Als die ersten Signale aus dem All empfangen wurden, konnte noch niemand wissen, was auf uns zukommen würde. Die Streitkräfte der größten Nationen bereiteten erwartungsgemäß recht grimmige Verteidigungsmaßnahmen vor und waren überaus besorgt, wie sie das immer sind, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, weil es Aufgabe des Militärs ist, besorgt und möglichst grimmig zu sein. Die Massenmedien überschlugen sich mit ihrer Berichterstattung, sie wetteiferten geradezu um die wildesten Gerüchte und schürten globale Panik, wie sie es immer tun, weil sie das für ihre göttliche Berufung halten. Sekten und Weltuntergangsspinner sahen mit einem nicht zu verhehlenden Stolz das endgültige Ende heraufziehen, das sie dem Rest der Bevölkerung schon seit Ewigkeiten gepredigt hatten, ohne jemals von irgendjemandem wirklich ernst genommen worden zu sein. Politiker aller Länder begannen damit, trotz ihrer bisherigen Konfliktlinien auf einmal offen miteinander zu reden, weil sie nun einen neuen, gemeinsamen Feind identifizieren konnten, der ihnen womöglich die Macht über ihr Revier streitig zu machen drohte. Zusammenfassend muss man sagen, dass sich die Erde in ein kopfloses Tollhaus verwandelte, doch genau genommen kann diese Bezeichnung dem ganzen Vorgang nicht völlig gerecht werden, weil man der Wahrheit zuliebe ergänzen müsste, dass sie ein noch viel größeres Tollhaus wurde, als sie es normalerweise sowieso schon war.
Unsere Versuche, noch während ihres Anflugs auf die Erde irgendeine Art von Kontakt mit ihnen herzustellen, schlugen allesamt fehl, also blieb uns nichts weiter übrig, als nervös ihre Ankunft abzuwarten und das Beste zu hoffen. Je nach Menschenwesen, das man dazu befragt hätte, wäre die Vorstellung darüber, was dieses Beste denn überhaupt sei, sicherlich sehr unterschiedlich ausgefallen. Die einen erhofften sich von den Besuchern aus dem All einen gewaltigen kulturellen und technologischen Fortschritt, andere sahen es als Gelegenheit, ja als Herausforderung an, endlich ein paar Wesen abseits der gewohnten Fauna abzuknallen, was nach so vielen Jahren voll umfangreicher Praxiserfahrung langsam langweilig zu werden drohte, und wieder andere malten sich neue sexuelle Erfahrungen aus. Ob sie wohl auch auf die Erde gekommen wären, wenn sie diese Gedanken allesamt gekannt hätten?
Andererseits gibt es Idioten wirklich überall, also sicher auch unter extraterrestrischen Lebensformen, weswegen menschliche Idiotie für unsere Besucher keine allzu große Überraschung gewesen sein dürfte. Ob einer ein Idiot ist, hat dabei jedoch nichts damit zu tun, wie intelligent er ist oder eben nicht, denn oft genug stellen sich gerade die Intelligentesten als die größten Idioten heraus, weil sie es eigentlich besser wissen müssten. Wenn es eines gibt, das jede Kultur im Universum verbindet, dann ist es mit Sicherheit die Existenz von Idioten, und man müsste die Evolution wirklich einmal fragen, was sie sich dabei eigentlich gedacht hat. Wahrscheinlich gar nichts. Die Evolution ist auch ein Idiot. Gott habe den Menschen nach seinem eigenen Bilde erschaffen, heißt es dagegen in mancher Religion, doch wenn es unter den Menschen so viele Idioten gibt, was hieße das dann im Umkehrschluss für Gott? Er kann sich glücklich schätzen, dass es ihn nicht gibt.
Sie landeten jedenfalls in der Nähe von Shenyang, einer Stadt im Nordosten Chinas, ohne dass unsererseits besondere Begrüßungsmaßnahmen hätten vorbereitet werden können, weil uns vollkommen unbekannt war, wo sie Fuß auf diesen Planeten setzen würden. Bis heute wissen wir nicht, weshalb sie ausgerechnet dort gelandet sind. Vermutlich war dieser Platz so gut wie jeder andere, aber all die verschmähten Staaten waren sich nicht zu fein, sofort die böseste Gerüchte kursieren zu lassen, China habe schon Kontakt zu unseren Besuchern gehabt und stecke mit ihnen unter einer Decke, um die gesamte Menschheit endlich zu versklaven. Gewählte Staatschefs zeigten sich beleidigt wie ein kleines Kind, das empört feststellen muss, dass es von der Kindergärtnerin nicht ausreichend beachtet wird, wobei ausreichend mit exklusiv zu übersetzen ist. Wer hatte sie eigentlich gewählt? Mit Sicherheit Idioten.
Als sie landeten, geschah alles so, wie es immer geschieht, und war darum irgendwie richtig langweilig. Das Militär fuhr schweres Geschütz auf, um den unerwarteten Besuchern ohne jede Verzögerung unmissverständlich die Stärke der Erdbevölkerung zu demonstrieren, während sich die Staatsmänner gegenseitig bei dem Versuch übertrumpften, das eigene Land als kulturell und technologisch führend herauszustellen, was besonders peinlich aussah für jene, deren größte kulturelle Leistung es bis dahin gewesen war, im Internet bestimmte erigierte Körperteile zu präsentieren. Die Außerirdischen beeindruckte weder das eine noch das andere. Mir schien es, als seien sie den Wirbel um ihre Ankunft gewohnt, als sähen sie über all diesen Trubel gleichgültig, vielleicht auch amüsiert hinweg.
Ihr Raumschiff erschien uns auf den ersten Blick ziemlich unspektakulär und war weder besonders imposant noch auf irgendeine Art mysteriös, im Vergleich mit den Fantasiegebilden unzähliger Science-Fiction-Autoren kam es mir ganz und gar öde vor.
Die Kommunikation mit uns war für unsere neugewonnenen Gäste kein Problem, auch wenn sie uns nie verraten haben, wie sie diese Kenntnisse eigentlich erlangt hatten. Vielleicht hatten sie unsere Radio- und Fernsehübertragungen empfangen, bevor sie auf unseren Planeten kamen. Eine intelligente Lebensform, die menschliche Radio- und Fernsehübertragungen empfängt und dann unserem Planeten trotzdem noch einen Besuch abstatten möchte, ist entweder extrem tolerant und offenherzig oder ziemlich idiotisch. Die Menschheit machte sich, wohl zu ihrer eigenen Entlastung, darüber allerdings gar keine Gedanken oder wenn doch, dann nahm sie zumindest ersteres an.
Die Außerirdischen interessierten sich sehr für die Geschichte der dominanten Spezies auf diesem Planeten und wie es der Zufall ergab, waren wir das. Wir waren sogar so dominant, dass viele andere Lebensformen in einem mehr als devoten Gestus das Fortsetzen der eigenen Spezies mehr oder weniger freiwillig aufgaben, um uns noch dominanter werden zu lassen. Rückblickend muss man sagen, dass wir ihnen dafür wenigstens mal eine Grußkarte hätten schreiben können, doch wir Menschen sind schon seit Beginn unserer großen Erfolgsgeschichte sehr gut darin gewesen, moralische Grundlagen dafür zu erfinden, wenn diejenigen Lebewesen, die wir gut finden, jene Lebewesen töten, die wir nicht so gut finden. Uns selbst fanden wir schon immer verdammt gut. Unsere Besucher jedenfalls baten uns um den Zugriff auf unsere Archive, auf Technologie und auf das Know-how, das die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung angesammelt hatte. Sie sagten uns, dass sie für genau ein Jahr unserer Zeitrechnung auf der Erde bleiben würden, um ihre Expedition, wie sie es nannten, durchzuführen und uns danach wieder zu verlassen.
Das Militär zeigte sich zunächst skeptisch, weil Militär grundsätzlich jedem friedlichen Handeln skeptisch gegenübersteht, aber nachdem auch den aggressivsten Köpfen klargeworden war, dass wir technologisch hoffnungslos zurücklagen und eine militärische Auseinandersetzung nie würden gewinnen können, wurde der vollumfänglichen Kooperation schließlich zugestimmt.
Im Gegenzug forderten die Staaten der Erde von den Außerirdischen umfangreiche Entwicklungshilfe, die unserer Intelligenz und Stellung würdig sei. Sie haben es nicht so ausgedrückt, aber es wurde klar, dass sie es genau so meinten. Die mächtigen Staatsmänner sagten, sie würden es als Zeichen der Kooperation und der gegenseitigen Friedfertigkeit betrachten, wenn uns die Außerirdischen mit ihrem gewaltigen Wissensvorsprung unter die Arme greifen würden, doch unter all dem diplomatischen Gefasel lag die Drohung der nuklearen Zerstörung, zur Not eben inklusive des Risikos der eigenen Vernichtung, sollten die Außerirdischen ihr Wissen nicht freiwillig mit uns teilen wollen.
Zwölf Monate lang weilten die Außerirdischen anschließend auf der Erde, betrieben Forschung, stellten Fragen, lebten unter uns und untersuchten unsere Lebensweise. Sie lasen unsere Geschichtsbücher, erhielten Zugriff auf staatliche Archive, studierten unseren Alltag und die Art, wie wir uns gesellschaftlich zu organisieren gewohnt waren. Sie durchwühlten unseren Müll, was uns ein wenig beunruhigte, weil wir sehr viel davon herstellten und oft genug gerade solche Dinge in den Müll schmissen, von denen wir nicht einmal wollten, dass unser Nachbar darüber Bescheid wüsste. Manche unserer Medien machten sich über sie lustig und bezeichneten sie als intergalaktische Penner, weil sie so weit gereist waren, nur um dann unseren Müll zu durchsuchen. In dem zu wühlen, was andere mühsam gekauft und dann weggeschmissen hatten, das fanden wir nicht in Ordnung, weder im Fall terrestrischer noch im Fall außerterrestrischer Mülldiebe, aber bei letzteren machten wir eine Ausnahme, weil sie uns im Gegensatz zum Obdachlosen von der Straße nun einmal leider überlegen waren.
Sie durchwühlten jedoch nicht nur unseren Müll und im metaphorischen Sinn unsere Geschichte, sondern beobachteten auch sehr genau, wie wir Menschen miteinander umgingen und wie wir mit allem anderen haushielten, was dieser Planet uns zur Verfügung stellte. Es gab viele verschiedene Arten, die menschliche Geschichte zu betrachten, doch unterm Strich lief alles darauf hinaus, dass einfach lauter Menschen lauter andere Menschen umgebracht hatten oder, wenn gerade keine anderen Menschen zur Verfügung standen, dann eben die nächstbesten Lebewesen. Wir haben das schon immer für ein Zeichen von Intelligenz und Zivilisation gehalten, also gab es nichts, wofür wir uns hätten schämen müssen.
Nachdem sie diese zwölf Monate mit Forschung und Beobachtung verbracht hatten, erklärten sie uns, sie würden die Erde nun wieder verlassen, genau wie sie es uns angekündigt hatten. Die Staatsmänner aller Nationen zeigten sich angesichts dieser Nachricht sehr traurig, waren innerlich aber froh, diese überlegenen Konkurrenten endlich wieder loszuwerden und versäumten es auch nicht, mit Nachdruck auf die versprochene Unterstützung der Außerirdischen hinzuweisen. Wenn Staaten auf etwas hinweisen, dann machen sie das oft sehr subtil, beispielsweise mit Panzern, Bomben und großen Kriegsschiffen. Auf diesen Punkt also ähnlich subtil angesprochen, versicherten uns die Besucher ohne auch nur einen Moment des Zögerns, sie würden selbstverständlich zu ihrem Versprechen stehen. Sie baten uns lediglich um etwas mehr Geduld und um die Möglichkeit, zum Abschied vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen sprechen zu dürfen.
Es ließ sich kaum verhehlen, dass man ihnen alles Mögliche zugestanden hätte, wenn sie nur endlich wieder abgeflogen und unsere etablierten Machtstrukturen in Ruhe gelassen hätten, also wurde ihnen ihre Rede gewährt. Eine Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen hatte in der Regel auf die Weltpolitik ungefähr so viel Einfluss wie das betrunken von sich gegebene Stammtischgeschwätz in einer beliebigen Kneipe, nur war die Wahrscheinlichkeit um einiges größer, an einem Kneipentisch einen Ehrenmann vorzufinden. Mit großem Getöse feierte man den Tag des Abschieds, der wie ein Tag der Befreiung behandelt wurde, obwohl sie uns gegenüber nie als Besatzer aufgetreten waren. Reihum hielten die Regierungschefs der größten Länder ihre Ansprachen, in denen sie sich vor Lob und aufgesetzter Dankbarkeit geradezu überschlugen. Als letztes trat ein Vertreter der Besucher nach vorne ans Rednerpult.
Die Menschheit wurde wegen zahlreicher Verbrechen gegen das Leben zum Aussterben verurteilt. Wäre das empörte Gerede im Saal nicht so laut gewesen, man hätte das globale Unterkieferherunterklappen tatsächlich hören könne. Die Schwere des Verbrechens und das daraus hervorgehende scharfe Urteil, so erklärten sie uns, wurden deutlich bei Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung unserer Spezies. Anstatt aus Verfehlungen zu lernen, und an Verfehlungen zeigte sich die menschliche Geschichte reich, waren über Generationen hinweg die Möglichkeiten verfeinert worden, den eigenen Eroberungsfeldzug gegen den Planeten und letztlich das gesamte Universum zu optimieren, offensichtlich ohne jedes Gefühl der Reue, ohne Skrupel und ohne Rücksicht auf menschliches oder nichtmenschliches Leben. Um eine Gefahr für andere Planeten und deren Lebensformen abzuwenden, habe man sich darauf geeinigt, präventiv einzugreifen. Wie um diesen Anklagepunkt sofort zu bestätigen, drohten einige Staaten mit der atomaren Antwort auf dieses in ihren Augen lächerliche Urteil, und es hätte bloß eines durchschnittlichen menschlichen Idioten bedurft, um diese Drohung ernsthaft umzusetzen, doch war der zum Glück entweder gerade in der Kneipe oder einfach zu unfähig für die gestellte Aufgabe.
Wie unsere Besucher uns erklärten, hatten sie der Erdatmosphäre eine speziell für diesen Zweck entwickelte Art von Mikroorganismen beigefügt, die das Urteil biotechnologisch umsetzen sollten, indem sie ausschließlich die menschliche Spezies befallen und mit makelloser Effektivität deren Unfruchtbarkeit bewirken würden. Dann verließen sie unseren Planeten wieder.
Natürlich haben wir versucht, uns mit verzweifelter Anstrengung gegen die Folgen der extraterrestrischen Intervention zu wehren, wir tun es noch immer. Unsere Wissenschaftler waren sich bereits nach kurzer Zeit sehr sicher, die verantwortlichen Mikroorganismen schnell analysieren und unschädlich machen zu können, wie sie sich bereits bei allen anderen drängenden Problemen der Menschheit zuvor stets schnell sicher gewesen waren, diese unter Kontrolle bringen zu können. Die Strafe der außerirdischen Besucher hat ermöglicht, was zuvor nur bloße Utopie war. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist zu beobachten, dass alle Staaten, alle Kontinente, alle Gruppen und alle Fraktionen friedlich zusammenarbeiten, denn es geht um nicht weniger als das verbindende Projekt, eine rettende Lösung zu finden, die der Menschheit das Überleben ermöglichen soll. Je länger wir daran arbeiten, desto deutlicher wird jedoch auch, dass wir gegen den technologischen Vorsprung unserer Richter vermutlich keine ernstzunehmende Chance haben werden. Die Zeit läuft uns davon. Seit siebzehn Jahren wurde auf dem gesamten Planeten keine einzige Schwangerschaft mehr verzeichnet.
Wir forderten von ihnen eine Form der Unterstützung, die unserer würdig sei, und ich fürchte, genau das haben wir bekommen.
Eigene Kurzgeschichten
Jedes Mal, wenn sich ein Jahr seinem Ende entgegenneigt, machen sich unzählige Menschen gut gemeinte Gedanken zum Ablauf des bald darauf anbrechenden Jahres und nennen ihre Pläne, die daraus hervorgehen, gute Vorsätze. Raucher wollen Nichtraucher werden, Sportmuffel zu Freizeitathleten, Faulenzer zu Arbeitstieren. Diese guten Vorsätze sind in der Regel noch vor Februar wieder vergessen.
Wenn es etwas gab, das sie in dieser Zeit des Jahres am meisten hasste, dann waren es die guten Vorsätze anderer Menschen und deren aufdringliche Art, diese Vorsätze jedem Interessierten und Desinteressierten gleichermaßen unter die Nase zu reiben. Auch sie hatte sich Gedanken zum Ablauf des kommenden Jahres gemacht, war dabei allerdings auf eine andere Idee gekommen, die ihr wesentlich sympathischer erschien. Sie hatte sich vorgenommen, ab Neujahr täglich in einem kleinen schwarzen Büchlein zu notieren, was ihr an jedem einzelnen Tag Schönes widerfahren würde. Es musste nichts Großes sein, nichts Überwältigendes, einfach etwas Schönes, etwas Gutes, etwas Positives, das ihr den Tag und damit auch das Leben ein wenig aufgeheitert oder erhellt, das ihr vielleicht sogar einen Blick auf dieses so genannte Glück ermöglicht hatte.
Das alles begann vor einem Jahr. Nun, dreihundertzweiundsechzig Tage später, saß sie bei Nacht in ihrem Zimmer und blätterte durch das Notizbuch, das sie mit ihren Erlebnissen gefüttert hatte, um sich so kurz vor Silvester die vergangenen zwölf Monate noch einmal Tag für Tag durch den Kopf gehen zu lassen, die angenehmen wie die bedrückenden Zeiten. Sie hatte ein gutes Gefühl dabei, denn das letzte Jahr war schnell vergangen, fast schon zu schnell, und wenn etwas schnell vergeht, ja zu schnell gar, dann ist das in der Regel doch ein Zeichen dafür, dass man eine gute Zeit verbracht hatte. Die guten Zeiten vergehen immer wie im Flug, das ist das Traurige an ihnen und der Grund, weshalb sie so selten das Gewicht der schweren Zeiten aufwiegen können, die sich ihrerseits wie Fußketten an das Leben binden, sodass man sich fühlt, als würde man durch ein Moor waten und nicht vorankommen. Zwar waren in diesem Jahr nicht alle ihre Wünsche in Erfüllung gegangen, aber wer konnte das schon von sich behaupten.
Als sie anfing, die ersten Seiten durchzublättern und dabei die täglichen Einträge zu studieren, musste sie schmunzeln. Sie ging in die Küche, öffnete sich eine Flasche Wein und widmete sich der weiteren Lektüre. Was sie las, stimmte sie zufrieden. Es waren Kleinigkeiten, aber es waren teils süße, teils herzerwärmende, teils völlig in Vergessenheit geratene Geschehnisse, die sie dort sah, und es waren Dinge, die sie auch heute noch fröhlich gemacht hätten, würden sie ihr erneut passieren. Sie las die Einträge des gesamten Januars und dann die Notizen des folgenden Februars. Ihr fiel auf, dass sich einige Erlebnisse bereits wiederholten, doch das störte sie nicht weiter. Ganz im Gegenteil, entwickelte sich beim Lesen eine gewisse Spannung, denn da Januar und Februar recht ruhig verlaufen waren, fieberte sie innerlich dem ersten außergewöhnlichen, dem ersten auffälligen, dem ersten bedeutenden Eintrag entgegen, was nun wiederum nicht hieß, dass die bisherigen Einträge für sie unbedeutend gewesen wären, nur waren es Banalitäten, alltägliche Geschehnisse, die sicherlich jedem zuteilwurden und sich jederzeit wieder ereignen könnten, wenn sie einfach nur einen völlig normalen Tag verbringen oder durch die Fußgängerzone schlendern würde.
Sie setzte ihre Hoffnungen in den März, denn endlich, ja endlich musste doch etwas Aufregendes geschehen sein. Beim Lesen offenbarte sich ihr dann allerdings das gewohnte Bild, das Januar und Februar ihr bereits zur Genüge präsentiert hatten. Langsam wurde sie ungeduldig. Vielleicht ist es doch eine blöde Idee gewesen, dieses Büchlein zu führen, dachte sie sich und blätterte nun ganz zufällig durch die Seiten, bis sie einen Tag im Juni aufschlug, immer noch auf der Suche nach spannenden, irgendwie berührenden Ereignissen. „Fünf Euro auf dem Weg zur Arbeit gefunden“ las sie da und lachte. Nein, das war nun wirklich weder spannend noch berührend. Der folgende Tag war demgegenüber schon etwas besser, denn dort hatte sie notiert: „Im Regen spazieren gegangen“. Sie liebte es, im Regen durch die Straßen der Stadt spazieren zu gehen, insofern war dies nun für sie zwar ein irgendwie berührender, aber kein sonderlich hervorstechender, kein außergewöhnlicher, kein befriedigender Eintrag. Sie blätterte weiterhin wahllos im Juni herum, las „Von einem Kollegen ein Stück Kuchen bekommen“ oder „Jemandem den Weg erklärt“, fand „Eine Frau hat mir lächelnd die Tür der Straßenbahn aufgehalten“ und „Himmlisch geschlafen“, aber rein gar nichts, von dem sie sagen konnte, es sei etwas Besonderes gewesen, das ihr ein Stück vom Glück dargeboten hätte. Das müssen ziemlich schlechte Tage gewesen sein, dachte sie und blätterte weiter, doch was sie auf den Seiten der darauffolgenden Wochen lesen konnte, kam ihr noch banaler, noch unwichtiger, jedenfalls keineswegs erfüllend oder einfach bloß gut vor, sondern irgendwie leer. Sie fühlte sich wie jemand, der in der Lotterie gewinnt und dann aber feststellen muss, dass alle anderen ebenfalls gewonnen haben. Nun, dann sind es eben keine schlechten Tage gewesen, schlechte Wochen müssen es gewesen sein. Sie suchte weiter. Es waren keine schlechten Tage gewesen, musste sie feststellen, auch keine schlechten Wochen, es waren die besten Tage im ganzen Monat gewesen, sogar in zwei Monaten, und der Rest des Jahres war, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht viel besser.
Konnte das wirklich die Wahrheit sein? Sie hatte für jeden Tag des Jahres jeweils nur das eine, das allerbeste Erlebnis notiert, das ihr widerfahren war, die beste Handlung, die sie vollbracht, oder das schönste Gefühl, das sie an diesem Tag empfunden hatte – und diese Dinge, die sie da lesen musste, diese Banalitäten, diese Nichtigkeiten, diese lieblosen leeren Worte, die sie kaum zu lesen wagte, die waren genau das, alles erschöpfte sich in diesen Belanglosigkeiten? Diese Einträge voller unbedeutender Alltäglichkeiten waren alles, was ihr Leben in diesem einen Jahr ausgemacht hatte? Das war das Beste, was die Welt ihr in diesen Wochen und Monaten geboten hatte? Mehr war da nicht?
Was sie außerdem beunruhigte, waren Einträge wie der folgende: „Netter Kassierer hat mir zugezwinkert“. Das ganze letzte Jahr hatte sie allein verbracht, genau wie auch das Jahr zuvor. Sie fand viele weitere Einträge, die Ähnliches festgehalten hatten, ob es sich dabei nun um Kassierer, Jogger, U-Bahn-Fahrgäste oder irgendwelche Callcenter-Mitarbeiter gehandelt hatte. Sie las diese Einträge und sah darin den Unterton, mit dem sie sie wahrscheinlich auch geschrieben hatte: Jemand findet mich gut, jemand mag mich, ich bin etwas wert. War sie so verzweifelt nach menschlicher Nähe, nach dem Gefühl, jemandem – irgendjemandem – zu gefallen? Ihre Zufriedenheit begann zu bröckeln.
Sie nannte es ein Leben, was sie da geführt hatte, nun aber fragte sie sich, ob es denn wirklich mehr war als eine unbedeutende Existenz. Verzweifelt suchte sie nach einem Eintrag, der herausstach, der besonders war, der es wert war, das Beste eines Tages, eines Monats, eines Jahres zu sein. Sie fand absolut nichts, was sie überzeugt, was sie beeindruckt oder was ihr das Gefühl gegeben hätte, ein gutes Jahr hinter sich zu haben. Sie vermisste das große Glück.
Eines Tages blickt man in den Spiegel und begreift, dass man niemals mehr sein wird als das, was man dort sieht. Mit dieser Erkenntnis kann man weiterleben und sie akzeptieren, man kann sich umbringen, um allem zu entgehen, oder man blickt nie wieder in einen Spiegel.
Es war wenige Tage vor Silvester, als sie zum letzten Mal eine leere Seite in ihrem schwarzen Büchlein aufschlug und mit zittrigen Fingern lediglich das Wort „Ende“ hineinschrieb.
Er erwachte völlig entkräftet in einem Krankenhausbett und konnte sich weder daran erinnern wie noch warum er hierhergekommen war. Hatte er einen Unfall gehabt, war er einfach bloß umgekippt oder hatte er vielleicht einen Schlaganfall erlitten? Seine Arme und seine Beine schmerzten ihn, und als er versuchte, sie mehr als ein paar Zentimeter zu bewegen, gab er nach kurzer Zeit erschöpft auf. Seine Augen vernahmen eine menschliche Silhouette neben dem Bett, doch noch erkannte er darin kein Gesicht. Verwirrt und ohne diesen Schatten direkt anzusprechen, stammelte er bloß: „Wo… wo bin ich hier? Was ist mit mir passiert?“
„Pssst“, flüsterte eine Frauenstimme zärtlich. „Sei unbesorgt, mein Schatz, alles wird wieder gut. Hab keine Angst. Du bist hier in den besten Händen. “
Er erkannte diese Stimme sofort. Sie gehörte seiner Freundin, genaugenommen seiner ehemaligen Freundin, dieser Frau aus vergangenen Zeiten, die ihn, wie er es ausdrücken würde, vor drei elend langen Jahren aus Gründen verlassen hat, die er nie verstehen wird, nachdem sie beide für fünf gute Jahre eine Beziehung miteinander geführt hatten. Als es zum Ende kam, ging sie fort und warf nie einen Blick zurück, doch er kam niemals über sie hinweg. Er dachte immer noch an sie und er vermisste sie an jedem Morgen, wenn er aufwachte, an jedem Abend, wenn er einschlief, in jedem Bett, in dem er lag. Am Anfang glaubte er, das ginge bald vorbei, er würde das Vermissen hinter dem Alltag leicht verbergen können, und wäre erst etwas Zeit vergangen, dann würde er sie irgendwann vergessen, doch es verstrich erst ein Jahr, dann zwei Jahre und schließlich drei, ohne dass es ihm gelang, sie aus seinen Gedanken und vor allem aus seinen Gefühlen zu verbannen. Mehrmals hatte er in dieser Zeit versucht, eine Beziehung mit einer anderen Frau aufzubauen, also weiterzumachen, die Wunden der Vergangenheit wenn schon nicht zu heilen, dann doch wenigstens zu verbinden, aber keinem dieser Versuche war letzten Endes ein langer Bestand gegönnt. Er musste sich irgendwann eingestehen, dass keine dieser Beziehungen einen Wert für sich hatte, sondern sie in Wahrheit nur ein unbewusster und verzweifelter Versuch waren, seine ehemalige Freundin zu ersetzen, die für ihn so unersetzbar war. Keine dieser Ersatzbeziehungen konnte er für allzu lange Zeit aufrechterhalten, keine dieser Frauen konnte ihn verzaubern, denn jede von ihnen verglich er mit ihr und keine war für ihn so gut wie sie, keine genügte seinem Vergleich, keine war ein Duplikat seiner einzigen großen Liebe.
„Du? Wieso bist du hier? Und… du nennst mich Schatz? Warum? Wir sind… schon so lange nicht mehr zusammen.“
„Ich dachte, es würde dir gefallen. Ich weiß, wie sehr du mich vermisst.“
„Was weißt du schon“, seufzte er.
„Ich kann es dir nicht verübeln“, ergänzte sie kokett, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte in sein Ohr: „Ich war das Beste, das dir je passiert ist, und ich werde es für immer sein.“
„Warum bist du hier?“ wiederholte er seine Frage.
„Freust du dich denn nicht? Ich weiß, dass du bis heute ständig an mich denkst, selbst nach all den Jahren. Ich weiß, wie sehr du mich brauchst, jetzt noch mehr denn je, und dass du mich nicht loslassen kannst, selbst wenn du wolltest. Du vermisst mich, du hast dich in deiner Sehnsucht eingemauert und du kommst dort nicht heraus. Kann es einen größeren Liebesbeweis geben als jenen, welchen du mit dir herumträgst? Ich bin hier, weil ich das weiß, und weil ich schätzen gelernt habe, wie sehr du wirklich an mir hängst.“
Unter großer Anstrengung drehte er sich in seinem Bett von ihr weg und verbarg sein Gesicht, damit sie darin nicht sehen konnte, wie sehr sie ihn mit diesen Worten erwischt hatte.
„Entschuldige, mein Schatz, ich lass dich erst einmal allein. Du bist noch sehr schwach und sicher auch sehr müde. Wir reden später. Nimm die hier, die helfen dir“, sagte sie und zeigte auf zwei Pillen und ein Glas mit Wasser, das direkt daneben stand. Dann ging sie zur Tür, drehte sich noch einmal um, pustete ihm einen Luftkuss zu und verließ den Raum.
In den darauffolgenden Tagen verbesserte sich sein Zustand ein wenig, doch fiel es ihm noch immer schwer, Arme und Beine zu bewegen, sodass an Aufstehen noch lange nicht zu denken war. Das Zimmer, in dem er sich befand, war relativ klein, er sah zwei Schränke, ein Fenster und einen bescheidenen Tisch mit einem Stuhl. Jeden Tag besuchte ihn seine ehemalige Freundin und umsorgte ihn liebevoll. Sie brachte ihm Bücher, Zeitschriften und Mahlzeiten, sie unterhielt sich mit ihm über die alten, gemeinsamen Zeiten, erzählte ihm von den neuesten Ereignissen und versorgte ihn mit neuen Medikamenten. Er fühlte sich in ihren Händen geborgen und konnte bei weitem nicht verhehlen, sich über ihre Anwesenheit mehr als nur zu freuen. Die Zeit verging jedoch, ohne dass sich sein Zustand wesentlich verbessert hätte, doch was ihn viel mehr verwunderte, war die merkwürdige Tatsache, dass er während seines Aufenthalts bislang kein Pflegepersonal oder einen Arzt zu Gesicht bekommen hatte. Selbst als er den kleinen Knopf drückte, um jemanden an sein Bett zu rufen, kam niemand, es geschah nichts. Einzig seine Ex-Freundin erschien mit einer gewissen Regelmäßigkeit, also sprach er sie darauf an:
„Ich habe hier noch nie eine Schwester gesehen, geschweige denn einen Arzt.“
„Sei unbesorgt, mein Schatz, man kümmert sich sehr gut um dich. Ich habe dem Personal klargemacht, dass ich mich, soweit es geht, alleine um dich kümmern werde und man dein Zimmer wirklich nur im Notfall zu betreten hat. Ich will keine Leute hier um dich herum, die dich ständig stören oder mit irgendwas belästigen, wenn du dich doch schonen musst.“
„Aber nicht einmal ein Arzt war hier…“
„Doch, doch“, beruhigte sie ihn, „der Arzt war gestern Abend bei dir, als du schon tief und fest geschlafen hast. Ich war dabei. Du hast geschlafen wie ein Stein, aber deinen Schlaf hast du auch bitter nötig. Der Arzt wollte dich aufwecken, aber ich hab ihn angefaucht, er soll dich bloß in Ruhe lassen, solange es kein Notfall ist. Da ist er gegangen.“ Sie fing an zu lachen. „Du weißt, ich kann sehr überzeugend sein.“
Als sie nach ein wenig Plauderei schließlich ging, nahm er sich vor, an diesem Abend einfach so lange es ihm möglich sein würde wach zu bleiben, sollte der Arzt erneut nach seinem Zustand sehen wollen. Er rang mit der Müdigkeit, aber er ließ sich von ihr nicht übermannen, und so wartete er bis in die frühen Morgenstunden. Es erschien weder ein Arzt noch sonst irgendjemand. Schließlich schlief er ein und wurde einige Stunden später von seiner einzigen, treuen Besucherin geweckt, die ihm sein Frühstück ans Bett servierte.
An diesem Morgen jedoch war er aufgrund des wenigen Schlafs völlig ausgelaugt, und als er die Pillen zu sich nehmen wollte, die schon seit dem ersten Tag jede seiner Mahlzeiten begleiteten, verlor er sie aus den Fingern. Sie schienen unter sein Bett zu rollen, aber so genau konnte er das nicht beobachten. Seine ehemalige Freundin stand währenddessen am Fenster und bekam von alledem nichts mit, also beließ er es dabei. In den folgenden Stunden bemerkte er, dass das Gefühl in seinen Armen und Beinen mehr und mehr zurückkehrte und es ihm zunehmend leichter fiel, sie zu bewegen. Er wusste nicht, ob er das als Zufall abtun oder auf das Auslassen der Medikamente zurückführen sollte, also sprach er diese Frage am Abend an:
„Was sind das eigentlich für Pillen, die du mir jedes Mal mitbringst?“
„Die sind für deine Schmerzen, mein Schatz“, entgegnete sie mit einem Lächeln auf den Lippen, in das er sich damals sofort verliebt hatte, „die sollen dich beruhigen.“
Unter Schmerzen jedoch litt er nur, wenn er diese Mittel zu sich nahm, doch dass er zu dieser Erkenntnis gekommen war, wollte er ihr nicht mitteilen. Er entschloss sich dazu, die Pillen in Zukunft heimlich zu meiden. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte er bei sich, erst sah er weit und breit kein Personal und nun dieser… Zufall.
Am nächsten Morgen fühlte er sich wesentlich besser, sehr zu seiner Verwunderung. Arme und Beine konnte er nun frei bewegen, so als sei niemals irgendwas geschehen. War denn je irgendwas geschehen? Er richtete sich zunächst im Bett auf, schwang dann die Beine heraus und stand schließlich auf, ohne jene Gliederschmerzen zu verspüren, die ihn seit seinem Aufwachen ans Bett gefesselt hatten. Nach kurzem Zögern ging er zur Tür, doch als er die Klinke herunterdrückte, geschah gar nichts. Sie ließ sich nicht öffnen. Und da verstand er. Die Pillen sollten ihm nicht helfen, sie sollten ihn im Bett halten. Sie wollte ihn nicht gehen lassen.
Sein Blick fiel auf das Fenster, das der einzige Ausweg zu sein schien. Er zog den Vorhang zur Seite, öffnete es und musste feststellen, dass er sich hier wohl im vierten oder fünften Stock befand. Ein Sprung würde wahrscheinlich tödlich enden, und irgendetwas, an dem er sich hätte festhalten, an dem er nach unten hätte klettern können, konnte er nicht sehen. Er war gefangen. Plötzlich hörte er ein Geräusch an der Tür, und bevor er sich zurück ins Bett legen konnte, stand sie schon im Raum und warf ihm einen überraschten Blick zu.
„Dein Zustand hat sich endlich gebessert“, sagte sie und versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. „Ich bin so glücklich, ich dachte schon, du würdest für immer dort liegen bleiben.“
„Die Tür war abgesperrt“, bemerkte er knapp. „Warum?“
„Ach, mein Schatz, das ist nur zu deinem Besten.“
„Erklär mir das! Wie zum Teufel soll das denn zu meinem Besten sein?“
„Vertraust du mir nicht mehr?“
„Es fällt mir zunehmend schwer, jemandem zu vertrauen, der mich einsperrt und mit irgendwelchem Zeug vollpumpt, das mir jede Handlung unmöglich macht.“
„Reg dich bitte nicht auf.“
„Bring mir einen Arzt!“
„Es gibt hier keine Ärzte. Ich kümmere mich um dich, nur ich.“
„Du bist verrückt!“
„Leg dich wieder hin, mach es dir gemütlich und lass dich einfach von mir versorgen. Ich habe dich in den letzten drei Jahren im Stich gelassen, das tut mir leid, aber alles kann wieder so werden, wie du es dir wünschst. Wir bleiben zusammen, nur wir beide. Du brauchst sonst niemanden. Niemanden!“
Er sah sie an und blickte dann zum Fenster, das immer noch geöffnet war. Ihr überraschtes Gesicht wich einem Ausdruck der Verzweiflung, dann purer Wut. Als sie einige Schritte auf ihn zuging, stieg er in das Fenster, hielt sich am Rahmen fest und sprach zu ihr, sie solle zurückbleiben, sie solle ihn nicht anrühren, sonst würde er springen. Sie blieb stehen und setzte wieder ihr berauschendes Lächeln auf.
„Ich weiß, du vermisst mich an jedem einzelnen Tag, seitdem ich dich verlassen habe.“ Ihre Stimme war süß und gleichzeitig voller Erotik, so als wolle sie ihn verführen. „Ich weiß, du liebst mich heute noch genau wie vor drei Jahren, und ich weiß, dass du auch immer noch die Hoffnung hegst, mit mir dein ganzes Leben zu verbringen. Wir könnten zusammen noch einmal anfangen, das hast du dir doch all die Jahre gewünscht. Nur du und ich, für immer. Bleib bei mir, mein Schatz. Willst du dein Leben denn einfach wegschmeißen, wenn du loslässt und springst?“
„Du bist nicht mein Leben!“, schrie er sie an, blickte in ihre Augen, löste die Finger vom Rahmen und ließ sich aus dem Fenster fallen. „Du warst es viel zu lang.“
Völlig benommen wachte er in einem Krankenhausbett auf und konnte sich weder daran erinnern wie noch warum er hierhergekommen war. Neben dem Bett erkannte er eine menschliche Silhouette, die irgendetwas zu irgendjemandem sagte, den er nicht sehen konnte. Plötzlich erschien eine zweite Gestalt, die sich ihm als Arzt vorstellte und ihm erklärte, es habe lange Zeit nicht gut für ihn ausgesehen: „Sie waren für einige Zeit im Koma, aber nun haben Sie ja doch noch den Sprung zurück ins Leben geschafft.“
Es dauerte zwei ganze Tage, bis mir so langsam klar wurde, was er wirklich zu mir gesagt hatte. Er wolle nicht den Teufel an die Wand malen, doch es sähe nicht gut aus, hatte der Arzt mit einem kurzen Kopfschütteln gemeint, jedoch gleich noch hinzugefügt, wahrscheinlich um der Aussage etwas von ihrer Bedrohlichkeit zu nehmen, ein endgültiges Ergebnis könne er mir erst in einigen Tagen mitteilen. Wie schlimm denn „nicht gut“ sei, hatte ich gefragt, und er antwortete bloß knapp, im schlimmsten Fall stünden die Chancen nicht sehr gut, dass ich das Ende des Jahres noch erleben würde, sollte die genaue Untersuchung seine Vermutung denn bestätigen. Vielleicht war er etwas vorschnell, doch ich schätzte seine Aufrichtigkeit, denn die meisten Ärzte hätten sich davor gedrückt, solch eine Vermutung offen auszusprechen, solange sie nicht über eine definitive Diagnose verfügten, um, wie sie sagen würden, ihre Patienten nicht unnötig zu verängstigen. Zwei Tage später saß ich in einem Bus, es war Nachmittag, und erst da begriff ich plötzlich, wie meine Perspektiven sich verändert hatten. Ich würde vielleicht sterben, und zwar sehr bald.
Ich sprach mit niemandem darüber, außer mit meinen Eltern. Wieso auch? Noch stand das Ergebnis gar nicht fest und ich wollte niemanden unnötig beunruhigen, also verhielt ich mich wie jene Ärzte, die ihre Patienten erst einmal im Dunkeln lassen. Ich hätte es nicht ertragen, von Freunden oder denjenigen Menschen, die sich dafür hielten, mitleidige Blicke und wohlmeinenden Zuspruch zu erhalten, der bestenfalls gut gemeint und im schlimmsten Fall einfach nur lächerlich ist. Nein, ich behielt es für mich, denn es handelte sich ja um eine höchst private Angelegenheit, die zuallererst bloß mich etwas anging. Und wie sie mich etwas anging!
Was in mir geschah, nachdem ich erst einmal begriffen hatte, wie meine Chancen standen und dass ich vielleicht bald sterben würde, kann ich gar nicht so genau beschreiben. Es war jedoch nicht wirklich schlecht, was in mir vorging, so wie man es vielleicht von jemandem erwarten würde, der dem Tod ins Auge blickt, denn genau das tat ich ja, mehr oder weniger. Ich verfiel nicht in tiefe Depression, ich wurde weder apathisch und hoffnungslos, noch begann ich plötzlich, mich für Extremsport zu interessieren, um auf die letzten Tage noch möglichst viele Kicks zu bekommen. Ich blieb, wenn man das so sagen kann, oberflächlich betrachtet ziemlich normal.
Unter der Oberfläche jedoch vollzog sich ein Wandel, der zwar nicht besonders spektakulär erschien, aber meinem Leben eine gewisse neue Richtung geben sollte. Bislang hatte ich ein Leben geführt, das sich in der Regel daran orientierte, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und möglichst wenig aufzufallen, weil Auffallen in der Regel bedeutete, ziemlich schnell in Situationen zu geraten, die sich zu Problemen entwickeln könnten. Ich war der Mann, der immer da, aber nie dabei sein wollte, der immer anwesend, aber nie beteiligt war. Das sollte sich ändern.
Es gab da eine Frau. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ich in sie verliebt gewesen sei. Ein wenig vielleicht. Mehr wollte ich mir nicht erlauben, weil es zu Problemen hätte führen können. Wir gingen einige Male aus, ja, aber nur unter Vorwänden, nur mit Begleitung, und nie fiel das Wort Date, geschweige denn ein Kuss. An schlechten Tage fühlte ich mich feige und hasste mich dafür, nicht den Mut aufzubringen, sie einfach zu küssen, doch an guten Tagen klopfte ich mir auf die Schulter, die Sache nicht noch weiter zu vertiefen, würde sie doch sowieso in einer Katastrophe oder auf eine andere peinliche Art enden, aber jedenfalls enden. Es gab Menschen in meinem Leben, zu denen ich freundlich war, obwohl ich sie nicht ausstehen konnte. Mein Chef zum Beispiel, um ein Klischee zu erfüllen, denn wer mag schon seinen Chef, aber auch Leute in meinem Freundeskreis, Freunde von Freunden, irgendwelche Bekannte sowie natürlich diejenigen, von denen man sich erhofft, für die gespielte Freundlichkeit irgendwann einmal etwas zurückzubekommen. Ich war ordentlich und brav, könnte man sagen, denn ich erfüllte Aufgaben, die mir zugetragen wurden, in der Regel ohne zu murren, befolgte die Regeln, auch wenn sie mir noch so unsinnig erschienen, wagte nichts und ordnete mich unter, wo es nur ging, weil alles andere nur wieder zu Problemen geführt hätte. Es war kein unangenehmes Leben, doch es war ein Leben, das mich auch nicht wirklich befriedigte. Ich ließ mich treiben.
Nach den Worten des Arztes jedoch war alles anders. Meine Perspektive, meine Rolle in der Welt und auch meine Selbstbetrachtung hatten sich verändert. Ich würde vielleicht bald sterben. Haben wir nicht alle diesen Gedanken in uns, schlicht und einfach das zu tun, was uns wirklich glücklich macht, wenn wir nur noch einen Tag zu leben hätten. Wenn es für mich auch nicht ein einzelner sein sollte, so schienen meine Tage doch gezählt. Wie lange hätte ich noch gehabt? Sechs Monate? Ein Jahr? Was ist in einem solchen Fall schon der Unterschied zwischen einem Tag und einem Jahr? Oder anders gefragt: Was ist der Unterschied zwischen einem Tag und einem Leben? Wieso tragen wir diese Vorstellung mit uns herum, wir würden plötzlich alles ganz anders leben und erleben, wenn wir wüssten, es wäre unser letzter Tag? Wenn ich morgen ganz unspektakulär in der Dusche ausrutschen sollte, wäre mein letzter Tag dann nicht der heutige, also beliebig? Immer und nie zugleich? Warum ändern so viele Menschen ihr Leben, wenn sie ein mehr oder weniger vages Datum für ihren Tod erfahren? Verbringen wir unsere Leben vielleicht so unglücklich, so unbefriedigend, so leer, weil wir glauben, wir lebten für immer, wir könnten alles noch irgendwann nachholen, was wir versäumen – und erst das baldige Ende, dieser Gedanke an Endlichkeit bringt uns dazu, unser Leben wahrhaft zu genießen, wenn es dafür schon fast zu spät ist? Ich weiß es nicht.
Was ich jedoch wusste, war, mein Leben sollte anders werden. Ich wollte die wenige Zeit, die mir vielleicht noch blieb, sinnvoll nutzen, sinnvoller als bisher. In meinem Kopf malte ich mir aus, wie mein Leben in Zukunft aussehen sollte. Zuallererst würde ich sie anrufen und um ein Date bitten, ein klares, eindeutiges Date, um dem vorsichtigen Antasten endlich ein Ende zu bereiten. Es wäre riskant, natürlich, so wie jede Liebeserklärung, aber ich hatte nichts mehr zu verlieren. Vor meinem Chef würde ich nicht länger kriechen, wenn er mich für seine eigene Inkompetenz bestraft. Anstatt zu heucheln, würde ich immer meine ehrliche Meinung zum Ausdruck bringen, auch wenn sie einigen Menschen vielleicht nicht gefallen mag. Ich würde diejenigen meiden, die mir nicht guttun, und würde mir Zeit für Menschen und Dinge nehmen, die mir besonders am Herzen liegen. Ich würde ein besserer Freund sein, ein besserer Sohn, ein besserer Liebhaber, ein besserer Mensch. Das war es, was ich mir vorstellte, was in mir brannte. Ich würde, wenigstens auf meine letzten Tage, endlich das Leben führen, das ich schon die ganze Zeit hätte führen sollen.
Drei Tage später erhielt ich die Ergebnisse. Der Arzt sagte zu mir, ich hätte riesiges Glück, und was er damit meinte, war wohl, ich bekäme mein ewiges, undatiertes Leben zurück. Ich ging nach Hause, setzte mich auf meine Couch und verarbeitete, was eben geschehen war. Ich dachte an die Frau, mit der ich schon seit langer Zeit so gerne ausgehen würde, und verteufelte mich dafür, sie noch immer nicht angerufen zu haben. Dann endlich nahm ich das Telefon in die Hand, wählte die Nummer meiner Eltern, erzählte ihnen die gute Nachricht, und führte mein Leben weiterhin wie zuvor.
„Ich verstehe das alles nicht. Was ist bloß mit mir los?“
„Bitte?“
„Was stimmt nicht mit mir? Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan. Für mehr als sechs Stunden lag ich wach, sechs volle Stunden, und die ganze Zeit habe ich fast ausschließlich an sie gedacht und die gesamte Situation, in der ich mich befinde. Nichts ergibt irgendeinen Sinn.“
„Ich verstehe nicht so recht, worum es geht.“
„Das Erste, woran ich denke, wenn ich morgens aufwache, ist ihr Gesicht, ihr Lächeln. Ohne zu zögern möchte ich sie anrufen, ihr einen Brief schreiben oder mich einfach irgendwie mit ihr treffen. Als ich das letzte Mal mit ihr zusammensaß, ertappte ich mich dabei, auf ihre Hände, auf ihre Handgelenke zu starren und bloß den einen Gedanken im Kopf zu haben, wie wunderschön sie sind und wie gerne ich sie berühren würde, nicht mit sexuellem Hintergedanken oder so, einfach nur… eine Berührung, um ihre Hände zu halten, um ihre Haut zu spüren.“
„Ich fange an zu verstehen.“
„Einmal erwähnte sie mir gegenüber irgendeinen unbedeutenden Typen, den sie getroffen hatte, ein namenloser Kerl, und ich fürchte, ich wurde eifersüchtig…“
„Warum?“
„Genau! Warum? Ich habe keine Ahnung, warum. Es gibt gar keinen Grund für mich, eifersüchtig zu sein.“
„Das heißt?“
„Es ist völlig hirnrissig.“
„Was?“
„Ich liebe sie nicht. Gott, ich habe nicht mal irgendwelche Gefühle für sie. Dennoch… verwirrt mich das alles sehr.“
„Alles? Was alles?“
„Ich sehe Gespenster.“
„Gespenster?“
„Ja. Ständig sehe ich Menschen, die so aussehen wie sie, die mich an sie erinnern, die sie in meinem Kopf lebendig werden lassen. In den Straßen der Stadt, im Zug, in irgendwelchen Bars, eigentlich überall. Selbst wenn ich ganz genau weiß, sie kann es nicht sein, die in diesem Moment genau da ist, wo ich auch bin, weil sie beispielsweise auf der Arbeit ist, spüre ich doch jedes Mal so ein Gefühl, so eine Hoffnung, dass es ja doch tatsächlich sie sein könnte, die ich da vor mir sehe. Ich fühle den Drang, einfach hinzugehen und sie anzusprechen, diese Gespenster anzusprechen, die ich sehe, obwohl ich doch genau weiß, wie sinnlos das wäre. Wenn jemand nur vage Ähnlichkeit mit ihr hat, geht das schon los und ich verhalte mich so fremd, fühle diesen Drang. Klinge ich wie ein Idiot? Bin ich verrückt?“
„Ich denke, wir kennen alle diese spezielle Form von Verrücktheit.“
„Sobald mein Telefon klingelt oder ich bloß eine Email bekomme, erwacht in mir sofort die Hoffnung und der Wunsch, es könnte vielleicht sie sein, und jedes Mal bin ich dann regelrecht enttäuscht, wenn sie es nicht ist. Am Anfang habe ich über all das gar nicht nachgedacht, ja ich habe es nicht einmal wirklich bemerkt, wie seltsam ich mich verhalte, aber in letzter Zeit kann ich es nicht mehr übersehen, nicht mehr ignorieren, und… es treibt mich in den Wahnsinn. Es ist, als blickte ich in einen Spiegel und sähe dort mein Spiegelbild irgendwelche Dinge tun, die ich selbst nie tun würde, doch zur gleichen Zeit weiß ich ganz genau, dass es niemand anderes ist als ich höchstpersönlich, den ich da im Spiegel sehe. Heute Morgen wollte ich einem meiner Kollegen eine Email schreiben, und als ich seine Emailadresse ins Empfängerfeld hätte eintragen müssen, stellte ich fest, dass ich schon ihre eingegeben hatte, ohne darüber nachzudenken. Es ist verrückt, oder? Das bin nicht mehr ich.“
„Du bist ein Entdecker in einem Wunderland. Gewöhn dich besser daran.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte. Aber warte, da ist noch mehr. Als ich heute im Laufe des Tages an ihrer Wohnung vorbeifuhr, musste ich kurz an einer roten Ampel anhalten, und als ich da so wartete, das habe ich mir zunächst nicht eingestanden, hoffte ich, sie käme aus ihrer Tür heraus und geradewegs auf mich zu. Ich wusste, sie war nicht zuhause, dennoch habe ich genau das gehofft. Aber weißt du was?“
„Was?“
„Wenn sie tatsächlich aus ihrer Tür herausspaziert wäre, hätte ich nicht die geringste Idee gehabt, wie ich mit dieser Situation umgehen oder was ich zu ihr hätte sagen sollen. Es ist jedes Mal so, wenn ich sie sehe, ich fühle mich berauscht und unbehaglich zugleich, und ich verstehe nicht, wieso das so ist.“
„Aber du bist dennoch glücklich dabei?“
„Letzte Woche bin ich durch das halbe Land gereist, nur um einen einzigen Abend mit ihr zu verbringen…“
„Nur ein Abend?“
„Nur ein Abend. Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, um zu ihr zu kommen, und es kostete mich ein Vermögen, aber es hätte mir nicht gleichgültiger sein können, denn alles, was mir in diesem Augenblick etwas bedeutete, war der Umstand, sie zu sehen, ihr nahe zu sein, Zeit mit ihr verbringen zu können. Oh Mann, ich kann immer noch nicht richtig glauben, dass ich das wirklich getan habe. Das entwickelt sich alles in die falsche Richtung.“
„Um ehrlich zu sein, klingst du sehr danach, als würdest du dir etwas vormachen, die Wahrheit verleugnen, und glaub mir, damit kenne ich mich aus, ich weiß, wovon ich rede.“
„Langsam bezweifle ich, dass es eine gute Idee war, das mit dir zu diskutieren…“
„Es zu ignorieren ist sicher keine bessere.“
„Hör zu, es gibt nichts zu verleugnen, aber selbst wenn dem so wäre, rein hypothetisch gedacht, wäre ich sicher der Einzige, der in dieser Sache emotional involviert ist, also muss ich darüber gar nicht erst nachdenken.“
„Und dennoch tust du es. Es spielt außerdem überhaupt keine Rolle, weißt du.“
„Was spielt keine Rolle?“
„Es spielt keine Rolle, ob sie ebenfalls emotional involviert ist, wie du es so hochtrabend ausgedrückt hast. Was immer sie für dich fühlt oder angeblich nicht fühlt, ändert rein gar nichts an dem, was du für sie empfindest. Du hast also Unrecht. Es hat durchaus Sinn, über all das nachzudenken. Du denkst über all das nach, du denkst über sie nach, du denkst an sie.“
„Aber ich empfinde doch gar nichts für sie!“
„Jaja, ist klar, wie auch immer. Lass mich kurz zusammenfassen, was du mir bis hierhin erzählt hast: Jeden Morgen ist sie das Allererste, woran du denkst, wenn du aufwachst, und du setzt Himmel und Hölle in Bewegung, nur um sie für eine kurze Zeit zu sehen, nur um ihr vorübergehend nah zu sein. Du bist nervös, wenn sie in deiner Nähe ist und du vermisst sie, wenn sie das nicht ist, darum siehst du deine so genannten Gespenster. Offensichtlich geht sie dir nicht mehr aus dem Kopf, und anscheinend geht sie dir auch nicht mehr aus dem Herzen. Du bist mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit gerade der dümmste Mensch auf diesem Planeten.“
„Warum sollte ich das sein und wer denkst du, dass du bist, um das zu beurteilen?“
„Oh, ich existiere nur in deinem Kopf, mein Freund. Das ist dir aber klar, oder? Dessen ungeachtet unterhältst du dich bereits seit einer knappen halben Stunde mit mir – nun, mit dir selbst eigentlich – darüber, wie du ja so gar keine Gefühle für sie hast, während sie gleichzeitig ganz offensichtlich das ist, was dich am meisten beschäftigt und dir am allerwichtigsten ist. Willst du mich verarschen? Soll das ein beschissener Scherz sein?“
„Bitte was?“
„Pass auf, ich werde dir keine definitive Antwort auf deine ursprüngliche Frage geben, aber wenn wir uns einmal ansehen, welche Hinweise und Anhaltspunkte du dir selbst gegeben hast, bin ich mir verdammt sicher, du wirst das Rätsel lösen. Ich hoffe für dich, du wirst es tun, andernfalls bist du ein riesiger Idiot. Ich habe erledigt, wofür ich kam. Viel Glück!“
Wer von Geheimnissen lebt, verschreibt sein Dasein der ständigen Angst vor Offenbarung. Heute weiß ich, du hattest eine selbstzerstörerische Vorstellung, die jeden Zug deines Handelns bestimmte und der du treu warst wie einem Dogma. Du warst so sehr von diesem Grundsatz überzeugt, den du dir aus Gründen kultiviert hattest, die mir für immer verborgen bleiben werden, dass für dich die Konsequenzen deiner Überzeugung weder überschaubar waren noch beachtenswert erschienen.
Jede ernsthafte Verbindung zwischen zwei Menschen könne nur Bestand haben, so predigtest du mir und jedem anderen, der das Unglück hatte, dieses Thema einmal anzuschneiden, wenn man die Impulse und Geheimnisse des Anderen nicht hinterfrage. Was du mit diesem Satz zum Ausdruck brachtest, das hieß in letzter Konsequenz, dem Anderen auf ewig ein Fremder zu bleiben, den Abstand niemals zu verlieren, der zwischen jenen steht, die sich nicht kennen. Aber was waren deine Geheimnisse? Es war vor allem Angst, muss ich rückblickend heute sagen. Du hattest Angst, ich könnte alles über dich erfahren, so als gäbe es ein festes Kontingent an Informationen über eine lebende Person. Du hattest Angst, ich könnte das Interesse an dir schnell wieder verlieren, wenn du mir nicht länger ein Mysterium offerierst, als wäre eine solche Geheimnislosigkeit zwischen zwei Menschen jemals möglich.
Da waren keine bestürzenden Sünden, keine gefährlichen Geheimnisse, die du vor mir verbargst, die du aus Scham hinter einer Nebelwand hättest verstecken müssen, sondern nur dieses eine: Deine tief verwurzelte Angst, ohne streng gehütete Geheimnisse, ohne den Schleier des Mysteriösen für einen anderen, für mich, auf einmal völlig uninteressant zu erscheinen. Du hattest Angst, du würdest dann berechenbar, du hattest Angst, du wärst durchschaut, wärst für mich fertig, ich würde dann an dir nichts mehr entdecken wollen und auch gar nichts mehr entdecken können.
Bei jeder Gelegenheit, bei jeder noch so banalen Meinungsverschiedenheit hast du mich immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig dir deine verborgenen Geheimnisse sind, und du machtest mir wildeste Szenen, wenn ich es jemals wagte, eine deiner Handlungen auch nur im Ansatz zu hinterfragen. Es war für dich bequem. Du führtest dich auf wie eine Regierung unter Paranoia, die jede Anfrage mit einem schnippischen Verweis auf nationale Sicherheit verwehrt, weil ihre lästige Bevölkerung das alles gar nicht wissen muss. Wolltest du etwas nicht erklären – vielleicht konntest du es dir selbst gar nicht erklären -, dann deklariertest du es als Geheimnis, dein Geheimnis, und ich durfte es nicht hinterfragen, weil das in deiner Logik doch bedeutet hätte, ich würde dich nicht lieben. Das war dein Vorwurf, noch jedes Mal, wenn du deine Geheimnisse in Gefahr geraten sahst. „Du musst das nicht verstehen“, sagtest du anlässlich jeder Irritation, wenn mir deine Handlungen ein Rätsel aufgaben, und genau das freute dich daran, denn es war ein weiteres Geheimnis, das ich nicht ergründen konnte, das ich nicht ergründen durfte.
Du öffnetest dich nur in kleinen, penibel abgegrenzten Stücken, du teiltest mir nur mit, was du mir mitteilen wolltest, all die guten Dinge, die schönen Seiten, all das, von dem du dachtest, es würde dich am besten präsentieren. Das war deine Vorstellung von Kommunikation. Stets hieltst du etwas vor mir zurück, umgingst die offene Diskussion, ja jede Konfrontation, weil dies für dich zugleich bedeutete, sich einer möglichen Verletzung zu offenbaren, die dir so unvermeidlich schien, wenn du aus deinem Geheimnisbunker gekrochen wärst. Du hattest so viel Angst vor diesen Chimären, so viel Furcht vor Fraktur, dass du die wirklichen Verletzungen gar nicht wahrgenommen hast, die deine Geheimniskrämerei uns mehr und mehr zugefügt hat.
Aber wer von uns war es nun, der nicht liebte? Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, so sagt man, und was du für dich aus diesem Sprichwort mitnahmst, das war die Vorstellung, bei Liebe handele es sich um eine Art von Krieg. Jedes Geheimnis, das du mir offenbartest, stellte für dich ein kapitulierendes Eingeständnis dar, eine verlorene Schlacht, eine schleichende Verschiebung der Front hin zu dir, was am Ende zu deiner Niederlage in diesem Krieg führen würde und führen müsste, denn es war ja Liebe, und Liebe war Krieg, und Krieg bedeutete, dass einer am Ende der Verlierer sein muss. Du warst nicht gewillt, dich wirklich auf einen anderen Menschen einzulassen, sonst hättest du gewusst, dass du dein Spiel mit den Geheimnissen gar nicht brauchst; du machtest dich durch sie bloß künstlich interessant. Alles an dir verstecktest du in einem Panzerschrank, den du mit Kerberos’ Verbissenheit bewachtest, weil in dir die Befürchtung wuchs, ich würde dich ganz unbarmherzig ausplündern und zurücklassen, wenn ich denn erst den Code zu deinem Leben wüsste, wenn ich Zugang zu deinem Inneren bekäme.
Du hegtest nie den Wunsch, von mir verstanden zu werden, du wolltest dich nie öffnen, nie unsere Welten miteinander teilen. Immer hattest du die Furcht, ich würde dich verlassen, wären da nicht die Geheimnisse an dir, die mich für alle Ewigkeit wie einen Schatzsucher an dich binden sollten. Hättest du dich wirklich auf mich eingelassen, dann hättest du den Köder nicht gebraucht. Liebe bedarf keiner Geheimnisse. Liebe akzeptiert Geheimnisse, aber sie hat sie nicht nötig, weil es für Liebende ohnehin auf ewig Neues zu entdecken gibt. Liebe sucht, entdeckt, erforscht, ohne dass du etwas wegschließen musst, weil der geliebte Mensch an sich doch das Geheimnis ist, das Liebende so gern ergründen, solange ihre Liebe währt. Noch heute hoffe ich für dich, du wirst das irgendwann verstehen.
Wünschst du dir nicht auch manchmal, du fändest eine Insel? Wenn du dich schlafen legst und das nicht kannst, wenn du durch Straßen einer Großstadt gehst, wenn du in fremde Augen blickst, dann tust du es vielleicht. Ein Ort, der nirgendwo verzeichnet ist, ein Platz fernab vom traurigen Gewühl, ein Unterschlupf, der dich mit Kraft versorgt, mit Glück und Mut und Euphorie, ja ein Idyll, das nur für dich dein Eden ist. Suchst du das auch?
In all dem Chaos dieser Welt, da fand ich eine Insel. Wenngleich sie keinen Goldschatz birgt, so übertrifft sie doch an Reichtum alles andere auf dieser Welt. Ein Eiland fand ich und erkor es mir zum Paradies. Nichts hat je so großen Wert gehabt wie dieses kleine Stückchen Land; weder Königreiche, Staaten noch die größten Dynastien besaßen jemals so viel Einfluss wie dieser unscheinbare Fleck. Als eine Art Schiffbrüchiger bin ich durch puren Zufall hier gestrandet, doch für nichts auf dieser Erde ginge ich hier jemals wieder fort.
Es wird nach mir gesucht werden, denn man wird mich retten wollen, fürchte ich, doch meine Rettung habe ich bereits gefunden, sie liegt hier und nirgends sonst. Man wird mich für verloren erklären und nie erfahren, wie falsch man doch in Wahrheit liegt, denn alles, was es sich zu finden lohnte, finde ich alleine hier. Kraft einer glücklichen Strömung setzte ich einen Fuß auf diesen Strand. Was ich hier fand, das ist ein Eiland weit, allein im Meer, das ich zu meiner Heimat nahm, weil eine bessere die Welt mir niemals bieten kann. Was ich hier fand, bedeutet für mich alles, wofür es sich zu leben lohnt.
Ist es Isolation, mich nun an diesen Ort zurückzuziehen? Vielleicht verschließe ich die Augen vor dem Rest der Welt, doch hier erst wuchsen mir die Augen, dank derer mir die Welt beachtenswert erscheint. Hier erst nehme ich die Farben wahr, in denen schillernd alles strahlt, während sich doch meine Umwelt vormals oft genug in Grau ertrank. Es ist keine Flucht, kein Eskapismus, wie manch Zyniker vielleicht behaupten mag, wenn ich mich auf dieser Insel nun häuslich einrichte. Sie gibt mir jene Kraft, der Welt mit offenen Augen entgegentreten zu können, sie auszuhalten, so wie sie ist. Sie kann einen nicht länger erschüttern, nicht mehr bedrängen, sie kann einen nie wieder aus der Bahn werfen, jene Welt, wenn man dieses Eiland erst einmal für sich gefunden hat, das allen Gewalten so standhaft trotzt.
Keine Legenden und keine Erzählungen vermögen die Einzigartigkeit dieses wunderbaren Ortes angemessen zu beschreiben, er ist undenk- und nicht mal vorstellbar, solange man nicht selbst sein Leben hier verbringt. All jene Belanglosigkeiten, nach denen ein Mensch im Laufe seines Lebens strebt, verlieren vollends an Bedeutung, wenn man die Wunder dieser Insel kennt, all ihre Schönheit, wenn man Fuß auf sie gesetzt, sie bloß einmal betreten hat. Es gibt hier alles, was ein Mensch zum Überleben braucht, zum Leben gar, nicht bloß zum Existieren.
Was ich hier fand, ist eine Insel jenseits aller Schifffahrtsrouten. Ein Stück der Welt, das keine Karte offenbart, weil sich das Land hier nicht vermessen lässt. Ein Platz, der keine Grenzen kennt, der keine Mauern hat und keine Gräben zieht, der blinde Ortskenntnis verlangt und an zwei Tagen nie der gleiche ist. Ein Land so weit von aller Zivilisation. Keine Armeen, keine Legionen, keine Heerscharen dieser Welt, wie groß und mächtig sie auch sein mögen, werden im Stande sein, auf dieser Insel jemals einzufallen und damit alles zu zerstören. Sie haben es versucht und sie sind jedes Mal gescheitert. Während die größten Reiche untergehen, hat dieses Eiland hier bestand. Auf dieser Insel lebt, was allseits sonst bereits im Sterben liegt. Hier wächst, was auf dem Rest der Welt verdorrt.
Entgegen einer kalten Welt, die mehr und mehr in Argwohn zu versinken droht, ist dieses Eiland hier ein Ort der Wärme und des völligen Vertrauens. Immer und immer wieder gelingt es den Eigenarten dieser Insel, mir ein herzliches Lächeln ins Gesicht zu zeichnen, und noch in den dunkelsten Stunden der Trauer finde ich hier etwas, das mich die ganze Welt umarmen, das sie liebenswert erscheinen lässt. Alles, was es wert ist, gewusst zu werden, habe ich hier gelernt und lerne ich hier noch heute. Es gibt Dinge, die so wundervoll beschaffen sind, dass man gar nicht mehr bemerkt, wie man laufend älter wird und eines Tages sterben muss, die sogar so unerhört bezaubernd sind, dass man entgegen aller landläufigen Furcht das Älterwerden und sogar das Sterben als etwas Gutes betrachtet, als Vollendung seines Lebens, weil man rundum glücklich ist.
Nichts auf dieser Welt ist es wert, hier jemals wieder fortzugehen, weil keiner, der sie je betrat, vergessen kann, was diese Insel einem offeriert. Was ich bisher mein Leben genannt habe, dieses Dasein, diese bloße Existenz, wurde erst zu einem Leben, als ich diesen Ort hier fand. Mein Eiland, das bist du.
Man braucht nur eine Insel
allein im weiten Meer.
Man braucht nur einen Menschen,
den aber braucht man sehr.
(Mascha Kaléko)
Es gibt kaum etwas, das so schwer zu finden und so leicht wieder zu verlieren ist wie Glück. In ihrem Leben ist Glück schon immer eine Seltenheit gewesen und sie litt unter den Mangelerscheinungen, die dieses Defizit an Glück in ihr bewirkte. Sie war als Halbwaise aufgewachsen, allein mit ihrem Vater, da ihre Mutter kurz nach der Geburt gestorben war. Ihre nicht allzu unbeschwerte Kindheit war von stetiger Entbehrung geprägt, unter deren alles überschattendem Einfluss nicht nur ihre persönliche Verfassung, sondern auch ihre schulischen Leistungen haben leiden müssen, also hat sie die Schule verlassen, sobald diese Möglichkeit in Sichtweite geraten war, um Geld zu verdienen für das, was sie Familie nannte. Ihr Einkommen reichte kaum zum Überleben. Sie hatte eine Arbeit, denn sie hangelte sich von Aushilfstätigkeit zu Aushilfstätigkeit, doch war dieser Job nicht mehr als eine Übergangslösung, ein schlecht bezahlter Lückenfüller für Menschen ohne Qualifikation, den sie, dessen war sie sich bewusst, recht bald wieder verlieren würde.
Zwar hatten ihre Eltern einige Ersparnisse angesammelt, die ihr Vater nun mehr schlecht als recht verwaltete, doch wurden diese kleinen finanziellen Reserven hauptsächlich dadurch aufgezehrt, die monatlichen Rechnungen zu begleichen und das in die Jahre gekommene Haus irgendwie instand zu halten, in welchem sie mit ihrem Vater wohnte und in dem schon ihre Ur-Großeltern vor ihr gewohnt hatten. Dieses Familienerb- und Bruchstück trieb sie in den schleichenden Ruin und so hatte sie in der Vergangenheit beachtliche Schulden angehäuft, die sie nicht mehr würde begleichen können, wenn das Ersparte einmal aufgebraucht wäre. Zu ihren materiellen Sorgen gesellten sich zudem auch zwischenmenschliche Wirrungen. Während ihr Vater zunächst sie gepflegt und aufgezogen hatte, war es nun an ihr, ihren altersschwachen Vater zu versorgen. Sie hatten kein besonders gutes Verhältnis zueinander, denn er schien von ihr enttäuscht zu sein und ließ sie das jeden Tag deutlich spüren, doch war er immer noch ihr Vater und sie fühlte sich für ihn verantwortlich.
Auch ihr Beziehungsleben konnte sie nicht glücklich machen. Traf sie einmal einen Mann, auf den es sich in ihren Augen einzulassen lohnte, was in ihrem Leben wirklich selten geschah, dann waren all diese Beziehungen doch nie von allzu langer Dauer und ließen sie in einem emotionalen Trümmerhaufen zurück, wenn sie schließlich wie ein Kartenhaus zerfielen. Kein eines Mal in ihrem Leben hatte sie je so etwas wie völlige Zufriedenheit erlebt. Zwar hatte sie ab und an das so genannte Glück gefunden, doch verging es stets so schnell wie es gekommen war. Falls sich tatsächlich so etwas wie Hoffnung vor ihrer Nase befand, so konnte sie es jedenfalls nicht sehen. Kurz gesagt, ihr Leben war eine Großbaustelle, deren Architekt ein Zyniker und deren Vorarbeiter ein hoffnungsloser Unglücksrabe war.
Als sie zu einem ihrer vielen Bewerbungsgespräche ging, zu einem Vorstellungstermin in einem anonymen Glaspalast, bei dem sie wieder einmal abgelehnt wurde, traf sie einen aufgeweckten jungen Mann. Beide teilten das gleiche Schicksal, zumindest in Hinblick auf die enttäuschte Hoffnung, die dieses Bewerbungsgespräch ihnen eingepflanzt hatte, und beide führten sie ein Leben, mit dem sie nicht zufrieden sein konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten. Anstatt nach Hause zu fahren, wo nichts auf sie gewartet hätte außer ihrem missgelaunten Vater, setzte sie sich gemeinsam mit diesem Mann in ein Café, bestellte Kuchen, den sie sich nicht leisten konnte, und verbrachte den gesamten Nachmittag mit angeregter Unterhaltung, mit Lachen und gar mit so etwas wie Euphorie. Die Zeit verging, als ob sie es nicht besser wüsste.
Spät am Abend stand sie vor der Wahl, den Tag mit dieser kurzen Episode der Freude zu beenden oder aber auf sein Angebot einzugehen, denn er hatte sie charmant in seine Wohnung eingeladen. Schließlich verbrachte sie die Nacht mit diesem Mann. Er war nicht ihre große Liebe, darüber machte sie sich keine Illusionen, doch zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder glücklich. Es war nicht bloß ein beiläufiges Glücksgefühl, wie sie es ab und an einmal erlebte, sondern völlig und unbedingt in seiner Art. Ihr Glück verdrängte jedes andere Gefühl in ihr, all die Sorgen und Ängste, deren schweres Gewicht sie ständig mit sich herumzutragen hatte, das sie herunterzog und an den Boden presste.
Als sie am nächsten Morgen nach Hause kam, tanzte sie ganz unbeschwert herum, schwebte lächelnd durch die Räume und summte leise vor sich hin, während ihr Vater, der all das überrascht zur Kenntnis nahm, sie bloß jäh und ruppig anblaffte, ob sie denn diesmal endlich einen ernstzunehmenden Arbeitsplatz gefunden hätte. Sie aber wollte das nicht hören, sie mochte in diesem Augenblick von alledem nichts wissen, denn sie war glücklich und sie wollte dieses zerbrechliche Glück nicht wieder zerfallen sehen. Sie wollte diesen glücklichen Moment so lange konservieren wie irgend möglich. Sie blickte auf die Fotos früherer Tage, die in diesem Haus an den Wänden hingen, festgehaltene Erinnerungen an eine traurige Vergangenheit. „Du wirst glücklich sein“, sprach sie sanft zu einem dieser Bilder, zu dieser unglücklichen jungen Frau, die bislang so wenig Hoffnung für sich gesehen hatte. Dann schritt sie fröhlich in das Arbeitszimmer ihres Vaters, öffnete eine Schreibtischschublade, griff hinein, nahm die geladene Pistole heraus, die ihr Vater darin aufbewahrte, steckte sich den Lauf in den Mund und drückte ab.
Weißt du, was mir das Herz zerreißt, jeden Morgen, wenn ich aufstehe, und jeden Abend, wenn ich mich schlafen lege? Ich fühle mich, als hätte mich ein Lastwagen angefahren, und nicht nur das, als sei der Fahrer hastig ausgestiegen, um sich das Unglück näher anzusehen, hätte sich wieder hinters Lenkrad begeben, kalt den Rückwärtsgang gewählt und mich erbarmungslos zerquetscht, womit er schließlich noch ganz sicher gehen will, dass ich von hier nie wieder aufstehen würde. Während es mir das Herz zerreißt, zerreißt du nur meine Briefe, als wären es längst beglichene Schuldscheine aus einer klammeren Vergangenheit. Überhaupt behandelst du mich, als sei es eine ruinöse Quartalsabrechnung, die du nun mit mir durchführen musst, eine emotionale Insolvenz, die mit den Worten endet: Wir müssen Sie leider entlassen, aber nehmen Sie es bitte nicht persönlich. Ja, wie denn sonst?
Du konntest so schnell Anschluss finden, nachdem wir auseinander brachen. Wenige Stunden danach kehrtest du zurück zum unbeschwerten Tagesgeschäft, du trafst dich mit deinen Freundinnen und Freunden, du konntest lachen und du gingst abends fröhlich aus, so als hätte es diese Verbindung zwischen uns niemals gegeben. Mich hingegen warf es aus der Bahn, tagelang aß ich nicht genug, wochenlang schlief ich nicht sehr viel, monatelang war ich eine andere Person und noch für Jahre wirst du in Gedanken immer bei mir sein. Für dich aber war es, als würdest du umsteigen. Du verließt den Zug, mit dem du bis hierher gekommen warst, und wo dieser Zug ohne dich dann hinfahren würde, was weiterhin mit ihm geschah, das war dir egal, denn du stiegst bloß in einen neuen. Kein Blick zurück, für dich war jeder Zug so gut wie jeder andere, und falls der alte Zug entgleist, nachdem du ausgestiegen bist, dann umso besser, dass du ihn rechtzeitig verlassen hast. Es riss mir den Boden unter den Füßen weg, doch du standst da wie eine Wächterstatue, gleichmütig und unerschütterlich. Tag um Tag starrte ich für Stunden auf das Postfach meiner Mails, jede SMS, die ich bekam, versetzte meinem Herzen einen hoffnungsfrohen Schock, und wenn es klingelte, dann rannte ich zur Tür. Ich wusste, ich wartete vergebens, denn du warst schon längst weitergezogen, und dennoch konnte ich nicht aufhören, vergebens auf dich zu warten. Meine Gefühle kochten über und du nahmst deine ungerührt vom Herd, du stelltest sie nicht einmal auf die Warmhalteplatte. Du sagtest zu mir mit naiver Ernsthaftigkeit in der Stimme, ich solle meine Gefühle für dich ganz einfach vergessen, und du konntest und kannst noch immer nicht verstehen, wie ich, wie irgendjemand Gefühle hegen kann, die sich nicht einfach wie das Licht beliebig ein- und ausschalten lassen. Einfach, für dich war alles einfach. Wie machst du das und wie konntest du je lieben, wenn du Emotionen so stark unter rationale Kontrolle zwingst?
In deinen Augen haben wir uns zu unversöhnlichen Gegenspielern entwickelt. Was zwischen uns geschah, das ist für dich zu einer Übung in Logik verkommen, ein Debattierclub zu zweit, in dem gewinnt, wer seinen Gegner argumentativ zu Boden wirft. Du bist darin verbissen unerbittlich, weil du die Deutungshoheit über das Geschehene verlangst. Wir waren für den jeweils anderen zu tragenden Wänden seines Lebens geworden, und während mein Haus nun in den Trümmern des Vergangenen liegt, hast du sie eingerissen, als wären sie aus Pappmaché. Mit rücksichtsloser Präzision platziertest du Sprengstoff an allen Brücken, die wir uns zuvor mit Mühe erbaut hatten, damit die Welt für uns begehbar war, und als sie am Ende hinter dir zerfielen, stand ich noch immer drauf. Du hättest all das nie so ernst genommen, sagst du heute kalt zu mir, weil es von Anfang an mir wichtiger gewesen sei als dir, was wir uns beide dort errichteten, und bekenne ich dir dann, dass du für mich auf ewig unvergleichbar bleiben wirst, erwiderst du in knappem Ton, du seist doch bloß wie all die anderen. Hast du die Liebe je verstanden?
Ich verkrieche mich in mir selbst, während du so beiläufig neue Kontakte knüpfst, als wäre nichts geschehen, als wäre dir jeder beliebige Mensch genug, um mich ganz gleichgültig zu ersetzen. Während du für mich die eine Schneeflocke bist, die ich kein zweites Mal auf dieser Erde finden werde, wurde ich für dich zu einem austauschbaren Wassertropfen, der völlig unsichtbar im Meer vergeht. All die Eigenheiten unserer Beziehung, die mir für uns so exklusiv erschienen, die kleine Welt, die einmal unsere eigene war, teilst du so unbekümmert mit mir Unbekannten, als hätte sie dir nie etwas bedeutet. Jene Magie, die einmal zwischen uns bestand und die noch immer in mir wirkt, ist nun für dich bloß fauler Zauber, an dem du dich mit einer Verve vergehst, die mir zerstörerisch erscheint. Was dir einst wichtig war und mir stets ist, das ist für dich wie ausgelöscht. Du tust, als sei da kein Gefühl, und dieser Part liegt dir so gut, dass ich mich manchmal frage, ob das nun wirklich Schauspiel ist oder ob Liebe denn für dich schon immer bloß die Rolle war. Was mir das Herz zerbricht, das ist, dass deines keinen Kratzer trägt.
„Wieso bist du hier?“
„Ich bin gekommen, um endlich das zu tun, worauf ich schon so lange warte.“
„Du kannst mich nicht töten, das weißt du. Er wird es nicht zulassen. Du wurdest verbannt, das ist nicht mehr dein Reich.“
„Er war glücklicher, bevor du kamst, und er fängt an, das zu begreifen.“
„Er war nicht glücklich.“
„Deine gewohnte Überheblichkeit, mein Freund. Nein, er war nicht glücklich, aber war nie so unglücklich wie jetzt, nach alledem, was du ihm angetan hast.“
„Was ich ihm angetan habe? Du bist so selbstgerecht wie eh und je. Ich war für ihn Prometheus!“
„Du warst für ihn Pandora.“
„Ich gab ihm Hoffnung…“
„Enttäuscht!“
„…ich gab ihm Zuversicht …“
„Ernüchtert!“
„…ich gab ihm Glauben an das Gute.“
„Und was hat es gebracht? Was hat es ihm gebracht?“
„Er führt endlich ein Leben, ein richtiges Leben. Was für ein Leben war es denn zuvor, bevor ich kam, als er noch fügsam auf dich hörte? Was waren deine Leistungen für ihn, was hast du Gutes je für ihn getan? Du hast ihn mit dem Wahn infiziert, die Welt habe ihm nichts, aber auch gar nichts zu bieten, hast ihn entmutigt und ihn mitleidig beschworen, sich hinter einer Mauer zu verstecken, die du bereitwillig für ihn errichtet hast. Alles, was er sah, das war für ihn nur schlecht, böse und es nicht wert, sich darauf einzulassen.“
„Bis du kamst, nicht wahr, und ihm gesagt hast, er brauche nur in das Gute zu vertrauen, und das Gute würde geschehen. Oh, du Narr! Er war naiv genug, um dir zu glauben, doch was bekam er dann dafür? Enttäuschung, Wut, Verzweiflung. Es hat sich nie gelohnt. Das Gute, das du ihm versprachst, hat er bis heute nicht gesehen.“
„Er wird es sehen und das Warten wird sich für ihn lohnen, wenn er bloß jetzt nicht resigniert, wenn er sich Offenheit bewahrt und nicht in seinem Gram verschließt. Bleib von ihm fern, und auf lange Sicht wird alles gut.“
„Das Warten, das Warten, das Warten. Wie lange soll er denn noch warten? Schau ihn dir an, er hat genug vom Warten. Wer kann es ihm verübeln? Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr vertröstest du ihn mit diesem vorlauten, hanebüchenen Optimismus, er müsse nur Geduld haben, und das Gute werde ihn ereilen. Nie hat er irgendwas davon gesehen, bis heute wurde es nicht wahr. Zum Teufel mit der Geduld! Zum Teufel mit der Offenheit!“
„Du wirst ihn nicht wieder bekommen. Er ist ein besserer geworden.“
„Ach ja? Wie war er denn, bevor du ihn verführen kamst?“
„Zynisch. Er war ein Pessimist, er hatte keinerlei Erwartungen an die Welt, denn da warst du und hast sie ihm genommen.“
„Aber du gabst ihm Erwartungen, Hoffnungen und Vertrauen…?“
„Ganz recht, ich gab ihm Erwartungen, Hoffnungen und Vertrauen, während du ihm alles nahmst.“
„Du gabst ihm Luftschlösser, Träume und Illusionen! Du hast ihm die verbotene Frucht präsentiert und er, er hat sie sich genommen. Hat sich eine seiner Erwartung erfüllt, die du in ihm gesät hast? Irgendeine? Sein Unglück, das ihn nun so quält, was glaubst du wohl, woher es rührt? Jede ernsthafte Erwartung wurde enttäuscht, jede aufrichtige Hoffnung, jedes offene Vertrauen. Wo du auftrittst, endet es immer wieder gleich. Quellen der Pein sind alles, was du ihm gegeben hast. Das ist sein Unglück! Ohne dich hätte er all das Leid nie erfahren, und er lebte gut so, bevor du anfingst, alles zu zerstören.“
„Ja, denn das war deine Lösung für ihn: Leere. Natürlich, er konnte nicht enttäuscht werden, wenn er keinerlei Erwartungen hegte, aber kann ein Mensch so je glücklich werden? Er wird sein Glück nur finden können, wenn er das Risiko wagt, von Zeit zu Zeit enttäuscht zu werden. Du aber hast ihm alles genommen, für das es sich zu leben lohnt. Er hatte keinerlei Hoffnung für die Zukunft. Es gab niemanden, dem er sein Vertrauen schenkte. Kein Mensch war ihm wichtig, die Welt für ihn ein schlechter Ort. Und du besitzt die Unverschämtheit, es zu wagen, das ein gutes Leben zu nennen, was er da führte?“
„Ein besseres als du es ihm geschaffen hast. Zynismus hat ihn nie so hart enttäuscht wie du. Früher war er stärker, früher hatte er sein Bollwerk gegen die Welt. Doch dann kamst du, mein Freund, der edle Befreier, und du erst hast ihm eingeredet, er könne so nicht leben, das mache ihn nicht glücklich, er solle alle Tore seiner Festung öffnen, um das Gute in sein Leben ziehen zu lassen. Aber was kam wirklich durch die Tore? Sieh ihn dir an! Er ist unglücklicher als je zuvor.“
„Er kann nicht einfach wieder zurückgehen, nicht nachdem er so weit gekommen ist. Wenn er die Hoffnung fahren lässt, ist er so gut wie tot, das siehst auch du. Ich zeige ihm das Leben, du zeigst ihm bloß Verzweiflung.“
„Ich zeige ihm, wie er Verzweiflung aus dem Weg geht, die du erst in sein Leben gebracht hast. Er hat genug von dir. Seine Geduld ist am Ende, deswegen bin ich hier. Er wird dich nicht länger beschützen. Du hattest deine Chance und du hast versagt.“
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird, schreibt Nietzsche, und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Neueste Kommentare