Eigene Kurzgeschichten

Sie glauben, es sei primitiv und barbarisch, einen Menschen zu töten? Au contraire! Oh bitte, denken Sie nicht an Schusswaffen, denken Sie nicht an Messer oder Gift, denken Sie nicht an Blut und all die brachialen Methoden des Tötens. Wagen Sie etwas mehr Fantasie. Meine Profession ist eine andere, ich bin spezialisiert auf Morde und Hinrichtungen einer graziöseren, weitaus versierteren Art.
Haben Sie sich je überlegt, wie ungerecht die Welt an und für sich ist? Brechen Sie jemandem die Beine, und Sie kommen dafür vor Gericht. Brechen Sie aber jemandem das Herz, wird Sie kein Gericht der Welt dafür verurteilen. Und glauben Sie mir, der Effekt ist ein größerer, wenn Sie es bloß richtig anstellen. Stehlen Sie jemandem das Vehikel, und man wird Sie wegen Diebstahl verfolgen. Nehmen Sie hingegen jemandem die Träume, die er für sein Leben hegt, kommen Sie mit diesem Coup gänzlich unbehelligt davon. Oder zünden Sie jemandem das Haus an, brennen Sie es nieder, und man wird Sie wegen Brandstiftung belangen. Vernichten Sie aber das Glück, das einer hat, wird Sie niemand dafür zur Verantwortung ziehen wollen. Verstehen Sie, worauf ich hinaus möchte?
Mein Metier ist eine Kunst. Jemanden mit einer Waffe zu erschießen oder zu erstechen, ihn zu überfahren oder zu vergiften ist einfach und armselig, jeder Tölpel könnte es, auch wenn zur Umsetzung dieser Tat ein höchstkomplexer Plan dahinterstecken mag. Die Tat selbst aber ist eine primitive und diese Zunft nicht die meine. Meine Morde sind innerlich, gleichsam kunst- wie anspruchsvoll und äußerst effektiv. Niemand bemerkt sie, außer dem Ermordeten, und niemand kann sie mir je nachweisen, keine Strafverfolgungsbehörde würde je deswegen gegen mich ermitteln, denn alles, was ich tue, ist legal, ich verstoße gegen keinerlei Statuten. Dafür erfordern meine Taten ein wesentlich höheres Maß an Fingerspitzengefühl, an Fantasie, an Kunstfertigkeit und an Unbarmherzigkeit als ein normaler Mord. Man muss an das Opfer herankommen. Nicht physisch, nicht geografisch. Es ist leicht, Personenschutz, Mauern und Wachsysteme zu überlisten, geht man nur mit genug Entschlossenheit an einen Mord heran, aber die Schutzsysteme, die meine Aufmerksamkeit erfordern, sind weitaus schwieriger zu überwinden. Ich spreche von Vertrauen, das in einer langwierigen Interaktion erst einmal geschmiedet werden muss, es geht um eine Beziehung, die ich zu meinem Opfer aufbauen muss, um schließlich dessen innere Verteidigungsmaßnahmen elegant zu bezwingen. Kein Personenschutz der Welt kann meine Opfer davor beschützen, keine kugelsichere Weste fängt meinen tödlichen Schuss ab, wenn es so weit ist.
Sie glauben vermutlich, ein physischer Mord sei wirksamer, aber da täuschen Sie sich. Menschen sind solch zerbrechliche Wesen. Ich glaube, die meisten von ihnen verkraften mehr körperlichen Schaden als innerliches Leid, als seelischen Schmerz, wenn Sie es so ausdrücken möchten. Ein falsches Wort zur richtigen Zeit, ein Schweigen, wenn Worte erwartet werden, eine noch so kleine Handlung, die deplatziert erscheint, ein sinnbildlicher Dolchstoß, und der Mensch wird nie wieder so sein wie je zuvor. Er verliert vielleicht seinen Optimismus, seine Lebensfreude, sein Lachen, sein Vertrauen oder seine Offenheit. Ein echter Mord schließt ab, der Mensch ist tot, requiescat in pace. Einen Menschen aber, den ich im Inneren ermorde, tötet das nicht wirklich, zumindest nicht sofort, er muss damit weiterleben, für den Rest seiner Tage.
Ich habe Ehemänner und Ehefrauen umgebracht, indem ich sie verführen ließ, indem ich ihre Familien, ihr Glück, ihre Beziehungen zerstörte. Ich habe Menschen getötet, indem ich sie über Monate hinweg mit der Verheißung der großen Liebe lockte, in ihnen epische Gefühle provozierte, um sie dann einfach damit sitzenzulassen. Ich habe Menschen in den Abgrund gestoßen, indem ich ihr Vertrauen in die Zukunft erschütterte. Ich habe Ehrgeizige umgebracht, indem ich ihre Karriere zerstörte, und Eltern, indem ich ihre Kinder korrumpierte.
All diese Taten sind für mich bloß eherne Routine, it’s all in a day‘s work. Nichts davon geschah auf einem illegalen Wege. Wie stehen Sie zu einer Welt, die all das ungerührt zur Kenntnis nimmt, weil sie in ihrer Verachtung für Mord, Zerstörung und Gewalt so oberflächlich ist wie ein Großteil der Menschen, die darin leben? Ich bin ein Assassine und meine Morde bleiben ungesühnt.

Menschen sind überall gleich. Ich kam in diese Stadt und ich tat es ohne die geringsten Erwartungen. Es war etwas Neues für mich, eine ungewohnte Umgebung, und diese Stadt war so gut wie jede andere. Selbst wenn ich es mir zunächst nicht eingestand, war es für mich ein Ort der Hoffnung, ein Ort der Träume, ein Ort der Illusionen.
Der erste Eindruck überraschte mich. Man nahm mich freundlich auf, einfach so, ohne Bedingungen und ohne jede Umschweife. Es war für diese Menschen nichts Ungewöhnliches, einen Neuen, einen Fremden in ihren Reihen zu begrüßen. Das unterschied diesen Ort von beinahe allem, was ich kannte, denn wie schwer, wenigstens aber aufwändig war es doch in der Regel, mit offenen Armen als Fremder in eine bestehende Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Nicht so hier. Einwohner kamen und gingen, und manchmal blieben sie nur wenige Wochen. Es war eine Freundlichkeit, eine Selbstverständlichkeit, die mich begeisterte. Den schmalen Grat zwischen kindlichem Vertrauen und unbarmherziger Distanz pflegte ich stets mit einer Art von Grundvertrauen zu beschreiten, das ausgleichend begrenzt wurde durch eine über die Jahre hinweg gewachsene Menschenkenntnis, derer es bedarf, um nicht der blinden Naivität anheimzufallen.
Im Allgemeinen vertraute ich selbst völlig unbekannten Menschen, solange sie mir keinen Grund lieferten, daran zu zweifeln. Was wäre die Alternative gewesen. Gesundes Misstrauen ist ein Widerspruch in sich, so etwas gibt es nicht, und lieber wollte ich bisweilen in meinem Vertrauen enttäuscht werden, als mit paranoider Grundhaltung durch die Welt zu gehen, denn Misstrauen fördert unablässig Misstrauen.
Ich fühlte mich hier zuhause. Niemanden interessierte, warum ich gekommen war. All die menschlichen, nur allzu menschlichen Kategorien, die bisweilen dafür sorgten, Keile zwischen die Individuen zu treiben, schienen hier ohne Bedeutung zu sein. Alter, Geschlecht, Herkunft, Aussehen oder Status, Erfolg, Bildungsgrad und noch die verrücktesten Interessen waren für das Miteinander dieser Menschen allem Anschein nach völlig nebensächlich, zumindest ließen sie sich nicht im geringsten anmerken, darauf irgendeinen Wert zu legen. Es war zu gut, um wahr zu sein. Es war nicht wahr – aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Ich hätte es wissen müssen, aber ich tat es nicht, denn wer stellt schon Fragen, wenn ihm Einlass in das Paradies geboten wird.
Nun, da ich ihn verlasse, muss ich rückblickend auf diesen Ort leider sagen, dass die Enttäuschung überwiegt. Es gab sehr viel Freude, schöne Momente, gute Erfahrungen, aber letztlich auch ein Übermaß an Frustration. Viele Monate habe ich hier damit verbracht, Hoffnungen und Träumen nachzujagen, die am Ende fast alle enttäuscht wurden. Ich komme mir so dumm vor. Alles ließ ich stehen und liegen, sogar meine Arbeit vernachlässigte ich in all der Zeit, weil es für mich nichts Wichtigeres gab auf der Welt als diese Menschen, auf die ich meine Hoffnungen setzte. Und für was? Was dachte ich zu sehen? Menschen, die nicht so sind wie an jedem anderen Ort der Welt? Illusionen! Wieso also sollte ich bleiben.
Vielleicht mag es auf den ersten Blick paradox erscheinen, mein Grundvertrauen von einer gewissen Art Distanz begleiten zu lassen, die aber gar kein Widerspruch, sondern eher Gegengewicht ist. Mit einem Großteil der Menschen, die ich im Laufe meiner Tage kennenlerne, kann ich, so schwer es mir das Leben auch manchmal macht, in der Regel nur wenig anfangen, darum vermeide ich allzu nahen Kontakt mit ihnen, wo ich das kann. Das gilt für die Einwohner dieser Stadt wie für die Menschen im Gesamten. Sie können nichts dafür, sie sind nicht besser oder schlechter als ich, sie haben einfach nur eine andere Vorstellung von der Welt, eine Vorstellung, die ich nicht teile. Sie legen Verhaltensweisen an den Tag, die so normal, so menschlich sind, und doch meide ich sie dafür. Sie verbreiten Lügen und bringen Gerüchte in Umlauf, sie hetzen sich gegeneinander auf, sie lästern über ihren Nächsten, sobald er nur für einen Moment außer Hörweite gegangen ist. Sie verschwören sich. Sie fragen nicht nach, wenn sie böses Geschwätz über einen anderen hören, ob es denn überhaupt stimmt, sie glauben es direkt. Sie korrumpieren. Sie sind ständig am Kämpfen, am Streiten, konkurrieren um Macht, Prestige, Anerkennung und Beifall. Sie sind selbstverliebt, arrogant und Heuchler. Ständig heucheln sie. Sie sind freundlich zu jedem, ja, doch was heißt das schon, was hilft das, wenn es nur gespielte Freundlichkeit ist. Sie legen das Stilett nie aus der Hand. Am Vormittag können sie dir sagen, wie gerne sie dich haben und was sie an dir schätzen, dich am Nachmittag vor deinen Freunden schlechtreden, um dann am Abend mit dir ein fröhliches Gespräch zu führen, wie verlogen alle anderen doch seien. Nichts davon tun sie aus Boshaftigkeit, und das ist das wirklich Traurige daran. Lernt man die Menschen in dieser Stadt ein wenig kennen, muss man feststellen, dass die meisten von ihnen genauso sind, genauso normal. Das macht sie nicht zu schlechten Menschen, aber es macht sie zu Menschen, denen ich aus dem Weg gehe. Vielen gehe ich aus dem Weg.
Doch es gab Ausnahmen, es gibt sie überall, man muss sie bloß finden. Diejenigen, die anders sind. Menschen, die sich die Tatsache vor Augen führen, auch selbst nicht immun gegenüber derartigen Verhaltensweisen zu sein, die aber versuchen, sie auf ein Minimum zu reduzieren; die ihr Verhalten kritisch reflektieren, die ein Miteinander statt eines Gegeneinanders herzustellen bestrebt sind. Menschen, die sich nicht andauernd in den Mittelpunkt zu stellen versuchen, die nicht herumschreien, um Lorbeeren noch für die kleinsten Taten ernten zu wollen. Menschen, die so aufrichtig wie freundlich sind und das nicht bloß spielen, weil sie sich etwas davon erhoffen.
Viele derer, die auf den ersten Blick als solche Ausnahmen erscheinen, stellen sich bei genauerer Betrachtung als Schauspieler heraus, als Menschen, die sich akkurat inszenieren, als wären sie zuvorkommende, freundliche, aufrichtige Personen. Bohrt man etwas tiefer, offenbart sich allerdings, es handelt sich um Lügner. Geschickte Lügner zwar, gute Schauspieler zweifellos, und dennoch Lügner. Sie spielen das alles und dieses Spiel ist ihr Leben. Es sind Egozentriker, Geltungssüchtige und Selbstverliebte. Sie sind genau wie der Großteil derer, auf die sie aus ihrer Rolle hinaus verächtlich hinabblicken, aber sie haben gelernt, das zu überspielen, und das machen sie teilweise verdammt gut.
Die echten Ausnahmen aber, jene, die nicht bloß Schauspiel betreiben, waren allesamt nette Menschen und darüber war ich froh. Sie waren aufrichtig und nett, und viele von ihnen verfügten über eine recht unkomplizierte, unverbindliche Vorstellung von Freundschaft. Genau dies war jedoch gleichzeitig das Problem, war mir Grund, weshalb ich mich nicht mit ihnen anfreunden wollte. Ihre Vorstellung von Freundschaft entsprach nicht der meinen, einer Vorstellung, die manchem, den ich sah, vielleicht fremd sein mochte, weil er unzählige Freundschaften pflegte – und wenn man bloß mit jemandem in einer Bar ein Bier trank, war er sofort ein Freund. Das mochte für andere funktionieren, für mich allerdings nicht.
Seit jeher nannte ich nur wenige Menschen wirklich Freunde, doch für jene, die ich dazu erkoren hatte, war ich es von ganzem Herzen, mit all meiner Energie. Diese netten, unverbindlichen Leute – sollte ich auch sie allesamt zu meinen Freunden zählen? Würde das funktionieren? Und dann? Auch meine Tage haben nur vierundzwanzig Stunden, auch ich verfüge nur über begrenzte Energie. Ich wollte keine netten, unverbindlichen Leute kennenlernen, die ich zu meinen Freunden hätte machen können, weil das nur bedeutet hätte, das kostbare Engagement für jeden meiner Freunde zu reduzieren, reduzieren zu müssen, breiter zu verteilen, sodass am Ende jeder weniger davon bekäme. Das wollte ich nicht. Machte mich das in ihren Augen zu einem Sonderling? Vermutlich. Behandelte ich diese netten, unverbindlichen Menschen ungerecht? Vielleicht. Aber lieber das, als dass ich sie zu Freunden gemacht hätte, die keine waren, zu Freundschaften, die weder sie noch mich befriedigen würden.
Aber es gab Ausnahmen unter den Ausnahmen, ganz besondere Menschen. Menschen, für die sich jedes noch so große Engagement lohnte; die so unglaublich kostbar waren, dass ich sie nie wieder aus den Augen verlieren wollte; die mich berührten, nicht nur in Gedanken, sondern tief im Inneren. Menschen, die kennenzulernen mir war, als würden sich Welten verbinden. Es war der enttäuschendste Teil. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Frauen, denn unglücklicherweise fielen die vermeintlichen Ausnahmen unter den Männern vorwiegend in die Kategorie Schauspieler, denen es am Ende doch nur um ihr Ego ging, um Macht und Geltungsdrang, auf die eine oder auf die andere Art. Leider. Mit ihnen wäre es einfacher.
Was war nun das Problem mit diesen Ausnahmen unter den Ausnahmen? Da gab es also jemanden, der besonders erschien, zumindest für mich. Jemanden, der kein Schauspieler war. Jemanden, der ein ähnliches Verständnis vom Leben und der Welt aufwies. Jemanden, der unbedingtes Vertrauen verdiente und jemanden, mit dem das gegenseitige Verstehen so einfach erschien, mit Worten oder auch ohne, weil wir uns schon seit ewiger Zeit zu kennen glaubten. All die Schutzvorrichtungen, die man sich im Laufe eines Lebens so mühsam erbaut, um andere Menschen auf angebrachter Distanz zu halten, um sich nicht zu verausgaben, um allzu schwere Verletzungen zu vermeiden, baute ich ab. Plötzlich stand da ein Geschenk vor den Toren meiner Festung, ein hölzernes Pferd, und ich holte es bereitwillig herein.
Irgendwann aber übertraten wir eine Grenze, eine unsichtbare Linie, und es wuchsen Gefühle in einem von uns. Anstatt in Unendlichkeit zu enden, kenterte das Miteinander durch dieses ungleich verteilte Gewicht. Es war Himmel und Hölle zugleich, es machte alles kompliziert und vieles kaputt, das so wunderbar begonnen hatte. Stell dir vor, du wärst Archäologe und würdest an dem einen Fund arbeiten, den du schon dein ganzes Leben lang gesucht hast, auf den du entgegen aller Wahrscheinlichkeit unter all den verbergenden Schichten erst einmal stoßen musstest, doch plötzlich ist da ein nicht zu unterdrückendes Kribbeln in deiner Nase, du musst niesen, ein ganz normales menschliches Regen, du rutschst mit dem Werkzeug ab und alles ist ruiniert. So kam ich mir vor. Nichts vermag je zu ersetzen, was dadurch verloren ging, das wirklich Begehrte, das überaus Seltene, das unbedingt Kostbare. Jene Menschen, die für immer im Gedächtnis bleiben, die für immer ein Teil des eigenen Lebens sein werden, ob sie nun anwesend sind oder nicht.
Momentan fühlt es sich so an, als steckte ich im Treibsand. Je mehr ich mich bewege, desto trostloser wird die Situation. Vielleicht ist es also am besten, sich erst einmal gar nicht zu bewegen. Das gesamte letzte Jahr verbrachte ich in dieser Stadt mit dem unheilvollen Versuch, Träumen, Hoffnungen und letztlich Illusionen hinterherzujagen, die sich am Ende allesamt in Luft auflösten. Meine gesamte Energie, emotional wie auch psychisch, steckte ich in diese Menschen, nur um alles, was ich aufgebaut hatte, schließlich zerstört vorzufinden, entweder durch sie, weil sie nicht waren, was sie zu sein schienen, oder durch den Makel der Emotion. Es endete immer wieder gleich, auch wenn es nie endete. Heute bin ich leer, enttäuscht, von anderen und von mir selbst, erschöpft und emotional am Boden. Diese Stadt hat mich ausgelaugt, ich kann nicht mehr. Jedenfalls nicht hier. Wie ein havariertes Raumschiff schwebe ich manövrierunfähig irgendwo in der Leere des Universums. Nur die Lebenserhaltungssysteme sind noch in Betrieb, doch vielleicht bekomme ich demnächst auch wieder Energie für den Antrieb. Man sagt, es würde alles besser, wenn Gras über eine Sache gewachsen sei. Hier jedoch wächst kein Gras, der Boden ist ausgelaugt. Noch weniger als zuvor weiß ich, wann es sich lohnt, auf Menschen einzugehen, denn ich mag sie entweder gar nicht oder zu sehr, doch ich weiß, dass es nicht mein Vertrauen war, das mich enttäuschte.
Menschen sind überall gleich. Entzaubert, ohne Hoffnung und mit verblassten Träumen verlasse ich diese Stadt so leise, wie ich sie betrat. Sie war für mich ein Ort der Hoffnung, ein Ort der Träume, ein Ort der Illusionen. Nach all diesen Erfahrungen komme ich mir vor wie ein Außerirdischer, der mit der hoffnungsvollen Mission an diesen Ort geschickt wurde, so viel wie möglich über die dominante Spezies auf diesem Planeten herauszufinden, um alles mit ihnen zu teilen, und der nun mit der Botschaft zurückkehren muss, dass es sich nicht lohnt, mit diesen Wesen Kontakt aufzunehmen. Nicht mit deaktiviertem Schutzschild.

„Ich mag dich sehr“, sagte sie zu ihm, als sich die U-Bahn-Türen zwischen ihnen langsam schlossen und er alleine auf dem Bahnsteig zurückblieb, ohne jede Möglichkeit, darauf irgendwie zu antworten.

Nun war sie zuhause, lag auf ihrem Bett und zerbrach sich den Kopf. Sie kam sich so dumm vor. Da wurde sie einmal für einen absurd kurzen Augenblick von ihren Gefühlen übermannt und brachte in diesem Zustand dann gleich einen derartigen Satz hervor, eine entlarvende Aussage, ein Geständnis. Sie wusste, er würde nie das gleiche für sie empfinden, das sie für ihn empfand. Daran gab es für sie keinen Zweifel. Wieso also musste sie sich unbedingt mit einem solchen Satz blamieren, der das Verhältnis zwischen ihnen unbarmherzig verändern würde. Alles würde komplizierter werden. Er würde auf Distanz gehen, er würde Abstand zwischen sie beide bringen, ob sie das wollte oder nicht, dabei war das doch genau das, was sie am wenigsten verkraften würde. Sie schlug mit der Faust auf ihr Bett. So ein kleiner, unwichtiger, absolut lächerlicher Satz sollte alles ruinieren.

Aber nein. Was genau habe ich denn wirklich gesagt, dachte sie. Es war doch bloß: „Ich mag dich sehr“. Das war kein Geständnis. Das war nicht einmal eine Andeutung, wenn man es genau nimmt. „Ich mag dich sehr“ lässt Raum für Interpretationen. Interpretationen erlauben Freiheit, Interpretationen erlauben Hintertüren. Zwar war sie gewöhnlich sehr darauf bedacht, eine präzise Ausdrucksweise an den Tag zu legen, doch in Situationen wie diesen hatte sie sich angewöhnt, sich möglichst vage auszudrücken. Vage Aussagen eröffnen Handlungsspielraum; man tänzelt und laviert um das Feuer herum. Bloß nicht festlegen. Bloß nicht festlegen lassen. Präzision der Sprache war ihr unerwünscht, zumindest in Sachlagen dieser Art, sobald Emotionen ins Spiel kamen. Man kann etwas sagen und völlig offen lassen, was damit gemeint ist. Es bleibt die Interpretation; ein Schild, ein Schutzwall, ein Notausgang. Der andere soll sagen, was er darunter versteht, was er in das Gesagte hineininterpretiert. Ist es das Falsche, kann man sich bequem hinter das Schutzschild sprachlicher Unschärfe zurückziehen und behaupten, man habe nie gemeint, was man gemeint hat.

Was also hatte sie wirklich zu ihm gesagt? „Ich mag dich sehr“ – das konnte alles heißen! Von „Du bist ein guter Freund“ über „Deine Art gefällt mir“ oder „Ich liebe dich“ bis hin zu „Ich möchte mit dir schlafen“ war doch alles und nichts, waren ganze Bedeutungsuniversen in diesem Satz enthalten, der so vage war, dass es sie freute. Er konnte sie nicht damit festnageln. Was er in diesem Satz las, entschied einzig und allein seine Interpretation. Vermutlich dachte er, sie sei in ihn verliebt. Das war die Wahrheit, aber es war eben eine Wahrheit, die sie ihn nicht wissen lassen wollte, denn er, er war doch nicht in sie verliebt, das war ihr klar.

Seit Monaten bereits hegte sie Gefühle für ihn. Sie freute sich, wenn er ihre Bücher las, wenn er die Musik hörte, die sie ihm empfahl, wenn er Zeit mit ihr verbrachte, wenn er ihr Briefe schrieb oder sie einfach bloß anschaute, mit seinen bezaubernden blauen Augen. Sie hatte versucht, sein Verhalten zu deuten, hatte herausbekommen wollen, ob er seinerseits Gefühle für sie hegte, doch eindeutig sagen ließ sich das nicht. Es blieb die Interpretation. Nach einigen Wochen war sie zu dem Schluss gelangt, dass er offenbar nichts für sie empfand. Das war schade, doch sie fand sich damit ab und seine Gesellschaft war ihr weiterhin das Paradies.

Den Kontakt zu ihm jetzt zu verlieren, nur weil ihr in einem unkontrollierten Moment eine Reihe lächerlicher Wörter über die Lippen gekommen war, wäre für sie unerträglich gewesen. Wie also würde er nun reagieren auf diesen törichten Satz, fragte sie sich, den sie so unbeholfen in die Welt hinaus geflüstert hatte. Sie wusste es. Er würde sagen: „Ich mag dich auch, aber…“ und dabei versuchen, sie nicht zu verletzen, während er in Gedanken bereits das Ende ihrer Freundschaft konstruierte. Sie jedoch würde sich erhobenen Hauptes hinter ihr sprachliches Schutzschild zurückziehen, hinter den Interpretationsspielraum ihrer vagen Worte. Sie würde lachen und sagen: „So habe ich das doch gar nicht gemeint“. Sie würde klarstellen, dass sie diesen Satz rein freundschaftlich begriffen hatte. Dann würden sie gemeinsam lachen, beide wären erleichtert, und alles bliebe so wie immer. Das war ihr Plan. Sie war stolz auf sich, auf dieses sprachliche Hintertürchen, das alles letztlich retten und damit ihr Gesicht wahren würde.

Plötzlich brummte es leise. Sie stand vom Bett auf, sah nach und erschrak. Er hatte ihr geschrieben; eine SMS wartete darauf, von ihr gelesen zu werden. Doch was würde er schon schreiben, dachte sie. „Ich mag dich auch, aber…“ würde dort stehen, wie sie es erwartete, und sie würde sich enttäuscht durch ihr Hintertürchen davonmachen, würde sich nichts anmerken lassen, würde ihm antworten, es sei nur ein Missverständnis und dass er den Satz bloß ungünstig interpretiere. Es bleibt die Interpretation.

Sie musste sich regelrecht dazu überwinden, das Handy nicht einfach beiseitezulegen, und so sah sie schließlich nach, was er ihr geschrieben hatte. „Ich mag dich auch sehr“, stand dort, „das wollte ich dir schon lange sagen, aber ich hab mich nicht getraut. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“

Das überraschte sie. Es war eine Reaktion, die sie in ihrem Plan nicht bedacht hatte, denn sie war so unwahrscheinlich, so unmöglich. Damit hatte sie nicht gerechnet, darauf war sie nicht vorbereitet. Sie hatte sich so sehr mit der bevorstehenden Enttäuschung abgefunden, ja sogar angefreundet, dass seine Antwort sie nun beinahe wütend machte, denn jetzt enttäuschte er sie mit dem Ausbleiben dieser nur allzu vorhersehbaren, allzu erwarteten Enttäuschung.

Panik stieg in ihr auf. Und wenn sie nun einfach zugab, dass sie es genauso gemeint, wie er es auch verstanden hatte? Mit einer derartigen Situation hatte sie keinerlei Erfahrung. Enttäuschungen war sie gewohnt, mit Enttäuschungen konnte sie umgehen, musste sie umgehen, denn sie war zu oft enttäuscht worden, doch das hier überforderte sie. Was war das?

„Du … interpretier da nicht zu viel hinein. Du bist ein sehr guter Freund“, antwortete sie ihm und warf sich weinend auf ihr Bett, überwältigt von dem traurigen Gefühl, einmal mehr enttäuscht worden zu sein.

Man kann einem Menschen nichts Schlimmeres antun, als ihm zu sagen, man habe sich in ihn verliebt. Das gilt natürlich nur, wenn die Gefühle nicht auf Gegenseitigkeit beruhen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man mit allem anderen davonkommt, bloß nicht mit dem schlimmsten aller möglichen Geständnisse, dem Geständnis der Liebe.

Ich habe Freunde beleidigt und einigen Menschen die hässlichsten Wörter an den Kopf geworfen, die man sich nur vorstellen kann, ich habe sie verletzt, vernachlässigt, verraten, enttäuscht und angeschwärzt, aber es brauchte nur ein wenig Zeit, eine Entschuldigung, ein gutes Wort, das andere für mich einlegten, oder eine Art der Wiedergutmachung, damit sie mir meine Taten schließlich doch wieder verziehen.

Alles wurde mir vergeben, keine Beleidigung war zu groß, keine Enttäuschung zu hart, um letzten Endes nicht darüber hinwegsehen zu können. Ich war ein Lügner, ein Betrüger, ein Schläger. Einmal wäre ich sogar fast zum Mörder geworden. Ich ging fremd, ich war ein lausiger Freund und ich habe Menschen um ihr Geld gebracht, doch alle meine bösen Taten, so schlimm sie auch waren, konnte ich irgendwie wieder geradebiegen. Es blieb kein ernsthafter Schaden zwischen mir und diesen Leuten zurück. Im schlimmsten Fall ging man auf separaten Pfaden seiner Wege, ohne sich aber im Bösen voneinander zu trennen, ohne den Anderen von nun an nicht länger im eigenen Leben wissen zu wollen.

Mit allem kam ich durch, nur nicht mit dem einen. Gestehe jemandem deine Liebe und er wird dich fortan meiden, er wird mit dir nicht mehr reden wollen, er wird sich weiter und weiter von dir distanzieren und deine Anwesenheit wird ihm Unwohlsein bereiten. Eine Liebeserklärung besitzt mehr destruktives Potential als alle bösartigen Verhaltensweisen, denn keine von ihnen verfügt über die geballte Zerstörungskraft einer emotionalen Zuwendung.

Was soll man davon halten, wenn das eigentlich Gute so viel Schlechtes mit sich bringt, während das Böse keine nennenswerten Folgen nach sich zieht, weil es von denjenigen, auf die es zielt, offenbar leichter zu verkraften ist. Es heißt, im Krieg und in der Liebe sei alles erlaubt. Ist eine Liebes- somit eine Kriegserklärung? Vielleicht also sollte ich einfach aufhören, andere Menschen zu lieben, und sie stattdessen bloß noch wie Dreck behandeln. Damit kommen sie zurecht. Nur nicht mit der Liebe.

„Was willst du überhaupt?“ raunte er genervt durch die Gegensprechanlage. Erst nach dem dritten Klingeln hatte er reagiert, und es vergingen weitere fünf Minuten, bis er ihr endlich die Tür öffnete. Sie war zu ihm gefahren, am Vormittag vor dem Abflug in den gemeinsamen Urlaub mit ihrem Verlobten, um etwas mit ihm zu bereden, das sie bedrückte, das sie in den Urlaub verfolgt hätte, wenn sie es nun nicht ansprach.
Seit Monaten verhielt er sich anders, irgendwie fremd, ungewohnt und merkwürdig. Ihr war es von all seinen Freunden als erste aufgefallen. Anfangs dachte sie, sie bilde sich das alles bloß ein, doch mit der Zeit wurden die Zeichen seiner Veränderung deutlicher und für alle offensichtlich. Er ging nicht mehr ans Telefon. Als er damit angefangen hatte, sprach sie ihm kurze Nachrichten auf den Anrufbeantworter und bat ihn um Rückruf. Die Rückrufe wurden immer seltener. Mit der Zeit kamen sie nur noch, wenn sie versicherte, es handele sich um einen Notfall. Die Notfälle wurden immer zahlreicher und er durchschaute, was sie tat. Er rief sie gar nicht mehr zurück. Es war nicht nur sie, zu der er den Kontakt auf diese Art schleifen ließ. Sogar ihr Verlobter bemerkte seine Veränderung, obwohl die beiden, seit sie sich kannten, nur wenig Kontakt miteinander gehabt hatten. Schließlich fiel es auch ihren gemeinsamen Freunden auf. Er rief niemanden zurück, er wollte niemanden sehen.
Man schrieb ihm SMS, die er per Email beantwortete, halbherzig und mit einigen Tagen Verspätung. Ihr regelmäßiger Kontakt, den er und sie einst gleichermaßen schätzten, wurde zäh. Zwar erwiderte er noch immer jede Email, die sie ihm schrieb, aber auch dies erst Tage später und mit Formulierungen, so knapp wie Notizen, die jegliche Ausschweifungen oder Details vermissen ließen. Wie gern hatte er immer Geschichten erzählt, stundenlang, die seine Freunde an ihm liebten. Er konnte Erlebnisse beschreiben wie kein Zweiter, sie ausmalen, sie dichten. Er hatte Problemen gelauscht und Ratschläge erteilt oder bei einem Bier über die Welt philosophiert. Das alles war vorbei und niemand wusste den Grund. Seine Reaktionen hatten den Charakter eines Interviews angenommen, nur auf direkte Fragen antwortete er überhaupt noch, und auch das tat er nicht immer. Diejenigen seiner Freunde, die ihn nicht aufgaben, versuchten seiner trüben Laune auf den Grund zu gehen. Während die einen ihm ihr Mitgefühl zeigten, um es ihm leichter zu machen, sich zu öffnen, stellten ihn andere direkt zur Rede. Er antwortete ihnen allen, es ginge ihm gut und sie bräuchten sich seinetwegen wirklich keine Sorgen zu machen. Diese Antwort allerdings beunruhigte seine Freunde noch mehr, denn es war so offensichtlich gelogen. Er hatte nicht nur den Kontakt zu anderen Menschen reduziert, auch körperlich ging es ihm schlecht. Sein Gesicht war eingefallen, das Resultat seiner andauernden Abmagerung. Wenn er sich überhaupt noch mit seinen Freunden traf, war er wortkarg und hatte eine Laune, als käme er von einer Beerdigung. Dunkelste Augenringe prägten sein Gesicht, Husten unterbrach fast jeden seiner Sätze. Schlaf fand er kaum. Die wenigen richtig guten Freunde, die er noch hatte, waren ratlos. Niemand kam an ihn heran. So stand nun also sie, seine beste Freundin, vor seiner Tür. Sie würde bleiben, bis er ihr endlich gesagt hätte, was mit ihm los sei.
Widerwillig bat er sie herein und bot ihr pflichtschuldig etwas Bier an, das sie freundlich ablehnte. Sie sagte, sie wolle gleich auf den Punkt kommen. Er habe sich verändert. Niemand wisse, was mit ihm los sei, aber man mache sich große Sorgen. Seine Freunde machten sich große Sorgen. Sie versicherte ihm, er habe noch immer Freunde, die ihm bereitwillig helfen würden, sollte er Probleme irgendeiner Art zu bewältigen haben. Sollte es um finanzielle Dinge gehen, wäre das schnell aus der Welt zu schaffen, ermutigte sie ihn. Er winkte ab und schüttelte den Kopf. Keine finanziellen Probleme. Er dankte für das Angebot. Auch sonst gäbe es keine Probleme, bei denen seine Freunde ihm behilflich sein könnten. Aber sein Verhalten sei doch nicht normal, beharrte sie. Irgendetwas müsse doch sein. Er wiegelte ab. Es ginge ihm gut, sie solle sich seinetwegen keine Sorgen machen. Das war ihr zu viel. Sie blaffte ihn an, er könne vielleicht andere belügen, dass sie als seine beste Freundin aber etwas mehr Ehrlichkeit von ihm erwarte. Immerhin sei sie mit den besten Absichten zu ihm gefahren, noch dazu so kurz vor ihrem Urlaub mit ihrem Verlobten.
Sie entschuldigte sich bei ihm, nicht schon früher das Gespräch gesucht zu haben. Als er angefangen hatte, sich zu verändern, war sie bis zur Erschöpfung mit der eigenen Veränderung ihres Lebens beschäftigt gewesen und hatte keine passende Gelegenheit gefunden, um einmal in Ruhe mit ihm zu reden. Gewollt hätte sie, aber ihr fehlte die Zeit. Sie wusste, die meisten sagten das als Ausrede, weil man für solche Angelegenheiten eigentlich immer Zeit hatte, man konnte sie sich nehmen, gerade für gute Freunde. Aber sie war wirklich nicht dazu gekommen. Gemeinsam mit ihrem Freund hatte sie ein baufälliges Haus gekauft, kündigte ihre alte Wohnung, musste umziehen, renovieren. Als das Haus in einem einigermaßen guten Zustand war und der gröbste Stress allmählich nachließ, hielt ihr Freund, dann ihr Verlobter, um ihre Hand an. Nun hatte sie eine Hochzeit zu planen.
Er aber sagte bloß verständnisvoll, er wisse ja, dass sie mit Umzug und Hochzeitsvorbereitungen in letzter Zeit sicher schwer beschäftigt gewesen sein musste, er könne das verstehen. Überhaupt sei es nicht so wichtig, sei er nicht so wichtig, er nehme es ihr nicht übel. Sie fragte ihn, was er mit ‚nicht so wichtig‘ eigentlich meine. Ihm sei gar nichts mehr wichtig, so ihr Eindruck, gestand sie ihm, nicht einmal der Kontakt zu ihr, den er doch stets mit Freude gepflegte hatte. Als er daraufhin verschämt den Blick senkte, tat er ihr leid und sie hätte sich am liebsten geohrfeigt, ihm nun auch noch einen Vorwurf daraus zu machen. Aber vielleicht war das ja ein Weg, ihn aus der Reserve zu locken. Sie ließ es darauf ankommen. Wenn alles in Ordnung sei, bohrte sie, weshalb komme er dann kaum noch aus seiner Wohnung. Weshalb verweigere er beinahe jegliche Kommunikation. Weshalb vernachlässige er sich selbst, seine Freunde, sogar sie, die ihm immer wichtig gewesen sei. So etwas könne er nicht machen. Er könne nicht einfach alle Brücken abbrennen und erwarten, niemand würde sich um ihn sorgen. Und dann auch noch sein Job! In der Firma, für die er arbeitete, war auch ihr Verlobter beschäftigt und hatte ihr erzählt, er käme nur noch sehr sporadisch seiner Arbeit nach. In letzter Zeit komme er so selten und mit fadenscheinigen Ausreden, dass er kurz davor stünde, gefeuert zu werden und sein Einkommen zu verlieren. Er sagte bloß, das sei ihm egal. Sie wurde laut. Wie könne ihm das egal sein. Der Job sei seine existentielle Grundlage, ohne ihn könne er einpacken. Er zuckte die Schultern. Es wurde ihr zu viel. Wie könne er einfach so dasitzen, alles scheißegal finden, seinen Job, seine Freunde, die sich Sorgen um ihn machten, sogar sie. Er kam nicht aus der Reserve. Sie seufzte, war wütend, enttäuscht, sagte zu ihm, sie vermisse ihre gemeinsamen Gespräche, die regelmäßigen Telefonate, die Emails, aber das sei ihm wahrscheinlich auch egal. Er sähe aus, als wäre er kurz vorm Sterben, erklärte sie, er gehe kaum noch raus, und dann erzähle er allen, es ginge ihm gut. Für wie dumm halte er sie denn, alle wollten ihm doch bloß helfen, besonders sie. Die Kälte in seiner Stimme traf sie am meisten, als er ihr ins Gesicht sagte, ihre Hilfe könne sie sich sparen. Wenn das so ist, könne er sie einmal kreuzweise, entgegnete sie verletzt, denn eigentlich müsse sie ja Koffer packen, doch stattdessen sei sie hierher gefahren, zu ihm, um mit ihm zu sprechen, und er benehme sich wie ein Arschloch und lüge sie an. Daraufhin schmiss er sie raus. Er habe sie nicht darum gebeten, hierher zu kommen, sie solle mit ihrem tollen Verlobten in ihren blöden Urlaub fahren und einfach verschwinden. Sie fing an zu weinen, sie brüllte ihn beim Rausgehen an, was sein verdammtes Problem sei und was er überhaupt wolle. Er murmelte einen letzten Satz und schloss hinter ihr die Tür: „Alles, was ich wollte, warst du.“

Liebe soll bekanntlich Berge versetzen können, doch manchmal scheitert sie bereits an einem Kieselstein. Seit knapp sechs Monaten waren sie ein Paar. Sie hatten sich in einem Bistro kennengelernt, die Nummern getauscht und bald darauf einige Dates gehabt. Es war ihr Lachen, in das er sich zuerst verliebt hat, und ihr gefiel, wie er sich gab. An einem kühlen Dienstag im Dezember, kurz vor ihrem halbjährigen Jubiläum, sagte er zu ihr: „Du bist die, nach der ich gesucht habe“. Dann ging er zur Arbeit. Auf dem Nachhauseweg würde er ihr Blumen mitbringen, einfach so, weil er wusste, wie sehr sie sich doch jedes Mal darüber freute. Sie war die Frau, mit der er alt werden, eine Familie gründen wollte, und er liebte sie von ganzem Herzen.

Sie hingegen saß noch eine Weile am Küchentisch seiner Wohnung, in der sie übernachtet hatte, und dachte über seine Worte nach. Was wollte er ihr damit sagen? Er hatte sie gesucht. Woher wollte er das wissen? Wenn sie beide in einem Jahr nicht mehr zusammen wären, so wäre sie für ihn wohl nicht mehr die Gesuchte. Nie gewesen. Dann wäre es eine neue. Suchte er also immer, was er gerade gefunden hatte? Was für eine bequeme Lebensphilosophie! Sucht man nach Gold und findet bloß Eisen, so deklariert man diese Suche einfach um. Schon immer habe man nach Eisen gesucht, sagt man dann. Etwas anderes als Eisen wolle man gar nicht haben, behauptet man mit ernster Miene. Das Eisen würde sich geschmeichelt fühlen, wäre es zu Emotionen in der Lage, und es würde nie infrage stellen, ob die Suche wirklich ihm galt. Eine angenehme Illusion mit einer harten Wahrheit auf die Probe stellen? Nein!

War sie etwa sein Eisen? Er hatte sie gefunden, das stand außer Frage, aber hatte er sie auch gesucht? Sie? Wirklich sie? Sie begann zu zweifeln. Er hatte ihr nie erzählt, wie seine Freundinnen vor ihr gewesen sind. Passte sie in ein Muster, fragte sie sich. Dann hatte er vielleicht wirklich nach ihr gesucht und alle Frauen vor ihr waren fehlgeschlagene Versuche in einer Art von Annäherungsverfahren. Bloß woher sollte sie dann wissen, wirklich am Ende dieser Suche zu stehen. War es nicht viel wahrscheinlicher, dass auch sie nur eine Annäherung an die Frau war, die er wirklich suchte? Sie hatte Eigenschaften, die er nicht mochte. Was sollte ihr das bedeuten? War sie von dieser Frau, die er suchte, so weit entfernt? Er nahm sie hin, diese Eigenschaften, sehr geduldig sogar, aber tat er das vielleicht nicht nur, weil es besser ist, anstelle gar keiner wenigstens eine halbe Version der Frau zu haben, die man sucht? War sie eine Kompromisslösung, ein Zwischenschritt in der Evolution seiner Beziehungen?

Was wäre wiederum, wenn sie und die Frauen seiner früheren Beziehungen nicht in ein solches Muster passten? Dann wäre seine Auswahl doch recht beliebig. Sie wäre nicht einmal ein evolutionärer Zwischenschritt auf dem Weg zu der von ihm gesuchten Frau, sondern austauschbar. Völlig austauschbar. Wenn er wirklich sie gesucht hätte, warum wäre er dann mit Frauen zusammen gewesen, die ihr so unähnlich waren? Da gab es keine Linie, keine Annäherung, nur austauschbare Partner. Jede hatte er gefunden. Hatte er auch jede gesucht? Hatte er überhaupt eine von ihnen gesucht?

Was sollte das überhaupt heißen, sie sei die, nach der er gesucht habe? Er sprach in der Vergangenheit. Wenn es also stimmen sollte, hieße es dann, er suchte sie gar nicht mehr? Glaubte er, er hatte sie gefunden? Einmal, und dann für immer und ewig? Wenn man etwas findet, hört man auf, danach zu suchen, dachte sie. Wenn man weiß, wo etwas liegt, beachtet man es kaum, es liegt dort schließlich immer. Nahm er sie also für selbstverständlich? Er hatte sie gefunden und nun war die Suche vorbei. Sie war für ihn nichts mehr, das er erkunden wollte. Konnte das sein? War das nicht gerade das Gegenteil von Liebe, jemanden einmal zu finden und dann aufzuhören, in ihm zu suchen – nach ihm selbst. „Ich habe dich gefunden“ reduzierte doch die Liebe auf „Ich möchte, dass du für immer so bleibst“. Das war keine Liebe. Jemanden zu finden, ein für alle Mal, das ist unmöglich, so wie es doch unmöglich ist, sich jemals selbst zu finden, ohne sich dabei zu verlieren. In der Suche steckt die Liebe und in der Suche steckt die Selbsterkenntnis. Wer findet, der hat nichts mehr zu entdecken, mit dem Finden stirbt das Leben, das Streben und die Liebe. Wie also konnte er allen Ernstes behaupten, er habe sie gefunden? Sie kannten sich doch gerade erst ein halbes Jahr! Wie vermessen es war, bereits nach dieser kurzen Zeit nichts mehr an ihr entdecken zu wollen. Er war fertig mit ihr, dachte sie. Schade.

Sie packte alles ein, was ihr gehörte, und verließ seine Wohnung. Diesmal würde er sie suchen, ja, aber finden würde er sie nicht mehr.