Denken heißt zerstören. Der Denkvorgang opfert den Gedanken, denn Denken heißt auseinandernehmen. Könnten die Menschen das Geheimnis des Lebens sinnend erfahren, könnten sie die tausend Verstrickungen erahnen, die der Seele bei der geringsten Regung drohen, sie würden nicht einen Finger rühren, geschweigedenn leben. Sie würden vor Schreck vergehen, wie all jene, die Selbstmord begehen, um nicht anderentags unter der Guillotine zu enden.
(Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe)

Deine Schwächen gehören mir. Ich habe Dich unermüdlich beobachtet und sie nach und nach entdeckt. Ich leide darunter, daß Du sie hast, aber ich würde nicht wollen, daß Du Dich änderst. Ich erwähne sie Dir gegenüber manchmal mit einem Lächeln. Ich möchte Dich nicht kränken, Dir auch keine Ratschläge geben. Ich möchte, daß Du weißt, was ich weiß; und ich wünschte, statt zu versuchen, Dich anders zu geben, als Du bist, würdest Du mir all Deine kleinen Häßlichkeiten zeigen. Ich würde sie lieben, denn sie wären ganz mein. Die anderen würden sie nicht kennen, und dadurch wären wir außerhalb der Welt verbunden. Nichts ist liebenswerter als die Schwächen und Fehler: Durch sie dringt man zur Seele des geliebten Menschen vor, der Seele, die sich in dem Wunsch, wie alle anderen zu erscheinen, ständig verbirgt. Es ist wie bei einem Gesicht. Die anderen sehen nur ein Gesicht; doch man selbst weiß, an welcher Stelle genau die Kurve der Nase, statt ihre ideale Linie fortzusetzen, unmerklich bricht, um eine gewöhnliche Nase zu bilden; man weiß, daß die Poren der Haut aus der Nähe grob und schwarz sind; man hat den Fleck in den Augen gefunden, der mitunter den Blick erlöschen läßt, und den Millimeter zuviel, den die Lippe aufweist, um noch vornehm zu sein. Diese kleinen Makel möchte man lieber küssen als das Vollkommene, weil sie so arm sind und gerade sie es ausmachen, daß dieses Gesicht nicht das eines anderen ist.
Marcelle Sauvageot – Fast ganz die Deine

Die moderne Geschichte hat, denke ich, hinreichend bewiesen, dass jeder Mensch, oder fast jeder, unter gewissen Voraussetzungen das tut, was man ihm sagt; und, verzeiht mir, die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass ihr die Ausnahme seid – so wenig wie ich. Wenn ihr in einem Land und in einer Zeit geboren seid, wo nicht nur niemand kommt, um eure Frau und eure Kinder zu töten, sondern auch niemand, um von euch zu verlangen, dass ihr die Frauen und Kinder anderer tötet, dann danket Gott und ziehet hin in Frieden. Aber bedenkt immer das eine: Ihr habt vielleicht mehr Glück gehabt als ich, doch ihr seid nicht besser. Denn solltet ihr so vermessen sein, euch dafür zu halten, seid ihr bereits in Gefahr. Gern stellen wir dem Staat – ob er totalitär ist oder nicht – den gewöhnlichen Menschen gegenüber, die Laus oder das kleine Licht. Dabei vergessen wir jedoch, dass der Staat aus Menschen besteht, mehr oder weniger gewöhnlichen Menschen, ein jeder mit seinem Leben, seiner Geschichte, jeder mit seiner Verkettung von Zufällen, die dafür gesorgt haben, dass er sich eines Tages auf der richtigen Seite des Gewehrs oder Dokuments wiederfindet, während andere auf der falschen stehen. Dieser Gang der Ereignisse ist in den seltensten Fällen das Ergebnis einer Entscheidung oder gar einer charakterlichen Veranlagung. Und die Opfer sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht deshalb gefoltert oder getötet worden, weil sie gut waren, ebenso wenig wie ihre Peiniger sie aus Bosheit gequält haben. Das zu glauben wäre reichlich naiv; man braucht sich nur in einer beliebigen Bürokratie umzusehen, und sei es die des Roten Kreuzes, um sich davon zu überzeugen. (…) Die Maschinerie des Staates nun ist aus dem gleichen Sand gebacken wie das, was sie Korn für Korn zu Staub zermahlt. Es gibt sie, weil alle damit einverstanden sind, dass es sie gibt, sogar – und häufig bis zum letzten Atemzug – ihre Opfer. Ohne die Höß, Eichmanns, Goglidzes, Wyschinskis, aber auch ohne die Weichensteller, die Betonfabrikanten und die Buchhalter in den Ministerien wäre ein Stalin oder ein Hitler nur einer jener von Hass und ohnmächtigen Gewaltfantasien aufgeblähten Säcke gewesen.
Jonathan Littell – Die Wohlgesinnten

Man kann jahrelang in nervöser Hast in der Stadt leben, es ruiniert zwar die Nerven, aber man kann es lange Zeit durchhalten. Doch kein Mensch kann länger als ein paar Monate in nervöser Hast bergsteigen, Erdäpfel einlegen, holzhacken oder mähen. Das erste Jahr, in dem ich mich noch nicht angepaßt hatte, war weit über meine Kräfte gegangen, und ich werde mich von diesen Arbeitsexzessen nie ganz erholen. Unsinnigerweise hatte ich mir auf jeden derartigen Rekord auch noch etwas eingebildet. Heute gehe ich sogar vom Haus zum Stall in einem geruhsamen Wäldlertrab. Der Körper bleibt entspannt, und die Augen haben Zeit zu schauen. Einer, der rennt, kann nicht schauen. In meinem früheren Leben führte mich mein Weg jahrelang an einem Platz vorbei, auf dem eine alte Frau die Tauben fütterte. Ich mochte Tiere immer gern, und jenen, heute längst versteinerten Tauben gehörte mein ganzes Wohlwollen, und doch kann ich nicht eine von ihnen beschreiben. Ich weiß nicht einmal, welche Farbe ihre Augen und ihre Schnäbel hatten. Ich weiß es einfach nicht, und ich glaube, das sagt genug darüber aus, wie ich mich durch die Stadt zu bewegen pflegte. Seit ich langsamer geworden bin, ist der Wald um mich erst lebendig geworden. Ich möchte nicht sagen, daß dies die einzige Art zu leben ist, für mich ist sie aber gewiß die angemessene. Und was mußte alles geschehen, ehe ich zu ihr finden konnte. Früher war ich immer irgendwohin unterwegs, immer in großer Eile und erfüllt von einer rasenden Ungeduld, denn überall, wo ich anlangte, mußte ich erst einmal lange warten. Ich hätte ebensogut den ganzen Weg dahinschleichen können. Manchmal erkannte ich meinen Zustand und den Zustand unserer Welt ganz klar, aber ich war nicht fähig, aus diesem unguten Leben auszubrechen. Die Langeweile, unter der ich oft litt, war die Langeweile eines biederen Rosenzüchters auf einem Kongreß der Autofabrikanten. Fast mein ganzes Leben lang befand ich mich auf einem derartigen Kongreß, und es wundert mich, daß ich nicht eines Tages vor Überdruß tot umgefallen bin.
Hier, im Wald, bin ich eigentlich auf dem mir angemessenen Platz. Ich trage den Autofabrikanten nichts nach, sie sind ja längst nicht mehr interessant. Aber wie sie mich alle gequält haben mit Dingen, die mir zuwider waren. Ich hatte nur dieses eine kleine Leben, und sie ließen es mich nicht in Frieden leben.
Marlen Haushofer – Die Wand

Wir brechen in den Kosmos auf, wir sind auf alles vorbereitet, das heißt, auf die Einsamkeit, auf den Kampf, auf Martyrium und Tod. Aus Bescheidenheit sprechen wir es nicht laut aus, aber wir denken uns manchmal, daß wir großartig sind. Indessen, indessen ist das nicht alles, und unsere Bereitschaft erweist sich als Theater. Wir wollen gar nicht den Kosmos erobern, wir wollen nur die Erde bis an seine Grenzen erweitern. Die einen Planeten haben voll Wüste zu sein, wie die Sahara, die anderen eisig wie der Pol oder tropisch wie der brasilianische Urwald. Wir sind humanitär und edel, wir wollen die anderen Rassen nicht unterwerfen, wir wollen ihnen nur unsere Werte übermitteln und, als Gegengabe, ihrer aller Erbe annehmen. Wir halten uns für die Ritter vom heiligen Kontakt. Das ist die zweite Lüge. Menschen suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel. Mit anderen Welten wissen wir nichts anzufangen. Es genügt unsere eine, und schon ersticken wir an ihr. Wir wollen das eigene idealisierte Bild finden; diese Globen, diese Zivilisationen haben vollkommener zu sein als die unsere, in anderen wiederum hoffen wir das Abbild unserer primitiven Vergangenheit zu finden. Indessen ist auf der anderen Seite etwas, was wir nicht akzeptieren, wogegen wir uns wehren, und schließlich haben wir von der Erde nicht nur das pure Destillat aus lauter Tugenden mitgebracht, das heroische Standbild des Menschen! Wir sind so hierhergeflogen, wie wir wirklich sind, und wenn die andere Seite uns diese Wahrheit zeigt, diesen Teil von ihr, den wir verschweigen, – dann können wir das nicht hinnehmen!
Stanislaw Lem – Solaris

Wenn ein Duft gefällt, so versucht man ihn festzuhalten, ihn wiederzufinden; man läßt sich nicht vollständig von ihm berauschen, um ihn analysieren zu können und ihn allmählich in sich aufzunehmen, bis sich der Sinneseindruck durch die bloße Erinnerung wiederherstellen läßt; wenn der Duft wiederkommt, atmet man ihn langsamer, vorsichtiger ein, um auch die feinsten Nuancen zu erfassen. Eine starke Duftwolke steigt einem zu Kopf, hinterläßt jedoch das aufreizende Gefühl von etwas Unfertigem, Unvollendetem. Oder sie läßt einem auf unangenehme Weise den Atem stocken, man möchte sie loswerden, um wieder frei zu atmen, oder aber es ist ein heftiger, zu schnell wieder vergangener Rausch, weil nur das Nervensystem berührt worden ist. Es ist Glück, überwältigt zu werden und nichts mehr zu wissen. Doch noch ein Eckchen Bewußtsein zu haben, das immer weiß, was geschieht, und das durch dieses Wissen dem gesamten intellektuellen, vernünftigen Wesen erlaubt, in jeder Sekunde an dem gegenwärtigen Glück teilzuhaben, dieses Eckchen Bewußtsein zu haben, das die Entwicklung der Freude langsam nachvollzieht, das ihr bis an die äußersten Enden folgt, ist das nicht auch Glück? Es gibt ein Eckchen, das nicht mitschwingt, doch dieses Eckchen bleibt Zeuge der erlebten Freude – das, was sich erinnert und sagen kann: Ich bin glücklich gewesen und ich weiß warum. Ich will gerne den Kopf verlieren, aber ich will den Augenblick begreifen, da ich den Kopf verliere, und die Erkenntnis des abdankenden Bewußtseins soweit wie möglich treiben. Man soll sein Glück nicht in Abwesenheit erleben.
Marcelle Sauvageot – Fast ganz die Deine

»Ich würde sagen, die Menge an Langeweile, falls Langeweile meßbar ist, ist heute viel größer als früher. Weil die damaligen Berufe, jedenfalls zu einem großen Teil, nicht ohne eine leidenschaftliche Neigung denkbar waren: die Bauern, die ihr Land liebten; mein Großvater, der schöne Tische zauberte; die Schuster, die die Füße aller Dorfbewohner auswendig kannten; die Förster; die Gärtner; ich vermute, sogar die Soldaten töteten damals mit Leidenschaft. Der Sinn des Lebens stand nicht in Frage, er begleitete sie, in ihren Werkstätten, auf ihren Feldern. Jeder Beruf hatte seine eigene Mentalität, seine eigene Seinsweise geschaffen. Ein Arzt dachte anders als ein Bauer, ein Soldat verhielt sich anders als ein Lehrer. Heute sind wir alle gleich, alle durch die gemeinsame Gleichgültigkeit für unsere Arbeit geeint. Diese Gleichgültigkeit ist eine Leidenschaft geworden. Die einzige große kollektive Leidenschaft unserer Zeit.«
Chantal sagte: »Aber sag mir doch: du selbst, als du Skilehrer warst, als du in Zeitschriften über Innenarchitektur geschrieben hast oder später über Medizin, oder als du als Zeichner in einer Tischlerei gearbeitet hast …«
»… ja, das habe ich am liebsten gemacht, aber es ist nicht gelaufen …«
»… oder als du arbeitslos warst und gar nichts getan hast, da hättest du dich doch auch langweilen müssen!«
»Alles hat sich verändert, als ich dich kennengelernt habe. Nicht, weil meine kleinen Arbeiten spannender geworden sind. Sondern weil ich alles, was um mich herum geschieht, in Stoff für unsere Gespräche verwandle.«
»Wir könnten von etwas anderem sprechen!«
»Zwei Menschen, die sich lieben, allein, von der Welt abgeschieden, das ist sehr schön. Aber womit würden sie ihr Tête-à-Tête ausfüllen? So verächtlich die Welt auch sein mag, sie brauchen sie, um miteinander reden zu können.«
Milan Kundera – Die Identität

»Am Ende meines Besuchs im Krankenhaus hat er angefangen, Erinnerungen zu erzählen. Er hat mir ins Gedächtnis gerufen, was ich mit sechzehn gesagt haben muß. In dem Moment habe ich den einzigen Sinn von Freundschaft, wie sie heute praktiziert wird, begriffen. Der Mensch ist auf sie angewiesen, damit sein Gedächtnis funktioniert. Sich an seine Vergangenheit zu erinnern, sie immer bei sich zu haben ist vielleicht die notwendige Voraussetzung dafür, die Integrität seines Ichs zu wahren, wie man so sagt. Damit das Ich nicht schrumpft, damit es sein Volumen behält, müssen die Erinnerungen begossen werden wie Topfblumen, und dieses Gießen erfordert den regelmäßigen Kontakt mit Zeugen der Vergangenheit. Sie sind unser Spiegel; unser Gedächtnis; man verlangt nichts von ihnen, außer daß sie von Zeit zu Zeit diesen Spiegel polieren, damit man sich darin anschauen kann. Aber mich interessiert nicht im geringsten, was ich auf dem Gymnasium gemacht habe! Was ich mir seit meiner frühen Jugend, vielleicht seit meiner Kindheit immer gewünscht habe, war etwas ganz anderes: die Freundschaft als oberster Wert. Ich sage oft: vor die Wahl zwischen der Wahrheit und dem Freund gestellt, wähle ich immer den Freund. Ich sagte es, um zu provozieren, aber ich meinte es ernst. Heute weiß ich, daß diese Maxime archaisch ist. Sie mochte für Achill gelten, den Freund des Patroklos, für Alexandre Dumas’  Musketiere, sogar für Sancho, der trotz all ihrer Zwistigkeiten ein echter Freund seines Herrn war. Aber sie gilt nicht für uns. Ich gehe in meinem Pessimismus so weit, daß ich heute bereit bin, die Wahrheit der Freundschaft vorzuziehen. (…) Die Freundschaft war für mich der Beweis, daß es etwas Stärkeres gibt als die Ideologie, als die Religion, als die Nation. In Dumas’ Roman befinden sich die Freunde oft in gegnerischen Lagern, so daß sie gezwungen sind, gegeneinander zu kämpfen. Aber das ändert nichts an ihrer Freundschaft. Sie helfen einander trotzdem heimlich, listig und setzen sich über die Wahrheit ihres jeweiligen Lagers hinweg. Sie haben die Freundschaft über die Wahrheit, die Sache, die Befehle von oben gestellt, über den König, über die Königin, über alles.«
Milan Kundera – Die Identität

»Vergiß nicht, ich habe zwei Gesichter. Ich habe gelernt, eine gewisse Freude daran zu haben, aber trotzdem ist es nicht leicht, zwei Gesichter zu haben. Das erfordert Anstrengung, das erfordert Disziplin! Du mußt verstehen, daß ich alles, was ich, gern oder ungern, tue, mit dem Ehrgeiz tue, es gut zu machen. Und sei es nur, um meine Stelle nicht zu verlieren. Es ist sehr schwer, perfekt zu arbeiten und diese Arbeit gleichzeitig zu verachten.«
»Oh, du kannst es, du bist dazu imstande, du bist genial«, sagt Jean-Marc.
»Ja, ich kann zwei Gesichter haben, aber ich kann sie nicht gleichzeitig haben. Bei dir habe ich das Gesicht, das sich lustig macht. Wenn ich im Büro bin, trage ich das seriöse Gesicht. Ich bekomme die Unterlagen der Leute vorgelegt, die sich bei uns um eine Stelle bewerben. Ich muß sie empfehlen oder ein negatives Votum abgeben. Manche drücken sich in ihrem Brief in einer so perfekt modernen Sprache aus, mit all den Klischees, mit dem Jargon, mit dem ganzen obligatorischen Optimismus. Ich brauche sie nicht zu sehen oder mit ihnen zu sprechen, um sie zu verabscheuen. Ich weiß aber, daß sie gut und eifrig arbeiten werden. Und dann gibt es jene, die sich unter anderen Umständen sicherlich der Philosophie, der Kunstgeschichte, dem Französischunterricht gewidmet hätten, heute aber, in Ermangelung von etwas Besserem, fast aus Verzweiflung, suchen sie bei uns Arbeit. Ich weiß, daß sie die Stelle, um die sie sich bewerben, insgeheim verachten und daß sie also meine Brüder sind. Und ich muß entscheiden.«
»Und wie entscheidest du?«
»Einmal empfehle ich den, der mir sympathisch ist, einmal den, der gut arbeiten wird. Ich handle halb als Verräter an meiner Firma, halb als Verräter an mir selbst. Ich bin ein doppelter Verräter. Und diesen doppelten Verrat betrachte ich nicht als Niederlage, sondern als tolle Leistung. Wie lange denn werde ich noch in der Lage sein, meine zwei Gesichter zu wahren? Das ist sehr anstrengend. Der Tag wird kommen, an dem ich nur ein einziges Gesicht haben werde. Das schlechtere von beiden natürlich. Das seriöse. Das zustimmende. Wirst du mich dann noch lieben?«
Milan Kundera – Die Identität

Es stimmt, daß ich ungeschickt bin; ich kann keine Gefühle ausdrücken; kaum habe ich ein paar Worte dazu gesagt, mache ich mich über mich selber lustig, mache ich mich über den anderen lustig, zerstöre ich die ganze Wirkung durch einen ironischen Satz. Es ist ein Mißtrauen gegen mich selbst; ich staune, mich meine Empfindungen preisgeben zu hören, wie alle anderen es tun. Ich höre mir zu, als wäre es jemand anderes, der da spricht, und glaube, nicht mehr aufrichtig zu sein; durch die Worte erscheinen mir meine Gefühle aufgeblasen und fremd. Ich meine dann, man wird mich belächeln wie ein kleines Mädchen, das von Dingen spricht, die es nicht kennt. Es ist nicht möglich, daß ich es bin, die sagt: Ich liebe Sie. Wenn man mir nun glaubte, und ich hätte mich getäuscht! Also muß ich meine Sätze immer mit einer Pirouette beenden, die zu sagen scheint: «Sie lieben mich, da Sie es mir ja sagen; wenn ich jedoch liebe, wie ich es tue, fürchte ich, das ist so nicht richtig – gewiß können alle anderen besser lieben und es besser sagen als ich.» Ich habe Angst, eines Tages zu entdecken, daß ich nicht liebe, und lasse schon im voraus Zweifel an meinen Gefühlen entstehen, da ich befürchte, man könnte mir am Ende Unaufrichtigkeit vorwerfen; also male ich mir tausenderlei Umstände aus, in denen meine Liebe vermutlich nicht ausreichen würde. Ich behaupte, ich würde nicht treu sein, dabei verwehre ich es jedem anderen, mich ins Theater zu begleiten oder mir die Fingerspitzen zu küssen, um demjenigen, dem ich gesagt habe, ich liebte ihn nicht, nicht zu mißfallen, und sei es nur in Gedanken. Indem ich also leugne, daß mein Herz liebt, binde ich mich stärker als derjenige, der mir sagt: Ich liebe dich.
Ich wünschte, man würde mich durchschauen; doch man sieht nur die Pirouetten und die Ironie.
Marcelle Sauvageot – Fast ganz die Deine