Nach etwa einem hal­ben Jahr hat­te sie das bit­te­re Gefühl, alle Men­schen ent­täuscht zu haben. Sie hat­te ein Büch­lein voll Adres­sen, aber wag­te nie­mand mehr anzu­ru­fen. Womit hat­te sie alle die­se freund­li­chen Freun­de ent­täuscht? Sie wuß­te es nicht, sie erfuhr es nicht. Es bedrück­te sie ernst­haft. Indes­sen, und dies ver­wirr­te Sibyl­le noch mehr, hat­te sie über­haupt nichts ver­scherzt, ganz und gar nicht; traf man sich zufäl­lig, tön­te es genau wie beim ersten­mal: Hal­lo Sibyl­le! und auf der andern Sei­te war kei­ne Spur von Ent­täu­schung. All die­se offe­nen und so selbst­ver­ständ­li­chen Leu­te, schien es, erwar­te­ten nicht mehr von einer mensch­li­chen Bezie­hung; sie brauch­te nicht wei­ter­zu­wach­sen, die­se so freund­li­che Bezie­hung. Und das war für Sibyl­le wohl das Trau­ri­ge; nach zwan­zig Minu­ten ist man mit die­sen Men­schen so weit wie nach einem hal­ben Jahr, wie nach vie­len Jah­ren, es kommt nichts mehr hin­zu. Es bleibt bei dem offen­her­zi­gen Wunsch, daß es dem andern wohl­erge­he. Man ist befreun­det, um es in irgend­ei­ner Wei­se nett zu haben, und im übri­gen gibt es ja Psych­ia­ter, so etwas wie Gara­gis­ten für Innen­le­ben, wenn einer Defek­te hat und nicht sel­ber fli­cken kann. Jeden­falls soll man nicht sei­ne Freun­de mit einer trau­ri­gen Geschich­te belas­ten; sie haben dann auch, in der Tat, nichts zu lie­fern als einen eben­so all­ge­mei­nen wie unver­bind­li­chen Optimismus.
(Max Frisch – Stiller)

Es gibt aller­lei Arten, einen Men­schen zu mor­den oder wenigs­tens sei­ne See­le, und das merkt kei­ne Poli­zei der Welt. Dazu genügt ein Wort, eine Offen­heit im rech­ten Augen­blick. Dazu genügt ein Lächeln. Ich möch­te den Men­schen sehen, der nicht durch Lächeln umzu­brin­gen ist oder durch Schwei­gen. Alle die­se Mor­de, ver­steht sich, voll­zie­hen sich lang­sam. Haben Sie sich nie über­legt (…), war­um die aller­meis­ten Leu­te so viel Inter­es­se haben an einem rich­ti­gen Mord, an einem sicht­ba­ren und nach­weis­ba­ren Mord? Das ist doch ganz klar: weil wir für gewöhn­lich unse­re täg­li­chen Mor­de nicht sehen. Da ist es doch eine Erleich­te­rung, wenn es ein­mal knallt, wenn Blut rinnt oder wenn einer an rich­ti­gem Gift ver­en­det, nicht bloß am Schwei­gen sei­ner Frau. Das ist ja das Groß­ar­ti­ge an frü­he­ren Zeit­al­tern, bei­spiels­wei­se an der Renais­sance, daß die mensch­li­chen Cha­rak­te­re sich noch in Hand­lung offen­bar­ten; heut­zu­ta­ge ist alles verinnerlicht…
(Max Frisch – Stiller)

Kann man schrei­ben, ohne eine Rol­le zu spie­len? Man will sich selbst ein Frem­der sein. Nicht in der Rol­le, wohl aber in der unbe­wuß­ten Ent­schei­dung, wel­che Art von Rol­le ich mir zuschrei­be, liegt mei­ne Wirk­lich­keit. Zuwei­len habe ich das Gefühl, man gehe aus dem Geschrie­be­nen her­vor wie eine Schlan­ge aus ihrer Haut. Das ist es; man kann sich nicht nie­der­schrei­ben, man kann sich nur häu­ten. Aber wen soll die­se tote Haut noch inter­es­sie­ren! Die immer wie­der ein­mal auf­tau­chen­de Fra­ge, ob denn der Leser jemals etwas ande­res zu lesen ver­mö­ge als sich selbst, erüb­rigt sich: Schrei­ben ist nicht Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Lesern, auch nicht Kom­mu­ni­ka­ti­on mit sich selbst, son­dern Kom­mu­ni­ka­ti­on mit dem Unaus­sprech­li­chen. Je genau­er man sich aus­zu­spre­chen ver­möch­te, um so rei­ner erschie­ne das Unaus­sprech­li­che, das heißt die Wirk­lich­keit, die den Schrei­ber bedrängt und bewegt. Wir haben die Spra­che, um stumm zu wer­den. Wer schweigt, ist nicht stumm. Wer schweigt, hat nicht ein­mal eine Ahnung, wer er nicht ist.
(Max Frisch – Stiller)

Wer Geld ver­die­nen muß, kriegt Angst und ver­blö­det. Kin­der dage­gen haben zwar noch kei­ne Angst, kön­nen aber auch noch nicht den­ken. Fünf kur­ze Jah­re zwi­schen dem 13. und dem 18. Lebens­jahr – mehr Zeit läßt uns die über Lohn­ar­beit ver­ge­sell­schaf­te­te Zivi­li­sa­ti­on nicht, den Ver­stand aus­zu­pro­bie­ren und zu ent­wi­ckeln, und aus­ge­rech­net in die­ser Pha­se bringt dann der Sexu­al­krem­pel alles durch­ein­an­der. Das ist so tra­gisch, wie es wit­zig ist.
(Diet­mar Dath)

Er lebt stets in Erwar­tun­gen. Er liebt es, alles in der Schwe­be zu las­sen. Er gehört zu den Men­schen, denen über­all, wo sie sich befin­den, zwang­haft ein­fällt, wie schön es jetzt auch anders­wo sein möch­te. Er flieht das Hier-und-Jetzt zumin­dest inner­lich. Er mag den Som­mer nicht, über­haupt kei­nen Zustand der Gegen­wär­tig­keit, liebt den Herbst, die Däm­me­rung, die Melan­cho­lie, Ver­gäng­lich­keit ist sein Ele­ment. Frau­en haben bei ihm leicht das Gefühl, ver­stan­den zu wer­den. Er hat wenig Freun­de unter Män­nern. Unter Män­nern kommt er sich nicht als Mann vor. Aber in sei­ner Grund­angst, nicht zu genü­gen, hat er eigent­lich auch Angst vor den Frau­en. Er erobert mehr, als er zu hal­ten ver­mag, und wenn die Part­ne­rin ein­mal sei­ne Gren­ze erspürt hat, ver­liert er jeden Mut; er ist nicht bereit, nicht imstan­de, geliebt zu wer­den als der Mensch, der er ist, und daher ver­nach­läs­sigt er unwill­kür­lich jede Frau, die ihn wahr­haft liebt, denn näh­me er ihre Lie­be wirk­lich ernst, so wäre er ja genö­tigt, infol­ge­des­sen sich selbst anzunehmen.
(Max Frisch – Stiller)

Man kann im Prenz­lau­er Berg ein­fach im lin­ken Habi­tus wei­ter­le­ben. Das ist ja das Schö­ne. Man kann sich tole­rant füh­len, weil Tole­ranz nicht auf die Pro­be gestellt wird. (…) Der Schrift­stel­ler Maxim Bil­ler nennt den Prenz­lau­er Berg mitt­ler­wei­le iro­nisch eine »natio­nal befrei­te Zone«.

Der Prenz­lau­er Berg wirkt vie­ler­orts, als habe es nie so etwas wie eine Unter­schich­ten­de­bat­te gege­ben, ein Demo­gra­fie­pro­blem, Migra­ti­on. Hier herrscht der Bio­na­de-Bie­der­mei­er. Die 100000 Zuge­zo­ge­nen haben eine neue Stadt geschaf­fen, doch wem kommt die­se zivi­li­sa­to­ri­sche Leis­tung zugu­te, außer ihnen selbst? Ihr Prenz­lau­er Berg ist ein Ghet­to, das ohne Zaun aus­kommt – weil es auch ohne zuneh­mend her­me­tisch wirkt. Die Zuwan­de­rung wird über den Preis pro Qua­drat­me­ter gesteu­ert und über den enor­men Anpas­sungs­auf­wand, dem man sich hier leicht aus­setzt. Wer nicht das Rich­ti­ge isst, trinkt, trägt, hat schnell das Gefühl, der Fal­sche für die­sen Ort zu sein. Man glaubt so offen zu sein und hat sich eingeschlossen.

Zwar ist Milieu­bil­dung ein nor­ma­les sozia­les Phä­no­men, welt­weit sor­tie­ren sich die Men­schen nach Lebens­stil, Bil­dung, Ver­mö­gen – das Beson­de­re am Prenz­lau­er Berg aber ist, dass er nicht wahr­ha­ben will, dass er ganz anders ist, als er zu sein glaubt.
(Hen­ning Suß­e­bach bei ZEIT Online)

Wie Chris­ti­an Ulmen es so tref­fend auf den Punkt gebracht hat:

Die Defi­ni­ti­on von Spie­ßig­keit ist für mich, sobald jemand nicht in der Lage ist, über sei­nen Tel­ler­rand hin­aus­zu­schau­en. Wenn jemand into­le­rant ist und ande­res nicht zulässt, ist er ein Spie­ßer. Das ist der Haus­meis­ter, der nicht will, dass man drau­ßen Fuß­ball gegen die Gara­gen­to­re spielt, weil es so laut ist. Oder die Oma, die sich wahn­sin­nig dar­über auf­regt, weil ein Pun­ker einen Iro­ke­sen­haar­schnitt hat, weil sich das nicht anschickt. Das Leben der ande­ren nicht zu akzep­tie­ren – das ist spie­ßig, mei­ne ich.
(Chris­ti­an Ulmen bei Spie­gel Online)

Geliebt wirst du ein­zig, wo du schwach dich zei­gen darfst, ohne Stär­ke zu provozieren.
(Theo­dor W. Ador­no – Mini­ma Moralia)

»Ich habe einen Mann gekannt«, sage ich, »einen andern, der nicht ins Irren­haus kam«, sage ich, »obschon er ganz und gar in sei­ner Ein­bil­dung leb­te.« Ich rau­che. »Er bil­de­te sich ein, ein Pech­vo­gel zu sein, ein red­li­cher, aber von kei­nem Glück begüns­tig­ter Mann. Wir alle hat­ten Mit­leid mit ihm. Kaum hat­te er etwas erspart, kam die Abwer­tung. Und so ging’s immer. Kein Zie­gel fiel vom Dach, wenn er nicht vor­bei­ging. Die Erfin­dung, ein Pech­vo­gel zu sein, ist eine der belieb­tes­ten, denn sie ist bequem. Kein Monat ver­ging für die­sen Mann, ohne daß er Grund hat­te zu kla­gen, kei­ne Woche, kaum ein Tag. Wer ihn eini­ger­ma­ßen kann­te, hat­te Angst zu fra­gen: Wie geht’s? Dabei klag­te er nicht eigent­lich, lächel­te bloß über sein sagen­haf­tes Pech. Und in der Tat, es stieß ihm immer etwas zu, was den andern erspart bleibt. Ein­fach Pech, es war nicht zu leug­nen, im gro­ßen wie im klei­nen. Dabei trug er’s tap­fer«, sage ich und rau­che, »- bis das Wun­der geschah.« Ich rau­che und war­te, bis der Bar­mann, haupt­säch­lich mit sei­nen Glä­sern beschäf­tigt, sich bei­läu­fig nach der Art des Wun­ders erkun­digt hat. »Es war ein Schlag für ihn«, sage ich, »ein rich­ti­ger Schlag, als die­ser Mann das Gro­ße Los gewann. Es stand in der Zei­tung, und so konn­te er’s nicht leug­nen. Als ich ihn auf der Stra­ße traf, war er bleich, fas­sungs­los, er zwei­fel­te nicht an sei­ner Erfin­dung, ein Pech­vo­gel zu sein, son­dern an der Lot­te­rie, ja, an der Welt über­haupt. Es war nicht zum Lachen, man muß­te ihn gera­de­zu trös­ten. Ver­geb­lich. Er konn­te es nicht fas­sen, daß er kein Pech­vo­gel sei, woll­te es nicht fas­sen und war so ver­wirrt, daß er, als er von der Bank kam, tat­säch­lich sei­ne Brief­ta­sche ver­lor. Und ich glau­be, es war ihm lie­ber so«, sage ich, »andern­falls hät­te er sich ja ein ande­res Ich erfin­den müs­sen, der Gute, er könn­te sich nicht mehr als Pech­vo­gel sehen. Ein ande­res Ich, das ist kost­spie­li­ger als der Ver­lust einer vol­len Brief­ta­sche, ver­steht sich, er müß­te die gan­ze Geschich­te sei­nes Lebens auf­ge­ben, alle Vor­komm­nis­se noch ein­mal erle­ben, und zwar anders, da sie nicht mehr zu sei­nem Ich pas­sen -« Ich trin­ke. »Kurz dar­auf betrog ihn auch noch sei­ne Frau«, sage ich, »der Mann tat mir leid, er war wirk­lich ein Pechvogel.«
(Max Frisch – Mein Name sei Gantenbein)

Wich­tig ist nicht, wie gut man Schwie­rig­kei­ten aus dem Weg gehen kann, son­dern wie man mit ihnen fer­tig wird, wenn sie einen ereilen.
(Paul Aus­ter – Das Buch der Illusionen)

Sie hat­te jetzt Arbeit, sie hat­te eine Woh­nung, sie hat­te, in gewis­ser Wei­se, ein Leben. Sie hat­te sich ein Leben für sich ent­wor­fen. Zwar war es nicht so, wie sie es sich ein­mal vor­ge­stellt hat­te. Als sie auf ihren Abschluss hin­ar­bei­te­te an der tol­len Uni­ver­si­tät, die jede als zukünf­ti­ge Welt­herr­sche­rin ver­las­sen woll­te, hät­te sie sich nie träu­men las­sen, dass sie ein­mal so enden wür­de (…). Aber ver­mut­lich ent­wi­ckelt sich das Leben nie so, wie man es geplant hat; ver­mut­lich sieht man des­halb auf den Stra­ßen von Groß­städ­ten so vie­le Leu­te mit die­sem ver­wirr­ten und ver­är­ger­ten Gesichts­aus­druck, als woll­ten sie sagen: Wer hät­te gedacht, dass mir das pas­sie­ren wür­de? All die Bal­lett-Tän­ze­rin­nen, die in der Ver­wal­tung lan­de­ten, die Feu­er­wehr­män­ner, die Per­so­nal­chefs wur­den, die Ent­de­cker, die in Call-Cen­tern saßen, die Mode­schöp­fe­rin­nen und Opern­sän­ge­rin­nen, Gitar­ris­ten, Büh­nen-Lieb­lin­ge und Sze­ne-Diven, die am Ende von der gro­ßen Tret­müh­le zer­malmt wur­den. All das spricht aus die­sen Bli­cken: Wie bin ich bloß hier gelandet?
(Tania Kin­ders­ley – Und mor­gen geht das Leben weiter)