Kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Sys­tem und sei­ner Pro­pa­gan­da macht ein­sam. Denn in aller Regel zieht ja das sozia­le Umfeld (Kol­le­gen, Fami­lie, Freun­de, Part­ner etc.) nicht mit, wenn einer anfängt, herr­schen­de Ideo­lo­gien in Fra­ge zu stel­len. Die Fol­gen rei­chen von Spott und Distan­zie­rung bis hin zu sozia­ler Iso­lie­rung. Es muss einer schon ein gehö­ri­ges Maß an Auto­no­mie und Kraft (im Sin­ne von Ich­stär­ke) mit­brin­gen, um sich von sol­chen Mecha­nis­men nicht klein­krie­gen zu las­sen, d.h. sich die­sem Grup­pen­druck nicht anzu­pas­sen und die aus einer kri­ti­schen Geis­tes­hal­tung not­wen­dig resul­tie­ren­de Ver­ein­sa­mung zu ertragen.
(Mrs. Mop in den Kom­men­ta­ren die­ses Bei­trags)

4 minu­tes of Occu­py Frankfurt

Wir leben in tur­bu­len­ten Zei­ten. Der Kapi­ta­lis­mus, wie wir ihn heu­te ken­nen, fin­det sein Ende – auf die eine oder auf die ande­re Art. Anstatt die Kri­se aber als Bedro­hung und das Schei­tern des Kapi­ta­lis­mus als Unter­gang der Welt wahr­zu­neh­men, sind viel­mehr die Chan­cen zu erken­nen, die Grund zur Freu­de lie­fern, wenn sie genutzt werden.

Wer mit den immer deut­li­cher auf­tre­ten­den Zer­falls­pro­zes­sen des Kapi­ta­lis­mus das Aus­bre­chen eines glo­ba­len Cha­os her­an­na­hen sieht, arti­ku­liert mit die­sen Bedro­hungs­sze­na­ri­en Ängs­te, die vor allem eines offen­ba­ren: Die öko­no­mi­schen Gesetz­mä­ßig­kei­ten und Anfor­de­run­gen des bestehen­den Wirt­schafts­sys­tems, des­sen Sieg über die Sowjet­uni­on auf­grund des dar­aus resul­tie­ren­den Man­gels an kon­kre­ten Sys­te­mal­ter­na­ti­ven bis­wei­len schon zur Mär vom Ende der Geschich­te ver­lei­tet hat, haben sich bereits so sehr als Denk­sche­ma­ta in den Köp­fen der Men­schen fest­ge­setzt, dass ein Weg­fal­len die­ser Gesetz­mä­ßig­kei­ten als Weg­fall der Ord­nung an sich begrif­fen wird, so als gäbe es kei­ne ande­ren Mög­lich­kei­ten, das mensch­li­che Mit­ein­an­der zu orga­ni­sie­ren, als jene, die zur­zeit bestehen. Die­se schein­bar alter­na­tiv­lo­sen gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren, durch deren Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten wir sozia­li­siert wur­den und die daher in unse­re Habi­tus, in unse­re Hand­lungs- und Denk­struk­tu­ren Ein­zug gefun­den haben, befin­den sich nun in einer Kri­se, die nicht nur öko­no­mi­scher, son­dern auch psy­cho­lo­gi­scher Natur ist, denn die sozia­le Ord­nung hat sich unse­rer bis in die Fan­ta­sie hin­ein bemäch­tigt, wo sie der Vor­stel­lungs­kraft enge Gren­zen setzt, die jenen des wirt­schaft­li­chen Sys­tems ent­spre­chen. Eine grund­le­gen­de Ände­rung die­ses Sys­tems über­steigt selbst in des­sen Kri­se noch die Gren­zen des Vor­stell­ba­ren oder ist nur als Uto­pie denk­bar, als etwas, dem per se kei­ne (zeit­na­he) Rea­li­sie­rungs­chan­ce zuge­spro­chen wird. Die Gedan­ken, habi­tu­ell der­art geprägt und folg­lich ein­ge­schränkt, wir­ken somit als Kom­pli­zen des der­zei­ti­gen Sys­tems fort und so muss die Kri­se der bestehen­den Ord­nung wie eine Kri­se der Ord­nung an sich emp­fun­den wer­den, der Zer­fall des Kapi­ta­lis­mus wie der Zer­fall jeg­li­cher Gesellschaft.

Tat­säch­lich aber ist die der­zei­ti­ge Kri­se eine Chan­ce. Wer trotz aller Fak­ten noch unbe­irrt dar­auf baut, es möge alles so blei­ben, wie es ist, der möch­te eine Gesell­schafts­ord­nung am Leben erhal­ten, in der ein immer klei­ne­rer Teil auf Kos­ten der gro­ßen Mehr­heit lebt. Die sich aus­brei­ten­de Kri­se lie­fert die Mög­lich­keit, die­sen Zustand zu ändern, im Klei­nen wie im Gro­ßen. Genau die­ses Anlie­gen ver­tre­ten die wach­sen­den welt­wei­ten Proteste.

Nicht der Zusam­men­bruch stellt die Bedro­hung dar, son­dern jeder zusätz­li­che Tag, den das bestehen­de Sys­tem künst­lich am Leben erhal­ten wird – zu hor­ren­den öko­no­mi­schen, öko­lo­gi­schen und sozia­len Kos­ten. Wenn alles unge­hemmt wei­ter­läuft wie bis­her, wer­den wir in naher Zukunft unter ande­rem Fol­gen­des erleben:

  • weit­ge­hen­den Abbau des Sozialstaats
    der bereits vor Jah­ren ein­ge­setzt hat und sich stän­dig ver­schärft, man schaue neben Deutsch­land nur auf die dra­ko­ni­schen Spar­maß­nah­men in Grie­chen­land, das jüngst ver­ab­schie­de­te Spar­pa­ket Ita­li­ens, die dras­ti­schen Spar­be­mü­hun­gen in Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, Spa­ni­en und Portugal.
  • erstar­ken­den Nationalismus
    der bereits jetzt schon zu beob­ach­ten ist, hier­zu­lan­de am offen­sicht­lichs­ten in Form der unver­hoh­le­nen und auch von poli­ti­scher Sei­te – im Sin­ne natio­na­ler Inter­es­sen – befeu­er­ten Het­ze gegen den ver­meint­li­chen Kri­sen­ver­ur­sa­cher Grie­chen­land, für des­sen angeb­li­che Faul­heit und Inkom­pe­tenz man nicht län­ger Zahl­meis­ter sein wol­le, genau­so wenig wie für ande­re Schul­den­län­der, wäh­rend im Aus­land teil­wei­se Deutsch­land als Ver­ur­sa­cher der Kri­se aus­ge­macht wird und ent­spre­chend ver­hasst ist; der zudem durch die natio­na­len Wirt­schafts­in­ter­es­sen vor­an­ge­trie­ben wird, die allen vor­an Deutsch­land, aber auch Frank­reich mit der Durch­set­zung der eige­nen Vor­stel­lung von Kri­sen­be­wäl­ti­gung und Haus­halts­po­li­tik auf Kos­ten drit­ter Län­der verfolgt.
  • zuneh­men­de Ver­ar­mung und Prekarisierung
    die schon seit eini­ger Zeit zu ver­zeich­nen ist, man füh­re sich bloß ein­mal Arbeits­lo­sen­zah­len wie zum Bei­spiel die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit in Spa­ni­en (~45 %) und Ita­li­en (~30 %) oder Sta­tis­ti­ken der Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung (ers­te­re hier als inter­ak­ti­ve Gra­fik für die USA), der Obdach­lo­sig­keit, der Schul­den­be­las­tung sowie der Armut oder des Armuts­ri­si­kos zu Gemü­te, die alle­samt anwach­sen­de sozia­le Miss­stän­de offenbaren.
  • gras­sie­ren­den Sozialdarwinismus
    der bereits heu­te vor­zu­fin­den ist, bei­spiels­wei­se in Form der Dis­kri­mi­nie­rung von Arbeits­lo­sen und Migran­ten, die – auch von poli­ti­scher Sei­te – teil­wei­se sub­til, teil­wei­se ganz offen als faul und dumm, als Para­si­ten oder als unfi­nan­zier­ba­re Last des Wirt­schafts­stand­orts dif­fa­miert wer­den; der sich zudem hin­ter der brei­ten Akzep­tanz von in den letz­ten Jah­ren wie­der erstar­ken­den Geis­tes­hal­tun­gen wie „Nur wer arbei­tet, soll auch essen“ mehr schlecht als recht verbirgt.
  • zuneh­men­de Entsolidarisierung
    die bereits in die­sen Tagen exem­pla­risch als ste­ti­ge Pri­va­ti­sie­rung, als ein­sei­ti­ge Gebüh­ren­er­hö­hun­gen und Spar­maß­nah­men zu Las­ten unte­rer Schich­ten, als Abschot­tung der Wohl­ha­ben­den in Gated Com­mu­ni­ties und als das Aus­spie­len von Bevöl­ke­rungs­tei­len gegen ande­re Grup­pen der Bevöl­ke­rung aus­zu­ma­chen ist, so zum Bei­spiel Gering­ver­die­ner gegen Arbeits­lo­se oder „rich­ti­ge Deut­sche“ gegen Migranten.
  • Per­so­na­li­sie­rung der Kritik
    die als aggres­si­ve Sün­den­bock­su­che bereits heu­te deut­lich zu ver­neh­men ist, wenn bei­spiels­wei­se gezielt Ban­ker und Spe­ku­lan­ten als Blut­sauger oder Fremd­kör­per bezeich­net und teil­wei­se sogar bedroht werden.
  • Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung
    die momen­tan schon sehr ein­dring­lich anhand von Grie­chen­land und Ita­li­en zu beob­ach­ten ist, wo nun Tech­no­kra­ten im Sin­ne einer rigi­den Spar­po­li­tik die Über­gangs­re­gie­run­gen lei­ten sol­len, das jewei­li­ge Land also de fac­to gar nicht mehr regiert, son­dern bloß noch zur Abwick­lung gema­na­ged wer­den wird; die außer­dem auf euro­päi­scher Ebe­ne klar zu ver­zeich­nen ist, wo sich Ent­schei­dungs­pro­zes­se unter Aus­schluss euro­päi­scher Insti­tu­tio­nen, die ihrer­seits bereits unter Demo­kra­tie­de­fi­zi­ten lei­den, mehr und mehr auf die deutsch-fran­zö­si­sche Dop­pel­spit­ze kon­zen­trie­ren; die zuletzt jedoch am deut­lichs­ten an den offen demo­kra­tie­feind­li­chen Reak­tio­nen auf die ange­kün­dig­te Volks­ab­stim­mung in Grie­chen­land abzu­le­sen war.
  • Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Protestbekämpfung
    für die die Stra­ßen­schlach­ten in Athen, Rom und in den USA, aber auch die Riots in Lon­don ein Vor­ge­schmack waren.

All dies sind kei­ne düs­te­ren Zukunfts­vi­sio­nen, son­dern aus­nahms­los Pro­zes­se, die bereits ein­ge­setzt haben und sich mit Zuspit­zung der Kri­se pro­por­tio­nal ver­schär­fen wer­den, sofern ihnen nicht ent­ge­gen­ge­wirkt wird. Es ist der ganz nor­ma­le Wahn, den die bestehen­de Kri­se zum Vor­schein bringt.

Die glo­ba­len Pro­tes­te wie­der­um, die zur­zeit statt­fin­den und immer mehr Zulauf erfah­ren, sind in ihrem Kern nicht unbe­dingt pri­mär als For­de­rung zur Abschaf­fung des Kapi­ta­lis­mus zu begrei­fen – dies gelingt ihm aus eige­ner Kraft, wie immer offen­sicht­li­cher wird. Die Fra­ge aber, die sich in der Kri­se und mit dem Zer­fall der bestehen­den Wirt­schafts­ord­nung immer drin­gen­der stellt, lau­tet nun: In wel­che Rich­tung soll es weitergehen?

Folg­lich han­delt es sich bei den Pro­tes­ten – allen vor­an bei jenen der Indi­gna­dos oder der Occu­py-Bewe­gung sowie ihr ver­wand­ter Pro­test­for­men – um die Arti­ku­la­ti­on des Stand­punkts, dass man sich dem Gesche­hen nicht in bes­tem Fata­lis­mus hin­ge­ben möch­te (der oft genug als Opti­mis­mus ver­klei­det wird), son­dern statt­des­sen aktiv am Auf­bau einer gerech­te­ren Gesell­schaft teil­neh­men möch­te oder die­se zumin­dest ein­for­dert. Frank Schirr­ma­cher, dem man als Mit­her­aus­ge­ber der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung kei­ne all­zu gro­ße Links­las­tig­keit vor­wer­fen oder zugu­te­hal­ten kann, hat erst kürz­lich den über­aus befrei­en­den Gedan­ken geäu­ßert, dass wir uns zur­zeit in einer sehr kom­for­ta­blen Posi­ti­on befin­den: Immer hat es gehei­ßen, wir kön­nen uns dies nicht leis­ten oder jenes, weil das dem Wirt­schafts­stand­ort scha­det, weil das nicht finan­zier­bar ist, weil das in die­sem Wirt­schafts­sys­tem nicht funk­tio­niert und so wei­ter. Nun aber sind wir an einem Punkt, an dem offen­sicht­lich wird, dass das Wirt­schafts­sys­tem an sich nicht funk­tio­niert. Das heißt, wir kön­nen zum ers­ten Mal seit lan­ger Zeit unge­hemmt dar­über nach­den­ken, wie wir ger­ne leben wür­den, ohne uns um die öko­no­mi­schen „Sach­zwän­ge“ des Wirt­schafts­sys­tems sche­ren zu müs­sen, weil letz­te­res in sei­ner gegen­wär­ti­gen Form sowie­so nicht funk­tio­niert. Die Kri­se als Chance.

Wie eine ande­re Gesell­schaft aus­se­hen könn­te, zeigt im Klei­nen, qua­si als Sozi­al­ex­pe­ri­ment, die Occu­py-Bewe­gung: Men­schen, denen von Poli­tik und Wirt­schaft immer wie­der weis­ge­macht wird, sie sei­en auf sich allein gestellt im Kampf aller gegen alle, jeder sei nur für sich selbst ver­ant­wort­lich und Soli­da­ri­tät ein nicht finan­zier­ba­rer Luxus, leben in Form die­ser Bewe­gung das Gegen­teil vor, hel­fen sich gegen­sei­tig, ver­sor­gen sich gegen­sei­tig, unter­stüt­zen sich gegen­sei­tig. Sie mögen kei­ne ein­heit­li­chen Zie­le for­mu­lie­ren, kei­ne aus­ge­ar­bei­te­ten Kon­zep­te und Patent­lö­sun­gen anbie­ten, die ein­zu­for­dern sowie­so bloß illu­so­risch ist, doch es eint sie ein Unbe­ha­gen gegen­über den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen; sie leh­nen ab, was die der­zei­ti­ge Gesell­schaft ihnen nahe- oder auf­er­legt, sie sagen zum Bestehen­den: Fuck this shit! Die Occu­py-Bewe­gung wagt den Ver­such einer Gegen­kul­tur und zeigt, dass ein ande­res Leben mög­lich ist, eine ande­re Kul­tur mit ande­ren Wer­ten, Prio­ri­tä­ten und Verhältnissen.

Jener Aspekt der gegen­wär­ti­gen Bewe­gung ist es folg­lich auch, der für die bestehen­de Ord­nung die größ­te Zumu­tung dar­stellt – aus deren Sicht­wei­se gespro­chen. Wäh­rend frag­men­tier­te Pro­tes­te und Demons­tra­tio­nen schon immer vor­zu­fin­den waren und ent­spre­chend mar­gi­na­li­siert wer­den konn­ten, ver­fügt das Eta­blie­ren einer kon­struk­ti­ven Gegen­kul­tur, die welt­weit gro­ße media­le Auf­merk­sam­keit erfährt und die sich inter­na­tio­nal ver­netzt als auch rasch aus­ge­brei­tet hat, über eine gänz­lich ande­re Qua­li­tät, weil deren zugrun­de­lie­gen­de Idee das Poten­ti­al besitzt, mehr und mehr Men­schen zum Über­den­ken des Selbst­ver­ständ­li­chen bewe­gen zu kön­nen, indem sie kon­kre­te Alter­na­ti­ven zum Bestehen­den auf­zeigt, wenn auch bloß als sozia­les Expe­ri­ment. Buck­mins­ter Ful­ler hat es wie folgt aus­ge­drückt: »You never chan­ge things by fight­ing the exis­ting rea­li­ty. To chan­ge some­thing, build a new model that makes the exis­ting model obsolete.«

Letzt­lich gilt es also, die eige­ne Angst vor dem Kol­laps, die eige­ne Igno­ranz, die eige­ne Apa­thie und Ohn­macht ange­sichts schein­bar über­mäch­ti­ger Struk­tu­ren zu über­win­den, um aus der Kri­se kon­struk­ti­ve Kraft zu schöp­fen. Kraft für eine bes­se­re, gerech­te­re, glück­li­che­re Gesell­schaft, in der wir ger­ne leben möch­ten. Nie­mand soll­te dar­auf ver­trau­en, von der Poli­tik Lösun­gen zu erhal­ten. Die Poli­tik hat kei­ne Lösun­gen und sie stellt die fal­schen Fra­gen. Es liegt an jedem ein­zel­nen von uns, wie es wei­ter­ge­hen wird.

Update vom 15.05.2012:
Die kom­men­den Tage (Teil 2) – eine Bestands­auf­nah­me sechs Mona­te nach Ver­öf­fent­li­chung die­ses Artikels.

Die Zeit bis zum Schul­jah­res-Ende ver­geht. Ich bil­de mir ein, ich leis­te in die­ser Zeit etwas. Aber mit Leis­tung kann einer dies und der ande­re das mei­nen. Ich bin der Mei­nung, ich leis­te etwas, was die Leh­rer für Leis­tung hal­ten. Für mei­nen Vater sind Leis­tun­gen die Arbei­ten, die ich im Haus und auf den Fel­dern ver­rich­te (…) Für die Dorf­bur­schen besteht mei­ne Leis­tung in der Kum­pe­lei mit ihnen. Für sie bin ich in jener Zeit wenig leis­tungs­fä­hig. (…) Es gab nie eine Zeit, in der ich gern in die Schu­le ging. Ich habe Mus­ter­men­schen stets mit etwas Skep­sis bestaunt, zum Bei­spiel die­sen Noat­nick, der zwei Schul­klas­sen über­sprang, und von dem behaup­tet wird, er habe zwei Lebens­jah­re ein­ge­spart. Ich weiß nicht, ob der lie­be Gott bei der Erschaf­fung des Men­schen an die Schu­le dach­te, aber die­ser Noat­nick ist, als ob ihn Gott bear­bei­tet hät­te, damit er in die Schu­le passt. Ich hin­ge­gen bin neu­gie­rig auf alles, was sich außer­halb der Schu­le zuträgt, aber das trägt mir kei­ne hoch­en Zen­su­ren ein.
(Erwin Stritt­mat­ter – Der Laden, Band 2)

Die [gesell­schaft­lich] glei­cher­ma­ßen erfahr­ba­ren For­men struk­tu­rel­ler und sym­bo­li­scher Gewalt wer­den für die Deklas­sier­ten und Dequa­li­fi­zier­ten umso leid­vol­ler und ent­waff­nen­der, als sie unter den Vor­zei­chen und Ver­hei­ßun­gen einer an indi­vi­du­el­ler Selbst­ver­wirk­li­chung und ‑behaup­tung ori­en­tier­ten ‚Gesell­schaft der Indi­vi­du­en‘ die Schuld für ihr Ver­sa­gen zwangs­läu­fig bei sich selbst suchen und dann wohl auch ent­de­cken wer­den müs­sen. Sym­bo­li­sche Gewalt als die sub­tils­te Form der Herr­schaft beruht nun ein­mal auf einem Mecha­nis­mus, bei dem die Herr­schafts­un­ter­wor­fe­nen nicht umhin zu kom­men schei­nen, anzu­er­ken­nen, dass alles mit rech­ten Din­gen zugeht und jeder nach den ihm gege­be­nen Mög­lich­kei­ten und Gren­zen sei­nes eige­nen Glü­ckes (oder Unglü­ckes) Schmied ist.
(Franz Schult­heis – Repro­duk­ti­on in der Kri­se: Fall­stu­di­en zur sym­bo­li­schen Gewalt; in: Bar­ba­ra Frie­berts­häu­ser, Mar­kus Rie­ger-Ladich & Lothar Wig­ger – Refle­xi­ve Erziehungswissenschaft)

Arbeit ver­höhnt die Frei­heit. Offi­zi­ell kön­nen wir uns glück­lich schät­zen, von Rechts­staat und Demo­kra­tie umge­ben zu sein. Ande­re arme Unglück­li­che, die nicht so frei sind wie wir, müs­sen in Poli­zei­staa­ten leben. Die­se Opfer fol­gen Befeh­len, egal wie will­kür­lich sie sind. Die Behör­den hal­ten sie unter dau­ern­der Auf­sicht. Staats­be­am­te kon­trol­lie­ren sogar kleins­te Details ihres All­tags­le­bens. Die Büro­kra­ten, die sie her­um­schub­sen, müs­sen sich nur nach oben ver­ant­wor­ten, in öffent­li­chen wie in Pri­vat-Ange­le­gen­hei­ten. So und so wer­den Abwei­chung und Auf­leh­nung bestraft. Regel­mä­ßig lei­ten Infor­man­ten Berich­te an die Behör­den wei­ter. Das alles gilt als sehr schlecht.
Und das ist es auch, obwohl es nichts wei­ter dar­stellt als eine Beschrei­bung eines moder­nen Arbeits­plat­zes. Die Libe­ra­len und Kon­ser­va­ti­ven und Frei­heit­li­chen, die sich über Tota­li­ta­ris­mus beschwe­ren, sind Schwind­ler und Heuch­ler. (…) In einem Büro oder einer Fabrik herrscht die­sel­be Art von Hier­ar­chie und Dis­zi­plin wie in einem Klos­ter oder einem Gefäng­nis. Tat­säch­lich haben Fou­cault und ande­re gezeigt, daß Gefäng­nis­se und Fabri­ken etwa zur glei­chen Zeit auf­ka­men, und ihre Betrei­ber ent­lie­hen sich bewußt Kon­troll­tech­ni­ken von­ein­an­der. Ein Arbei­ter ist ein Teil­zeit­skla­ve. Der Chef sagt, wann es los­geht, wann gegan­gen wer­den kann und was in der Zwi­schen­zeit getan wird. Er schreibt vor, wie­viel Arbeit zu erle­di­gen ist und mit wel­chem Tem­po. Es steht ihm frei, sei­ne Kon­trol­le bis in demü­ti­gen­de Extre­me aus­zu­wei­ten, indem er fest­legt (wenn ihm danach ist), wel­che Klei­dung vor­ge­schrie­ben wird und wie oft die Toi­let­te auf­ge­sucht wer­den darf. Mit weni­gen Aus­nah­men kann er jeden aus jedem Grund feu­ern, oder auch ohne Grund. Er läßt bespit­zeln und nach­schnüf­feln, er legt Akten über jeden Ange­stell­ten an. Wider­spre­chen heißt „Unbot­mä­ßig­sein“, als wäre der Arbei­ter ein unge­zo­ge­nes Kind, und es sorgt nicht nur für sofor­ti­ge Ent­las­sung, es ver­rin­gert auch die Chan­cen auf Arbeits­lo­sen­un­ter­stüt­zung. Ohne es unbe­dingt gut­zu­hei­ßen, ist es wich­tig anzu­mer­ken, daß Kin­der zu Hau­se und in der Schu­le die glei­che Behand­lung erfah­ren, bei ihnen durch die ange­nom­me­ne Unrei­fe gerecht­fer­tigt. Was sagt uns das über ihre Eltern und Leh­rer, die arbeiten?
(Bob Black – Die Abschaf­fung der Arbeit; im Ori­gi­nal: The Aboli­ti­on of Work)

Unter einer Stra­ßen­la­ter­ne steht ein Betrun­ke­ner und sucht und sucht. Ein Poli­zist kommt daher, fragt ihn, was er ver­lo­ren habe, und der Mann ant­wor­tet: »Mei­nen Schlüs­sel«. Nun suchen bei­de. Schließ­lich will der Poli­zist wis­sen, ob der Mann sicher ist, den Schlüs­sel gera­de hier ver­lo­ren zu haben, und jener ant­wor­tet: »Nein, nicht hier, son­dern dort hin­ten – aber dort ist es viel zu finster.«
Fin­den Sie das absurd? Wenn ja, suchen auch Sie am fal­schen Ort. Der Vor­teil ist näm­lich, daß eine sol­che Suche zu nichts führt, außer »mehr des­sel­ben«, näm­lich nichts.
(…)
Die Bedeu­tung die­ses Mecha­nis­mus für unser The­ma liegt auf der Hand. Er kann ohne die Not­wen­dig­keit einer Spe­zi­al­aus­bil­dung auch vom Anfän­ger ange­wandt wer­den – ja, er ist so weit ver­brei­tet, daß er seit den Tagen Freuds Gene­ra­tio­nen von Spe­zia­lis­ten ein gutes Ein- und Aus­kom­men bie­tet; wobei aller­dings zu bemer­ken ist, daß sie ihn nicht das Mehr-des­sel­ben-Rezept, son­dern Neu­ro­se nennen.
Doch nicht auf den Namen soll es uns ankom­men, son­dern auf den Effekt. Die­ser aber ist garan­tiert, solan­ge der Unglücks­aspi­rant sich an zwei ein­fa­che Regeln hält: Ers­tens, es gibt nur eine mög­li­che, erlaub­te, ver­nünf­ti­ge, sinn­vol­le, logi­sche Lösung des Pro­blems, und wenn die­se Anstren­gun­gen noch nicht zum Erfolg geführt haben, so beweist das nur, daß er sich noch nicht genü­gend ange­strengt hat. Zwei­tens, die Annah­me, daß es nur die­se ein­zi­ge Lösung gibt, darf selbst nie in Fra­ge gestellt wer­den; her­um­pro­bie­ren darf man nur an der Anwen­dung die­ser Grundannahme.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Zen­tral für das Kon­zept des sozia­len Raums und der sozia­len Fel­der ist das Begrei­fen der sozia­len Wirk­lich­keit als einer rela­tio­na­len. Jeder Akteur inner­halb der sozia­len Wirk­lich­keit fin­det sich an einem Punkt die­ses sozia­len Rau­mes wie­der, wobei sei­ne Posi­ti­on dabei stets im Ver­hält­nis zur Posi­ti­on der ande­ren Akteu­re steht bezie­hungs­wei­se in Hin­sicht auf die Distanz zu ande­ren Akteu­ren defi­niert wird, was durch die Unter­schie­de im Lebens­stil oder – all­ge­mei­ner – im Habi­tus zur Gel­tung kommt. Der sozia­le Raum ist somit auch ein Raum der sozia­len Unter­schie­de und beinhal­tet durch sein rela­tio­na­les Kon­zept die Bezie­hun­gen der ein­zel­nen Akteu­re zuein­an­der. Die Gesell­schaft kon­sti­tu­iert sich unter stän­di­ger Ver­än­de­rung aus den sym­bo­li­schen Kämp­fen um Macht inner­halb des sozia­len Rau­mes. Ein Akteur sieht dabei die Welt oder bes­ser gesagt den sozia­len Raum stets aus Sicht sei­ner Posi­ti­on, so wie eine Per­son im phy­si­schen Raum ihre geo­gra­phi­sche Umge­bung stets nur gemäß ihrer Posi­ti­on wahrnimmt.

Bour­dieu kon­stru­iert den sozia­len Raum als Drei­ebe­nen­kon­zept, umfas­send die Ebe­ne der sozia­len Posi­tio­nen oder Lagen, die Ebe­ne der Lebens­sti­le sowie die Ebe­ne des Habitus.

Die ers­te Ebe­ne der sozia­len Posi­tio­nen lässt sich als drei­di­men­sio­na­les Gebil­de erklä­ren. Zunächst ent­schei­det das per­sön­li­che Kapi­tal­vo­lu­men, also sowohl kul­tu­rel­les als auch öko­no­mi­sches Kapi­tal, über die ver­ti­ka­le Posi­ti­on im sozia­len Raum; das Kapi­tal­vo­lu­men stellt folg­lich die Y‑Achse eines Ach­sen­kreu­zes dar. Wer über ein hohes Kapi­tal­vo­lu­men ver­fügt, fin­det sich in den obe­ren Berei­chen des sozia­len Rau­mes wie­der. Die zwei­te Ach­se stellt die Kapi­tal­struk­tur des Kapi­tals dar, über das ein Akteur ver­fügt. Ihre Pole sind das kul­tu­rel­le sowie das öko­no­mi­sche Kapi­tal. Ein Akteur, der über viel öko­no­mi­sches Kapi­tal ver­fügt, befin­det sich somit an einer ande­ren Posi­ti­on in den obe­ren Berei­chen des sozia­len Rau­mes als eine Per­son, die über viel kul­tu­rel­les Kapi­tal ver­fügt. Kapi­tal­vo­lu­men und Kapi­tal­zu­sam­men­set­zung sind glei­cher­ma­ßen bedeu­tend. Als drit­te Dimen­si­on spielt schließ­lich neben der aktu­el­len Posi­ti­on auch die Ent­wick­lung im sozia­len Raum eine Rol­le. Ver­gan­gen­heit und Zukunft sind hier als Zeit­fak­to­ren von Bedeu­tung, da die Ent­wick­lung Auf­schluss dar­über gibt, ob es sich bei einem Akteur um einen sozia­len Auf- oder Abstei­ger handelt.

Die zwei­te Ebe­ne der Lebens­sti­le kann als über­la­ger­te Ebe­ne auf dem Raum der sozia­len Posi­tio­nen begrif­fen wer­den. Hier zei­gen sich die Unter­schie­de im Kon­sum­ver­hal­ten, in der Nut­zung von Unter­hal­tungs­an­ge­bo­ten, im Sport oder all­ge­mein in der Frei­zeit­ak­ti­vi­tät der sozia­len Akteu­re, die zwar Posi­tio­nen auf der ers­ten Ebe­ne ent­spre­chen, aber nicht zwangs­wei­se dar­aus abge­lei­tet wer­den kön­nen und daher auch sepa­rat unter­sucht werden.

Wie schon auf der zwei­ten Ebe­ne der Lebens­sti­le zei­gen sich auch auf der drit­ten Ebe­ne der Habi­tus die in der ers­ten Ebe­ne ver­deut­lich­ten Unter­schie­de in der Ver­füg­bar­keit über Kapi­tal und die zuge­hö­ri­gen Posi­tio­nen, die für die Akteu­re nicht unmit­tel­bar erkenn­bar sind, in wirk­li­chen, für die Akteu­re sicht­ba­ren Unter­schie­den. Es sind unter­schied­li­che Lebens­sti­le und Ver­hal­tens­wei­sen, die in die­sen bei­den Ebe­nen die unter­schied­li­chen mate­ri­el­len Bedin­gun­gen als unmit­tel­bar erleb­ba­re sozia­le Unter­schie­de zum Aus­druck brin­gen. Der Habi­tus die­ser drit­ten Ebe­ne, ent­stan­den durch die sozia­len Umstän­de, durch die er geprägt wur­de, zeich­net sich für die Umwand­lung ver­ant­wort­lich, die aus ähn­li­chen mate­ri­el­len Bedin­gun­gen ähn­li­che Ver­hal­tens­mus­ter, Geschmä­cker und Lebens­sti­le formt, die schluss­end­lich die sozia­len Dif­fe­ren­zen repro­du­zie­ren. Jene Ver­hal­tens­mus­ter, Lebens­sti­le und Geschmä­cker, gebil­det danach, in wel­cher öko­no­mi­schen und kul­tu­rel­len Situa­ti­on ein Akteur auf­ge­wach­sen ist, wer­den zu Kenn­zei­chen der sozia­len Posi­ti­on und die­nen damit einer­seits als Zuord­nungs- und gleich­zei­tig als Abgren­zungs­merk­mal. Wer auf­stei­gen will, muss gewis­se Hür­den über­win­den und wird auf Grund sei­nes inkor­po­rier­ten Habi­tus nie voll­kom­men ‚dazu­ge­hö­ren’, fühlt sich also mit­un­ter am fal­schen Ort, genau­so wie legi­ti­me oder distin­gu­ier­te Kul­tur als Kul­tur der obe­ren Posi­tio­nen im Sozi­al­raum als Abgren­zungs­merk­mal benutzt wird, die als unin­ter­es­sant und undis­tin­gu­iert gilt, sobald sie popu­lär gewor­den ist und damit auch brei­te­re Mas­sen aus ande­ren, nied­ri­ge­ren sozia­len Posi­tio­nen über sie verfügen.

Bour­dieu kri­ti­siert mit sei­nem Drei­ebe­nen­kon­zept Marx bzw. Tei­le der dar­auf beru­hen­den Mar­xis­ten, die theo­re­ti­sche sozia­le Klas­sen, die sich durch unter­schied­li­ches Kapi­tal­ver­mö­gen aus­zeich­nen, als wirk­li­che Klas­sen begrif­fen haben. Eine wirk­li­che Klas­sen­la­ge bezie­hungs­wei­se viel­mehr sozia­le Nähe oder sozia­le Distanz ent­steht dem­ge­mäß laut Bour­dieu nur in der sozia­len Pra­xis durch die Akteu­re selbst, die sich durch Unter­schie­de in Habi­tus und Lebens­sti­len abgren­zen und somit selbst gewis­se Gren­zen defi­nie­ren, wel­che aller­dings nicht so klar ver­lau­fen müs­sen wie in der Vor­stel­lung Marx­scher Klas­sen, bei der die kon­stru­ier­ten Klas­sen strikt von­ein­an­der getrennt existieren.

Mit der Vor­stel­lung des Rau­mes geht Bour­dieu den Weg, sozia­le Nähe oder Distanz zu beschrei­ben, wie es vom geo­gra­phi­schen Raum ableit­bar ist. Tat­säch­lich las­sen sich Wech­sel­be­zie­hun­gen zwi­schen sozia­lem Raum und dem geo­gra­phi­schen oder phy­si­schen Raum beob­ach­ten, des­sen Struk­tur Bour­dieu auch als ver­ding­lich­ten Sozi­al­raum bezeich­net. Wie im phy­si­schen Raum hat im sozia­len Raum jeder Akteur eine bestimm­te Posi­ti­on, die er ein­nimmt. Wo Nähen oder Distan­zen im Sozi­al­raum bestehen, bestehen sie meist auch im phy­si­schen Raum, was sich durch phy­sisch vor­han­de­ne Abgren­zung in letz­te­rem äußert: Uner­wünsch­te Per­so­nen wer­den durch Archi­tek­tur, recht­li­che Beschrän­kun­gen, Kon­trol­len etc. auf Distanz gehal­ten. Ein Obdach­lo­ser bei­spiels­wei­se, der im sozia­len Raum über nahe­zu kei­ne Exis­tenz ver­fügt, besitzt auch im phy­si­schen Raum kei­ne wirk­li­che Posi­ti­on oder Aus­brei­tung. Die­se phy­si­sche Ver­wirk­li­chung sozia­ler Abgren­zung ist laut Bour­dieu zudem „ein Teil der Behar­rungs­kraft der Struk­tu­ren des Sozi­al­raums“ (Bour­dieu, 1997, S. 161), weil eine phy­si­sche Rea­li­sie­rung oder schein­ba­re Natu­ra­li­sie­rung sozia­ler Unter­schie­de nur sehr schwie­rig wie­der auf­zu­he­ben ist. Räum­li­che Distan­zen tra­gen somit ihren – sicher­lich gro­ßen – Teil zur Ein­ver­lei­bung der sozia­len Distan­zen bei, die sich damit in den Denk­struk­tu­ren mani­fes­tie­ren: „Genau­er gesagt voll­zieht sich die unmerk­li­che Ein­ver­lei­bung der Struk­tu­ren der Gesell­schafts­ord­nung zwei­fel­los zu einem guten Teil ver­mit­telt durch andau­ern­de und unzäh­li­ge Male wie­der­hol­te Erfah­run­gen räum­li­cher Distanz“ (Bour­dieu, 1997, S. 162).

Sozia­le Felder

Das Kon­zept der sozia­len Fel­der trägt der Tat­sa­che Rech­nung, dass sich inner­halb des sozia­len Raums ihrer­seits wei­te­re sozia­le Räu­me vor­fin­den las­sen. Die­se Räu­me oder Uni­ver­sen inner­halb des sozia­len Raums, bezeich­net als Fel­der, ver­fü­gen jeweils über eine feld­spe­zi­fi­sche Form von Kapi­tal, die inner­halb die­ser Fel­der im sym­bo­li­schen Kampf um Macht und sozia­le Posi­ti­on als cha­rak­te­ris­ti­sche sym­bo­li­sche Waf­fe ein­ge­setzt wird. Um sie geht es inner­halb des Fel­des. Im Feld der Lite­ra­tur bei­spiels­wei­se stellt eine Form des kul­tu­rel­len Kapi­tals die feld­spe­zi­fi­sche Kapi­tal­art dar, mit der sym­bo­lisch dar­um gekämpft wird, was als legi­ti­me Kul­tur Aner­ken­nung fin­det und was als popu­lä­re Kul­tur undis­tin­gu­iert ist und damit an Bedeu­tung ver­liert. Im Feld der Wis­sen­schaft hin­ge­gen wird mit der Kapi­tal­art ‚For­schung’ dar­um gekämpft, wes­sen Theo­rie, For­schung oder Erfin­dung am inno­va­tivs­ten oder am exklu­sivs­ten ist und damit die Vor­rang­stel­lung über­nimmt, um sich inner­halb des Fel­des gut zu posi­tio­nie­ren, wäh­rend im Feld der Öko­no­mie das öko­no­mi­sche Kapi­tal dar­über ent­schei­det, wer inner­halb des Fel­des Macht­po­si­tio­nen ein­neh­men kann, wohin­ge­gen im Feld der Reli­gi­on wie­der­um eine ganz ande­re Kapi­tal­art von zen­tra­ler Bedeu­tung ist, usw.

Inner­halb jedes die­ser Fel­der im sozia­len Raum fin­den somit sym­bo­li­sche Kämp­fe um die Posi­tio­nie­rung und die sozia­le Exis­tenz mit dem Ziel der Vor­macht­stel­lung im jewei­li­gen Feld statt, die den Kämp­fen auf gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Ebe­ne ähneln und mit­un­ter auch fälsch­li­cher­wei­se als sol­che wahr­ge­nom­men wer­den, aber feld­spe­zi­fi­sche sym­bo­li­sche Kämp­fe beschrei­ben. Die Fel­der ihrer­seits befin­den sich an Posi­tio­nen des sozia­len Rau­mes und stel­len dadurch folg­lich auch die Posi­tio­nen der im Feld befind­li­chen Akteu­re dar.

Wich­tig für das Kon­zept der sozia­len Fel­der ist die Dyna­mik eben die­ser. Sozia­le Fel­der sind kei­ne star­ren Gebil­de, in die ein Akteur wie in ein Getrie­be ein­ge­bun­den wird, son­dern stel­len hoch­dy­na­mi­sche sozia­le Ver­bin­dun­gen dar, die sich ver­än­dern, wenn sich die ‚Beset­zung’ ändert, also ein Akteur hin­zu­kommt oder das Feld ver­lässt. Bour­dieu ver­wen­det hier wie schon beim Habi­tus, der von zen­tra­ler Bedeu­tung für das Kon­zept der sozia­len Fel­der und des sozia­len Rau­mes ist, die Meta­pher des Spiels: Jedes sozia­le Feld ist wie ein Spiel, das mit einer eige­nen, feld­spe­zi­fi­schen Dyna­mik und eige­nen Logik aus­ge­stat­tet ist, und sobald ein neu­er Spie­ler in das Spiel auf­ge­nom­men wird, ver­än­dert sich die­ses Spiel und wird von den Akteu­ren nun auf eine abge­wan­del­te Art gespielt. Erneut fällt auf, dass ent­ge­gen den sys­tem­theo­re­ti­schen Vor­stel­lun­gen die Akteu­re nicht in ihre Rol­len oder Posi­tio­nen gedrängt wer­den, son­dern dass das Sub­jekt als sol­ches selbst das Spiel, also den sym­bo­li­schen Kampf, inner­halb der Fel­der bestimmt. Der Habi­tus als struk­tu­rier­te und struk­tu­rie­ren­de Struk­tur wird unter den gege­be­nen ‚Spiel­re­geln’ des Fel­des, die hier kei­nes­wegs als star­re Regeln miss­ver­stan­den wer­den soll­ten, und durch die Geschich­te des Fel­des beein­flusst bezie­hungs­wei­se geprägt, aber gleich­zei­tig bestimmt der Akteur, der eine Posi­ti­on inner­halb eines Fel­des ein­nimmt, wel­che wie­der­um rela­tiv zu den Posi­tio­nen der ande­ren Akteu­re im Feld ist, des­sen ‚Spiel­re­geln’. Die sozia­len Posi­tio­nen sowie die sym­bo­li­schen Kämp­fe inner­halb der sozia­len Fel­der sind folg­lich sozia­le Kon­struk­te ihrer Akteu­re, die die jewei­li­gen Fel­der mit ihren cha­rak­te­ris­ti­schen ‚Spiel­re­geln’ und sym­bo­li­schen Kämp­fen reproduzieren.

Das Aner­ken­nen der ‚Spiel­re­geln’ eines Fel­des ist somit eine der Bedin­gung oder der ‚Ein­tritts­preis’, um eine Posi­ti­on in die­sem ein­neh­men zu kön­nen; eine wei­te­re Bedin­gung ist ein spe­zi­fi­scher Habi­tus, aus dem und auf den ein Feld besteht, und ohne den der Zugang zu einem Feld meist sehr schwer fällt oder gar ver­wehrt wird. Wei­ter­hin muss der Akteur selbst­ver­ständ­lich über das cha­rak­te­ris­ti­sche Kapi­tal ver­fü­gen, das inner­halb des Fel­des als spe­zi­fi­sches Kapi­tal von Bedeu­tung ist, da er ansons­ten in eben die­sem Feld sozi­al nicht exis­tent ist.

Die sozia­len Fel­der sind infol­ge­des­sen sozu­sa­gen die ‚Orte des Lebens’, wo tat­säch­lich agiert wird und der Habi­tus der Akteu­re nicht bloß zur Gel­tung kommt, son­dern von immenser Wich­tig­keit für die Zuge­hö­rig­keit zu und die Posi­tio­nie­rung in Fel­dern ist, wohin­ge­gen der sozia­le Raum eher ein abs­trak­tes Gebil­de dar­stellt und sämt­li­che sozia­len Fel­der umfasst.

Bour­dieu lie­fert zur Ana­ly­se von sozia­len Fel­dern, deren Gren­zen nur empi­risch bestimmt wer­den kön­nen, drei Unter­su­chungs­kri­te­ri­en: Zum ers­ten die Posi­ti­on des Fel­des im Ver­hält­nis zur Macht, also wo sich das Feld inner­halb des sozia­len Rau­mes befin­det, zwei­tens die Posi­tio­nen der Akteu­re inner­halb des Fel­des sowie des­sen Insti­tu­tio­nen, und drit­tens die Habi­tus der Akteure.

Wenn sozia­le Fel­der Räu­me im Raum sind, las­sen sich auch für sozia­le Fel­der gut die Zusam­men­hän­ge mit dem phy­si­schen Raum dar­stel­len oder ver­deut­li­chen. Das Muse­um bei­spiels­wei­se als Ort des phy­sisch objek­ti­vier­ten sozia­len Fel­des der Kunst setzt beim Besu­cher einen bestimm­ten Habi­tus und einen dadurch gebil­de­ten Geschmack als auch ein bestimm­tes Ver­hal­ten und einen bestimm­ten Lebens­stil vor­aus. Der Besu­cher oder Akteur muss also, wenn er in die­sen Raum ‚ein­dringt’, die „still­schwei­gend vor­aus­ge­setz­ten Bedin­gun­gen erfül­len“ (Bour­dieu, 1997, S. 165). Uner­wünsch­te Per­so­nen sind nicht ger­ne gese­hen, was ihnen beim Auf­ent­halt auch aktiv (Kon­trol­len oder Aus­schluss) oder pas­siv (sym­bo­lisch) ent­geg­net wird oder wes­we­gen sie von Anfang an gar kei­nen Zugang bekom­men oder sich den Zugang selbst ver­weh­ren, weil sie nicht über das nöti­ge öko­no­mi­sche, kul­tu­rel­le und/oder sozia­le Kapi­tal ver­fü­gen. Wie im sozia­len Raum kön­nen sich auch im phy­si­schen Raum ver­schie­de­ne Fel­der über­la­gern, wenn sich zum Bei­spiel in Stra­ßen, Vier­teln, Orten etc. die posi­ti­ven oder nega­ti­ven Pole ver­schie­dens­ter Fel­der kon­zen­trie­ren und exklu­si­ve Orte hohen Kapi­tal­vo­lu­mens wie Nobel­ein­kaufs­mei­len oder Clubs sowie Orte nied­ri­gen Kapi­tal­vo­lu­mens wie Ghet­tos entstehen.

Lite­ra­tur

  1. Bour­dieu, Pierre. 1981. „Klas­sen­schick­sal, indi­vi­du­el­les Han­deln und das Gesetz der Wahr­schein­lich­keit“. In: Pierre Bourdieu/Luc Boltanski/Monique de Saint Martin/Pascale Mal­di­dier: Titel und Stel­le. Über die Repro­duk­ti­on sozia­ler Macht. Frankfurt/M.: Euro­päi­sche Ver­lags­an­stalt, S. 169–226
  2. Bour­dieu, Pierre. 1992. „Die fei­nen Unter­schie­de“. In: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht. Ham­burg: VSA-Ver­lag, S. 31–47
  3. Bour­dieu, Pierre. 1997. „Orts­ef­fek­te“. In: ­Das Elend der Welt. Kon­stanz. S. 159–167
  4. Bour­dieu, Pierre. 2001b. „Habi­tus und Ein­ver­lei­bung“. In: Medi­ta­tio­nen. Zur Kri­tik der scho­las­ti­schen Ver­nunft. Frankfurt/M.: Suhr­kamp, S. 177–188
  5. Krais, Bea­te. 2004. „Habi­tus und sozia­le Pra­xis“. In: Stein­rü­cke, Mar­ga­re­ta (Hrsg.) (2004): Pierre Bour­dieu. Poli­ti­sches For­schen, Den­ken und Ein­grei­fen. Ham­burg: VSA-Ver­lag, S. 91–106

Der Begriff des Habi­tus selbst ist bereits weit­aus älter als Bour­dieus Aus­ar­bei­tung des hier im Fokus ste­hen­den Kon­zepts. Ein kon­kre­ter Zeit­punkt der Ent­ste­hung des Bour­dieu­schen Habi­tus-Kon­zepts ist aller­dings nicht benenn­bar, führt er den Begriff und ein grund­le­gen­des Kon­zept des Habi­tus doch bereits in sei­nen frü­hes­ten Wer­ken zur Ana­ly­se ein, lässt ihn in spä­te­ren Ver­öf­fent­li­chun­gen immer wie­der zur Erwäh­nung kom­men und benutzt ihn als Grund­la­ge zur Aus­ar­bei­tung wei­te­rer gesell­schafts­ana­ly­ti­scher Kon­zep­te, wodurch das Habi­tus-Kon­zept in sei­nen Arbei­ten ste­tig wei­ter­ent­wi­ckelt wird.

Jene frü­hes­ten Wer­ke Bour­dieus (die­ser Abschnitt bezieht sich haupt­säch­lich auf Bour­dieu (2000): Die zwei Gesich­ter der Arbeit), die das Habi­tus-Kon­zept ein­führ­ten, ent­stan­den zur Zeit sei­nes Auf­ent­halts in Alge­ri­en, das sich mit­ten im gesell­schaft­li­chen Wan­del von der vor­ka­pi­ta­lis­ti­schen Welt der kaby­li­schen Bau­ern zur von der Kolo­nia­li­sie­rung auf­ge­zwun­ge­nen kapi­ta­lis­ti­schen Welt der moder­nen Öko­no­mie befand. Für uns selbst­ver­ständ­li­che Pro­zes­se, näm­lich die dem kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tem ent­spre­chen­den Pro­zes­se des öko­no­misch-ratio­na­len Han­delns, waren, wie Bour­dieu fest­stell­te, für die kaby­li­schen Bau­ern kei­nes­wegs ver­traut oder selbst­ver­ständ­lich, das öko­no­misch-ratio­na­le Han­deln somit als Vor­aus­set­zung der kapi­ta­lis­ti­schen Welt kei­nes­wegs uni­ver­sell ausgeprägt.

Das Wirt­schafts­sys­tem der kaby­li­schen Bau­ern stell­te sich als ein Sys­tem der Tausch­pro­zes­se dar, das auf der Logik von Gabe und Gegen­ga­be sowie Treu und Glau­ben auf­bau­te und sein Funk­tio­nie­ren durch die dahin­ter­ste­hen­de Ehre regel­te. Die­ses wie­der­um für die kaby­li­schen Bau­ern selbst­ver­ständ­li­che Sys­tem der Rezi­pro­zi­tät und Unent­gelt­lich­keit, das zur Siche­rung der Ehre finan­zi­ell und mate­ri­ell unöko­no­mi­sche Hand­lun­gen in Kauf nahm und durch­aus auch vor­aus­setz­te, stand nun in kras­sem Gegen­satz zum für kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaf­ten selbst­ver­ständ­li­chen Sys­tem des öko­no­misch-ratio­na­len Han­delns, das eben jene finan­zi­ell und mate­ri­ell schein­bar unver­nünf­ti­gen Hand­lun­gen der kaby­li­schen Bau­ern als sol­che ver­kann­te, ohne das dahin­ter­lie­gen­de öko­no­mi­sche Sys­tem der Kaby­lei oder die Vor­aus­set­zun­gen zur Ent­ste­hung des eige­nen, kapi­ta­lis­ti­schen öko­no­mi­schen Sys­tems zu erkennen.

Erhiel­ten die Men­schen der Kaby­lei nun finan­zi­el­len Lohn für ihre Arbeit, die vor­her stets ihr gewohn­tes Wirt­schafts­sys­tem von Tausch und Gegen­tausch gewohnt waren, so gaben sie die­ses Geld meist sofort aus, ohne es sich für län­ge­re Zeit ein­zu­tei­len. Sie ver­füg­ten folg­lich nicht über das Ver­ständ­nis im Umgang mit dem Geld, han­del­ten also schein­bar öko­no­misch unver­nünf­tig, waren aber kei­nes­wegs unfä­hig im Ein­tei­len, Vor­rat hal­ten oder Auf­spa­ren gene­rell, son­dern besa­ßen ganz im Gegen­teil durch­dach­te und für sie selbst­ver­ständ­li­che Sys­te­me zum Ein­tei­len ihrer Vor­rä­te an Natu­ra­li­en, waren nun aber auf ein­mal einem Wirt­schafts­sys­tem des Gel­des gegen­über­ge­stellt, das voll­kom­men anders funktionierte.

Die kaby­li­schen Bau­ern ver­füg­ten ergo zwar über die Erfah­rung und das Ver­ständ­nis ihres eige­nen Wirt­schafts­sys­tems, hat­ten jedoch kein Ver­ständ­nis von öko­no­mi­scher Ratio­na­li­tät, wie sie für kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaf­ten selbst­ver­ständ­lich ist, wel­ches ihnen im Kon­text des durch die Kolo­nia­li­sie­rung auf­ge­zwun­ge­nen kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tem aller­dings als selbst­ver­ständ­lich und uni­ver­sell ver­brei­tet unter­stellt wurde.

Jenes Feh­len des moder­nen Ver­ständ­nis­ses der öko­no­mi­schen Ratio­na­li­tät und die damit ein­her­ge­hen­de schein­ba­re „Unver­nünf­tig­keit“ im Umgang mit dem kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tem erweck­te Bour­dieus Inter­es­se zur Ana­ly­se der Ent­ste­hung die­ser Situa­ti­on, wobei er sich kei­nes­wegs von der ver­lo­cken­den, weil ein­fa­chen, eth­no­zen­tris­ti­schen Con­clu­sio ver­lei­ten ließ, die­sen Men­schen vor­schnell ein­fach all­ge­mei­ne oder öko­no­mi­sche Unfä­hig­keit oder Unver­nünf­tig­keit zu attes­tie­ren. Er woll­te viel­mehr her­aus­fin­den, war­um die­se Men­schen nicht über das der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft zugrun­de lie­gen­de und doch als uni­ver­sell geglaub­te Ver­ständ­nis öko­no­mi­scher Ratio­na­li­tät ver­füg­ten; wie­so sie so han­del­ten, wie sie han­del­ten, eben öko­no­misch schein­bar „unver­nünf­tig“.

Der ers­te als auch grund­le­gen­de Schluss sei­ner Erkennt­nis­se und deren Ana­ly­se stell­te dabei dem im kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tem selbst­ver­ständ­li­chen Prin­zip des öko­no­misch-ratio­na­len Han­delns selbst gewis­se sozia­le Vor­aus­set­zun­gen zugrun­de. Zum einen stellt die Struk­tur des kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tems an sich eine sozia­le Vor­aus­set­zung für die Aus­bil­dung des ent­spre­chen­den öko­no­misch-ratio­na­len Han­delns dar, des­sen es bedarf, doch wei­ter­hin sind auch bestimm­te sozia­le Insti­tu­tio­nen, bestimm­te Sicht­wei­sen der Welt, bestimm­te Dis­po­si­tio­nen als Vor­aus­set­zun­gen zu nen­nen. Dem Anspruch der Uni­ver­sa­li­tät des öko­no­mi­schen Den­kens, wie es in kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten ver­stan­den wird, oder gar der Vor­stel­lung eines ent­spre­chen­den uni­ver­sel­len homo oeco­no­mic­us, der die Regeln jenes öko­no­mi­schen Han­delns ganz selbst­ver­ständ­lich beherrscht, erteilt Bour­dieu damit eine kla­re Absa­ge, indem er anführt, dass die­se öko­no­mi­sche Denk­wei­se, wie sie für die kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten cha­rak­te­ris­tisch ist, nur unter bestimm­ten sozia­len Vor­aus­set­zun­gen gebil­det wird und über­haupt nur gebil­det wer­den kann, die aber ihrer­seits nicht uni­ver­sell gel­ten. Wenn­gleich die Men­schen der Kaby­lei nicht über das den kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten ent­spre­chen­de Ver­ständ­nis der öko­no­mi­schen Ratio­na­li­tät ver­füg­ten, waren sie also kei­nes­wegs ‚dumm‘ oder ‚zurück­ge­blie­ben‘, son­dern ledig­lich geprägt durch diver­gie­ren­de sozia­le Vor­aus­set­zun­gen, eben jene der kaby­li­schen vor­ka­pi­ta­lis­ti­schen Welt, die wie­der­um zu einer eige­nen Logik, zu einem eige­nen Wirt­schafts­sys­tem und damit auch zu einer eige­nen öko­no­mi­schen Ratio­na­li­tät führ­ten, was sich auch als Logik der Pra­xis oder prak­ti­sche Ver­nunft bezeich­nen lässt, die eine Logik oder Ver­nunft dar­stellt, die der umge­ben­den gesell­schaft­li­chen Pra­xis ent­spricht. Das Han­deln der Kaby­len war folg­lich zwar öko­no­misch unver­nünf­tig in dem Sin­ne, der der Öko­no­mie­theo­rie der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten zugrun­de liegt, die mit ihrem Ver­ständ­nis von öko­no­mi­schem Han­deln aller­dings nur einen beson­de­ren Fall der all­ge­mei­nen Öko­no­mie von Hand­lun­gen abdeckt und damit jedem Han­deln abseits des mate­ri­el­len Öko­no­mis­mus impli­zit eine öko­no­mi­sche Dimen­si­on abspricht, folg­te aller­dings nichts­des­to­trotz einer eige­nen Logik und einer Ratio­na­li­tät der Pra­xis ihrer vor­ka­pi­ta­lis­ti­schen Welt, die in sich ihren eige­nen öko­no­mi­schen Regeln folgte.

Das Habi­tus-Kon­zept geht genau auf die­sen Umstand ein und liegt des­sen Erklä­rung zugrun­de: Die Men­schen der Kaby­lei hat­ten die für sie selbst­ver­ständ­li­chen Sicht­wei­sen und Hand­lungs­wei­sen durch ihre Pri­mär­er­zie­hung inkor­po­riert, so wie die Men­schen aus den kapi­ta­lis­ti­schen Kolo­ni­al­mäch­ten das ihrer­seits selbst­ver­ständ­li­che Han­deln und die für sie gewohn­ten Sicht­wei­sen inkor­po­riert hat­ten. Die neu­en Bedin­gun­gen, die nun den kaby­li­schen Men­schen auf­er­legt wur­den, waren voll­kom­men neu und ent­spra­chen nicht län­ger den inkor­po­rier­ten Hand­lungs- und Sicht­wei­sen ihres durch die vor­ka­pi­ta­lis­ti­sche Welt der Kaby­lei gepräg­ten Habi­tus. Ihre zwei­te Natur, ihr inkor­po­rier­ter Habi­tus war also mit einem Mal Ver­hält­nis­sen aus­ge­setzt, denen er nicht län­ger ent­sprach – sie waren sozu­sa­gen ‚Gefan­ge­ne‘ ihres Habi­tus, der von gänz­lich ande­ren und damit auch für gänz­lich ande­re gesell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se geprägt wur­de. Bour­dieu bezeich­net die­sen Effekt als hys­te­re­sis, also als eine Art Träg­heit im Habi­tus, die sich gegen­über neu­en Ver­hält­nis­sen äußert (hier sei zum Bei­spiel auf das zuvor erwähn­te Ver­hal­ten im Umgang mit Geld verwiesen).

Habi­tus als Alter­na­ti­ve zur sozia­len Rolle

Ein kon­tro­ver­ser Aspekt bei der Betrach­tung von Indi­vi­du­um und Gesell­schaft ist die Bezie­hung zwi­schen bei­den: „Die Sozio­lo­gie muss die Men­schen als ver­ge­sell­schaf­te­te Indi­vi­du­en den­ken kön­nen“ (Krais 2004, S. 93). Es muss folg­lich ein Kon­strukt gefun­den wer­den, das den objek­ti­ven Sinn, eben dass Gesell­schaft über­haupt besteht bzw. ent­steht, und die sub­jek­ti­ve Absicht der dar­in befind­li­chen Akteu­re, die ja nicht expli­zit lau­tet, nun irgend­wie Gesell­schaft ‚zu machen‘, auf eine rea­lis­ti­sche Wei­se ver­bin­det (vgl. Krais/Gebauer 2002, S. 65f).

Ein sozio­lo­gisch ein­fluss­rei­ches Kon­strukt die­ser Art ist das der sozia­len Rol­le, das aller­dings eini­ge Defi­zi­te auf­weist, die als sol­che mehr oder weni­ger an Beach­tung ver­lo­ren haben, aber selbst fort­be­stehen. Die sozia­le Rol­le zen­triert sich in ihrer Betrach­tung und Erklä­rung der sozia­len Welt auf Nor­men und Regeln, sodass das Indi­vi­du­um gemäß die­ser Denk­art als der Gesell­schaft ent­ge­gen­ge­setz­tes betrach­tet wird und sich an einer bestimm­ten Men­ge von star­ren Regeln und Nor­men zu ori­en­tie­ren hat, um ver­ge­sell­schaf­tet und in sei­ne jewei­li­ge Rol­le gedrängt zu wer­den, wäh­rend hin­ge­gen Bour­dieus Habi­tus-Kon­zept das Indi­vi­du­um von Anfang an als ver­ge­sell­schaf­te­tes Indi­vi­du­um begreift. Eine solch radi­ka­le Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen und Ent­ge­gen­set­zung von Indi­vi­du­um und Gesell­schaft, wie sie das Para­dig­ma der Rol­len-Theo­rie pos­tu­liert, erscheint wenig rea­li­täts­nah und wird von Bour­dieu daher zuguns­ten des von Beginn an ver­ge­sell­schaf­te­ten, gesell­schaft­lich gepräg­ten Indi­vi­du­ums aufgegeben.

Ein zen­tra­ler Kri­tik­punkt am Kon­zept der sozia­len Rol­le ist wei­ter­hin die Abwe­sen­heit eines zen­tra­len Ichs, die Abwe­sen­heit einer Iden­ti­tät der sozia­len Sub­jek­te. Das Kon­zept der sozia­len Rol­le begreift das Han­deln der Men­schen in einer Form, die unter­stellt, dass die­se unter­schied­li­che sozia­le Rol­len spie­len, je nach Situa­ti­on, in der sie sich befin­den. Die­se Rol­len unter­schei­den sich gemäß des Rol­len-Kon­zepts recht deut­lich von­ein­an­der und über­la­gern sich nicht oder nur sehr gering, sind also von­ein­an­der fein säu­ber­lich getrennt, ver­gleich­bar mit dem Begriff des Spiels („play“) im Sin­ne Meads Iden­ti­täts­theo­rie (vgl. Mead 1978), bei dem ver­schie­de­ne Rol­len zeit­lich von­ein­an­der getrennt über­nom­men wer­den. Eine zen­tra­le Iden­ti­tät als Struk­tur diver­ser Dis­po­si­tio­nen, in der die­se unter­schied­li­chen Rol­len ver­eint sind und die sich gegen­sei­tig beein­flus­sen oder zu denen das Sub­jekt in einer gewis­sen Wei­se steht, wird im Rol­len­kon­zept als sol­che gar nicht vor­ge­se­hen (vgl. Krais 2004, S.94).

Das durch das Rol­len­mo­dell prak­ti­zier­te Abspre­chen des Bestehens einer sol­chen per­sön­li­chen Iden­ti­tät ist jedoch äußerst frag­lich, liegt es doch viel­mehr nahe, ganz im Gegen­teil fest­zu­hal­ten, dass eine der­ar­ti­ge sau­be­re Tren­nung ver­schie­de­ner Rol­len nicht exis­tiert. Bour­dieu führt hier zur Ver­an­schau­li­chung das Bei­spiel der indi­vi­du­ell-cha­rak­te­ris­ti­schen Schrift an, die auf jed­we­der Unter­la­ge und mit jed­we­dem Schreib­ge­rät eine per­sön­li­che Prä­gung auf­weist. Mei­nes Erach­tens lässt sich dies in Bezug auf eine zen­tra­le Iden­ti­tät sogar direkt auf den Begriff der Rol­le über­tra­gen, wenn bei­spiels­wei­se eine Thea­ter­auf­füh­rung betrach­tet wird: Zwar kann ein Thea­ter­schau­spie­ler unter­schied­lichs­te Rol­len über­neh­men, die hier, im Thea­ter­schau­spiel, natür­lich noch radi­ka­ler, noch wech­sel­haf­ter und noch gegen­sätz­li­cher sein kön­nen als beim all­täg­li­chen sozia­len Han­deln, aber es wird stets auch eine cha­rak­te­ris­ti­sche Note des Schau­spie­lers erkenn­bar sein. Kurz: „Der Habi­tus ist das ver­ei­ni­gen­de Prin­zip, das den ver­schie­de­nen Hand­lun­gen des Indi­vi­du­ums ihre Kohä­renz, ihre Sys­te­ma­tik und ihren Zusam­men­hang gibt“ (Krais 2004, S. 95).

Das Rol­len­kon­zept beschreibt zusätz­lich zur Ent­ge­gen­set­zung von Indi­vi­du­um und Gesell­schaft eine Ent­ge­gen­set­zung von Kör­per und Geist. Die sozia­le Rol­le ist hier als rein geis­ti­ges Kon­zept zu sehen, das den Kör­per „außer­halb des Sozia­len“ (ebd.) posi­tio­niert, wohin­ge­gen der Begriff des Habi­tus Geist und Kör­per in der sozia­len Pra­xis ver­bin­det, indem der Habi­tus von inkor­po­rier­ter Struk­tur und inkor­po­rier­ter Geschich­te oder inkor­po­rier­ter Erfah­rung aus­geht, wobei die­se Inkor­po­rie­rung durch­aus auch wört­lich zu ver­ste­hen ist, da der spe­zi­fi­sche Habi­tus auch den Kör­per einer Per­son prägt, zum Bei­spiel durch bestimm­te Ver­hal­tens­wei­sen, Bewe­gun­gen oder Sprach­sti­le, und sich dadurch wie­der­um pro­du­ziert und repro­du­ziert. Der Kör­per ist dabei aller­dings nicht bloß Medi­um zur Aus­füh­rung geis­ti­ger Ope­ra­tio­nen, „in dem sich der Habi­tus aus­drückt“ (ebd., S. 96), also blo­ßes mecha­ni­sches Auf­tre­ten des Habi­tus, son­dern selbst Bestand­teil und akti­ver Spei­cher des­sel­ben (vgl. bei­spiels­wei­se Bour­dieu 2001).

Das bewuss­te oder unbe­wuss­te Wis­sen um die Erwar­tun­gen der jeweils ande­ren Men­schen, das bewuss­te oder unbe­wuss­te Anti­zi­pie­ren, stellt einen wei­te­ren wich­ti­gen Unter­schei­dungs­punkt zwi­schen Habi­tus- und Rol­len-Kon­zept dar. Wäh­rend das Rol­len-Kon­zept in ratio­na­lis­ti­scher Manier vor­aus­setzt, stets bewusst die Erwar­tun­gen der ande­ren Akteu­re in Bezug auf bestimm­te Situa­tio­nen oder Anfor­de­run­gen zu anti­zi­pie­ren und es die Erfah­rung und Geschicht­lich­keit aus­blen­det, geht das Habi­tus-Kon­zept Bour­dieus, wie bereits zuvor beschrie­ben, von einer „objektive[n] Zweck­be­stimmt­heit“ aus, ohne dass das sozia­le Han­deln des Ein­zel­nen sub­jek­tiv „bewusst auf einen expli­zit for­mu­lier­ten Zweck bezo­gen wäre“ (Bour­dieu 1981 zitiert nach Krais 2004, S. 96). Viel­mehr wird hier mit einer Selbst­ver­ständ­lich­keit und Unmit­tel­bar­keit agiert, die aus der inkor­po­rier­ten Geschich­te oder Erfah­rung resul­tiert. Bour­dieu ver­wen­det hier­für zur Dar­le­gung die Meta­pher des Spiels (vgl. ebd., S. 97): Die im Habi­tus inkor­po­rier­ten Erfah­run­gen, die inkor­po­rier­te Geschich­te, ermög­licht ein unbe­wuss­tes und intui­ti­ves Han­deln, das sub­jek­tiv nicht expli­zit struk­tur­funk­tio­na­lis­tisch auf einen bestimm­ten Zweck aus­ge­rich­tet sein muss und dabei äußerst krea­tiv zu Wer­ke geht. Es ist also, um die Meta­pher des Spiels auf das Fuß­ball­spiel zu kon­kre­ti­sie­ren, nicht so, dass die Spie­ler in Hin­blick auf einen objek­ti­ven Sinn oder Zweck ihre Hand­lun­gen dem­ge­mäß sub­jek­tiv voll­stän­dig in mecha­nis­ti­scher Art wie in einem Uhr­werk auf­ein­an­der abstim­men, folg­lich eine von außen ange­tra­ge­ne Rol­le erfül­len, zum Bei­spiel anhand bestimm­ter Regeln alle fünf Schrit­te einen Pass spie­len zu müs­sen, son­dern dass sie viel­mehr ein­fach auf Basis ihrer Spiel­erfah­rung spie­len, dabei krea­tiv sind und dar­aus das objek­tiv nach­voll­zieh­ba­re Spiel an sich mit sei­nen von den Spie­lern zuvor erlern­ten Struk­tu­ren, als Meta­pher für Gesell­schaft, erneut ent­steht. Ohne sub­jek­tiv bewusst Bezug auf eine der­ar­ti­ge Norm des Pass­spie­lens zu neh­men, wer­den sich die Spie­ler rein intui­tiv auf Basis des­sen, was sie gelernt haben, den Ball ange­mes­sen zupas­sen und u.a. durch die­ses Pass­spiel ent­steht stets das objek­ti­ve Fuß­ball­spiel, an dem sie teil­ha­ben, das sich und sei­ne Struk­tu­ren auf die­se Wei­se repro­du­ziert. Die Men­schen als Spie­ler im Gesell­schafts­spiel rich­ten ihre Hand­lun­gen folg­lich nicht bewusst dar­auf aus, die­se Gesell­schaft her­zu­stel­len oder Struk­tu­ren zu erhal­ten und wer­den dabei nicht von außen in ihre Rol­len gedrängt, son­dern las­sen durch die unter­schied­lichs­ten (unbe­wuss­ten) all­täg­li­chen Hand­lungs­wei­sen Gesell­schaft ent­ste­hen, die ihrer­seits wie­der­um durch die im Habi­tus ver­in­ner­lich­ten und als selbst­ver­ständ­lich erlern­ten Ver­hal­tens­wei­sen ihre Struk­tur repro­du­ziert: „Die Men­schen ver­hal­ten sich so, wie sie es gelernt haben und wie sie es kön­nen, und Gesell­schaft funk­tio­niert trotz­dem“ (Krais 2004, S. 104). Die Struk­tur der Gesell­schaft und ihre Insti­tu­tio­nen wer­den also nicht durch eine bestimm­te Men­ge star­rer Regeln auf rein geis­ti­ger Ebe­ne rea­li­siert, die den Men­schen im- oder expli­zit auf­ge­zwun­gen wird und die sie ver­in­ner­li­chen müs­sen, damit sie auf die­se oder jene Art inner­halb der gesell­schaft­li­chen Struk­tur zu funk­tio­nie­ren haben, son­dern durch den Habi­tus als Kör­per gewor­de­nes Sozia­les, der die gesell­schaft­li­che Pra­xis regelt und dabei Raum für Spon­ta­nei­tät und Krea­ti­vi­tät bie­tet: „Die Regel­haf­tig­keit der Gesell­schaft und der sozia­len Sub­jek­te ent­steht im kör­per­li­chen Han­deln, und der prak­ti­sche Sinn ist die mit dem Habi­tus gege­be­ne Fähig­keit, Hand­lungs­wei­sen zu erzeu­gen, die mit den sozia­len Ord­nun­gen über­ein­stim­men“ (ebd., S. 95).

In dem­je­ni­gen Spiel, mit dem der per­sön­li­che Habi­tus der Spie­ler über­ein­stimmt, wer­den die Spie­ler nun auf­grund der in ihrem Habi­tus inkor­po­rier­ten Spiel­erfah­rung rein intui­tiv han­deln und müs­sen in einer neu­en Situa­ti­on die­ses Spiels, die noch nie zuvor da gewe­sen ist, nicht erst bewusst dar­über nach­den­ken, was nun zu tun sei. Der Habi­tus ist also inner­halb der Gren­zen die­ses Spiels als Meta­pher für die sozia­len Ver­hält­nis­se und der in ihm inkor­po­rier­ten Spiel­erfah­rung äußerst vari­an­ten­reich und krea­tiv und damit kei­ne blo­ße Ver­in­ner­li­chung einer gewis­sen Anzahl star­rer Regeln, son­dern auch die Vor­weg­nah­me und gleich­zei­ti­ge Her­bei­füh­rung einer wahr­schein­li­chen Zukunft.

Lite­ra­tur:

  1. Bour­dieu, Pierre (2000). Die zwei Gesich­ter der Arbeit. Inter­de­pen­den­zen von Zeit- und Wirt­schafts­struk­tu­ren am Bei­spiel der alge­ri­schen Über­gangs­ge­sell­schaft. Kon­stanz: UVK.
  2. Bour­dieu, Pierre (2001). Habi­tus und Ein­ver­lei­bung. In Pierre Bour­dieu, Medi­ta­tio­nen. Zur Kri­tik der scho­las­ti­schen Ver­nunft (S. 177–188). Frankfurt/M: Suhrkamp.
  3. Krais, Bea­te (2004). Habi­tus und sozia­le Pra­xis. In Mar­ga­re­te Stein­rü­cke (Hrsg.), Pierre Bour­dieu. Poli­ti­sches For­schen, Den­ken und Ein­grei­fen (S. 91–106). Ham­burg: VSA-Verlag.
  4. Krais, Bea­te / Gun­ter Gebau­er (2002). Habi­tus. Bie­le­feld: transcript.
  5. Mead, Geor­ge Her­bert (1978). Iden­ti­tät. In Charles W. Mor­ris (Hrsg.), Geist, Iden­ti­tät und Gesell­schaft aus der Sicht des Sozi­al­be­ha­vio­ris­mus (S. 187–253). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

„Als Ver­mitt­lungs­glied zwi­schen der Posi­ti­on oder Stel­lung inner­halb des sozia­len Rau­mes und spe­zi­fi­schen Prak­ti­ken, Vor­lie­ben, usw. fun­giert das, was ich »Habi­tus« nen­ne, das ist eine all­ge­mei­ne Grund­hal­tung, eine Dis­po­si­ti­on gegen­über der Welt, die zu sys­te­ma­ti­schen Stel­lung­nah­men führt“ (Bour­dieu, 1992b, S. 31).

Der Begriff »Habi­tus« fin­det nicht nur in der sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen For­schung, son­dern auch im all­täg­li­chen Sprach­ge­brauch rege Ver­wen­dung. Doch was genau ist eigent­lich dar­un­ter zu ver­ste­hen? Wie hän­gen Hand­lun­gen, Sprach- und Klei­dungs­stil, Ges­tik und Gedan­ken von der Stel­lung im sozia­len Gefü­ge ab und war­um? Wie funk­tio­niert Gesell­schaft und ist der Ein­zel­ne Opfer der äuße­ren Umstän­de oder deren Erzeu­ger? Mög­li­che Ant­wor­ten auf die­se und ähn­li­che Fra­gen lie­fert Pierre Bour­dieus Habi­tus­kon­zept, das den zuvor schon gebräuch­li­chen »Habitus«-Begriff auf­ge­grif­fen, die­sen folg­lich nicht erfun­den, aber zu einer eige­nen Theo­rie ent­wi­ckelt hat (zur Ent­ste­hungs­ge­schich­te vgl. bei­spiels­wei­se Bour­dieu 2000 oder Krais/Gebauer 2002).

Das von Bour­dieu aus­ge­ar­bei­te­te Habi­tus­kon­zept beschreibt ein Sys­tem von Gren­zen und Mög­lich­kei­ten im Ver­hal­ten von Men­schen, das ein Sys­tem von Wahr­neh­mungs- und Urteils­sche­ma­ta und dabei „gleich­zei­tig ein Sys­tem von Sche­ma­ta der Pro­duk­ti­on von Prak­ti­ken und ein Sys­tem von Sche­ma­ta der Wahr­neh­mung und Bewer­tung der Prak­ti­ken“ (Bour­dieu 1992a, S. 144) ist. Als sol­ches Sys­tem der Gren­zen und Mög­lich­kei­ten im Ver­hal­ten bringt der Habi­tus bestimm­te For­men des Geschmacks – der durch­aus auch kör­per­lich zu ver­ste­hen ist – sowie des Lebens­stils her­vor: „wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, wel­che Bekann­te und Freun­de er hat usw. – all das ist eng mit­ein­an­der ver­knüpft“ (Bour­dieu 1992b, S. 32). Die­ser indi­vi­du­el­le Geschmack, die­se Vor­lie­ben und Hand­lungs- sowie Denk­sche­ma­ta, also die gesam­ten Habi­tus­struk­tu­ren eines Akteurs, sind dabei abhän­gig von der jewei­li­gen sozia­len Situa­ti­on, in der sich ein Akteur wie­der­fin­det, d.h. von des­sen Posi­ti­on im sozia­len Raum und der Aus­stat­tung mit öko­no­mi­schem wie kul­tu­rel­lem Kapi­tal. Wer in einer Arbei­ter­fa­mi­lie auf­ge­wach­sen ist, wird sich in der Regel anders ver­hal­ten als ein Kind aus einer Mana­ger- oder Künst­ler­fa­mi­lie, um nur eini­ge recht gegen­sätz­li­che Posi­tio­nen des sozia­len Spek­trums her­an­zu­zie­hen. Auf­grund des jewei­li­gen Sozia­li­sa­ti­ons­mi­lieus wird der Mensch einen ande­ren Geschmack ent­wi­ckeln, sowohl in Hin­blick auf Klei­dung, Spei­sen, Ästhe­tik und all­ge­mei­ne Lebens­füh­rung, er wird ande­re Frei­zeit­be­schäf­ti­gun­gen bevor­zu­gen, eine ande­re Spra­che gebrau­chen, einen ande­ren Ein­druck der Welt auf­wei­sen, ande­re Zukunfts­wün­sche hegen und einen ande­ren Freun­des­kreis ent­wi­ckeln, der ihm als sozia­les Kapi­tal die­nen kann. Über die eng mit der sozia­len Lage ver­knüpf­ten Erfah­run­gen, vor allem jene der selbst­ver­ständ­li­chen Ver­füg­bar­keit ver­schie­de­ner Kapi­tal­ar­ten oder im Gegen­teil deren Man­gel, begrün­det sich folg­lich der indi­vi­du­el­le Habi­tus, der dabei zugleich auch eine Ablei­tung eines gene­ra­li­sier­ten Habi­tus einer bestimm­ten sozia­len Lage ist, weil Akteu­re unter ähn­li­chen sozia­len Bedin­gun­gen in der Regel auch ähn­li­che Habi­tus aus­bil­den, da sie kol­lek­ti­ve Erfah­run­gen gemein haben: „Wer in der Wohl­ha­ben­heit, in öko­no­mi­schem und kul­tu­rel­lem Reich­tum, in der damit gege­be­nen Sicher­heit und Frei­heit auf­ge­wach­sen ist, ent­wi­ckelt nicht nur einen ande­ren Geschmack, son­dern auch ein ande­res Ver­hält­nis zur Welt als jemand, der von frü­hes­ter Kind­heit an mit Not und Not­wen­dig­keit (…) kon­fron­tiert war“ (Krais/Gebauer 2002, S. 43). Die mit der indi­vi­du­el­len sozia­len Lage ver­bun­de­nen unglei­chen Sozia­li­sa­ti­ons­er­fah­run­gen füh­ren dabei zu unter­schied­li­chen Denk­sche­ma­ta des jewei­li­gen Akteurs, zu „Gren­zen sei­nes Hirns, die er nicht über­schrei­ten kann“, wes­we­gen „für ihn bestimm­te Din­ge ein­fach undenk­bar“ (Bour­dieu 1992b, S. 33) sind, sodass der ein­zel­ne Akteur „eher abhän­gig von Bedin­gun­gen und Zufäl­len als von eige­nen Ent­schei­dun­gen und Plä­nen [ist] – bzw. genau­er: sich auch in sei­nen Ent­schei­dun­gen und Plä­nen an den ihm je zugäng­li­chen Mög­lich­keits­räu­men“ (Liebau 2009, S. 49) orientiert.

Das Habi­tus­kon­zept erklärt das Zustan­de­kom­men mensch­li­cher Dis­po­si­tio­nen, Ver­hal­tens­wei­sen und Geschmä­cker mit einer dop­pel­ten Geschicht­lich­keit, die im jewei­li­gen indi­vi­du­el­len Habi­tus inkor­po­riert, also ein­ver­leibt wird. Dies ist zum einen die per­sön­li­che Geschich­te, auch Erfah­rung genannt, und zum ande­ren die Geschich­te der gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit, ver­mit­telt über die per­sön­li­che Geschich­te, was bedeu­tet, dass „Lern­pro­zes­se nicht anders denn als Erfah­run­gen in der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Welt begrif­fen wer­den“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61) kön­nen. Die­se Inkor­po­rie­rung der dop­pel­ten Geschicht­lich­keit – die tat­säch­lich auch im wört­li­chen Sin­ne kör­per­lich statt­fin­det, sich also bei­spiels­wei­se in Hal­tung, Sprech­wei­se, Geschmack und Ges­tik mani­fes­tiert – erzeugt inner­halb der­je­ni­gen sozia­len Ver­hält­nis­se, die die­sen Habi­tus (aus)bilden, das Gefühl von Selbst­ver­ständ­lich­keit und gegen­sei­ti­gem Ver­ste­hen beim Han­deln, da die im Habi­tus inkor­po­rier­te sozia­le Wirk­lich­keit mit der umge­ben­den sozia­len Wirk­lich­keit über­ein­stimmt, denn „[d]ie sozia­le Rea­li­tät exis­tiert sozu­sa­gen zwei­mal, in den Sachen und in den Köp­fen, in den Fel­dern und in den Habi­tus, inner­halb und außer­halb der Akteu­re“ (Bour­dieu & Wac­quant 1996, S. 161). Eine gesell­schaft­li­che Klas­se bei­spiels­wei­se als kon­kre­te Form ähn­li­cher sozia­ler Ver­hält­nis­se ist „untrenn­bar zugleich eine Klas­se von bio­lo­gi­schen Indi­vi­du­en mit dem­sel­ben Habi­tus als einem Sys­tem von Dis­po­si­tio­nen, das alle mit­ein­an­der gemein haben, die die­sel­ben Kon­di­tio­nie­run­gen durch­ge­macht haben“ (Bour­dieu 1987a, S. 112). Der indi­vi­du­el­le Habi­tus stellt dabei eine Vari­an­te, eine Teil­men­ge eines sol­chen Klas­sen­ha­bi­tus dar, „das heißt, das Indi­vi­du­um hat wesent­li­che Ele­men­te sei­nes Habi­tus mit dem sei­ner Klas­sen­ge­nos­sen gemein­sam“ (Krais/Gebauer 2002, S. 37; vgl. Liebau 2009), da sie durch ähn­li­che Exis­tenz­be­din­gun­gen geprägt wur­den und wei­ter­hin geprägt wer­den (vgl. Bour­dieu 2011b), wobei der indi­vi­du­el­le Habi­tus die grund­le­gen­den Struk­tu­ren und Dis­po­si­tio­nen des Klas­sen­ha­bi­tus beinhal­tet, aber auf­grund der Viel­fäl­tig­keit mög­li­cher Lebens­er­fah­run­gen und sozia­ler Stel­lun­gen sowie der damit ein­her­ge­hen­den Beson­der­heit der spe­zi­fi­schen per­sön­li­chen Lebens­läu­fe indi­vi­du­ell ver­schie­den ist: „[J]edes Sys­tem indi­vi­du­el­ler Dis­po­si­tio­nen ist eine struk­tu­ra­le Vari­an­te der ande­ren Sys­te­me, in der die Ein­zig­ar­tig­keit der Stel­lung inner­halb der Klas­se und des Lebens­laufs zum Aus­druck kommt“ (Bour­dieu 1987a, S. 113). Die­ses Prin­zip der struk­tu­ra­len Vari­an­te eines grund­le­gen­den Grup­pen­ha­bi­tus kann ana­log für das ana­ly­ti­sche Kon­strukt objek­ti­ver sozia­ler Milieus her­an­ge­zo­gen wer­den, sofern deren Akteu­re jeweils unter ähn­li­chen Exis­tenz­be­din­gun­gen leben und ent­spre­chen­de Erfah­run­gen durch­lau­fen haben.

Ent­spre­chend las­sen sich sche­ma­tisch drei grund­le­gen­de Habi­tus­struk­tu­ren iden­ti­fi­zie­ren, die unter­schied­li­chen Posi­tio­nen im sozia­len Raum zuge­ord­net wer­den kön­nen, näm­lich zum einen der Habi­tus der Distink­ti­on, der Habi­tus des Stre­bens sowie der Habi­tus der Not(wendigkeit) (vgl. Hart­mann 2004, S. 90; Bour­dieu 1992b).

In den unte­ren Milieus lässt sich auf­grund feh­len­der öko­no­mi­scher Res­sour­cen und einer ent­spre­chend ein­ge­schränk­ten Zukunfts­si­cher­heit vor allem der Habi­tus der Not vor­fin­den, auch als ‚prak­ti­scher Mate­ria­lis­mus‘ bezeich­net, der aus der Not gebo­ren, infol­ge­des­sen dar­an ange­passt und auf das Hier und Jetzt aus­rich­tet ist, auf das „Gegen­wär­tig­sein im Gegen­wär­ti­gen“ (Bour­dieu 1982, S. 297; vgl. Krais/Gebauer 2002): „Aus der Not her­aus ent­steht ein Not-Geschmack, der eine Art Anpas­sung an den Man­gel ein­schließt und damit ein Sich-in-das-Not­wen­di­ge-fügen, ein Resi­gnie­ren vorm Unaus­weich­li­chen“ (Bour­dieu 1982, S. 585).

Dem­ge­gen­über ist in den klein­bür­ger­li­chen Milieus der Mit­te der Habi­tus des Stre­bens vor­herr­schend. Er ist auf Auf­stieg fokus­siert und daher in Kon­trast zum Habi­tus der Not nicht auf den Augen­blick, son­dern viel­mehr auf die Zukunft aus­ge­rich­tet, was gegen­wär­ti­gen Ver­zicht bis hin zur Aske­se zuguns­ten zukünf­ti­ger Erträ­ge und Befrie­di­gun­gen im Sin­ne der Rea­li­sie­rung der Auf­stiegs­aspi­ra­tio­nen ein­schließt. Der im Ver­gleich mit den obe­ren Milieus rela­ti­ve Man­gel an Res­sour­cen wird durch Habi­tus­dis­po­si­tio­nen wie Ehr­geiz zu kom­pen­sie­ren ver­sucht: „[V]erhältnismäßig arm an öko­no­mi­schem, kul­tu­rel­lem und sozia­lem Kapi­tal, kann sie [die klein­bür­ger­li­che Mit­tel­schicht; MM] ihre ›Ansprü­che‹ nur ›nach­wei­sen‹ und sich damit Aus­sich­ten auf deren Rea­li­sie­rung eröff­nen, wenn sie bereit ist, dafür durch Opfer, Ver­zicht, Ent­sa­gung, Eifer, Dank­bar­keit — kurz: durch Tugend zu zah­len“ (Bour­dieu 1982, S. 528). Dies führt sowohl zu oft­mals sehr bemüh­ten und daher unsi­che­ren Anknüp­fungs­ver­su­chen an die Pra­xen obe­rer Milieus als auch zu Abgren­zungs­be­stre­bun­gen gegen­über unte­ren sozia­len Lagen.

Der Habi­tus der Distink­ti­on wie­der­um ist in der Regel den Milieus der Ober­schicht vor­be­hal­ten. Er ist geprägt durch und prägt sei­ner­seits die herr­schen­de Kul­tur, was sich in strik­ter Abgren­zung und ent­spre­chen­dem Abstand nach unten mani­fes­tiert (vgl. Bour­dieu 1992b, S. 39). Im Gegen­satz zu den Anknüp­fungs­be­mü­hun­gen der mitt­le­ren Milieus, die gera­de durch ihr Stre­ben nach Zuge­hö­rig­keit zur herr­schen­den Kul­tur ihre Nicht­zu­ge­hö­rig­keit offen­ba­ren, zeich­nen sich die Habi­tus der obe­ren Milieus durch eine Selbst­ver­ständ­lich­keit und Selbst­si­cher­heit im Umgang mit Hoch- bzw. legi­ti­mer Kul­tur aus: „Die­se Sou­ve­rä­ni­tät, die den spie­le­ri­schen Umgang mit den gül­ti­gen Regeln beinhal­tet, macht die ent­schei­den­de Dif­fe­renz aus zwi­schen denen, die dazu gehö­ren, und denen, die nur dazu­ge­hö­ren möch­ten“ (Hart­mann 2004, S. 142). Distink­ti­on ent­steht hier nicht durch Distink­ti­ons­be­mü­hen, son­dern – in Anleh­nung an die sozia­le Magie der sym­bo­li­schen Wirk­sam­keit die­ses selbst­ver­ständ­li­chen Ver­hal­tens – ‚auto­ma­gisch‘ durch den Umstand, dass „man nicht auf Distink­ti­on, auf Sich-unter­schei­den-wol­len aus ist: die ›wirk­lich distin­gu­ier­ten‹ Leu­te sind die, die sich nicht dar­um küm­mern, es zu sein“ (Bour­dieu 1989, S. 18), da ihr Habi­tus milieu­spe­zi­fisch-selbst­ver­ständ­li­che Pra­xen her­vor­bringt, die ohne bewuss­tes Abgren­zungs­be­mü­hen des Akteurs Distink­ti­on bewirken.

Ein Akteur han­delt folg­lich inner­halb jener sozia­len Ver­hält­nis­se, die sei­nem Habi­tus ent­spre­chen und des­sen Struk­tu­ren strukturier(t)en, inner­halb sei­nes Milieus oder sei­ner Klas­se voll­kom­men intui­tiv und gene­ra­tiv krea­tiv gemäß der ent­spre­chen­den Logik der gesell­schaft­li­chen Pra­xis und kann sich ohne bewuss­ten Rück­griff auf bestimm­te Regeln oder Nor­men „wie ein Fisch im Was­ser“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 161) in die­ser Umge­bung bewe­gen, auf die er objek­tiv abge­stimmt ist, ohne dass jedoch eine expli­zi­te Abspra­che oder direk­te Inter­ak­ti­on zwi­schen den Akteu­ren (vgl. Bour­dieu 1987a, S. 109) noch eine sub­jek­ti­ve Zweck­aus­rich­tung statt­fän­de: „Dies kann in dem Gefühl zum Aus­druck kom­men, genau »am rich­ti­gen Platz« zu sein, genau das zu tun, was man zu tun hat, und es auf glück­li­che Wei­se – im objek­ti­ven wie im sub­jek­ti­ven Sin­ne – zu tun oder in der resi­gnier­ten Über­zeu­gung, nichts ande­res tun zu kön­nen, auch eine frei­lich weni­ger glück­li­che Wei­se, sich für das, was man tut, geschaf­fen zu füh­len“ (Bour­dieu 2011a, S. 31f). Der jewei­li­ge Akteur als Inha­ber eines bestimm­ten Habi­tus fühlt sich dem­zu­fol­ge gemäß einer Art „sen­se of one’s place“ (Goff­man zitiert nach Bour­dieu 1992a, S. 141) in einer Umwelt am bes­ten auf­ge­ho­ben und zuge­hö­rig, die in ihrem kol­lek­ti­ven Habi­tus am ehes­ten sei­nem indi­vi­du­el­len Habi­tus ent­spricht, d.h. der Habi­tus „bewirkt, daß man hat, was man mag, weil man mag, was man hat“ (Bour­dieu 1982, S. 286) — „einen Umstand, den Bour­dieu auch als »amor fati« bezeich­net, als Wahl oder Anneh­men des Schick­sals“ (Krais/Gebauer 2002, 43). Durch die­ses Gespür für den »rich­ti­gen« Platz, die damit ver­bun­de­ne Akzep­tanz des eige­nen »Schick­sals« und die unbe­wuss­te »Wahl« einer dem per­sön­li­chen Habi­tus ent­spre­chen­den Umwelt „schützt sich der Habi­tus vor Kri­sen und kri­ti­scher Befra­gung, indem er sich ein Milieu schafft, an das er so weit wie mög­lich vor­an­ge­paßt ist, also eine rela­tiv kon­stan­te Welt von Situa­tio­nen, die geeig­net sind, sei­ne Dis­po­si­tio­nen dadurch zu ver­stär­ken, daß sie sei­nen Erzeug­nis­sen den auf­nah­me­be­rei­tes­ten Markt bie­ten“ (Bour­dieu 1987a, S. 114). Es wird dadurch ein sozia­ler Zusam­men­hang her­ge­stellt, der unbe­wusst ver­bin­det, d.h. „[d]er sozia­le Zusam­men­halt wird immer wie­der gestif­tet durch die Wahl­ver­wandt­schaf­ten, die sich aus einem gemein­sa­men Habi­tus und Geschmack erge­ben und die sich in (…) Hand­lungs­ge­mein­schaf­ten ver­kör­pern“ (Ves­ter et al. 2001, S. 169).

Das Habi­tus­kon­zept und dar­auf auf­bau­en­de Kon­zep­te begrei­fen „die Indi­vi­du­en weder als blo­ße Objek­te vor­ge­ge­be­ner objek­ti­ver Struk­tu­ren noch als völ­lig freie Sub­jek­te, son­dern in der Wech­sel­wir­kung ihrer Bezie­hun­gen, in denen sie bei­des sind“ (Ves­ter et al. 2001, S. 150). Gleich­zei­tig wird das Indi­vi­du­um als ein von Geburt an ver­ge­sell­schaf­te­ter Akteur betrach­tet, womit das Habi­tus­kon­zept die künst­li­che Ent­ge­gen­set­zung von Indi­vi­du­um und Gesell­schaft über­win­det: „Man wird nicht Mit­glied einer Gesell­schaft, son­dern ist es von Geburt an (…) und von Geburt an befin­det man sich in einer akti­ven Aus­ein­an­der­set­zung mit der Welt“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61). Auf die­se Wei­se wird eine Brü­cke zwi­schen Indi­vi­du­um und Gesell­schaft, zwi­schen Struk­tu­ra­lis­mus und Kon­struk­ti­vis­mus geschla­gen, die eine gegen­sei­ti­ge Beein­flus­sung bedingt sowie die unbe­wuss­te und objek­tiv auf­ein­an­der abge­stimmt erschei­nen­de Ver­hal­tens­grund­la­ge für das völ­lig selbst­ver­ständ­li­che und ange­pass­te Inter­agie­ren zwi­schen Akteu­ren mit mehr oder weni­ger homo­ge­nen Habi­tus erlaubt, die auf eben­so mehr oder weni­ger homo­ge­nen Exis­tenz­be­din­gun­gen basie­ren. Der Habi­tus ist dem­zu­fol­ge struk­tu­rier­te und struk­tu­rie­ren­de Struk­tur zugleich, die „kon­stant auf prak­ti­sche Funk­tio­nen aus­ge­rich­tet ist“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 154), denn „[m]it dem Habi­tus sind wir in der Welt und haben die Welt in uns“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61) — wäh­rend »die Welt in uns«, ver­stan­den als weit­ge­hend selbst­ver­ständ­li­che Inkor­po­rie­rung der dop­pel­ten Geschicht­lich­keit, die Struk­tu­ren des Habi­tus struk­tu­riert, mit dem wir in der Welt sind, also „zur Aus­bil­dung einer situa­ti­ons­an­ge­pass­ten Ratio­na­li­tät, eines prak­ti­schen Sinns [führt], der ‚weiß‘, was in wel­cher Situa­ti­on zu tun und was zu las­sen ist“ (Liebau 2009, S. 47), struk­tu­riert der Habi­tus wie­der­um auf die­ser Grund­la­ge das Han­deln und damit letzt­lich die gesell­schaft­li­che Welt. Mit­tels der struk­tu­rier­ten und struk­tu­rie­ren­den Struk­tur des Habi­tus erklärt sich, wie Gesell­schaft über­haupt zustan­de kommt, ohne dass sämt­li­che betei­lig­te Akteu­re bewusst oder ziel­ge­rich­tet auf das Her­stel­len einer gesell­schaft­li­chen Ord­nung oder das gesell­schaft­li­che Funk­tio­nie­ren an sich hin­ar­bei­ten, wie Gesell­schaft dem­nach ganz bei­läu­fig ent­steht, indem die Akteu­re ihren all­täg­li­chen Hand­lun­gen nach­ge­hen und damit „unun­ter­bro­chen dazu bei[tragen], die sozia­le Struk­tur zu repro­du­zie­ren“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 174), denn der Habi­tus stellt

„struk­tu­rier­te Struk­tu­ren [dar], die wie geschaf­fen sind, als struk­tu­rie­ren­de Struk­tu­ren zu fun­gie­ren, d.h. als Erzeu­gungs- und Ord­nungs­grund­la­gen für Prak­ti­ken und Vor­stel­lun­gen, die objek­tiv an ihr Ziel ange­paßt sein kön­nen, ohne jedoch bewuß­tes Anstre­ben von Zwe­cken (…) vor­aus­zu­set­zen, die objek­tiv »gere­gelt« und »regel­mä­ßig« sind, ohne irgend­wie das Ergeb­nis der Ein­hal­tung von Regeln zu sein, und genau des­we­gen kol­lek­tiv auf­ein­an­der abge­stimmt sind, ohne aus dem ord­nen­den Han­deln eines Diri­gen­ten her­vor­ge­gan­gen zu sein“ (Bour­dieu 1987a, S. 98).

Der Habi­tus wird all­ge­mein durch die gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen und im Spe­zi­el­len durch eine bestimm­te, indi­vi­du­el­le Kom­po­si­ti­on objek­tiv-rea­ler Exis­tenz­be­din­gun­gen sowie ent­spre­chen­der Sozia­li­sa­ti­ons­er­fah­run­gen geformt und formt sei­ner­seits wie­der­um die Gesell­schaft, wobei er „jener Ver­ket­tung von »Zügen« zugrun­de [liegt], die objek­tiv wie Stra­te­gien orga­ni­siert sind, ohne das Ergeb­nis einer ech­ten stra­te­gi­schen Absicht zu sein“ (ebd., S. 116).

Die vom Habi­tus her­vor­ge­brach­ten Hand­lun­gen sind dem­zu­fol­ge nicht „intel­lek­tu­ello­zen­trisch“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 153) als rein ratio­na­le Stra­te­gien zu ver­ste­hen, denen eine exak­te Bewer­tung von Erfolgs­chan­cen zugrun­de liegt, son­dern funk­tio­nie­ren „nach einer dem leben­den Orga­nis­mus eige­nen, das heißt nach einer sys­te­ma­ti­schen, fle­xi­blen, nicht mecha­nis­ti­schen Logik“ (Krais/Gebauer 2002, S. 34), die auf­grund der Prä­gung des Akteurs die objek­tiv unwahr­schein­lichs­ten Prak­ti­ken als undenk­ba­re aus­sor­tiert (vgl. Bour­dieu 1987a, S. 100), womit der schar­fen Tren­nung zwi­schen Kör­per und Geist sowie der Vor­stel­lung vom Kör­per als ledig­lich pas­si­vem Spei­cher der Erfah­run­gen wider­spro­chen wird, da der Kör­per viel­mehr „als akti­ves [und sozia­les; MM] ›Ding‹ bei der Erzeu­gung jener spon­ta­nen, immer wie­der vari­ier­ten und krea­tiv neu erfun­de­nen Akte der Indi­vi­du­en“ (Krais/Gebauer 2002, S. 34; vgl. Kalt­hoff 2004) auf­tritt: „Weil die Han­deln­den nie ganz genau wis­sen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie sel­ber wis­sen“ (Bour­dieu 1987b, S. 127).

In den Habi­tus gehen die Denk- und Sicht­wei­sen, die Wahr­neh­mung, Welt­an­schau­ung etc. einer Gesell­schaft bzw. einer gesell­schaft­li­chen Lage ein, wer­den somit zur zwei­ten Natur des Akteurs, der nun auf­grund die­ser Inkor­po­rie­rung der sozia­len Ver­hält­nis­se voll­kom­men selbst­ver­ständ­lich gemäß die­sen han­delt und dadurch die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se, die sei­nen Habi­tus her­vor­ge­bracht haben, wie­der­um repro­du­ziert. Sowohl die per­sön­li­che als auch die gesell­schaft­li­che Ver­gan­gen­heit wir­ken in ihm in der Gegen­wart fort und bestim­men sein Ver­hal­ten, aller­dings „um den Preis des Ver­ges­sens“ (Krais 2004, S. 91) sei­ner Ent­ste­hung aus bestimm­ten sozia­len Ver­hält­nis­sen. Das Äuße­re der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se wird dem­entspre­chend inkor­po­riert und zum Inne­ren, zum Kör­per gewor­de­nen Sozia­len (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 161), und repro­du­ziert auf die Wei­se des Ver­äu­ßer­li­chens die­ses Inne­ren wie­der­um objek­ti­ve gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren. In einer sozia­len Umwelt, die mit dem per­sön­li­chen Habi­tus der Akteu­re über­ein­stimmt, wer­den die­se auf­grund der in ihrem Habi­tus inkor­po­rier­ten Erfah­rung rein intui­tiv han­deln und müs­sen in einer für sie neu­en Situa­ti­on nicht erst bewusst dar­über nach­den­ken, was nun zu tun sei.

Je nach sozia­ler Lage bie­ten sich den ein­zel­nen Akteu­ren unzäh­li­ge Zukunfts­mög­lich­kei­ten, aller­dings mit unter­schied­li­cher Ein­tritts- oder Rea­li­sie­rungs­wahr­schein­lich­keit, d.h. „die Viel­zahl mög­li­cher Wel­ten [ist] zu jedem Zeit­punkt durch die jeweils wirk­li­che Welt, durch die gege­be­nen sozia­len Ver­hält­nis­se begrenzt“ (Krais/Gebauer 2002, S. 46), so wie es für man­che sozia­le Grup­pen wahr­schein­li­cher ist als für ande­re, bei­spiels­wei­se sozi­al auf­zu­stei­gen oder eine Stu­di­en­lauf­bahn ein­zu­schla­gen. Über den Habi­tus und die dar­in inkor­po­rier­ten Erfah­run­gen, die die sozia­len Wahr­schein­lich­kei­ten und damit auch die eige­ne wahr­schein­li­che Zukunft mit­ein­schlie­ßen, rich­ten die Akteu­re schließ­lich ihre Hand­lun­gen auf die­je­ni­ge Zukunft aus, die objek­tiv am wahr­schein­lichs­ten ist, und las­sen sie dadurch in einer Art „Kau­sa­li­tät des Wahr­schein­li­chen“ (ebd.) Wirk­lich­keit wer­den, denn „[a]uch wenn [die sozia­len Deter­mi­nan­ten] nicht bewußt wahr­ge­nom­men wer­den, zwin­gen sie den ein­zel­nen, sich nach ihnen, das heißt nach der objek­ti­ven Zukunft der betref­fen­den gesell­schaft­li­chen Klas­se aus­zu­rich­ten“ (Bourdieu/Passeron 1971, S. 44). Der indi­vi­du­el­le Habi­tus leis­tet also inner­halb homo­lo­ger gesell­schaft­li­cher Ver­hält­nis­se auch die Vor­weg­nah­me und gleich­zei­ti­ge Her­bei­füh­rung einer wahr­schein­li­chen Zukunft, da die Hand­lun­gen und unbe­wuss­ten Stra­te­gien des Habi­tus „stets die objek­ti­ven Struk­tu­ren zu repro­du­zie­ren trach­ten, aus denen sie her­vor­ge­gan­gen sind“ (Bour­dieu 1987a, S. 114). Die wahr­schein­li­che Zukunft kann über den Habi­tus aus Erfah­rung, „d.h. durch die bereits ein­ge­tre­te­ne Zukunft frü­he­rer Prak­ti­ken“ (ebd.), als eben sol­che anti­zi­piert wer­den, weil die im Habi­tus inkor­po­rier­te Geschicht­lich­keit oder Erfah­rung mit den Bedin­gun­gen und der Geschicht­lich­keit der sozia­len Ver­hält­nis­se über­ein­stimmt, wor­aus sich eine Selbst­ver­ständ­lich­keit des Han­delns ergibt.

Die­se Selbst­ver­ständ­lich­keit des Han­delns geht jedoch ver­lo­ren, sobald die sozia­len Ver­hält­nis­se nicht län­ger dem Habi­tus eines Akteurs ent­spre­chen, sprich wenn die in den sozia­len Insti­tu­tio­nen objek­ti­vier­te Geschicht­lich­keit nicht län­ger mit der inkor­po­rier­ten Geschicht­lich­keit über­ein­stimmt, denn die bestehen­de Struk­tu­rie­rung des Habi­tus „schließt aus, dass er alles ver­ar­bei­tet, was in der Welt ist“, also „nur Din­ge auf­neh­men und ein­bau­en kann, für die er bereits eine Art ›Ankopp­lungs­stel­le‹ hat“ (Krais/Gebauer 2002, S. 64). Fin­det sich ein Akteur in einem sozia­len Umfeld mit hoch­gra­dig abwei­chen­den sozia­len Bedin­gun­gen vor, ent­spricht sei­ne ein­ver­leib­te Geschich­te oder Erfah­rung nicht län­ger der insti­tu­tio­na­li­sier­ten Geschich­te sei­ner Umge­bung, sein per­sön­li­cher Habi­tus ent­spricht also nicht län­ger den sozia­len Ver­hält­nis­sen und zeich­net sich durch eine Träg­heit aus, da er für die Gege­ben­hei­ten der neu­en sozia­len Umwelt kaum Ankopp­lungs­stel­len auf­weist. Da der Habi­tus zwar durch­aus ver­än­der­bar ist und die ihm zugrun­de lie­gen­de Inkor­po­rie­rung ein Leben lang statt­fin­det (vgl. Krais/Gebauer 2002), er aber stets von sei­ner ursprüng­li­chen Struk­tu­rie­rung durch die Pri­mär­so­zia­li­sa­ti­on in einer Art anhaf­ten­dem »Stall­ge­ruch« geprägt blei­ben wird, tritt auf, was Bour­dieu als hys­te­re­sis-Effekt bezeich­net (vgl. Bour­dieu 1982, S. 238f), näm­lich eine Träg­heit des Habi­tus, der nun in einer völ­lig neu­en Situa­ti­on unter ande­ren sozia­len Bedin­gun­gen nicht mehr ange­mes­sen ist, infol­ge­des­sen der Akteur sich nicht län­ger ange­mes­sen ver­hal­ten kann: „Sei­nen Habi­tus, der ja die per­sön­li­che und sozia­le Iden­ti­tät eines Indi­vi­du­ums aus­macht, kann man nun, wenn sich die indi­vi­du­el­len Lebens­ver­hält­nis­se ver­än­dern, nicht ein­fach wech­seln wie ein Kleid“ (Krais/Gebauer 2002, S. 46). Über län­ge­re Zeit wird sich der Habi­tus des Akteurs den neu­en sozia­len Ver­hält­nis­sen zwar annä­hern, sei­nen »Stall­ge­ruch« der Pri­mär­so­zia­li­sa­ti­on durch das vor­her­ge­hen­de Milieu aller­dings nicht voll­stän­dig able­gen kön­nen (vgl. Bour­dieu 2000; Hart­mann 2004, S. 92f; Krais 2004, S. 99f).

Zen­tral ist für Bour­dieu die selbst­ver­ständ­li­che Kom­pli­zen­schaft zwi­schen Indi­vi­du­um und sozia­len Ver­hält­nis­sen oder Insti­tu­tio­nen, die auch gesell­schaft­li­che Zwän­ge dar­stel­len kön­nen und in der Regel sol­che sind: „Wir sind über die­sen Habi­tus (…) immer ver­sucht, Kom­pli­zen der Zwän­ge zu sein, die auf uns wir­ken, mit unse­rer eige­nen Beherr­schung zu kol­la­bo­rie­ren“ (Bour­dieu 2001a, S. 166). Die­se Kom­pli­zen­schaft zwi­schen Akteur und den ihn umge­ben­den Struk­tu­ren wird durch eine ent­spre­chen­de Sozia­li­sa­ti­on inner­halb die­ser Struk­tu­ren, also durch den jewei­li­gen Habi­tus her­ge­stellt, der es den Akteu­ren erlaubt, gesell­schaft­li­che „Insti­tu­tio­nen zu bewoh­nen (habi­ter)“ (Bour­dieu 1987a, S.107). Dies bedeu­tet, dass jene objek­ti­ven Struk­tu­ren nur Bestand haben kön­nen, indem sie in den Akteu­ren wir­ken und von die­sen ver­in­ner­licht, bewohnt, ange­eig­net wer­den, die sie dadurch wie­der­um repro­du­zie­ren; folg­lich wird die „objek­ti­vier­te, insti­tu­ier­te Geschich­te nur dann geschicht­li­che Akti­on, d.h. akti­vier­te, akti­ve Geschich­te, wenn sie von Akteu­ren auf­ge­nom­men wird, die ihre eige­ne Geschich­te dazu prä­dis­po­niert, sie auf sich zu neh­men“ (Bour­dieu 2011a, S. 27). So kön­nen gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren wie z.B. Staat oder Schu­le nur funk­tio­nie­ren, indem die Akteu­re in gewis­ser Wei­se an sie glau­ben (vgl. prak­ti­scher Glau­be und prak­ti­scher Sinn in Bour­dieu 1987b), durch Sozia­li­sa­ti­on in die­sen Struk­tu­ren deren Funk­ti­ons­wei­se inkor­po­rie­ren und über Habi­tus und prak­ti­schen Sinn mit ihnen in Kom­pli­zen­schaft tre­ten. Alle betref­fen­den Akteu­re tei­len daher den ihnen habi­tu­ell inkor­po­rier­ten Glau­ben an die insti­tu­tio­nel­len Struk­tu­ren, was sich in der Aner­ken­nung die­ser Struk­tu­ren und der ent­spre­chen­den Teil­nah­me mani­fes­tiert, wobei sich die­ses Teil­neh­men aller­dings nicht bewusst mit einer struk­tur­funk­tio­na­lis­ti­schen Absicht voll­zieht, son­dern auf­grund der ent­spre­chen­den Habi­tus völ­lig selbst­ver­ständ­lich, intui­tiv und größ­ten­teils unbe­wusst, so wie man bei­spiels­wei­se sei­ne Kin­der ganz selbst­ver­ständ­lich auf die Schu­le schickt. Auf die­se Wei­se wer­den Prak­ti­ken und Regel­mä­ßig­kei­ten der gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen und Struk­tu­ren im Habi­tus der Indi­vi­du­en ver­an­kert, was ihnen das Bewoh­nen die­ser gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren ermög­licht, aber auf­grund der selbst­ver­ständ­li­chen habi­tu­el­len Ver­in­ner­li­chung der sozia­len Ord­nung auch Macht- und Herr­schafts­ver­hält­nis­se repro­du­ziert. Durch die­se Beto­nung der habi­tu­el­len Kom­pli­zen­schaft wird zudem deut­lich, dass per se kei­ne ant­ago­nis­ti­sche Gegen­über­stel­lung zwi­schen Indi­vi­du­um und Gesell­schaft besteht und nicht Gesell­schaft an sich als Zwang gegen­über den Indi­vi­du­en auf­tritt, son­dern bestimm­te Prak­ti­ken, Ord­nun­gen, Struk­tu­ren, Insti­tu­tio­nen und letzt­lich der eige­ne, vor­wie­gend unbe­wuss­te Glau­be dar­an: „Nicht Gesell­schaft als sol­che ist eine ›Zumu­tung‹, pro­ble­ma­tisch ist viel­mehr Herr­schaft. Und Herr­schaft tritt nicht ein­fach von außen an das Indi­vi­du­um her­an, sie ist, über den Habi­tus, immer auch in das Indi­vi­du­um selbst ein­ge­la­gert“ (Krais/Gebauer 2002, S. 79).

Eine Absa­ge etwa an gesell­schaft­li­che Zwän­ge kann sich also nicht auf die objek­tiv erkenn­ba­ren Struk­tu­ren beschrän­ken, son­dern muss beim Sub­jekt begin­nen, das die­se objek­ti­ven Struk­tu­ren durch sei­nen Habi­tus, durch sei­ne sub­jek­ti­ven Struk­tu­ren, repro­du­ziert. Dies erfor­dert zunächst das Erken­nen der Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der auf­grund der Inkor­po­rie­rung der dop­pel­ten Geschicht­lich­keit und – dar­in ent­hal­ten – der gesell­schaft­li­chen Denk- und Sicht­wei­sen gehan­delt wird, und damit das Erken­nen der Gren­zen des eige­nen Habi­tus. Bour­dieu leis­tet genau dies, indem er den „Mecha­nis­mus der kul­tu­rel­len Repro­duk­ti­on“ offen nach­zeich­net und in Ent­geg­nung auf den Vor­wurf des Deter­mi­nis­mus erklärt, „daß die Inten­ti­on der Auf­de­ckung gesell­schaft­li­cher Zwän­ge eman­zi­pa­to­risch ist. Das heißt nichts ande­res, als daß man – getreu der alten Regel – auf die Welt nur ein­zu­wir­ken ver­mag, wenn man sie kennt: Jeder neue Bestim­mungs­fak­tor, der erkannt wird, eröff­net einen wei­te­ren Frei­heits­spiel­raum“ (Bour­dieu 1992b, S. 46).

Ein sol­cher Frei­heits­spiel­raum gegen­über den gesell­schaft­li­chen Zwän­gen, die als unhin­ter­frag­te Not­wen­dig­kei­ten in den sozia­len Gebil­den und Denk­sche­ma­ta wir­ken, kann dem­zu­fol­ge nur durch ihr Erken­nen her­ge­stellt wer­den (das nicht mit Aner­ken­nung gleich­zu­set­zen ist), denn „[d]ie wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis der Not­wen­dig­keit schließt die Mög­lich­keit einer Akti­on ein, die dar­auf abzielt, sie zu neu­tra­li­sie­ren, und mit­hin eine mög­li­che Frei­heit, wäh­rend das Nicht­er­ken­nen der Not­wen­dig­keit deren Aner­ken­nung in unein­ge­schränk­ter Form impli­ziert: Solan­ge das Gesetz uner­kannt ist, erscheint das Resul­tat des lais­ser-fai­re, des Kom­pli­zen des Wahr­schein­li­chen [somit das, was gemäß die­ses uner­kann­ten Geset­zes schein­bar »ein­fach so« pas­siert, was nicht hin­ter­fragt und was als selbst­ver­ständ­lich erach­tet wird; MM], als Schick­sal, sobald es erkannt ist, als Gewalt“ (Bour­dieu 2011a, S. 53f).


Lite­ra­tur:

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Die sym­bo­li­sche Macht ist eine Macht, die in dem Maße exis­tiert, wie es ihr gelingt, sich aner­ken­nen zu las­sen, sich Aner­ken­nung zu ver­schaf­fen; d.h. eine (öko­no­mi­sche, poli­ti­sche, kul­tu­rel­le oder ande­re) Macht, die die Macht hat, sich in ihrer Wahr­heit als Macht, als Gewalt, als Will­kür ver­ken­nen zu las­sen. (…) Die sozia­len Akteu­re und auch die Beherrsch­ten selbst sind in der sozia­len Welt (selbst der absto­ßends­ten und empö­rends­ten) durch eine Bezie­hung hin­ge­nom­me­ner Kom­pli­zen­schaft ver­bun­den, die bewirkt, daß bestimm­te Aspek­te die­ser Welt stets jen­seits oder dies­seits kri­ti­scher Infra­ge­stel­lung stehen.

Was ist schließ­lich ein Papst, ein Prä­si­dent oder ein Gene­ral­se­kre­tär ande­res als jemand, der sich für einen Papst oder einen Gene­ral­se­kre­tär oder genau­er: für die Kir­che, den Staat, die Par­tei oder die Nati­on hält? Das ein­zi­ge, was ihn von der Figur in der Komö­die oder vom Grö­ßen­wahn­sin­ni­gen unter­schei­det, ist, daß man ihn im all­ge­mei­nen ernst nimmt und ihm damit das Recht auf die­se Art von »legi­ti­mem Schwin­del«, wie Aus­tin sagt, zuer­kennt. Glau­ben Sie mir, die Welt so betrach­tet, d.h. so wie sie ist, ist ziem­lich komisch. Aber man hat ja oft gesagt, daß das Komi­sche und das Tra­gi­sche sich berühren.
(Pierre Bour­dieu – Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht ent­hül­len, in: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht)