Vie­le Intel­lek­tu­el­le tun so, als wür­den sie glau­ben, oder glau­ben wirk­lich, daß ich gegen die Demo­kra­tie Posi­ti­on bezie­he, wenn ich sage, die öffent­li­che Mei­nung exis­tiert nicht, die Umfra­gen sind gefähr­lich. Weil, sagen sie, die Umfra­gen dar­in bestehen, die Leu­te zu bera­ten, und was gibt es demo­kra­ti­sche­res? In Wirk­lich­keit sehen sie über­haupt nicht, daß die Umfra­ge kein Instru­ment demo­kra­ti­scher Bera­tung, son­dern ein Instru­ment ratio­na­ler Dem­ago­gie ist. Die Dem­ago­gie besteht dar­in, die Trie­be, die Erwar­tun­gen, die Lei­den­schaf­ten sehr gut zu ken­nen, um sie zu mani­pu­lie­ren oder ganz ein­fach, um sie zu regis­trie­ren, sie zu bestä­ti­gen, was das Schlimms­te sein kann (man den­ke nur an die Todes­stra­fe oder den Ras­sis­mus). Die Sozi­al­wis­sen­schaf­ten wer­den oft als Herr­schafts­in­stru­ment benutzt.
(Pierre Bour­dieu – Was anfan­gen mit der Sozio­lo­gie?, in: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht)

Der [sozia­le] Raum, das sind hier die Spiel­re­geln, denen sich jeder Spie­ler beu­gen muß. Vor sich haben die Spie­ler ver­schie­den­far­bi­ge Chips auf­ge­sta­pelt, Aus­beu­te der vor­an­ge­gan­ge­nen Run­den. Die unter­schied­lich gefärb­ten Chips stel­len unter­schied­li­che Arten von Kapi­tal dar: Es gibt Spie­ler mit viel öko­no­mi­schem Kapi­tal, wenig kul­tu­rel­lem und wenig sozia­lem Kapi­tal. Die sind in mei­nem Raum­sche­ma rechts ange­sie­delt, auf der herr­schen­den, öko­no­misch herr­schen­den Sei­te. Am ande­ren Ende sit­zen wel­che mit einem hohen Sta­pel kul­tu­rel­lem Kapi­tal, einem klei­nen oder mitt­le­ren Sta­pel öko­no­mi­schem Kapi­tal und gerin­gem sozia­len Kapi­tal: das sind die Intel­lek­tu­el­len. Und jeder spielt ent­spre­chend der Höhe sei­ner Chips. Wer einen gro­ßen Sta­pel hat, kann bluf­fen, kann gewag­ter spie­len, risi­ko­rei­cher. Mit ande­ren Wor­ten: Die Spiel­si­tua­ti­on ändert sich fort­wäh­rend, aber das Spiel bleibt bestehen, wie auch die Spiel­re­geln. Die Fra­ge ist nun: Gibt es Leu­te, die dar­an Inter­es­se haben, den Tisch umzu­wer­fen und damit dem Spiel ein Ende zu machen? Das kommt wohl sehr sel­ten vor. Ich fra­ge mich, ob das über­haupt jemals der Fall war. Was statt­fin­det, das sind Aus­ein­an­der­set­zun­gen dar­um, ob ein Chip »öko­no­mi­sches Kapi­tal« wirk­lich drei Chips »kul­tu­rel­les Kapi­tal« wert ist.
In mei­nen Augen sind vie­le Revo­lu­tio­nen aus­schließ­lich Revo­lu­tio­nen inner­halb der herr­schen­den Klas­se, d.h. in jenen Krei­sen, die Chips besit­zen und die auch mal auf die Bar­ri­ka­den stei­gen, damit ihre Chips an Wert gewinnen.
(Pierre Bour­dieu – Die fei­nen Unter­schie­de, in: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht)

Den Kar­ren von mei­ner Hand in die sei­ne wech­selnd, erzähl­te er mir eine lus­ti­ge Geschich­te über den ers­ten Schub­kar­ren, den er je gese­hen. Das war in Sag Har­bor. Die Eig­ner des Schif­fes, so scheint es, hat­ten ihm einen gelie­hen, um sei­ne schwe­re Tasche in sein Logier­haus zu schaf­fen. Um, was die­ses Ding betrifft, nicht unwis­send zu erschei­nen – obgleich er, was die genaue Wei­se angeht, wie der Kar­ren zu hand­ha­ben sei, das in Wahr­heit voll­kom­men war -, packt Queequeg sei­ne Tasche dar­auf; ver­schnürt sie fes­te; und schul­tert dann die Kar­re und schrei­tet den Pier hin­auf. »Na«, sag­te ich, »Queequeg, das hät­test du bes­ser wis­sen kön­nen, soll­te man mei­nen. Haben die Leu­te nicht gelacht?«
Dar­auf­hin erzähl­te er mir eine wei­te­re Geschich­te. Die Leu­te sei­ner Insel Koko­vo­ko pres­sen, so scheint es, die wohl­rie­chen­de Flüs­sig­keit jun­ger Kokos­nüs­se in eine gro­ße gefärb­te Kale­bas­se, wie eine Punsch­bow­le; und die­se Punsch­bow­le bil­det auf der gefloch­te­nen Mat­te, wo das Fest abge­hal­ten wird, immer das gro­ße Schau­stück im Mit­tel­punkt. Nun kam ein­mal ein bestimm­tes statt­li­ches Han­dels­schiff in Koko­vo­ko an, und des­sen Kom­man­dant – soweit berich­tet wird, ein sehr vor­neh­mer, pin­ge­li­ger Herr, wenigs­tens für einen Kapi­tän zur See -, die­ser Kom­man­dant wur­de zum Hoch­zeits­fest von Queequegs Schwes­ter ein­ge­la­den, einer hüb­schen jun­gen Prin­zes­sin, die gera­de zehn gewor­den. Nun ja; als alle Hoch­zeits­gäs­te in der Bam­bus­hüt­te der Braut ver­sam­melt waren, mar­schiert die­ser Kapi­tän her­ein, und all­die­weil man ihm den Ehren­platz zuge­wie­sen, nimmt er Platz drü­ben, der Punsch­bow­le gegen­über, und zwi­schen dem Hohe­pries­ter und Sei­ner Majes­tät dem König, Queequegs Vater. Sobald das Tisch­ge­bet gespro­chen – denn auch die­se Leu­te haben ihr Tisch­ge­bet eben­so wie wir – obwohl Queequeg mir erzähl­te, daß im Gegen­satz zu uns, die wir bei sol­chen Gele­gen­hei­ten nie­der­bli­cken auf unse­re Ser­vier­plat­ten, sie ganz im Gegen­teil, es den Enten nach­ma­chend, auf­wärts bli­cken zu dem gro­ßen Spen­der aller Fes­te -, sobald, woll­te ich sagen, das Tisch­ge­bet gespro­chen, eröff­net der Hohe­pries­ter das Ban­kett mit der uralten Zere­mo­nie der Insel; das heißt, er tunkt sei­ne geweih­ten und wei­hen­den Fin­ger in die Bow­le, bevor das geseg­ne­te Getränk die Run­de macht. Wie er sich gleich neben dem Pries­ter pla­ciert sieht und der Zere­mo­nie folgt und sich – als Kapi­tän eines Schif­fes – im kla­ren Vor­recht gegen­über einem blo­ßen Insel­kö­nig dünkt, inson­der­heit in des Königs eige­nem Hau­se – macht er sich ganz kühl dar­an, sei­ne Hän­de in der Punsch­bow­le zu waschen; – die er, wie ich anneh­me, als eine rie­si­ge Fin­ger­scha­le ange­se­hen. »Nun«, sag­te Queequeg, »was du jetz denk? – Haben unse­re Leu­te nicht gelacht?«
(Her­man Mel­ville – Moby Dick)

Im Bewusst­sein der Zeit­lich­keit setzt sich der Knacks durch. Auch wo er nicht iden­ti­fi­ziert wird, bricht er sich Bahn in den zuwi­der­lau­fen­den Kräf­ten, etwa im Ver­such, sei­ner Arbeit mit einer Beschleu­ni­gung des Lebens­ge­fühls zu begeg­nen. Mach schnell, und du wirst ihn mit blo­ßem Auge, mit blo­ßem inne­ren Auge, nicht mehr wahr­neh­men. Die Geschwin­dig­keit wird den Knacks dahinraffen.
Hat die Spra­che die­se Beschleu­ni­gung mit voll­zo­gen? Und ob: In den Sieb­zi­gern beant­wor­te­te man die Fra­ge »How are you« mit »good«, in den Acht­zi­gern ant­wor­te­te man auf die glei­che Fra­ge mit »busy«.
Was war gesche­hen? Die Beschleu­ni­gung ver­riet sich in Kom­pa­ra­ti­ven. Der Schnell­zug ver­schwand, er war nicht schnell genug; der Eil­brief ver­schwand, denn schon das Eilen selbst klingt gemäch­lich: Alt­mo­di­sche Voka­beln, sie erin­nern an die lang­sa­me Art, schnell zu sein.
Statt­des­sen wur­den die Indi­zi­en der Beschleu­ni­gung mora­lisch: was schnell war, war gut. Es war gut, »auf der Über­hol­spur« zu leben, es war »in«, Fast Food zu mögen, aber Fast Food ist eigent­lich Fast Eat, und es erreich­te rasch das eige­ne Heim. Mit der 5‑Mi­nu­ten-Ter­ri­ne erreicht die Küche ohne Koch und ohne Ritu­al die Haus­hal­te. Alles beschleu­nigt: Schnell­ra­sur, Schnell­im­biss, Schnell­lif­ting, Schnell­tank­stel­le, Schnell­re­stau­rant, Schnell­rei­ni­gung wie juris­ti­sche Schnell­ver­fah­ren. Es geht schnel­ler: Die ein­zi­ge Musik­sen­dung auf der Höhe der Zeit hieß »Fast For­ward«, die Dro­ge der urba­nen Jugend »Speed«. Dies alles arbei­tet an der Fik­ti­on des gewon­ne­nen Lebens, es sagt, wenn du schnel­ler bist, schnel­ler reist, Zeit sparst, wirst du am Ende mehr davon haben.
(…)
Wir haben kei­ne Zeit. Wir haben alle kei­ne Zeit. Wir haben sie schon des­halb nicht, damit wir uns nicht zu gut füh­len. Bruch, Knacks, Ermü­dung, Schei­tern, Kol­laps: Unse­re rui­nö­sen Ich-Res­te sol­len nicht erschei­nen, nicht auf­bre­chen, nicht mitsprechen.
(Roger Wil­lem­sen – Der Knacks)

Was heißt das, »in der Wahr­heit leben«? Eine nega­ti­ve Defi­ni­ti­on ist ein­fach: es heißt, nicht zu lügen, sich nicht zu ver­ste­cken, nichts zu ver­heim­li­chen. Seit Franz Sabi­na kennt, lebt er in der Lüge. Er erzählt sei­ner Frau von einem Kon­greß in Ams­ter­dam, der nie statt­ge­fun­den, von Vor­le­sun­gen in Madrid, die er nie gehal­ten hat, und er hat Angst, mit Sabi­na in den Stra­ßen von Genf spa­zie­ren­zu­ge­hen. Es amü­siert ihn, zu lügen und sich zu ver­ste­cken, denn er hat es sonst nie getan. Er ist dabei ange­nehm auf­ge­regt, wie ein Klas­sen­pri­mus, der beschließt, end­lich ein­mal die Schu­le zu schwänzen.
Für Sabi­na ist »in der Wahr­heit leben«, weder sich selbst noch ande­re zu belü­gen, nur unter der Vor­aus­set­zung mög­lich, daß man ohne Publi­kum lebt. Von dem Moment an, wo jemand unse­rem Tun zuschaut, pas­sen wir uns wohl oder übel den Augen an, die uns beob­ach­ten, und alles, was wir tun, wird unwahr. Ein Publi­kum zu haben, an ein Publi­kum zu den­ken, heißt, in der Lüge zu leben. Sabi­na ver­ach­tet die Lite­ra­tur, in der ein Autor alle Inti­mi­tä­ten über sich und sei­ne Freun­de ver­rät. Wer sei­ne Inti­mi­tät ver­liert, der hat alles ver­lo­ren, denkt Sabi­na. Und wer frei­wil­lig dar­auf ver­zich­tet, der ist ein Mons­trum. Dar­um lei­det Sabi­na nicht im gerings­ten dar­un­ter, daß sie ihre Lie­be ver­heim­li­chen muß. Im Gegen­teil, nur so kann sie »in der Wahr­heit leben«.
Franz dage­gen ist über­zeugt, daß in der Tren­nung des Lebens in eine pri­va­te und eine öffent­li­che Sphä­re die Quel­le aller Lügen liegt: Man ist ein ande­rer im Pri­vat­le­ben als in der Öffent­lich­keit. »In der Wahr­heit leben« bedeu­tet für ihn, die Bar­rie­re zwi­schen Pri­vat und Öffent­lich­keit nie­der­zu­rei­ßen. Er zitiert gern den Satz von André Bre­ton, der besagt, daß er gern »in einem Glas­haus« gelebt hät­te, »wo es kei­ne Geheim­nis­se gibt und das allen Bli­cken offensteht«.
(Milan Kun­de­ra – Die uner­träg­li­che Leich­tig­keit des Seins)

Wo immer näm­lich die­se Gesell­schaft nicht funk­tio­niert, wo immer sie ver­sagt, wird ihr Ver­sa­gen an den Ärms­ten offenbar.
Jede Ver­än­de­rung im sozia­len Raum, jede Ver­schär­fung des Wett­be­werbs, jede Zunah­me an Gewalt im öffent­li­chen Leben, jede Kon­ta­mi­nie­rung bil­li­gen Essens hin­ter­lässt in der Lebens­er­fah­rung von Armen ihre Spu­ren. Auch wie Gesell­schaft sich ver­än­dert, in ihren Klas­sen- und Geschlechts­ver­hält­nis­sen eben­so wie in ihrer Mit­mensch­lich­keit, das erfah­ren die Armen zuerst. Sie wer­den des­halb eben nicht nur mate­ri­ell und gesund­heit­lich, sie wer­den auch psy­cho­lo­gisch und mora­lisch am emp­find­lichs­ten von den Ein­bu­ßen der Gesell­schaft getroffen.
In der Armut wird das Selbst­bild der Gesell­schaft gekränkt und bestä­tigt: gekränkt, weil sie ihre idea­len Bil­der ohne Rück­stän­de pro­du­zie­ren möch­te, bestä­tigt, weil sie die­se Armut ja selbst her­stellt, die Pro­duk­ti­on von Armut also genau so for­ciert wie ihr Pen­dant, den Wohlstand.
In die­ser Kul­tur, und das heißt auch in den Bezie­hun­gen der Men­schen unter­ein­an­der, hat sich der Wert der Ver­käuf­lich­keit und Käuf­lich­keit der­art ver­selb­stän­digt, dass Men­schen schon degra­diert wer­den, weil sie nicht am Waren­ver­kehr teil­neh­men kön­nen oder wol­len. Jede Gesin­nung, jedes Phä­no­men, jede Erschei­nung, jede mensch­li­che Her­vor­brin­gung, jede Leis­tung wird auf opti­ma­le Ver­käuf­lich­keit unter­sucht und abge­rich­tet. Unvor­stell­bar, wel­che Kul­tur sich ent­wi­ckeln könn­te, wenn nicht jede Lebens­re­gung an ihrer Markt­taug­lich­keit gemes­sen, wenn Zugang zur Öffent­lich­keit nicht nur Din­gen ver­schafft wür­de, die sich ver­kau­fen las­sen, wenn, mit einem Wort, jeder täte, was er gesell­schaft­lich für wich­tig, und nicht, was er für pro­fi­ta­bel hiel­te. Eine Uto­pie mehr.
(Roger Wil­lem­sen – Der Knacks)

Die ursprüng­li­che Bezie­hung zu der sozia­len Welt, durch die und für die man geschaf­fen ist, ist ein Besitzver­hält­nis, das den Besitz des Besit­zers durch sei­ne Besitz­tü­mer impli­ziert. Wenn das Erbe sich den Erben ange­eig­net hat, wie Marx sagt, kann der Erbe sich das Erbe aneig­nen. Und die­se Aneig­nung des Erben durch das Erbe, die Anpas­sung des Erben an das Erbe, die die Bedin­gung für die Aneig­nung des Erbes durch den Erben ist (und die weder etwas Mecha­ni­sches noch etwas Schick­sal­haf­tes hat), voll­zieht sich durch den kom­bi­nier­ten Effekt der in die Lebens­be­din­gun­gen des Erben ein­ge­schrie­be­nen Kon­di­tio­nie­run­gen und der päd­ago­gi­schen Akti­on sei­ner Vor­fah­ren, der ange­eig­ne­ten Eigen­tü­mer. Der geerb­te, dem Erbe ange­pass­te Erbe braucht nicht zu wol­len, d.h. zu über­le­gen, zu wäh­len und bewusst zu ent­schei­den, um das zu tun, was mit den Inter­es­sen des Erbes über­ein­stimmt, sei­ner Wah­rung und Meh­rung dien­lich ist. Er mag genau genom­men nicht ein­mal wis­sen, was er tut und was er sagt, und ver­mag gleich­wohl nichts zu tun oder zu sagen, was nicht den Erfor­der­nis­sen des Erbes ent­spricht. (…) Dies kann in dem Gefühl zum Aus­druck kom­men, genau »am rich­ti­gen Platz« zu sein, genau das zu tun, was man zu tun hat, und es auf glück­li­che Wei­se – im objek­ti­ven wie im sub­jek­ti­ven Sin­ne – zu tun oder in der resi­gnier­ten Über­zeu­gung, nichts ande­res tun zu kön­nen, auch eine frei­lich weni­ger glück­li­che Wei­se, sich für das, was man tut, geschaf­fen zu fühlen.
(Pierre Bour­dieu – Der Tote packt den Leben­den, in: Der Tote packt den Lebenden)

In jeder Hin­sicht ist Kul­tur Ergeb­nis eines Kamp­fes. Das ver­steht sich von selbst, weil mit der Idee der Kul­tur auch immer die mensch­li­che Wür­de auf dem Spiel steht. Das bedeu­tet, daß in einer Klas­sen­ge­sell­schaft die­je­ni­gen, die von der Kul­tur aus­ge­schlos­sen sind, auch in ihrer Wür­de und in ihrer mensch­li­chen Exis­tenz getrof­fen sind und sich getrof­fen füh­len. Die­je­ni­gen wie­der­um, die die Kul­tur besit­zen oder sich zumin­dest in ihrem Besitz wäh­nen (der Glau­be ist hier wesent­lich) ver­ges­sen stän­dig all die Lei­den und Ernied­ri­gun­gen, die im Namen die­ser Kul­tur gesche­hen. Die Kul­tur ist hier­ar­chisch orga­ni­siert und sie trägt zur Unter- und Über­ord­nung von Men­schen bei, wie etwa ein Möbel- oder ein Klei­dungs­stück, an denen man sofort erken­nen kann, auf wel­cher Spros­se der sozia­len und kul­tu­rel­len Hier­ar­chie sein Besit­zer steht. Im Bereich der Poli­tik, aber nicht allein dort, ver­ur­tei­len die offi­ziö­se Kul­tur und der von ihr bean­spruch­te Respekt die­je­ni­gen zum Schwei­gen, die nicht als Trä­ger die­ser Kul­tur aner­kannt sind. Um aber die sozia­len Kämp­fe und Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die jewei­li­ge Kul­tur voll­stän­dig erkenn­bar zu machen, muß man immer wie­der hin­wei­sen auf jene Illu­si­on, die aus der immer auch sinn­lich-mate­ri­el­len Erschei­nungs­wei­se von Kul­tur resul­tiert. Der Umstand, daß kul­tu­rel­le Erschei­nun­gen immer auch als sinn­lich faß­ba­re Äuße­run­gen von Per­so­nen in Erschei­nung tre­ten, erweckt den Ein­druck, als sei Kul­tur die natür­lichs­te und die per­sön­lichs­te und damit also auch die legi­tims­te Form des Eigentums.
(Pierre Bour­dieu – Poli­tik, Bil­dung und Spra­che, in: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht)

Der ande­re Trick besteht dar­in, dem Part­ner eben­so hef­ti­ge wie nebel­haf­te Vor­wür­fe zu machen. Wenn er dann wis­sen will, was Sie eigent­lich mei­nen, kön­nen Sie die Fal­le mit dem zusätz­li­chen Hin­weis her­me­tisch schlie­ßen: »Wenn du nicht der Mensch wärest, der du bist, müß­test du mich nicht erst noch fra­gen. Der Umstand, daß du nicht ein­mal weißt, wovon ich spre­che, zeigt klar, welch‘ Geis­tes Kind du bist.« Und a pro­pos Geist: Im Umgang mit soge­nann­ten Geis­tes­kran­ken wird die­se Metho­de seit längs­ter Zeit mit gro­ßem Erfolg ange­wen­det. In den sel­te­nen Fäl­len näm­lich, in denen der Betref­fen­de es wagt, klipp und klar dar­über Aus­kunft zu ver­lan­gen, wor­in in der Sicht der ande­ren sei­ne Ver­rückt­heit denn bestehe, läßt sich die­se Fra­ge als wei­te­rer Beweis für sei­ne Geis­tes­ge­stört­heit hin­stel­len: »Wenn du nicht ver­rückt wärest, wüß­test du, was wir mei­nen.« Da staunt der Laie und der Fach­mann wun­dert sich – denn hin­ter einer Ant­wort die­ser Art steht Genia­li­tät: Der Ver­such, Klar­heit zu schaf­fen, wird flugs ins Gegen­teil umge­deu­tet. Der ande­re gilt also für ver­rückt, solan­ge er die Bezie­hungs­de­fi­ni­ti­on »Wir sind nor­mal, du bist ver­rückt« still­schwei­gend hin­nimmt, und für ver­rückt, wenn er sie in Fra­ge stellt. Nach die­sem erfolg­lo­sen Exkurs in die mensch­li­che Umwelt kann er ent­we­der sich in hilf­lo­ser Wut die Haa­re aus­rau­fen, oder in Schwei­gen zurück­fal­len. Aber auch damit beweist er nur zusätz­lich, wie ver­rückt er ist, und wie recht die ande­ren schon immer hat­ten. (…) In den Eta­blis­se­ments, die sich für die Behand­lung sol­cher Zustän­de für kom­pe­tent hal­ten, läßt sich die­se Tak­tik mit Erfolg anwen­den. Man stellt es dem soge­nann­ten Pati­en­ten zum Bei­spiel frei, nach eige­nem Ermes­sen zu ent­schei­den, ob er an den Grup­pen­sit­zun­gen teil­neh­men will oder nicht. Lehnt er dan­kend ab, so wird er hilf­reich-ernst­haft auf­ge­for­dert, sei­ne Grün­de anzu­ge­ben. Was er dann sagt, ist ziem­lich gleich­gül­tig, denn es ist auf jeden Fall eine Mani­fes­ta­ti­on sei­nes Wider­stan­des und daher krank­haft. Die ein­zi­ge ihm offen­ste­hen­de Alter­na­ti­ve ist also die Teil­nah­me an der Grup­pen­the­ra­pie, doch darf er nicht anmer­ken las­sen, daß ihm ja nichts ande­res übrig­bleibt, denn sei­ne eige­ne Lage so zu sehen, bedeu­te­te immer noch Wider­stand und Ein­sichts­lo­sig­keit. Er muß also »spon­tan« teil­neh­men wol­len, gibt aber gleich­zei­tig mit sei­ner Teil­nah­me zu, daß er krank ist und The­ra­pie braucht. In gro­ßen Gesell­schafts­sys­te­men mit Irren­haus­cha­rak­ter ist die­se Metho­de unter dem respekt­los-reak­tio­nä­ren Namen Gehirn­wä­sche bekannt.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Der Jour­na­lis­mus ist tat­säch­lich einer der Orte, an dem die poli­ti­sche Magie ent­steht und bestä­tigt wird. Damit Magie ent­steht (…), braucht es eine Men­ge sozia­ler Vor­aus­set­zun­gen: Zau­be­rer, Assis­ten­ten, Publi­kum usf. Und auch die Welt der poli­ti­schen Magie macht eine Rei­he von Teil­neh­mern erfor­der­lich, nicht nur Par­la­men­te und Abge­ord­ne­te: Jour­na­lis­ten, Umfra­ge­insti­tu­te, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­ra­ter – auch Intel­lek­tu­el­le, oder genau­er: Jour­na­lis­ten, die sich als Intel­lek­tu­el­le aufspielen.
Man spricht (…) über die Rol­le der Jour­na­lis­ten im Golf­krieg. Man spricht aber nicht – oder zuwe­nig – über den All­tag, über das, was der Jour­na­lis­mus all­täg­lich macht, wenn er eigent­lich nur funk­tio­niert, um die Reden, die die Poli­ti­ker für­ein­an­der hal­ten, zu ver­stär­ken und ihnen einen Reso­nanz­bo­den zu geben. Heu­te reden die Poli­ti­ker näm­lich eigent­lich zu nie­mand ande­rem mehr als zu sich selbst. Sie reden, um nichts zu sagen, und inner­halb stun­den­lan­ger, nichts­sa­gen­der Aus­füh­run­gen fällt dann ein Halb­satz, der gezielt ein­ge­setzt wird, damit er von den Jour­na­lis­ten ver­stan­den, auf­ge­nom­men und als Spiel­ball in das poli­ti­sche Spiel ein­ge­bracht wird. Das Gan­ze hat Ähn­lich­keit mit einem Schach­spiel, bei dem gewief­te Spie­ler ihre Stra­te­gien erpro­ben. Und wie ein Schach­spiel schot­tet sich das Macht­spiel nach außen ab, wird her­me­tisch, Objekt »ken­ne­ri­scher« Kom­men­ta­re von Insi­dern, gesell­schaft­lich belang­los. Die Poli­ti­ker spre­chen zuein­an­der, sie spre­chen nicht zur Gesell­schaft. Sie geben sich den Anschein, zur Gesell­schaft zu sprechen.
(Pierre Bour­dieu – Poli­tik und Medi­en­macht, in: Der Tote packt den Lebenden)