Beruf bezeichneten. Wer aber das Schreiben als Beruf verunglimpfte, im Schreiben folglich eine Art von institutionalisierter Arbeit sah, die ja in der Regel mit allerhand nervtötenden Terminen, ständiger Plackerei und dem maßgeblichen Ziel der finanziellen Absicherung verbunden war, der hatte seine Liebe zum geschriebenen Wort schon lange hinter sich gelassen. Um diesen Umstand zu verbergen, bediente er sich zahlreicher Kniffe wie jenem der Vermenschlichung. Der Leser sollte wissen: Hier ist ein Kreativer am Werk, ein Poet und Genie, das toten Dingen Leben einhauchen kann. Aber tote Dinge waren tot. Wären sie lebendig gewesen, hätte man sie Lebewesen genannt. Gegenstände konnten herumliegen, fallen, rollen, brennen, stinken, also einfach nur da sein, ihre Funktion erfüllen oder Schwerkraft und anderen äußeren Einflüssen gehorchen. Was sie nicht konnten, war starren. Wieso aber hatte ich das für einen Moment gedacht? Ich vertrieb diesen lausigen Gedanken aus meinem Kopf, machte schlechte Romane für meinen Fauxpas verantwortlich und starrte weiter auf Brief.
Aus der Küche holte ich mir ein Messer, schnitt einen Apfel in mundgerechte Stücke und setzte mich essend an den Tisch. Als der blaue Brief sich auch nach zwei Minuten noch nicht gerührt hatte, war ich mir sicher, es handelte sich dabei um einen Gegenstand wie jeden anderen, soll heißen: einen leblosen. Es befand sich keine Briefmarke auf dem Umschlag, was bedeutete, jemand hatte sich die Mühe gemacht, bis zu mir aufs Land hinaus zu fahren, nur um das Ding dann diskret im Briefkasten zu versenken, anstatt nach all dem Aufwand einfach an der Tür zu klingeln. Wäre da die Post nicht sinnvoller gewesen, fragte ich mich. Andererseits erforderte die Briefbeförderung per Post gewaltige finanzielle Mittel auf Seiten des Absenders, weshalb sich dieser vermutlich gedacht hatte, es wäre doch sehr viel klüger, flink ins eigene Auto zu steigen, ein Dutzend Kilometer mit einem Brief auf dem Beifahrersitz durch die Landschaft zu gondeln, schön viel Scheiße in die Luft zu blasen und den Brief ganz einfach persönlich bei mir einzuwerfen, anstatt es Menschen zu überlassen, die das hauptberuflich ausübten, sowohl das Briefetransportieren als auch das Scheiße-in-die-Luft-Blasen. Das kam dabei heraus, wenn Menschen das Recht auf Mobilität mit einem Anspruch auf Umweltverschmutzung verwechselten und Freiheit mit der Pflicht, von einem Termin zum nächsten zu düsen, zum Beispiel von der Arbeit zur Kneipe und später angetrunken ins heimische Bett.
Vom Stichwort ›angetrunken‹ inspiriert, vollzogen meine Gedanken einen Sprung zu einer naheliegenden Frage: Wieso war der Brief eigentlich blau? Ich wusste, dass es hieß, Schulen würden blaue Briefe verschicken, zumal ich während meiner Schulzeit so manchen Brief von meiner Schule erhalten hatte, sogar mit Briefmarken darauf, doch blau war keiner davon gewesen. Was blieb mir anderes übrig als ihn zu öffnen, um die Neugier zu befriedigen. Im Briefumschlag erwartete mich eine unpersönliche Einladung:

Liebe Freundinnen und Freunde,
zehn Jahre sind vergangen, seit wir von der Schulbank ins wahre Leben gezogen sind. Herzlich laden wir euch zum gemeinsamen Wiedersehen ein.

Unterhalb des Textes waren Zeitpunkt, Ort und Anfahrtsweg vermerkt, während auf der Rückseite der Einladung eine lachenden Schildkröte abgebildet war, die ein Zeugnis in der Hand hielt, was mir als Ausdruck schulischer Leistung irgendwie unangemessen schien, aber genau deswegen fast schon sympathisch wirkte, geradezu subversiv. Wahrscheinlicher jedoch war, dass der Urheber keinerlei subversive Ambitionen hegte, sondern das Bildchen einfach nur für lustig befunden hatte. Manches änderte sich eben selbst in zehn Jahren nicht, zum Beispiel schrecklicher Humor.
Es gab vieles, das Leid und Elend über die Menschheit brachte, wo immer es auftrat: Krieg, Missgunst, Gier, Eifersucht, Naturkatastrophen und eben Klassen- oder Jahrgangstreffen. Bis jetzt war ich von alldem verschont geblieben, aber jemand unternahm den Versuch, das zu ändern. Jemand, der mich unilateral als einen Freund bezeichnete, was das Konzept der Freundschaft ad absurdum führte bis verhöhnte. Jemand, der die dummdreiste Vorstellung kultivierte, nach der Schule würde man ins ›wahre Leben‹ ziehen, während die meisten doch tatsächlich bloß in Ehe, Fabrik oder Büro umgezogen waren.
Ein Klassen- oder Jahrgangstreffen war eine Veranstaltung, bei der sich die Banalität des Bösen unbarmherzig offenbarte. Menschen kamen zusammen, die sich seit ihrer gemeinsamen Internierung in einer Lehranstalt nicht mehr gesehen, geschweige denn miteinander gesprochen hatten. Mit einigen war man befreundet geblieben, als man den Schulabschluss endlich in der Tasche gehabt hatte, doch beim Großteil schätzte man sich froh, ihn endlich los zu sein. Das Jubiläumstreffen nun war ein erzwungener Prozess, der dazu führte, diese natürlich gewachsene Distanz mit einer synthetischen Nähe zu überwinden, um eine Grundstimmung des gegenseitigen Wettbewerbs zu provozieren. Der Ablauf eines solchen Zusammentreffens war sozial streng geregelt und ähnelte jenem Kartenspiel, bei dem die Spieler beispielsweise Hubraum, Höchstgeschwindigkeit, Beschleunigung oder Zylinderzahl der Fahrzeuge auf ihren Spielkarten miteinander verglichen, wobei der beste Wert gewann. Gespielt wurde es bei einem Klassen- oder Jahrgangstreffen allerdings nicht mit technischen Daten, sondern mit persönlichem Erfolg, beruflicher Leistung, Schönheit des Ehepartners, Lage des Hauses, Preis des PKW, Zensuren der Kinder, Exklusivität des Urlaubsziels, Ausübung von Macht und anderen erbärmlichen Statussymbolen der jeweiligen Mitspieler. Ich war arbeitslos und unverheiratet, besaß weder Auto noch Eigenheim und war demzufolge alles, was man nicht sein wollte, wenn man zu einem Klassentreffen ging.
Trotz meiner Abneigung gegen dieses kleinkarierte Spiel und der offensichtlichen Zumutungen einer solchen Veranstaltung nahm ich mir vor, der Einladung zu folgen. Wie eine Art Kriegsberichterstatter wollte ich das entsetzliche Elend begutachten, allerdings mit der nicht zu unterschätzenden Differenz, dass ich im Gegensatz zum unbeteiligten Beobachter auch in Nahkämpfe verwickelt sein würde und aktiv ins Kampfgeschehen eingreifen müsste. Das jedoch war ich gewohnt.
Noch am Abend desselben Tages rief ich jene Freunde an, die ich von der Schulzeit ins ›wahre Leben‹ mitgenommen hatte. Ich erkundigte mich, ob sie die Einladung ebenfalls erhalten hatten und was sie von ihr hielten. Anschließend erzählte ich ihnen von meinem Vorhaben und fragte nach, ob sie die Absicht hätten, der Veranstaltung ihrerseits beizuwohnen. Sie lachten über diese Frage und wünschten mir Glück bei meiner Expedition. Deswegen waren sie meine Freunde.
Einige Wochen später war es so weit, an einem windigen Samstagabend. Die Veranstaltung fand in einer Villa nahe von Hamburg statt. Wir waren ein Abiturjahrgang, daher gehörte Distinktion anscheinend zwangsläufig dazu, die Sehnsucht nach standesgemäßer Inszenierung, diese Selbstverherrlichung als Elite. Als ich die Räumlichkeiten betrat, war das Geschehen schon in Gang. Zu meiner Erleichterung hatte man die Veranstaltung als eine Art offener Party konzipiert, ohne Sitzordnung und irgendwelche Ansprachen. Es gab ein Buffet mit Häppchen und Hauptspeisen sowie eine Bar mit einem leidlich motivierten Barkeeper, der unter anderem Sekt und schlechte Drinks servierte, sodass die Anwesenden sich in wechselnder Konstellation an Tischen niederlassen oder kollektiv herumstehen konnten, was sehr viel angenehmer war, als den gesamten Abend an einem großen Tisch gemeinsam eingepfercht zu sein.
Ein wenig verloren blickte ich mich um, bis ich Chris sah. Eigentlich hieß er Christian. Zu Schulzeiten war er ein Punk gewesen, ein Rebell und Nonkonformist, der sich Autoritäten und Hierarchien nicht hatte beugen wollen und in der Schule, die sich ihren Häftlingen als Disziplinierung par excellence aufdrängte, folglich so seine Probleme gehabt hatte. Er war mir immer sympathisch gewesen, genau aus diesem Grund. Heute trug er einen verdammt gut sitzenden Anzug und etwas, das er früher als Spießerfrisur bezeichnet hätte. Innerlich musste ich lachen. Er ist eine Karikatur, dachte ich, er kommt hierher und hält allen den Spiegel vor, macht sich lustig über sie, betreibt Subversion. Das verdiente Respekt, daher ging ich zu ihm ans Buffet, wo er gerade das Angebot begutachtete.
»Mensch, Chris! Schickes Outfit«, grinste ich und nahm mir einen Teller.
»Danke«, erwiderte er mit einem Hauch von Überraschung.
»Nur für den Scheiß hier hast du dir so’n Ding besorgt?«
»Was? Wer bist du eigentlich?«
Zuerst lachte ich, doch dann wurde mir klar, dass er mich wirklich nicht erkannt hatte. Ich stellte mich ihm vor und wir plauderten eine Weile über die Schulzeit, die frühere Lehrer, unser Leben nach dem Abschluss und schließlich die berufliche Karriere. Ein Wort, für das er früher nur Verachtung übrig gehabt hatte. Nun war er derjenige, der es aussprach. Nach dem Abitur hatte er herumgelungert, ständig gekifft, viel gesoffen, was man halt so machte, wenn man alles andere zum Kotzen fand, was den Alkohol bisweilen einschloss. Doch irgendwann sei ihm die Erleuchtung gekommen, sagte er. Man dürfe ein Leben nicht so verschwenden, man müsse etwas aufbauen, etwas leisten. Ein Sozialarbeiter habe ihm geholfen, sich aus seiner Clique zu befreien, wie er es ausdrückte. Er hatte einen Job bekommen, wenig später auch eine eigene Wohnung. Von da an sei es nur noch aufwärts gegangen, er habe unglaublich hart gearbeitet, gespart, angelegt und investiert.
»Heute fehlt es mir an nichts«, schwärmte er mit hörbarem Stolz. »Ich krieg die Krise, wenn ich einen jammern höre, er findet keinen Job. Wer nicht faul ist, der findet auch was. Man muss sich halt zusammenreißen. Sieh mich an. Stattdessen wird jeder bestraft, der erfolgreich ist. Steuern hoch, Steuern hoch, das ist alles, was ich höre. Mit meinem Geld werden solche Faulpelze finanziert.«
»Sag mal, muss das nicht anstrengend sein?« hakte ich mit total beeindrucktem Gesichtsausdruck nach.
»Die Arbeit? Ja, schon, aber nur durch Leistung kommt man nach oben…«
»Neee, nicht die Arbeit. Jeden Tag die Ideale, die du mal hattest, kräftig in den Arsch zu ficken, nur für ein paar Scheinchen.«
Ich drehte mich um und führte einen inneren Kampf zugunsten der äußeren Contenance. Am liebsten hätte ich ihn ausgelacht, wäre das nicht der sichere Ruin für meinen Abgang gewesen.
Das sind die Schlimmsten, dachte ich und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach einem neuen Gesprächspartner. Diese Schlimmsten, das waren für mich soziale Aufsteiger, die von ihren Wurzeln nichts mehr wissen wollten. Weil sie selbst es ›geschafft‹ hatten, weil sie von der Frucht der Macht gekostet hatten, verteufelten sie alle, die es nicht taten. Ganz arme Würstchen waren das. Mit kleinen Würstchen vermutlich, weil solche Typen immer kleine Würstchen hatten und diesen Zustand irgendwie zu kompensieren trachteten, doch so genau wollte ich es nicht in Erfahrung bringen. Das Jahrgangstreffen fing an, mir Spaß zu machen. Ich kam in Fahrt, und das war gerade erst der Anfang.
Plötzlich wurde ich von der Seite angesprochen. Es war Torsten, der seinen Teller so berstend mit Speisen beladen hatte, wie man es sonst nur von deutschen Touristen aus dem Urlaub kannte, die die Angst umtrieb, bei einem zweiten Gang zum Buffet von der Zombieapokalypse heimgesucht zu werden, weshalb sie auf ihren Tellern gewagte Türme konstruierten, die allen Regeln der Statik zu widersprechen schienen. Im Gegensatz zu Chris hatte er mich umgehend erkannt und wir kamen ins Gespräch. Torsten war jemand, mit dem ich mich in der Schule gut verstanden hatte, obwohl ich ihn niemals als einen Freund betrachtet hätte. Er war das, was man klassisch einen Schulkameraden nannte. Nachdem wir die Eingangsfloskeln hinter uns gebracht hatten, erzählte er mir von seinem Job bei einer großen internationalen Werbeagentur.
»Das geile an dem Job ist, so viele unterschiedliche Kunden zu haben. Man hat ständig eine neue Herausforderung, dauernd eine komplett neue Arbeit mit komplett neuen Ideen. Ich kann mich kreativ ganz ausleben und verdiene dabei auch noch ordentlich.«
»Hm«, gab ich den nachdenklich Interessierten. »Was für Kunden hast du da so? Gibt’s da auch welche, bei denen du sagst: Das mach ich nicht, die mag ich nicht?«
»Klar gibt’s die! Ich arbeite nicht für Rüstungskonzerne, da hab ich ganz deutlich eine Linie gezogen.« Mit dem Finger zog er ganz deutlich eine Linie in die Luft. »Man will ja auch noch mit gutem Gewissen einschlafen können.«
Rüstungskonzerne taten mir Leid. Kein einziger Werber dieser Welt wollte freiwillig für sie arbeiten. Alle sagten sie: Nein, das kann ich ethisch nicht verantworten. Das musste der erste Satz gewesen sein, den sie auf der Werbekasperschule gelernt hatten und seitdem wie ein Mantra vor sich herbeteten. Zum Glück besaßen Rüstungskonzerne in der Regel Tochtergesellschaften oder eigenständige Divisionen, die sich mit ziviler Resteverwertung der militärischen Forschung beschäftigten und beispielsweise LKW statt Panzern herstellten, sodass man sich als Werber oder überhaupt als Angestellter gut damit herausreden konnte, mit der Produktion von dedizierten Tötungsinstrumenten nichts am Hut zu haben. Das war formal zwar zweifellos korrekt, aber spitzfindig, doch wenn es dem Selbstbetrug dienlich sein konnte, war freilich jedes Mittel erlaubt.
»Wow!« bewunderte ich seine ethische Standfestigkeit und erinnerte mich an die Arbeiten seiner Lügenbude. »Ich stelle mir das gerade vor. Da kommt so ein schmieriger Rüstungskonzern zu dir und sagt: Bitte erstellen Sie mir eine tolle Werbekampagne – und du, du sagst ganz konsequent: Nein! Am nächsten Tag stellt sich dann ein Energiekonzern bei dir vor, der zu den größten Umweltsündern des Landes gehört, und du verpasst ihm ein grünes Image. Das ist ethisch echt gleich viel besser.«
»Über diese Kampagne gab es intern eine rege Diskussion, auch ethisch. Wir haben uns dann am Ende für den Auftrag entschieden, weil der Konzern auch viel in grüne Energie investiert und…«
»Und weil das Geld so zahlreich floss, du schleimige Werbehure!« unterbrach ich ihn frech und nutzte seine sichtliche Überforderung, um noch ein wenig nachzulegen: »Einige Wochen später kriechst du einer Firma zu Kreuz, die ihre Mitarbeiter wie den letzten Dreck behandelt. Deine schöne Agentur aber kümmert sich darum, sie als sozial gerechtes Wohltätigkeitsparadies darzustellen. Ich meine, hey, du bist so konsequent mit deinen moralischen Grundsätzen, das ist echt beeindruckend! Mann, ich bin so froh, dass du nachts gut schlafen kannst, weil du nichts für Rüstungskonzerne machst.«
Da stand er und schaute wie ein Hund beim Kacken, der sich keiner Schuld bewusst war. Wenn es einen irdischen Zugang zur Hölle gab, dann lag er unterhalb dieses Gebäudes und hatte sich erst kürzlich aufgetan, um die hier anwesenden Geschöpfe auszuspeien. Er würde sie hoffentlich auch wieder zurücknehmen.
Gab es denn keine vernünftigen Menschen in diesem Haus? Zwei kleine Gruppen standen herum und waren untereinander jeweils in Diskussionen vertieft, soweit ich das beurteilen konnte. Ich überlegte, ob ich mich zu einem der beiden Grüppchen dazugesellen und mitdiskutieren sollte, war aber an der Umsetzung dieser Vorstellung nicht ernsthaft interessiert, weil ich seit jeher das Gespräch unter vier Augen bevorzugte. Dann sah ich Pia. Sie saß alleine an einem Tisch, vor sich ein Glas Sekt, an dem sie hin und wieder nippte. In der Schule war sie so etwas wie eine graue Maus und eher am unteren Ende der ausreichenden Notenskala beheimatet gewesen, was ich nicht tragisch fand, ihre Eltern damals allerdings umso mehr. Nun jedoch trug sie zwei ansehnliche Bildungsabschlüsse vor sich her, die sie für jede Beschäftigung qualifizierten. Außerdem hatte sie zu viel Make-up aufgetragen, doch war dies ein Phänomen, das ich an vielen Frauen beobachten konnte, die allem Anschein nach verinnerlicht hatten, was man ihnen fortwährend weismachen wollte. Jede beliebige Kosmetikwerbung suggerierte, Frauen seien von Natur aus hässliche Kreaturen, nicht im Ansatz begehrenswert, wenn sie sich nicht hinter Masken verbergen würden, an denen andere kräftig verdienten. Lieber trugen sie zu viel auf als gar nichts, aus Angst vor ihrem eigenen Gesicht. Einmal war ich verliebt an meine damalige Freundin herangetreten mit den Worten: ›Du bist am schönsten, wenn du ungeschminkt bist‹. Da hatte sie gelacht und mir kein Wort geglaubt.
Pia sah nicht so aus, als wäre ihr zum Lachen zumute. Nervös durchstreifte sie mit ihren Blicken den Raum und schien nach jemandem zu suchen. Sie war zu Schulzeiten immer sehr nett zu mir gewesen, vielleicht auch ein bisschen verknallt, darum ließ ich mich an ihrem Tisch nieder und begrüßte sie mit einigen freundlichen Worten. Wir kamen ins Gespräch. Eigentlich, so erzählte sie mir, war sie mit einer Freundin hergekommen, mit Kathrin, die sich jedoch auf der Suche nach einer Toilette im Obergeschoss verdrückt hatte, in verdächtiger zeitlicher Nähe zu Sebastian, was deren beider Abwesenheit durchaus erklärte. Sebastian war verheiratet, hatte diesen unglücklichen Umstand, wie es schien, gleichwohl temporär verdrängt, so wie man traumatischen Erlebnissen eben häufig den Zugang zum Bewusstsein verwehrte. Das war wissenschaftlich erwiesen, daher sollte niemand den Zeigefinger erheben und behaupten, der Betrug an seiner Frau sei Sebastians eigene Entscheidung, geschweige denn dessen Schuld gewesen.
Pia und ich jedenfalls machten uns darüber lustig wie gute Lästerschwestern. Nach einer Weile versuchte ich, das Gespräch in spannendere Gewässer zu navigieren, weil harmlose Lästereien zwar recht auflockernde Gesprächsinhalte darstellten, mich das gesamte Konzept des Lästerns aber doch sehr an Gartenzwerge und Blockwartmentalität erinnerte. Ein Themenkomplex, mit dem man jederzeit Freunde gewinnen konnte, ob nun im Supermarkt an der Kasse, in der Sauna oder auf dem Zahnarztstuhl, war das gern konferierte Feld der Politik. Ich sprach die um sich greifende Finanzkrise an, die bereits jetzt das Leben von Millionen Menschen zerstört hatte, obwohl sie gerade erst am Anfang stand. Ich belächelte die anhaltend herbeifantasierte Mär vom Aufschwung, der komischerweise bei niemandem so recht ankam. Ich erwähnte den Jubel um sinkende Arbeitslosenzahlen, die keiner, der noch ganz bei Trost war, für etwas anderes als Propaganda halten konnte. Die ganzen ekelhaften Nachrichten eben, während Pia bei allem still nickte.
»Mich kotzt das echt an, so verarscht zu werden«, rumorte es aus mir heraus. »Vergleich das mal mit dem Arabischen Frühling. Da gehen Menschen auf die Straße, weil sie demokratische Mitbestimmung fordern. Hierzulande schimpft man über die Schwerfälligkeit demokratischer Entscheidungsfindung und verteidigt allen Ernstes eingeschränkte Mitbestimmungsrechte, wo immer sie auftreten, weil Beschlüsse ja so viel effizienter gefällt werden könnten, wenn weniger Menschen daran beteiligt wären. Marktgerechte Demokratie nennen sie das und schielen mit einem Auge auf China. Da weiß man doch, was man von so einer Demokratie zu halten hat, oder?«
»Ach, weißt du, das interessiert mich alles nicht so recht. Man darf im Leben nur das Positive sehen, und das tue ich. Ich schaue keine Nachrichten mehr, weil mich das unglücklich macht.«
So also sahen Menschen aus, die Lebensratgeber lasen wie: ›Mit Yoga zum Glück‹, ›Lachen für ein gutes Leben‹, ›Dank Positivem Denken aus der Arbeitslosigkeit‹, ›Grinsen gegen Krebs‹. Oder schlimmer noch: die solchen Schund schrieben, um andere auszunehmen, die den Mist glaubten. Diese Menschen hatten keinen anderen Lebensinhalt vorzuweisen als alles wahnsinnig schön zu finden. Wenn es eines gab, das mich stärker ankotzte als verarscht zu werden, dann war es die Kraft der positiven Wahrnehmung, die Ignoranz auf Speed, die alle Probleme der Menschheit leichtfüßig lösen sollte. Hunger in der Dritten Welt? Man schlürfte Prosecco. Mord im Namen der Freiheit? Man sah sich einen lustigen Film an. Ölplattform geplatzt? Man gönnte sich mal was. Optimismus statt Vernunft, Apathie statt Zorn. Die Hölle, das war sie. Wer vorübergehend doch einmal aus dem Glückseligkeitsfaschismus purzelte, der schlug rasch in der Ratgeberliteratur nach, wie man angepasst zu leben hatte, anstatt einfach mal in sich hineinzuhorchen und auf den Tisch zu hauen.
»Würdest du das auch kleinen Kindern ins Gesicht sagen, die vor Hunger verrecken? ›Seht das Positive: Ihr müsst zum Abnehmen nicht joggen gehen‹? Oder zu Zwangsarbeitern im KZ? ›Seht das Positive: Jeder hier hat einen Arbeitsplatz‹? Menschen wie du kotzen mich an, weil sie mit ihrer optimistischen Ignoranz die ganze Scheiße auf der Welt erst ermöglichen.«
Mit ihrem am Boden hängenden Unterkiefer ließ ich sie zurück, bevor sie die Chance hatte, mir den Sekt ins Gesicht zu schütten. Ich kam mir vor wie eine Mutter, die ihrem Balg irgendwas verbieten oder es zum Aufessen bewegen wollte und zu diesem Zweck ganz schamlos die afrikanische Bevölkerung ins Spiel brachte, als hätte die es nicht schon schwer genug gehabt, selbst ohne europäische Scheißmütter. Glücklicherweise hatte ich mit meinem Nazivergleich noch auf die seriöse rhetorische Ebene zurückgefunden. Einerseits tat Pia mir leid, weil sie mir vormals wirklich sympathisch gewesen war; andererseits diente sie ja wirklich als Steigbügelhalter für das Böse auf diesem Planeten, zwar nicht sie allein, aber ihre Denkweise. Das sollte man Menschen auch klipp und klar mitteilen.
Von einer der herumstehenden Gruppen spaltete sich jemand ab und kam geradewegs auf mich zu. Es war Maike. Sie musste meine Unterhaltung mit Pia gesehen haben, die zugegebenermaßen etwas aus dem Ruder gelaufen war. Vorsorglich bereitete ich mich auf das Schlimmste vor. Maike aber kam zu mir herüber, legte einen Arm um meine Schulter und fing an, sich über Pia lustig zu machen.
»Ihr zwei habt euch ganz schön in die Haare gekriegt. Was war da los? Haben dir ihre neuen Titten nicht gefallen? Ganz schön billig so was. Was für ein Flittchen!«
Maike trug Schuhe mit Keilabsätzen, die bei jungen Frauen und solchen, die sich dafür hielten, schwer angesagt waren. Wenn ich ein solches Ungetüm an einem Frauenfuß entdeckte, war mein erster Eindruck jedes Mal, die arme Frau sei behindert und dass es sich um eine orthopädische Maßnahme handeln musste, die die Länge ihrer Beine künstlich ausgleichen sollte. Da der andere Fuß jedoch in der Regel mit einem entsprechenden Gegenstück ausgestattet war, präzisierte ich meine Diagnose gewöhnlich auf eine geistige Behinderung, die sich als so genanntes Modebewusstsein ausgab. Viele Frauen und Männer fielen ihr tagtäglich zum Opfer. Aus dieser Position heraus über die Ästhetik aufgepumpter Brüste zu urteilen, erschien mir gewagt.
»Ihre Brüste sind ihr kleinstes Problem«, sagte ich, was sehr viel lustiger gewesen wäre, hätte sie kleine Brüste gehabt. Der Alkohol in Maikes Blutbahn befand es trotzdem des Kicherns würdig. »Du wirst es nicht glauben, aber wir sind über Politik ins Streiten geraten.«
»Ha! Genau mein Metier. Kein Wunder, dass du da verzweifelt bist. Mit der kann man sich über so was nicht unterhalten. Die ist dafür halt zu dumm.«
Voller Stolz erklärte sie mir wortreich, für ein Nachrichtenmagazin bei einem großen Privatsender zu arbeiten und sich in dieser Funktion natürlich viel mit Politik zu beschäftigen, zumindest unter anderem. Das war der Knackpunkt: Unter anderem. Ihr Arbeitsplatz befand sich in der Redaktion eines dieser Lifestyle-Magazine, die am frühen Abend auf allen Privatsendern ausgestrahlt wurden und das Projekt der Aufklärung mit negativem Vorzeichen fortführten. Zu sehen gab es dort großartige Einspieler über stolpernde Politiker, was Maikes Interesse an politischen Prozessen erklärt und auch erschöpft haben dürfte, investigative Reportagen über neueste Modetrends aus Hollywood und wissenschaftliche Beiträge über wasserfestes Make-up, in denen willige Feuerwehrmänner geschminkten Frauen ins Gesicht spritzten, was in den Hirnen der Redaktionschefs für riesige Ständer und pubertäres Gekicher gesorgt haben dürfte. Dennoch gab es Frauen, die sich dazu erniedrigen ließen, so eine Sendung zu moderieren oder an deren Produktion willfährig teilzunehmen, worauf sie am Ende auch noch stolz waren. Die Emanzipation drehte sich im Grab herum, wenn sie solche Sendungen empfing, obwohl Gleichberechtigung ja auch bedeutete, genauso scheiße wie manch Mann sein zu dürfen.
»Wow!« sprach ich, worauf Maike mich eitel anlächelte. »Du arbeitest also für einen Verein, der sich tagelang mit den Höschen von Lady Gaga beschäftigen kann, aber für das Weltgeschehen keine Sendeminuten übrig hat; der Menschen unaufhörlich Luxusgüter präsentiert und sie wie Esel mit goldener Möhre vorm Maul zum ewigen Weiterackern motiviert; der sich über Randgruppen lustig macht, damit sich noch der letzte Idiot vor dem Fernseher so richtig gut fühlen kann?«
Zum Abschluss unserer Show stellte ich ihr die Eine-Million-Euro-Frage: »Wie kann man denn so weit sinken?«
Sie stieß ein empörtes ›Pöh!‹ aus, drehte sich um und zischte mit erhobenem Näschen davon. Einige Augenblicke später gesellte sie sich zu Torsten an einen Tisch. Sie tuschelten miteinander, als sie zu mir herübersahen. Ich hob mein Glas, zwinkerte ihnen fröhlich zu und stattete mein Gesicht mit einem wohlwollenden Lächeln aus, das sie verwirrte. Beide gaben vor, mich nicht gesehen zu haben, wandten mir ihre Rücken zu, schüttelten die Köpfe. Langsam wurde es heiß.
Von so viel Ekel erschüttert, suchte ich körperliche Erleichterung. Im gesamten Erdgeschoss konnte ich nur ein einziges Badezimmer entdecken, was ich für eine Villa dann doch recht schäbig fand. Noch schäbiger aber war, dass es von jemandem benutzt wurde. Vor der geschlossenen Tür stand Michael, der offensichtlich auch auf Einlass in das Heiligtum wartete. Seinen Kopf schmückte eine Gelfrisur, die irgendwie mit einer grau gerahmten Klugscheißerbrille eine Symbiose eingegangen war. Klugscheißerbrillen unterschieden sich von regulären Brillen dadurch, dass dem Träger in erster Linie nicht die funktionale Leistung am Herzen lag, also mit seinen Glubschern etwas von der Welt wahrnehmen zu können, sondern die Fremdwahrnehmung als gebildeter Bürger, als Mensch mit Durchblick, nicht physisch, sondern intellektuell. Dieser wiederum unterschied sich deutlich vom hippen Mitläufer, der eine Brille aus rein ästhetischen Gründen trug, bevorzugt im so genannten Vintage-Look, und diesen Schwachsinn auch noch mitgemacht hätte, wenn es angesagt gewesen wäre, Hörgeräte oder Krücken zu tragen.
Den gebührenden Respekt wahrend, der mit der Benutzung öffentlicher Bedürfnisanstalten allgemein einherging, stand ich untätig herum und begutachtete schweigend das aufregende Muster der Raufasertapete. Michael kannte keinen Respekt. Er sprach mich an. Nach kurzem Weißt-du-noch- und Na-wie-geht’s-Geplänkel fing auch er an, letztere Frage mit langen Ausschweifungen über seine berufliche Tätigkeit zu beantworten. Warum bloß redeten so viele Menschen von ihrer Arbeit, von ihrem Studium, von ihrem Fitnessclub oder ihrem liebsten Fußballverein, wenn man sie fragte, wie es ihnen geht. Hatten sie kein eigenes Leben jenseits der Fremdbestimmung?
Michael jedenfalls erzählte mir, schon seit längerer Zeit für eine sehr bekannte Musikzeitschrift zu arbeiten, für den unglaublich kreativ benannten ›Lautsprecher‹.
»Die Atmosphäre in der Redaktion ist einfach toll«, himmelte er mir ungefragt vor. »Alle sind total jung, total locker. Jeder hat ganz viel Freiheit. Das ist für mich echt ein Traumjob. Die ganze Zeit darf ich Musik hören, darüber schreiben, sie bewerten, darf mich mit Künstlern treffen und Interviews führen, in die Szene eintauchen und neue Trends entdecken – oder welche setzen. Natürlich steckt da auch viel Arbeit drin, aber die ist es wert. Uns geht es einfach nur um gute Musik.«
Wer keinen Musikgeschmack aufweisen konnte, der las Musikzeitschriften, die ihren Lesern die lästige Aufgabe eigener Meinungsbildung gegen ein Entgelt bereitwillig abnahmen. Ähnliche Publikationen gab es für Literatur, Mode, Lyrik, Filme, Katzenbilder, Scheißhaufen und so ziemlich alles, was Menschen sonst noch hervorbrachten. Sie standen in bester Tradition jenes Menschentypus, der sich von Gott oder anderen Wahnvorstellungen dazu berufen fühlte, kulturelle Ausdrucksformen zu bewerten und dabei vorwiegend ›man‹ statt ›ich‹ zu gebrauchen, wie etwa: ›das hört man nicht‹, ›das liest man nicht‹, ›das sagt man nicht‹, ›das trägt man nicht‹. Diese hoheitlichen Verdikte fanden ihre treuen Abnehmer unter jenen, die sich durch Anschluss an bestehende Trends und Moden Individualität zu geben versuchten. Das Resultat war eine Armee von seelenlosen Zombies, die sich bei jedem Lied, bei jedem Film, bei jedem Kleidungsstück und jedem Buch erst einmal angestrengt den Kopf darüber zerbrachen, ob sie es denn überhaupt gut finden dürfen, und zur Klärung dieser Frage ihre heiligen Schriften konsultierten.
»Du sagst also anderen, was gute Musik ist und was nicht? Woher willst du das denn wissen? Bist du die Talentpolizei? Die Geschmacksgestapo? Ist dir klar, dass es da draußen unglaublich viele Menschen gibt, die irgendwelche Bands schlecht finden, bloß weil du sie schlecht findest? Die deine Texte lesen und deren Inhalt dann als eigene Meinung ausgeben? Macht dich das geil? Raffst du nicht, wie spießig das ist?«
»Bist du…«, wollte ich weiter ausholen, als die Tür des Badezimmers abrupt geöffnet wurde. Heraus kam René, während sich Michael dankbar darin verdrückte. René musste so sehr auf die Beherrschung seines besten Stücks fixiert gewesen sein, dass er die Unterhaltung vor der Badezimmertür gar nicht mitbekommen hatte. Anders konnte ich mir nicht erklären, wieso er stehenblieb und mir beschwingt die Hand gab, die er hoffentlich gewaschen hatte. Wie ich bald darauf erfuhr, war er Bankangestellter und lebte mit seiner Frau und zwei Kindern in der Frankfurter Innenstadt. Stolz zeigte er mir Fotos der beiden Töchter, garniert mit epischen Geschichten von Helenes wundervoller Einschulung und den großartigen Noten der fünf Jahre älteren Marie-Sophie. Mein Eindruck war, ich hatte einen Menschen vor mir, der ein Leben am Limit führte, weil er ohne Kompromisse eine konsequent selbstbestimmte Linie fuhr und seine abgedrehten Lebensträume erfüllt hatte, also Führerschein, Abitur, dann Wirtschaftsstudium und Reihenhaushälfte. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit den Vorrat des familialen Erfolgs erschöpft hatte, den es zu erzählen lohnte, war es an mir, den eigenen Karrierepfad glamourös nachzuzeichnen.
»Und was machst du so? Ich hab gehört, bei dir lief es nicht so toll?«
»Ich bin arbeitslos«, erwiderte ich treuherzig.
»Oje. Ist das nicht schrecklich?«
Ich fand, das war eigentlich eine sehr gute Frage, wenn er sie nur nicht unbedingt mir gestellt hätte.
»Ich finde, das ist eigentlich eine sehr gute Frage«, antwortete ich der Wahrheit zuliebe. »Mal sehen. Du stehst jeden Morgen auf, damit du etliche Stunden hinter Panzerglas verbringen kannst, wo du den Gewinn deiner scheiß Bank vermehrst, von dem du aber nie etwas zu Gesicht bekommen wirst. Wenn du Glück hast, kannst du zwei Mal im Jahr in irgendeinen tollen Pauschalurlaub fahren oder Skilaufen gehen, aber sonst ist jeder Tag so langweilig wie der letzte. Ständig machst du dir die Hosen voll vor Angst, irgendwann mal deinen Job zu verlieren oder bei einem Überfall erschossen zu werden – was auch sein Gutes hätte, weil deiner Familie dann immerhin noch die Lebensversicherung zukommen würde. Ist das nicht schrecklich?«
Er ließ mich eiskalt stehen. Wenig später kam Michael aus dem Badezimmer und ging wortlos an mir vorbei. Ich fragte mich, ob er René und mich belauscht hatte. Was sonst konnte ihn so lange dort drin beschäftigt haben?
Beim Wasserlassen malte ich mir aus, dass draußen Möbel vor die Tür geschoben wurden, um die Party endlich von einem störenden Element zu befreien, das zufällig meinen Namen trug. Als ich schließlich die Tür öffnete, standen jedoch keine Möbel davor, sondern Hanna. Hanna arbeitete mittlerweile als Pflegerin in einer Psychiatrie, wie ich von Pia erfahren hatte. Sie war Betreuerin, Therapeutin, Psychologin, Psychotherapeutin, Psychopsychologin, Psychoanalytikerin, psychopathische Therapeutin oder was weiß ich, welcher Begriff gerade für Mechaniker des Innenlebens en vogue war, die sich in solchen Anstalten der emotionslosen Behandlung emotionaler Themen verschrieben hatten, der Behebung menschlicher Defekte, notfalls mithilfe der Chemie, damit der Motor weiterhin brummte. Um allen Klischees gerecht zu werden, trug sie eine rote Brille. Vielleicht ist sie beauftragt worden, mich nach den bisherigen Zusammenstößen mit dem Jahrgang in ihre Arbeitsstätte einzuweisen, mutmaßte ich.
Nichts dergleichen geschah. Sie nickte mir zu und sagte Hallo. Den bisherigen Verlauf des Abends noch einmal Revue passieren lassend, beschloss ich, das üblicherweise von meinen Gesprächspartnern bevorzugte Thema diesmal einfach vorwegzunehmen.
»Du bist jetzt in einer Psychiatrie, hab ich gehört.«
»Ja, schon.« Hanna lachte. »Aber als Ärztin, nicht als Patientin.«
Das war den Wachmannschaften solcher Einrichtungen wichtig. Klare Rollengrenzen mussten gezogen, eindeutige Hierarchien und eine unverrückbare Normalität als Bezugsrahmen konstruiert werden. Widersprach der Patient, war er verrückt. Gehorchte er, gestand er seine Verrücktheit. Hinein kamen Menschen mit einem Knacks, heraus kamen sie mit schweren Schäden. Wer dort arbeitete, war der eigentliche Irre, wurde aber nicht so genannt, denn er war es auf eine mit dem als ›normal‹ verkannten Wahnsinn sehr konform gehende Art und Weise.
»Ach, das ist ja verrückt«, kalauerte ich und luchste ihr ein Schmunzeln ab. »Was machst du da so?«
»Viel Verrücktes!« Zwei gleiche Wortwitze waren einer zu viel. »Aber im Ernst: Das ist echt super wichtige Arbeit. Mit was für Menschen man da zu tun hat, das ist der Wahnsinn.«
Sie hatte ihre Ausfahrt von der Wortspielautobahn verpasst. Gequält verrenkte ich meine Mundwinkel, um möglichst lebensnah ein Lächeln zu simulieren.
»Letzten Monat«, erzählte sie mir, »kam ein Mädchen zu uns, das wir vor dem Suizid gerettet haben. Die wollte sich umbringen, weil sie in der Schule nicht mehr mitkam. Ihre Versetzung war gefährdet, dann hätte sie ein Jahr wiederholen müssen. Die ganzen Freunde in der Klasse hätte sie natürlich auch verloren und gegenüber ihren Eltern schämte sie sich. Ihr war das alles zu viel. Ihre Eltern fanden sie in ihrem Zimmer. Tabletten.«
»Krass!« flüsterte ich nur.
»Das kannst du laut sagen. Na ja, aber die Hilfe kam ja noch rechtzeitig. Wir haben ihr dann geholfen, da durchzukommen. Sie hatte sich überfordert, wollte sich nicht eingestehen, dass sie die Stufe nicht schaffen würde, also konnte sie nur weitermachen, bis alles an die Wand fuhr. Ich hab dann mit ihr gesprochen, hab ihr klargemacht, dass es besser für sie ist, auf eine leichtere Schule zu wechseln, um den Druck ein wenig zu reduzieren. Da würde sie zwar auch ihre Freunde verlieren, aber eben nicht die Lust am Leben. Gott sei Dank hat sie das eingesehen. Am Ende war sie richtig glücklich, dass alles noch mal gut ausgegangen ist. Das sind so Momente, in denen ich weiß, das Richtige zu tun. Menschen zu helfen.«
Die Unterhaltung mit René schwirrte mir noch im Hinterkopf herum und so rief sie mir ins Bewusstsein, was ich Wichtiges von ihm gelernt hatte.
»Findest du das nicht schrecklich?« fragte ich sie mit treudoofem Blick.
»Natürlich ist das schrecklich!« antwortete sie mit dem gehobenen Selbstbewusstsein derjenigen, die sich auf der guten Seite wähnten. »Aber zum Glück ging es gut aus. Wir haben ja noch mal die Kurve gekriegt.«
»Neeee. Ich meinte, ob du nicht schrecklich findest, was du da machst.«
Sie stutzte.
»Da kommt ein Mädchen zu dir, das sich umbringen möchte, weil seine Schule ihm den Eindruck vermittelt, doof und unfähig zu sein, und anstelle daraus den einzigen empathischen Schluss zu ziehen, dass das ein verdammt beschissenes System sein muss, wenn es Kindern eine solche Erniedrigung zumutet, überzeugst du das arme Mädchen davon, auf eine leichtere Schule zu wechseln. Damit sagst du ihm doch ins Gesicht, dass es wirklich doof und unfähig ist! Du machst dich zum Handlanger von Strukturen, wegen der sie sich hat umbringen wollen – und du fühlst dich auch noch gut dabei! Findest du das nicht menschenverachtend? Was zum Teufel machst du an anderen Tagen? Vergewaltigungsopfern erklären, sie wären doch selbst schuld, wenn sie sich wie Schlampen anziehen?«
Sicherlich kannte Hanna unzählige Begriffe, die sie mir gerne um die Ohren gehauen hätte. ›Antisoziale Persönlichkeitsstörung‹ beispielsweise, weil ich es wagte, ihre pathologische Normalität in Frage zu stellen. Schule schwänzen galt ebenfalls als antisoziales Verhalten. Wenn aber einer begriff, so wie Chris das früher getan hatte, dass Schule und Gefängnis zahlreiche Parallelen aufwiesen und es nicht ums Lernen, sondern um die Einteilung in Hierarchiestufen ging, um Unterordnung und die Anpassung an ein bürgerliches Leben mit Ausbildung, Arbeit und Rente, dass daher nie das Wohl der Kinder im Vordergrund stand, sondern die ökonomische Verwertbarkeit menschlicher Ressourcen, dann war es in meinen Augen sehr gesund, sowohl geistig wie auch sozial, sich dieser Scheiße zu widersetzen, weil diese Strukturen das eigentliche Antisoziale darstellten. Leider hatte ich das erst am Ende meiner Schulzeit geschnallt.
Anstatt mit Fachterminologie um sich zu schmeißen, verpasste Hanna mir eine Ohrfeige und knallte ihr Sektglas auf den Boden, bevor sie in ihren Stiletto-Stiefeln davonklackerte. Von hinten gefiel sie mir.
Ich brauche schleunigst einen Drink, dachte ich, nachdem sie außer Hörweite gestöckelt war. Unschuld vortäuschend schlurfte ich zur Bar, an der sich bereits Andreas häuslich eingerichtet hatte.
»Was für ein langweiliger Haufen.« Er prostete mir zu. »Ich find’s toll, dass du hier ein wenig Stimmung reinbringst.«
»Einer muss es ja tun.«
Früher war Andreas ein typisches Kellerkind gewesen, Leistungskurse Mathe und Informatik, mit dem selbst noch auf dieser Party keiner so richtig zu tun haben wollte. Da er den ersten vernünftigen Satz des Abends von sich gegeben hatte, hielt ich ihn umgehend für einen netten Menschen. Vorurteile waren dazu da, sie zu überwinden. Wir tauschten unsere Eindrücke über die anwesende Langweilertruppe aus, deren Dünkelhaftigkeit und ihre Statussymbole. Mit spürbarem Ekel trug ich meinen vorläufigen Expeditionsbericht vor; legte Andreas die strikte Lebensplanung dar, die jeder der Mustermenschen hier offenbart hatte, mit dem ich ins Gespräch gekommen war. Andreas hatte dafür bloß einen einzigen Satz übrig: ›Je planmäßiger das eigene Leben funktioniert, desto weniger ist es ein eigenes Leben‹.
Mir fiel Diogenes ein, dieser griechische Philosoph, der angeblich in einer Tonne gehaust haben soll. Andreas verkörperte die modernisierte Version dieser Geschichte und hatte die Tonne gegen seinen Keller ausgetauscht. Vielleicht wäre die Welt eine bessere gewesen, hätte sie auf ihre Kellerkinder gehört.
Eine angesehene Karriere war Andreas im Gegensatz zu den vielen Leistungsmonstern auf dieser Party nicht sonderlich wichtig. Tagsüber arbeitete er als Softwareentwickler für einen großen deutschen Versicherungskonzern, betrieb in seiner Freizeit aber eine gesellschafts- und kapitalismuskritische Website, wie er mir euphorisch mitteilte. Er fand das alles scheiße, wie es lief, die ganze Gesellschaftsordnung war ihm ein Dorn im Auge.
»Ständig wird man verarscht«, seufzte er und rannte offene Türen bei mir ein. »Seit zehn Jahren sind wir im Krieg, nur keiner spricht das Wort offen aus. Oder die Finanzkrise! Unsere lachhafte Elite spielt sich als großer Europa-Retter auf. Dabei ist es doch Deutschland gewesen, das durch Lohndumping zum ach so tollen Exportweltmeister geworden ist und dadurch die Schulden der anderen Länder überhaupt erst nach oben getrieben hat. Nun wundert man sich hier, dass man im Ausland nicht als Held gefeiert wird. Als ob dich auf der Straße einer zusammenschlägt, dein ganzes Erspartes von dir fordert, damit er dir den Rettungswagen ruft, und für diese Wohltat dann auch noch gelobt werden möchte.«
Andreas schüttelte den Kopf und leerte sein Bier.
»Man soll härter arbeiten, heißt es, länger, besser, billiger«, fuhr er fort. »Man soll wählen gehen, obwohl sich ja doch nichts ändert. Man soll mit weniger Lohn, mit weniger Rente, mit weniger Urlaub zufrieden sein. Die Löhne seien gestiegen, schreiben die Zeitungen, dabei sind sie während der letzten Jahre um einiges gesunken, wenn man mal nachrechnet. Man soll schuften bis zum Umfallen und sich ein Leben lang weiterbilden. Man soll die Fresse halten, weil man sonst entlassen oder niedergeknüppelt wird. Man soll schön danke sagen für jede Zumutung, die einem auferlegt wird. Und die Schafe glauben den ganzen Mist.«
»Weil man sowieso nichts ändern kann«, vervollständigte ich ironisch.
»Genau! Genau das sagen sie dann: Da kann man nichts tun. Das ist halt so. Das ist schon immer so gewesen. Das wird auch immer so sein.«
»Weil sie zu blöd sind, Marktgesetze von Naturgesetzen zu unterscheiden.«
»Eben. Und weil sie immer noch glauben, die Ordnung käme von Gott. Heute sagen viele vielleicht nicht mehr ›Gott‹ dazu, aber was sie glauben, läuft auf das gleiche hinaus: Das ist halt so. Wie kleine Kinder. Obwohl, stimmt gar nicht – kleine Kinder stellen wesentlich mehr kritische Fragen als die meisten Erwachsenen. Wenn man ehrlich ist, muss man doch zugeben, die Aufklärung hat versagt. ›Habe Mut, dich deines eigenen Geldbeutels zu bedienen‹, das ist alles, was davon übrig geblieben ist.«
Ich fühlte mich wie ein Schatzsucher. Unter all dem charakterlosen Geröll, das in Abendgarderobe durch die Räumlichkeiten kullerte, hatte ich einen Edelstein entdeckt.
»Heute Mittag hab ich einen Artikel über kambodschanische Arbeitsverhältnisse geschrieben. Unter der Woche lässt mir der Job leider kaum Zeit.«
»Warum Kambodscha?« Ich konnte dem Themensprung nicht folgen.
»Weil unsere tollen Klamottenläden dort so gerne produzieren lassen. Kaufst du da manchmal ein? Bei diesen Ketten? Solltest du nicht. Die Menschen in den Fabriken dort brechen scharenweise zusammen und bekommen nur einen Hungerlohn dafür. Wer sich beschwert, wird rausgeschmissen.«
Davon hatte ich gelesen.
»Und das ist noch harmlos im Vergleich zur Elektronikbranche«, setzte er nach. »Hast du das mitbekommen von den Werken in China? Wo sich zahlreiche Mitarbeiter aus Protest vom Dach gestürzt haben? Jetzt hat die Firma dort überall Fangnetze installiert, um solche aufsehenerregenden Selbstmordversuche zu unterbinden. Das sind doch Problemlösungsstrategien nach der Logik von Psychopathen! Nur weil hier jeder unbedingt ein Smartphone in der Hand halten möchte…« Er schlug mit der Hand auf den Tresen. »Wenn ich solche Zustände sehe, werd ich echt wütend!«
»Ich auch.« Wir schwiegen uns für einige Sekunden an. »Aber weißt du, was mich am wütendsten macht? Dass ich mit meiner Wut fast alleine bin. Bis vor einiger Zeit hat mich das echt oft an den Rand der Verzweiflung gebracht. Alle sagen sie zu mir: Reg dich nicht auf, so ist es halt.«
»Wie die Schafe.«
»Wie die Schafe«, pflichtete ich ihm bei.
»Mensch, das ist doch alles zum Kotzen«, fasste er das Weltgeschehen aussagekräftig zusammen.
Er hatte zwar Recht mit seinen Ausführungen und seine Ablehnung der Zustände war moralisch durchaus lobenswert, doch allein mit moralischer Entrüstung war kein Blumentopf zu gewinnen.
»Und dennoch machst du mit«, stellte ich beiläufig fest.
»Wieso?«
»Na, dein Job…«
»Na ja, was soll man tun. Man muss ja irgendwie.«
»Nein. Wenn man konsequent ist, muss man das nicht.«
»Du hast gut reden. Du bist ja arbeitslos.«
Eines musste man dieser Spießerbande lassen, der Informationsfluss funktionierte perfekt. Mein Stigma des arbeitslosen Untermenschentums hatte sich bereits herumgesprochen. Ich konnte das ›nur‹, das nicht gesagt wurde, förmlich sehen, als wäre es mit Leuchtbuchstaben in die Luft gesetzt.
»Ganz recht«, entgegnete ich, »und wenn du Eier in der Hose hättest, dann würdest du deinen beschissenen Job genauso an den Nagel hängen.«
Aus mir sprach Wut, zu einem Teil aber auch persönliche Enttäuschung, weil er hinter seiner Fassade genauso stromlinienförmig war wie alle anderen. Wäre er Diogenes gewesen, ich hätte mit aller Wucht gegen seine alberne Tonne getreten.
»Wenn du alles so scheiße findest, warum machst du dann noch mit? Wenn einer dich beim Pokern verarscht, dann schmeißt du doch die Karten hin und gehst, oder nicht? Stattdessen machst du einen auf kritisch und reflektiert, bist aber auch nur eines von diesen Schafen, das sich nach Strich und Faden verarschen lässt. Du bist der größte von allen Blendern hier. Du bist ein Feigling und ein Heuchler, weil Kritik ohne persönliche Konsequenz nichts anderes als Heuchelei ist.«
»Ach ja? Und du bist ein Arschloch«, konterte er und verließ kurzerhand die Party.
Nach diesem anregenden Dialog fand ich niemanden mehr, der mit mir reden wollte, was mich nicht besonders traurig stimmte, weil ich mich nun mit Leib und Seele dem Buffet widmen konnte. Totes Tier war ein angenehmerer Gesprächspartner, hatte es vor seinem Tod doch immerhin ein Rückgrat besessen, was man vom Rest der Anwesenden nur sehr eingeschränkt behaupten konnte.
Das war das beste Klassentreffen meines Lebens und vermutlich auch das letzte. Sie würden sich hüten, mich noch einmal einzuladen. Alleine dafür hatte es sich schon gelohnt.

Wieder fahre ich mit einem Zug. Schon als Kind ist es mir die liebste Art des Reisens gewesen. Das Zugfahren übt auf mich eine Form von Magie aus, es fasziniert mich, es fesselt mich, es liefert meiner Phantasie einen Nährboden, auf dem sie prächtig gedeihen kann. Jedes Mal, seit ich klein war, habe ich mich auf das Zugfahren gefreut, schon Wochen, ja Monate im Voraus, wenn ich zufällig die Reiseplanung meiner Eltern aufgeschnappt hatte oder sie mir lächelnd davon erzählten, weil sie wussten, wie sehr ich der Bahnfahrt entgegenfiebern würde. Als ich sieben war, fuhren wir nach Frankreich, und ich löcherte meine Eltern tagelang mit einer Landkarte, wo wir denn langfahren würden und ob es dort Bäume gäbe oder Berge oder Tunnel oder Wiesen. Ich habe nie einschlafen können, wenn ich erfuhr, ich würde am nächsten Tag in einem Zug sitzen, so aufgeregt war ich, so voller Vorfreude. Es war ein Abenteuer, etwas Besonderes, etwas, wovon ich noch wochenlang schwärmen konnte.
Vielleicht war es albern, vielleicht auch bloß kindliche Faszination, aber ich habe mir bis heute ein wenig davon bewahrt. Ich war nie jemand, der in der Bahn die Zeitung liest oder sich ein Buch zur Hand nimmt. Dafür ist mir das Zugfahren schon immer viel zu aufregend gewesen. Ich interessierte mich nicht einmal besonders für die Mitmenschen um mich herum, die ihren Beschäftigungen nachgingen, im Gang standen, miteinander redeten oder versuchten zu schlafen. Stattdessen rannte ich vor meinen Eltern in den Wagen, suchte uns Plätze und setzte mich ans Fenster, nie irgendwo anders hin außer ans Fenster. Dann schaute ich hinaus. Die ganze Fahrt über saß ich da, jedes einzelne Mal, und blickte zufrieden durch das Glas auf die vorbeiziehende Welt, oder ich streckte, als ich schon etwas größer war, hin und wieder den Kopf durch das geöffnete Fenster, weil ich es genoss, den Fahrtwind auf der Haut zu spüren, dieses unmittelbare Gefühl der eigenen Fortbewegung.
Mit atemberaubender Geschwindigkeit raste ich an der Welt vorüber, an Menschen, Kindern vor allem, die staunend das Spektakel betrachteten, an Feldern, an Kühen und Bäumen, durch Bahnhöfe und an Straßen vorbei, und dennoch bewegt man sich die ganze Zeit im Grunde nur auf einem Pfad, den andere für einen vorgegeben haben. Ich ließ meine Gedanken schweifen, vergaß für eine Weile die Sorgen der Welt, schaute aus dem Zug und war einfach nur da, jetzt im Moment, vollkommen frei. Meine Phantasie verlor ihre gewohnte Zurückhaltung, sie wurde beflügelt von dem, was ich sehen, was ich hören und was ich spüren konnte. Das Rütteln des Wagens, der über die Gleise rauscht, das Getöse der Dampflokomotive und das rhythmische Geräusch der Achsen, das alles vermochte es bei jeder Fahrt aufs Neue, mich in eine Art Rausch zu versetzen, mich zu betören, zu umklammern und mich sanft in meine Tagträume zu schaukeln.
Ich stellte mir in solchen Momenten vor, ich wäre auf einem weitentfernten Planeten, der Entdecker fremder Sphären. Ich träumte von einer anderen Welt oder malte mir zuweilen aus, im Postwagen würden die wichtigsten Dokumente des Landes transportiert, geheimste Geheimsachen, Baupläne und Regierungsbeschlüsse, oder gar Schätze von unermesslichem Wert, und ich, ich wäre somit ein Teil des wichtigsten Zuges der Nation. Wenn ich an Wäldern vorbeifuhr, dann sah ich Bäume, die ihre Äste ineinander verschlungen hatten und tanzten, die herumwirbelten und dabei ihre Blätter ablegten wie Kleider, derer sie überdrüssig geworden sind. Ich stellte sie mir vor, wie sie gewöhnlich stolz dastehen, erhobenen Hauptes, sich weder Wind noch Regen beugen. Sie tragen ihre Kronen zu Recht, dachte ich dann, sie sind die wahren Könige, die Könige der Welt. Mit dem Zugfahren verbinde ich trotz all des Lärms die ruhigsten Momente meines Lebens, und obwohl man auf Schienen ständig unterwegs ist, war es ein Ort, an dem ich ankommen konnte, vor allem bei mir selbst. Wenn ich in einem Zug saß, dann fühlte ich mich glücklich.
Diesmal ist es anders. Der Wagen ist so voll, dass wir uns gegenseitig auf den Füßen stehen. Diesmal sitze ich nicht am Fenster, diesmal kann ich nicht nach draußen sehen, diesmal bin ich nicht glücklich. Dennoch stelle ich mir die Landschaft vor, die Felder und Bäume, wie sie allesamt an mir vorüberziehen oder vielmehr ich an ihnen, schnell und weitgehend unbemerkt. Die Bäume, sie winken mir zu, verbeugen sich vor mir im Wind, schauen mir nach, wünschen mir Glück. Wieder träume ich von einer anderen Welt, diesmal jedoch, weil mir der Glaube an diese hier abhandengekommen ist. Ich fürchte, es wird die letzte Zugfahrt meines Lebens sein, nach allem was man hört. Ich bin auf dem Weg zu einem Ort namens Treblinka.

So lange ich zurückdenken kann, war ich noch niemals richtig glücklich. Es liegt nicht an persönlichen Eitelkeiten, dass es so ist, wie es ist. Meine Kindheit war erfüllt und ich übte bis vor kurzem einen angesehenen Beruf aus, der es mir ermöglichte, ein gutes Leben zu führen, zumindest materiell. Ich bin emotional gut ausgeglichen, wie man es wohl ausdrücken würde, und kann mich in Liebesdingen nicht allzu viel beschweren. Dennoch hat es da in meinem Leben schon immer andere Einflüsse gegeben, Interferenzen sozusagen, Störfaktoren, die es mir unmöglich machten, mit diesem Leben wirklich glücklich zu sein. Es kommt mir vor, als blickte ich durch trübes Glas, das mir den ganzen schönen Ausblick ruiniert. Ich habe mich hin und wieder glücklich gewähnt, doch ich war es nicht. Die Welt, die mich umgibt, drückt wie ein Stein im Schuh, der jeden noch so kleinen Schritt mit Schmerzen unterlegt. Es ist der Zustand dieser Welt, der störend auf mein Leben einwirkt, der Stein im Schuh, das trübe Glas, das dieses Leben unerträglich werden lässt. Jede persönliche Freude wird zur Farce, wenn sie von Unglück umgeben ist. Wie führt man ein gutes Leben in einer schlechten Welt?

Ich habe schon vor langer Zeit damit aufgehört, anderen Menschen von meinem Unbehagen zu erzählen, denn ihre Antworten sind immer gleich: »Das Leben ist kein Wunschkonzert«, sagen sie, oder: »Es ist nun mal so«, sie meißeln Phrasen in die Welt wie: »Anderen geht es viel schlechter« und »Nimm’s nicht so schwer«, sie antworten nicht ernsthaft, sie geben nur wieder. Als würde das irgendetwas ändern, stellen sie Sprüche in den Raum und wollen damit Trost spenden oder abspeisen, das eine kommt dem anderen gleich, denn es sind sinnlose, inhaltsleere Sätze. »Hau doch ab, wenn es dir hier nicht gefällt«, legen sie mir unmissverständlich nahe, ein ums andere Mal, doch wo ist es besser, frage ich mich dann.

Sie meinen, ich müsse nur endlich erwachsen werden und mich einfach bloß zusammenreißen, müsse begreifen, dass all das normal ist, worüber ich beunruhigt bin. Ihnen fällt überhaupt nicht auf, wie oft sie »man muss« und wie selten sie »ich will« verwenden. Sie verlangen Disziplin, doch ich möchte niemandes Sklave sein, nicht einmal mein eigener, oder vielmehr schon gar nicht. Sie werfen mir unaufhörlich vor, ich käme nicht zurecht mit dieser Welt. Sie sagen, ich sei depressiv und krank, als wäre es ein Ausdruck der geistigen Gesundheit, an kranke Verhältnisse gut angepasst zu sein. Sie möchten mich behandeln, mich normalisieren, mich wieder eingliedern in diese Welt, mit der ich meinen Frieden schließen soll, doch wenn sie Frieden sagen, meinen sie bloß Kapitulation. Sie wollen, dass ich verleugne, wie ich mich wirklich fühle, sie möchten mein Unbehagen in einen Kasten sperren und diesen dann irgendwo versenken, auf dass er für immer verschwunden bleibt. Sie drängen mich dazu, mein inneres Leben aufzugeben, um am äußeren zu partizipieren. Ich soll es jenen recht machen, die mich als Menschen negieren. Aber bin ich wirklich krank? Bin ich krank, weil ich aus dem herausfalle, was sie allen Ernstes als normal bezeichnen?

Es gilt als Ausdruck von Normalität, sich bereitwillig in eine Gesellschaft einzufügen, die systematisch ihre Grundlagen zerstört und die sich um das Wohlergehen ihrer Insassen nicht sonderlich schert. Es ist normal, dass wir mehr Geld und Kreativität in Waffen oder gegenseitige Abschreckung investieren als in Bildung und Kultur, weil wir uns so sehr bemühen, das Gegeneinander zu optimieren, während das Füreinander brachliegt. Es ist normal, dass diejenigen, die Kriege vom Zaun brechen und ihre Mitmenschen wie wertlosen Dreck behandeln, als Mächtige in den Parlamenten und Aufsichtsräten sitzen, in unseren Regierungen und wichtigen Entscheidungsgremien. Wir stoßen uns nicht daran, dass Wissen aus wirtschaftlichen Gründen unter Verschluss gehalten wird, anstatt es zum Wohle der Allgemeinheit offen zur Verfügung zu stellen, und wir nehmen es anstandslos hin, uns Gesetzen beugen zu müssen, von denen nur wenige profitieren, weil wir es anders niemals kennengelernt haben. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, auch nur ansatzweise von Verschwendung zu reden, wenn so viele der klügsten Köpfe ihre kostbare Zeit damit verbringen, nutzlose Dinge zu verkaufen, die weder benötigt noch begehrt werden, in Berufen, die jeden Tag aufs Neue dazu beitragen, die Welt ein kleines bisschen destruktiver zu gestalten. Es ist uns egal, dass die einen sterben, während die anderen an diesem Tod verdienen, so wie wir uns auch gleichmütig daran gewöhnt haben, Nahrung zu uns zu nehmen, die uns vergiftet und langsam umbringt, solange das für den Hersteller bedeutet, ein wenig günstiger produzieren zu können.

Unser gesamtes Leben, unsere Pläne und noch die sehnsuchtsvollsten Träume unterwerfen wir einem ständigen Zwang, dem sich alles bedingungslos unterzuordnen hat, doch es stellt für uns keinerlei Widerspruch dar, wenn wir diese totale Disziplinierung dann als höchste Form der Unabhängigkeit begreifen, als Ausdruck eines selbstbestimmten Daseins. Wir nehmen sinnlose, seelenzermürbende Jobs an, die wir hassen und in denen wir uns aufreiben, weil es für uns nichts Ungewöhnliches ist, dass nur diejenigen überleben dürfen, die auch bereit sind, dafür zu arbeiten, während Tausende täglich verhungern, die einfach nur zu arm sind, um sich ihre Mahlzeiten überhaupt leisten zu können. Wir definieren uns so ehrgeizig über die willkürlich festgelegten Zahlen, die am Ende des Monats auf unserem Konto vorzufinden sind, dass es für uns nicht wirklich besorgniserregend ist, wenn eine Handvoll Menschen mehr besitzen können als der ganze große Rest der Welt; eine Welt, in der ein Leben nur so viel wert ist, wie es erwirtschaften kann. Zufriedenheit, Freude und Glück werden abhängig gemacht von objektivistischen Kategorien: mehr haben, mehr können, mehr sein als andere, in einer quantifizierbaren Art und Weise, sich dadurch schließlich besser, größer, mächtiger zu fühlen als sie wird zum Maßstab der eigenen Persönlichkeit, zum Sinngeber in einer globalen Konkurrenz.

Jeden Tag nehmen wir billigend in Kauf, dass für überflüssigen Luxus unwiderruflicher Schaden an Umwelt und Anderen entsteht, ohne auch nur einen ernsthaften Gedanken daran zu verschwenden, welche ökologischen und sozialen Folgen unser Handeln hat. Es ist alltägliche Routine geworden, dass Menschen sterben oder wie schwerste Verbrecher behandelt werden, bloß weil sie den verzweifelten Versuch wagen, von einem Stückchen Land zu einem anderem zu gelangen. Wir bauen Zäune um uns herum, damit uns die anderen nicht zu nahe kommen, wir grenzen uns ab, schließen uns ein und haben Angst voreinander, aber wir sehen darin nichts Außergewöhnliches, es ist uns kein Grund zur Sorge. Die Normalität dieser Zustände, die für mehr und mehr Menschen nur noch mit Psychopharmaka zu verkraften sind, beunruhigt uns nicht. Diese ganze Katastrophe, die uns jeden Tag umgibt, sie betrifft uns zwar, aber sie berührt uns nicht. Wir gehen teilnahmslos unseren Tagesgeschäften nach, denn das alles enthält für uns keine Botschaft, außer jener der Selbstverständlichkeit. Wir wissen genau darüber Bescheid und obwohl wir etwas unternehmen könnten, ändert sich nichts.

Es gibt noch so vieles, mit dem ich mich genauso wenig abfinden kann und auch nicht abfinden möchte, zu vieles, um es aufzuzählen, weil es jeden Versuch einer Aufzählung sprengen würde; diese ganzen Normalitäten einer fremdartigen Welt, die für mich nicht normal, noch weniger lebenswert ist.

Seit jeher wird an mich die Erwartung herangetragen, ein Teil dessen zu werden, was mir zuwider ist, mich einzugliedern in eine Welt, die alle Eingegliederten verschlingt. Viel zu häufig litt ich unter Albträumen und bin schweißgebadet aufgewacht, noch viel häufiger habe ich erst gar nicht einschlafen können, weil ich mir ausmalte, wie es mit meinem Leben weitergehen würde in dieser Welt: Für den Rest meiner Tage müsste ich so gut wie jeden Morgen aufstehen, um mit vorgetäuschter Freiwilligkeit der gleichen, unbedeutenden Beschäftigung nachzugehen, was letzten Endes doch bloß heißt, das am Leben zu erhalten, was alles Lebendige unter sich erdrückt. Mit etwas Glück hätte ich am Abend ein paar Stunden dieser so genannten Freizeit, die es mir erlauben würden, mich von meinem Arbeitstag zu erholen, so wie man den Soldaten ins Lazarett bringt, nicht aus Nächstenliebe, sondern damit er wieder kämpfen kann, also würde ich ein wenig einkaufen, fernsehen, mich betrinken oder was man eben macht in jener Zeit, die noch zum Leben übriggeblieben ist, doch in der Regel bloß verfliegt, dann ginge ich schlafen und alles begänne am nächsten Tag von vorn. War es das? Macht das ein Leben aus?

Wenn ich ehrlich mit mir sein möchte, kann und darf ich das nicht Leben nennen, obwohl ich mit diesem trostlosen Schicksal noch zu den wenigen Privilegierten auf diesem Planeten gehören würde, zu jenen, denen es gut zu gehen hat, weil es dem Großteil noch viel schlechter geht. Ich reagierte auf diese Bedrohung mit Angstzuständen und Nervenzusammenbrüchen, ich war regelmäßig panisch und ich werde es noch heute, wenn ich mir vorstelle, dass ich auf diese Art in dieser Welt den Rest meines Daseins verbringen müsste, oder wenn schon nicht den Rest, dann wenigstens den größten Teil. Mein Leben war von Anfang an eingeteilt, festgelegt, geplant; es war nicht vorgesehen, dass man mich jemals dazu angehört hätte, was ich denn von alledem halte, das man mir zumuten würde. Niemand hat je gefragt, ob ich damit glücklich oder auch nur einverstanden bin, weil es niemanden interessiert.

All das ist normal. Das sind die Normen, an denen ich gemessen werden soll. »So ist eben das Leben«, wird mir immer wieder weisgemacht, und als ›das Leben‹ bezeichnen sie eine gewaltsam aufrechterhaltene Ordnung der Welt. Ich wollte so nicht leben, will so nicht leben, nicht in dieser Welt, das ist nicht mein Entwurf für ein gelungenes Dasein. Ich sehe nicht die geringste Motivation für den Versuch, mich als produktives Mitglied in diese Gesellschaft einzugliedern, und ich habe erstrecht kein Interesse daran, mich eingliedern zu lassen, weil ich mit allem, was sie ausmacht, grundlegend uneinverstanden bin. Jeden Tag denke ich, ich muss hier raus, muss mich aus diesem Gefängnis irgendwie befreien. Je mehr ich diese Welt begreife, desto weniger möchte ich darin leben, je mehr ich ihre Abläufe verstehe, desto weniger möchte ich daran beteiligt sein. Wie kann man sich den Zustand der Welt betrachten und dennoch glücklich sein?

Der Wahnsinn liegt in der Normalität, die für all diese Zustände gleichgültig in Anspruch genommen wird. Wir alle tragen als Komplizen dazu bei, mit jedem Tag, an dem wir es hinnehmen, das Destruktive als normal zu begreifen, denn die Ordnung der Welt hält unsere Köpfe besetzt. Wir sagen Freiheit und wir meinen damit, uns zwischen vorgegebenen Alternativen entscheiden zu dürfen. Wir sagen Sicherheit und wir haben dabei im Sinn, einen langfristigen Arbeitsplatz zu finden. Wir sagen Glück und wir stellen uns darunter vor, im Lotto zu gewinnen oder in einer Prüfung erfolgreich zu sein. Unsere Sprache und unsere Sehnsüchte haben sich den Zwängen angepasst, weil sie uns ständig als Normalitäten vorgehalten werden, von Institutionen, Politikern, Therapeuten, Eltern und letzten Endes allen, die immer noch glauben, diese Normalitäten seien normal. Ich bin nicht krank. Krank ist diese Welt und was mich daran deprimiert, nein, melancholisch werden lässt, das ist die Tatsache, dass dennoch ich es bin, der allgemein für krank gehalten wird, weil ich mit dieser ach so wunderbaren Welt nicht klarkomme, mit ihr auch gar nicht klarkommen möchte. Die objektiven Zustände werden nicht besser, bloß weil ich lerne, damit umzugehen; es ist ja gerade dieses Klarkommen, das dem Bestehenden zum Fortbestand verhilft. Wer also hat nun Recht? Wer von uns ist krank? Liegt es an mir, wenn ich mich unbehaglich fühle?

Tag um Tag musste ich es mir anhören, immer und immer wieder: »Hau doch ab« und »Wander doch aus«, »Werd endlich erwachsen« und »Gewöhn dich dran«, »Reiß dich zusammen« oder »Bring dich doch um«. Früher oder später fand noch jede Diskussion, all die mit Worten geführten Freiheitskämpfe, ihr Ende an diesem einen Punkt, mit einem dieser Sätze. Jedes Mal, wenn ich Einspruch erhob gegen die Normalitäten dieser Welt, wenn ich Beschwerde führte gegen jene Zustände, mit denen ich nicht leben will, wenn ich Vorgänge kritisierte oder wenn ich Nachrichten las und zum Ausdruck brachte, dass ich mit dem, was geschieht, nicht einverstanden bin, waren die Antworten immer gleich, die Phrasen wie einstudiert. Wie viel Zwang wirkt auf einen Menschen, um solche Sätze zu formulieren?

Während es früher schnell hieß: »Dann geh doch nach drüben«, heißt es heute: »Dann wander doch aus«, oder noch schlimmer, aber ehrlicher: »Dann bring dich doch um«. Ich jedoch hänge an meinem Leben, ich genieße es, so gut es mir die Umstände erlauben. Ich suche mir Freiräume, Schlupflöcher und Hintertüren, die mir ein wenig Luft zum Atmen bieten. Es ist nicht mein Leben, das mir Sorgen bereitet, sondern die Welt um mich herum, das Korsett, in das mein Leben hier gesteckt werden soll. Was mich bedrückt, ist nicht das Dasein, weder meines noch allgemein, sondern vielmehr der Rahmen, in dem es sich wiederfinden muss, jener Zustand der Welt, in den es sich anstandslos einzubetten hat und den ich nicht verschuldet habe, es sind die so genannten Freiheiten, die mir wie allen anderen aufdringlich angeboten werden, die aber keine ernstzunehmenden Freiheiten sind.

Was sagt das über einen Zustand aus, über diesen Zustand, wenn dir diejenigen, die ihn so vehement verteidigen, als Alternative nichts weiter anzubieten haben als den Tod? Geh unter oder füge dich, die Wahl ist Kollaps oder Kollaboration, also betrachte ich diese Menschen mit einer wachsenden Distanz, als wären sie Gehilfen einer feindseligen Besatzungsmacht. Selbst noch, wenn ich rationale Gründe präsentiere, warum ich mich in diese Welt nicht einfügen möchte, warum ich mich an ihren Abläufen nicht beteiligen will, werde ich des unvernünftigen Verhaltens beschuldigt, als hätte man den Maßstab einfach umgekehrt. »Reiß dich zusammen«, lautet das dauernde Diktat, und sie begreifen den Befehl als Tugend, wie sie das wohl auch dem Schnorrer in der Fußgängerzone antworten würden, der sie bloß nach etwas Kleingeld fragt, doch wenn der sich letztlich für Verweigerung und gegen Kapitulation entscheidet, so ist mir dessen Konsequenz allemal sympathischer als der erhobene Zeigefinger derjenigen, die mir erzählen wollen, das Problem sei eine Frage meiner eigenen Befindlichkeit. Ich fühle mich einsam, wenn ich unter solchen Menschen bin. Kraft Geburt erhielt ich das Recht, ich selbst zu sein, doch seitdem wird es mir auf diese Art verwehrt.

Mit jedem zusätzlichen Wort ließen mich diese und ähnliche Antworten ein kleines bisschen unglücklicher werden, bis ich mich schließlich auf die Suche nach etwas Anderem begab, nach einem schöneren und glücklicheren Leben in einer schöneren und glücklicheren Welt. Trotz all des Hohns und der ständigen Entmutigungen habe ich etwas Besseres gefunden als den Tod, etwas Hoffnungsvolleres als Kapitulation. Etwas, das sich all jene, die mir derartige Antworten geben oder so genannte Ratschläge erteilen, niemals hätten träumen lassen. Etwas, das sogar ich selbst vor wenigen Monaten noch für nahezu unmöglich gehalten hätte. Ohne viel Gepäck verschwand ich eines ganz normalen Tages aus dem, was ich bis dahin mein Leben genannt hatte, ich ging fort, ohne große Reisepläne zu schmieden, und ließ ein für alle Mal zurück, was mich schon viel zu lange unglücklich gemacht hatte. Ich fand einen Ort, an dem die Menschen anders sind, Menschen, denen es ähnlich geht wie mir. Ich schloss mich ihnen an, hier fand ich meine Heimat.

Wo ich nun lebe, gibt es keine Armut, weil jeder einzelne von uns im Reichtum schwimmt, denn wir haben uns gegenseitig und alles Notwendige, das man zum Leben wirklich braucht. Es gibt keine zweihundert Fernsehprogramme, keine teuren Sportwagen und keine goldenen Wasserhähne, dafür aber Solidarität, Vertrauen und Freiheit; keinen materiellen Überfluss, jedoch auch keinen Verzicht. Wir haben hier kein Geld, kein Gehalt, weil wir es nicht brauchen, und wir beugen uns keinen Herrschern, weil wir nicht länger Beherrschte sein möchten. Wir kennen keine Arbeitslosigkeit, keinen Terrorismus und keine Paranoia. Niemand wird zu seinem Tun gezwungen, keiner muss sich einem anderen irgendwie unterordnen, es gibt weder Chefs noch Hierarchien, es werden keine Befehle gegeben und kein Gehorsam verlangt. Wir sind Gleiche unter Gleichen. Es existiert kein Militär, keine Polizei, niemand baut Mauern und Zäune um sich herum. Wir gehen aufeinander zu, anstatt uns gegenseitig die Schädel einzuschlagen, treffen Entscheidungen, indem wir alle gleichberechtigt darin einbeziehen, wir haben Mitgefühl und zeigen den gebührenden Respekt, sowohl im Umgang miteinander als auch gegenüber dem, was uns umgibt. Wir nehmen uns so viel wir brauchen, aber wir zerstören nicht, wir beuten nicht aus, weder uns selbst noch das, wovon wir leben. Das Unwohlsein über die Normalitäten jener Welt, die wir allesamt zurückließen, die Diskrepanz zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit, diese Spannung zwischen dem, was ist, und den eigenen Gefühlen, wird hier nicht als Krankheit empfunden. Hier bin ich glücklich. Hier. Endlich.

„Wir stehen vor einem Rätsel“, erklärte der junge Arzt im Kreis seiner Kollegen. „Kein Wort, keine einzige Reaktion. Seit Monaten ist er in diesem Zustand, obwohl wir keine neurologische Ursache feststellen können. Im Gegenteil. Die Aktivität in seinem Gehirn ist bemerkenswert.“