Den­ken heißt zer­stö­ren. Der Denk­vor­gang opfert den Gedan­ken, denn Den­ken heißt aus­ein­an­der­neh­men. Könn­ten die Men­schen das Geheim­nis des Lebens sin­nend erfah­ren, könn­ten sie die tau­send Ver­stri­ckun­gen erah­nen, die der See­le bei der gerings­ten Regung dro­hen, sie wür­den nicht einen Fin­ger rüh­ren, geschwei­ge­denn leben. Sie wür­den vor Schreck ver­ge­hen, wie all jene, die Selbst­mord bege­hen, um nicht anderen­tags unter der Guil­lo­ti­ne zu enden.
(Fer­nan­do Pes­soa – Das Buch der Unruhe)

Dei­ne Schwä­chen gehö­ren mir. Ich habe Dich uner­müd­lich beob­ach­tet und sie nach und nach ent­deckt. Ich lei­de dar­un­ter, daß Du sie hast, aber ich wür­de nicht wol­len, daß Du Dich änderst. Ich erwäh­ne sie Dir gegen­über manch­mal mit einem Lächeln. Ich möch­te Dich nicht krän­ken, Dir auch kei­ne Rat­schlä­ge geben. Ich möch­te, daß Du weißt, was ich weiß; und ich wünsch­te, statt zu ver­su­chen, Dich anders zu geben, als Du bist, wür­dest Du mir all Dei­ne klei­nen Häß­lich­kei­ten zei­gen. Ich wür­de sie lie­ben, denn sie wären ganz mein. Die ande­ren wür­den sie nicht ken­nen, und dadurch wären wir außer­halb der Welt ver­bun­den. Nichts ist lie­bens­wer­ter als die Schwä­chen und Feh­ler: Durch sie dringt man zur See­le des gelieb­ten Men­schen vor, der See­le, die sich in dem Wunsch, wie alle ande­ren zu erschei­nen, stän­dig ver­birgt. Es ist wie bei einem Gesicht. Die ande­ren sehen nur ein Gesicht; doch man selbst weiß, an wel­cher Stel­le genau die Kur­ve der Nase, statt ihre idea­le Linie fort­zu­set­zen, unmerk­lich bricht, um eine gewöhn­li­che Nase zu bil­den; man weiß, daß die Poren der Haut aus der Nähe grob und schwarz sind; man hat den Fleck in den Augen gefun­den, der mit­un­ter den Blick erlö­schen läßt, und den Mil­li­me­ter zuviel, den die Lip­pe auf­weist, um noch vor­nehm zu sein. Die­se klei­nen Makel möch­te man lie­ber küs­sen als das Voll­kom­me­ne, weil sie so arm sind und gera­de sie es aus­ma­chen, daß die­ses Gesicht nicht das eines ande­ren ist.
Mar­cel­le Sau­va­geot – Fast ganz die Deine

Die moder­ne Geschich­te hat, den­ke ich, hin­rei­chend bewie­sen, dass jeder Mensch, oder fast jeder, unter gewis­sen Vor­aus­set­zun­gen das tut, was man ihm sagt; und, ver­zeiht mir, die Wahr­schein­lich­keit ist gering, dass ihr die Aus­nah­me seid – so wenig wie ich. Wenn ihr in einem Land und in einer Zeit gebo­ren seid, wo nicht nur nie­mand kommt, um eure Frau und eure Kin­der zu töten, son­dern auch nie­mand, um von euch zu ver­lan­gen, dass ihr die Frau­en und Kin­der ande­rer tötet, dann dan­ket Gott und zie­het hin in Frie­den. Aber bedenkt immer das eine: Ihr habt viel­leicht mehr Glück gehabt als ich, doch ihr seid nicht bes­ser. Denn soll­tet ihr so ver­mes­sen sein, euch dafür zu hal­ten, seid ihr bereits in Gefahr. Gern stel­len wir dem Staat – ob er tota­li­tär ist oder nicht – den gewöhn­li­chen Men­schen gegen­über, die Laus oder das klei­ne Licht. Dabei ver­ges­sen wir jedoch, dass der Staat aus Men­schen besteht, mehr oder weni­ger gewöhn­li­chen Men­schen, ein jeder mit sei­nem Leben, sei­ner Geschich­te, jeder mit sei­ner Ver­ket­tung von Zufäl­len, die dafür gesorgt haben, dass er sich eines Tages auf der rich­ti­gen Sei­te des Gewehrs oder Doku­ments wie­der­fin­det, wäh­rend ande­re auf der fal­schen ste­hen. Die­ser Gang der Ereig­nis­se ist in den sel­tens­ten Fäl­len das Ergeb­nis einer Ent­schei­dung oder gar einer cha­rak­ter­li­chen Ver­an­la­gung. Und die Opfer sind in der über­wie­gen­den Mehr­zahl der Fäl­le nicht des­halb gefol­tert oder getö­tet wor­den, weil sie gut waren, eben­so wenig wie ihre Pei­ni­ger sie aus Bos­heit gequält haben. Das zu glau­ben wäre reich­lich naiv; man braucht sich nur in einer belie­bi­gen Büro­kra­tie umzu­se­hen, und sei es die des Roten Kreu­zes, um sich davon zu über­zeu­gen. (…) Die Maschi­ne­rie des Staa­tes nun ist aus dem glei­chen Sand geba­cken wie das, was sie Korn für Korn zu Staub zer­mahlt. Es gibt sie, weil alle damit ein­ver­stan­den sind, dass es sie gibt, sogar – und häu­fig bis zum letz­ten Atem­zug – ihre Opfer. Ohne die Höß, Eich­manns, Goglid­zes, Wysch­in­skis, aber auch ohne die Wei­chen­stel­ler, die Beton­fa­bri­kan­ten und die Buch­hal­ter in den Minis­te­ri­en wäre ein Sta­lin oder ein Hit­ler nur einer jener von Hass und ohn­mäch­ti­gen Gewalt­fan­ta­sien auf­ge­bläh­ten Säcke gewesen.
Jona­than Lit­tell – Die Wohlgesinnten

Man kann jah­re­lang in ner­vö­ser Hast in der Stadt leben, es rui­niert zwar die Ner­ven, aber man kann es lan­ge Zeit durch­hal­ten. Doch kein Mensch kann län­ger als ein paar Mona­te in ner­vö­ser Hast berg­stei­gen, Erd­äp­fel ein­le­gen, holz­ha­cken oder mähen. Das ers­te Jahr, in dem ich mich noch nicht ange­paßt hat­te, war weit über mei­ne Kräf­te gegan­gen, und ich wer­de mich von die­sen Arbeits­exzes­sen nie ganz erho­len. Unsin­ni­ger­wei­se hat­te ich mir auf jeden der­ar­ti­gen Rekord auch noch etwas ein­ge­bil­det. Heu­te gehe ich sogar vom Haus zum Stall in einem geruh­sa­men Wäld­ler­trab. Der Kör­per bleibt ent­spannt, und die Augen haben Zeit zu schau­en. Einer, der rennt, kann nicht schau­en. In mei­nem frü­he­ren Leben führ­te mich mein Weg jah­re­lang an einem Platz vor­bei, auf dem eine alte Frau die Tau­ben füt­ter­te. Ich moch­te Tie­re immer gern, und jenen, heu­te längst ver­stei­ner­ten Tau­ben gehör­te mein gan­zes Wohl­wol­len, und doch kann ich nicht eine von ihnen beschrei­ben. Ich weiß nicht ein­mal, wel­che Far­be ihre Augen und ihre Schnä­bel hat­ten. Ich weiß es ein­fach nicht, und ich glau­be, das sagt genug dar­über aus, wie ich mich durch die Stadt zu bewe­gen pfleg­te. Seit ich lang­sa­mer gewor­den bin, ist der Wald um mich erst leben­dig gewor­den. Ich möch­te nicht sagen, daß dies die ein­zi­ge Art zu leben ist, für mich ist sie aber gewiß die ange­mes­se­ne. Und was muß­te alles gesche­hen, ehe ich zu ihr fin­den konn­te. Frü­her war ich immer irgend­wo­hin unter­wegs, immer in gro­ßer Eile und erfüllt von einer rasen­den Unge­duld, denn über­all, wo ich anlang­te, muß­te ich erst ein­mal lan­ge war­ten. Ich hät­te eben­so­gut den gan­zen Weg dahin­schlei­chen kön­nen. Manch­mal erkann­te ich mei­nen Zustand und den Zustand unse­rer Welt ganz klar, aber ich war nicht fähig, aus die­sem ungu­ten Leben aus­zu­bre­chen. Die Lan­ge­wei­le, unter der ich oft litt, war die Lan­ge­wei­le eines bie­de­ren Rosen­züch­ters auf einem Kon­greß der Auto­fa­bri­kan­ten. Fast mein gan­zes Leben lang befand ich mich auf einem der­ar­ti­gen Kon­greß, und es wun­dert mich, daß ich nicht eines Tages vor Über­druß tot umge­fal­len bin.
Hier, im Wald, bin ich eigent­lich auf dem mir ange­mes­se­nen Platz. Ich tra­ge den Auto­fa­bri­kan­ten nichts nach, sie sind ja längst nicht mehr inter­es­sant. Aber wie sie mich alle gequält haben mit Din­gen, die mir zuwi­der waren. Ich hat­te nur die­ses eine klei­ne Leben, und sie lie­ßen es mich nicht in Frie­den leben.
Mar­len Haus­ho­fer – Die Wand

Wir bre­chen in den Kos­mos auf, wir sind auf alles vor­be­rei­tet, das heißt, auf die Ein­sam­keit, auf den Kampf, auf Mar­ty­ri­um und Tod. Aus Beschei­den­heit spre­chen wir es nicht laut aus, aber wir den­ken uns manch­mal, daß wir groß­ar­tig sind. Indes­sen, indes­sen ist das nicht alles, und unse­re Bereit­schaft erweist sich als Thea­ter. Wir wol­len gar nicht den Kos­mos erobern, wir wol­len nur die Erde bis an sei­ne Gren­zen erwei­tern. Die einen Pla­ne­ten haben voll Wüs­te zu sein, wie die Saha­ra, die ande­ren eisig wie der Pol oder tro­pisch wie der bra­si­lia­ni­sche Urwald. Wir sind huma­ni­tär und edel, wir wol­len die ande­ren Ras­sen nicht unter­wer­fen, wir wol­len ihnen nur unse­re Wer­te über­mit­teln und, als Gegen­ga­be, ihrer aller Erbe anneh­men. Wir hal­ten uns für die Rit­ter vom hei­li­gen Kon­takt. Das ist die zwei­te Lüge. Men­schen suchen wir, nie­man­den sonst. Wir brau­chen kei­ne ande­ren Wel­ten. Wir brau­chen Spie­gel. Mit ande­ren Wel­ten wis­sen wir nichts anzu­fan­gen. Es genügt unse­re eine, und schon ersti­cken wir an ihr. Wir wol­len das eige­ne idea­li­sier­te Bild fin­den; die­se Glo­ben, die­se Zivi­li­sa­tio­nen haben voll­kom­me­ner zu sein als die unse­re, in ande­ren wie­der­um hof­fen wir das Abbild unse­rer pri­mi­ti­ven Ver­gan­gen­heit zu fin­den. Indes­sen ist auf der ande­ren Sei­te etwas, was wir nicht akzep­tie­ren, woge­gen wir uns weh­ren, und schließ­lich haben wir von der Erde nicht nur das pure Destil­lat aus lau­ter Tugen­den mit­ge­bracht, das heroi­sche Stand­bild des Men­schen! Wir sind so hier­her­ge­flo­gen, wie wir wirk­lich sind, und wenn die ande­re Sei­te uns die­se Wahr­heit zeigt, die­sen Teil von ihr, den wir ver­schwei­gen, – dann kön­nen wir das nicht hinnehmen!
Sta­nis­law Lem – Solaris

Wenn ein Duft gefällt, so ver­sucht man ihn fest­zu­hal­ten, ihn wie­der­zu­fin­den; man läßt sich nicht voll­stän­dig von ihm berau­schen, um ihn ana­ly­sie­ren zu kön­nen und ihn all­mäh­lich in sich auf­zu­neh­men, bis sich der Sin­nes­ein­druck durch die blo­ße Erin­ne­rung wie­der­her­stel­len läßt; wenn der Duft wie­der­kommt, atmet man ihn lang­sa­mer, vor­sich­ti­ger ein, um auch die feins­ten Nuan­cen zu erfas­sen. Eine star­ke Duft­wol­ke steigt einem zu Kopf, hin­ter­läßt jedoch das auf­rei­zen­de Gefühl von etwas Unfer­ti­gem, Unvoll­ende­tem. Oder sie läßt einem auf unan­ge­neh­me Wei­se den Atem sto­cken, man möch­te sie los­wer­den, um wie­der frei zu atmen, oder aber es ist ein hef­ti­ger, zu schnell wie­der ver­gan­ge­ner Rausch, weil nur das Ner­ven­sys­tem berührt wor­den ist. Es ist Glück, über­wäl­tigt zu wer­den und nichts mehr zu wis­sen. Doch noch ein Eck­chen Bewußt­sein zu haben, das immer weiß, was geschieht, und das durch die­ses Wis­sen dem gesam­ten intel­lek­tu­el­len, ver­nünf­ti­gen Wesen erlaubt, in jeder Sekun­de an dem gegen­wär­ti­gen Glück teil­zu­ha­ben, die­ses Eck­chen Bewußt­sein zu haben, das die Ent­wick­lung der Freu­de lang­sam nach­voll­zieht, das ihr bis an die äußers­ten Enden folgt, ist das nicht auch Glück? Es gibt ein Eck­chen, das nicht mit­schwingt, doch die­ses Eck­chen bleibt Zeu­ge der erleb­ten Freu­de – das, was sich erin­nert und sagen kann: Ich bin glück­lich gewe­sen und ich weiß war­um. Ich will ger­ne den Kopf ver­lie­ren, aber ich will den Augen­blick begrei­fen, da ich den Kopf ver­lie­re, und die Erkennt­nis des abdan­ken­den Bewußt­seins soweit wie mög­lich trei­ben. Man soll sein Glück nicht in Abwe­sen­heit erleben.
Mar­cel­le Sau­va­geot – Fast ganz die Deine

»Ich wür­de sagen, die Men­ge an Lan­ge­wei­le, falls Lan­ge­wei­le meß­bar ist, ist heu­te viel grö­ßer als frü­her. Weil die dama­li­gen Beru­fe, jeden­falls zu einem gro­ßen Teil, nicht ohne eine lei­den­schaft­li­che Nei­gung denk­bar waren: die Bau­ern, die ihr Land lieb­ten; mein Groß­va­ter, der schö­ne Tische zau­ber­te; die Schus­ter, die die Füße aller Dorf­be­woh­ner aus­wen­dig kann­ten; die Förs­ter; die Gärt­ner; ich ver­mu­te, sogar die Sol­da­ten töte­ten damals mit Lei­den­schaft. Der Sinn des Lebens stand nicht in Fra­ge, er beglei­te­te sie, in ihren Werk­stät­ten, auf ihren Fel­dern. Jeder Beruf hat­te sei­ne eige­ne Men­ta­li­tät, sei­ne eige­ne Seins­wei­se geschaf­fen. Ein Arzt dach­te anders als ein Bau­er, ein Sol­dat ver­hielt sich anders als ein Leh­rer. Heu­te sind wir alle gleich, alle durch die gemein­sa­me Gleich­gül­tig­keit für unse­re Arbeit geeint. Die­se Gleich­gül­tig­keit ist eine Lei­den­schaft gewor­den. Die ein­zi­ge gro­ße kol­lek­ti­ve Lei­den­schaft unse­rer Zeit.«
Chan­tal sag­te: »Aber sag mir doch: du selbst, als du Ski­leh­rer warst, als du in Zeit­schrif­ten über Innen­ar­chi­tek­tur geschrie­ben hast oder spä­ter über Medi­zin, oder als du als Zeich­ner in einer Tisch­le­rei gear­bei­tet hast …«
»… ja, das habe ich am liebs­ten gemacht, aber es ist nicht gelaufen …«
»… oder als du arbeits­los warst und gar nichts getan hast, da hät­test du dich doch auch lang­wei­len müssen!«
»Alles hat sich ver­än­dert, als ich dich ken­nen­ge­lernt habe. Nicht, weil mei­ne klei­nen Arbei­ten span­nen­der gewor­den sind. Son­dern weil ich alles, was um mich her­um geschieht, in Stoff für unse­re Gesprä­che verwandle.«
»Wir könn­ten von etwas ande­rem sprechen!«
»Zwei Men­schen, die sich lie­ben, allein, von der Welt abge­schie­den, das ist sehr schön. Aber womit wür­den sie ihr Tête-à-Tête aus­fül­len? So ver­ächt­lich die Welt auch sein mag, sie brau­chen sie, um mit­ein­an­der reden zu können.«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

»Am Ende mei­nes Besuchs im Kran­ken­haus hat er ange­fan­gen, Erin­ne­run­gen zu erzäh­len. Er hat mir ins Gedächt­nis geru­fen, was ich mit sech­zehn gesagt haben muß. In dem Moment habe ich den ein­zi­gen Sinn von Freund­schaft, wie sie heu­te prak­ti­ziert wird, begrif­fen. Der Mensch ist auf sie ange­wie­sen, damit sein Gedächt­nis funk­tio­niert. Sich an sei­ne Ver­gan­gen­heit zu erin­nern, sie immer bei sich zu haben ist viel­leicht die not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung dafür, die Inte­gri­tät sei­nes Ichs zu wah­ren, wie man so sagt. Damit das Ich nicht schrumpft, damit es sein Volu­men behält, müs­sen die Erin­ne­run­gen begos­sen wer­den wie Topf­blu­men, und die­ses Gie­ßen erfor­dert den regel­mä­ßi­gen Kon­takt mit Zeu­gen der Ver­gan­gen­heit. Sie sind unser Spie­gel; unser Gedächt­nis; man ver­langt nichts von ihnen, außer daß sie von Zeit zu Zeit die­sen Spie­gel polie­ren, damit man sich dar­in anschau­en kann. Aber mich inter­es­siert nicht im gerings­ten, was ich auf dem Gym­na­si­um gemacht habe! Was ich mir seit mei­ner frü­hen Jugend, viel­leicht seit mei­ner Kind­heit immer gewünscht habe, war etwas ganz ande­res: die Freund­schaft als obers­ter Wert. Ich sage oft: vor die Wahl zwi­schen der Wahr­heit und dem Freund gestellt, wäh­le ich immer den Freund. Ich sag­te es, um zu pro­vo­zie­ren, aber ich mein­te es ernst. Heu­te weiß ich, daß die­se Maxi­me archa­isch ist. Sie moch­te für Achill gel­ten, den Freund des Patro­klos, für Alex­and­re Dumas‘ Mus­ke­tie­re, sogar für Sancho, der trotz all ihrer Zwis­tig­kei­ten ein ech­ter Freund sei­nes Herrn war. Aber sie gilt nicht für uns. Ich gehe in mei­nem Pes­si­mis­mus so weit, daß ich heu­te bereit bin, die Wahr­heit der Freund­schaft vor­zu­zie­hen. (…) Die Freund­schaft war für mich der Beweis, daß es etwas Stär­ke­res gibt als die Ideo­lo­gie, als die Reli­gi­on, als die Nati­on. In Dumas‘ Roman befin­den sich die Freun­de oft in geg­ne­ri­schen Lagern, so daß sie gezwun­gen sind, gegen­ein­an­der zu kämp­fen. Aber das ändert nichts an ihrer Freund­schaft. Sie hel­fen ein­an­der trotz­dem heim­lich, lis­tig und set­zen sich über die Wahr­heit ihres jewei­li­gen Lagers hin­weg. Sie haben die Freund­schaft über die Wahr­heit, die Sache, die Befeh­le von oben gestellt, über den König, über die Köni­gin, über alles.«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

»Ver­giß nicht, ich habe zwei Gesich­ter. Ich habe gelernt, eine gewis­se Freu­de dar­an zu haben, aber trotz­dem ist es nicht leicht, zwei Gesich­ter zu haben. Das erfor­dert Anstren­gung, das erfor­dert Dis­zi­plin! Du mußt ver­ste­hen, daß ich alles, was ich, gern oder ungern, tue, mit dem Ehr­geiz tue, es gut zu machen. Und sei es nur, um mei­ne Stel­le nicht zu ver­lie­ren. Es ist sehr schwer, per­fekt zu arbei­ten und die­se Arbeit gleich­zei­tig zu verachten.«
»Oh, du kannst es, du bist dazu imstan­de, du bist geni­al«, sagt Jean-Marc.
»Ja, ich kann zwei Gesich­ter haben, aber ich kann sie nicht gleich­zei­tig haben. Bei dir habe ich das Gesicht, das sich lus­tig macht. Wenn ich im Büro bin, tra­ge ich das seriö­se Gesicht. Ich bekom­me die Unter­la­gen der Leu­te vor­ge­legt, die sich bei uns um eine Stel­le bewer­ben. Ich muß sie emp­feh­len oder ein nega­ti­ves Votum abge­ben. Man­che drü­cken sich in ihrem Brief in einer so per­fekt moder­nen Spra­che aus, mit all den Kli­schees, mit dem Jar­gon, mit dem gan­zen obli­ga­to­ri­schen Opti­mis­mus. Ich brau­che sie nicht zu sehen oder mit ihnen zu spre­chen, um sie zu ver­ab­scheu­en. Ich weiß aber, daß sie gut und eif­rig arbei­ten wer­den. Und dann gibt es jene, die sich unter ande­ren Umstän­den sicher­lich der Phi­lo­so­phie, der Kunst­ge­schich­te, dem Fran­zö­sisch­un­ter­richt gewid­met hät­ten, heu­te aber, in Erman­ge­lung von etwas Bes­se­rem, fast aus Ver­zweif­lung, suchen sie bei uns Arbeit. Ich weiß, daß sie die Stel­le, um die sie sich bewer­ben, ins­ge­heim ver­ach­ten und daß sie also mei­ne Brü­der sind. Und ich muß entscheiden.«
»Und wie ent­schei­dest du?«
»Ein­mal emp­feh­le ich den, der mir sym­pa­thisch ist, ein­mal den, der gut arbei­ten wird. Ich hand­le halb als Ver­rä­ter an mei­ner Fir­ma, halb als Ver­rä­ter an mir selbst. Ich bin ein dop­pel­ter Ver­rä­ter. Und die­sen dop­pel­ten Ver­rat betrach­te ich nicht als Nie­der­la­ge, son­dern als tol­le Leis­tung. Wie lan­ge denn wer­de ich noch in der Lage sein, mei­ne zwei Gesich­ter zu wah­ren? Das ist sehr anstren­gend. Der Tag wird kom­men, an dem ich nur ein ein­zi­ges Gesicht haben wer­de. Das schlech­te­re von bei­den natür­lich. Das seriö­se. Das zustim­men­de. Wirst du mich dann noch lieben?«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

Es stimmt, daß ich unge­schickt bin; ich kann kei­ne Gefüh­le aus­drü­cken; kaum habe ich ein paar Wor­te dazu gesagt, mache ich mich über mich sel­ber lus­tig, mache ich mich über den ande­ren lus­tig, zer­stö­re ich die gan­ze Wir­kung durch einen iro­ni­schen Satz. Es ist ein Miß­trau­en gegen mich selbst; ich stau­ne, mich mei­ne Emp­fin­dun­gen preis­ge­ben zu hören, wie alle ande­ren es tun. Ich höre mir zu, als wäre es jemand ande­res, der da spricht, und glau­be, nicht mehr auf­rich­tig zu sein; durch die Wor­te erschei­nen mir mei­ne Gefüh­le auf­ge­bla­sen und fremd. Ich mei­ne dann, man wird mich belä­cheln wie ein klei­nes Mäd­chen, das von Din­gen spricht, die es nicht kennt. Es ist nicht mög­lich, daß ich es bin, die sagt: Ich lie­be Sie. Wenn man mir nun glaub­te, und ich hät­te mich getäuscht! Also muß ich mei­ne Sät­ze immer mit einer Pirou­et­te been­den, die zu sagen scheint: «Sie lie­ben mich, da Sie es mir ja sagen; wenn ich jedoch lie­be, wie ich es tue, fürch­te ich, das ist so nicht rich­tig – gewiß kön­nen alle ande­ren bes­ser lie­ben und es bes­ser sagen als ich.» Ich habe Angst, eines Tages zu ent­de­cken, daß ich nicht lie­be, und las­se schon im vor­aus Zwei­fel an mei­nen Gefüh­len ent­ste­hen, da ich befürch­te, man könn­te mir am Ende Unauf­rich­tig­keit vor­wer­fen; also male ich mir tau­sen­der­lei Umstän­de aus, in denen mei­ne Lie­be ver­mut­lich nicht aus­rei­chen wür­de. Ich behaup­te, ich wür­de nicht treu sein, dabei ver­weh­re ich es jedem ande­ren, mich ins Thea­ter zu beglei­ten oder mir die Fin­ger­spit­zen zu küs­sen, um dem­je­ni­gen, dem ich gesagt habe, ich lieb­te ihn nicht, nicht zu miß­fal­len, und sei es nur in Gedan­ken. Indem ich also leug­ne, daß mein Herz liebt, bin­de ich mich stär­ker als der­je­ni­ge, der mir sagt: Ich lie­be dich.
Ich wünsch­te, man wür­de mich durch­schau­en; doch man sieht nur die Pirou­et­ten und die Ironie.
Mar­cel­le Sau­va­geot – Fast ganz die Deine