Wol­len wir so sein? Post­mo­dern und immer auf der siche­ren Meta­ebe­ne, von der aus man schon vor­her weiß, dass man ohne­hin nichts ändern kann? Ist das so wirk­lich die Lösung? Sich ein­fach dadurch aus der Ver­ant­wor­tung zu steh­len, in dem man die schon längst voll­zo­ge­ne Resi­gna­ti­on und das klein Bei­geben mit ange­be­ri­schem Bes­ser­wis­sen über­tüncht? Sind das die Spie­ßer, denen wir uns intel­lek­tu­ell über­le­gen füh­len oder ist nicht viel­mehr das spie­ßig sein von heu­te, wenn wir dumm und zynisch über alles lachen, was zu ändern man in Wirk­lich­keit zu bequem ist?
(Jens Scholz)

Nei­gen wir erst ein­mal zur Tren­nung von Den­ken und Füh­len, so besteht die Schwie­rig­keit dar­in, daß wir nicht mehr in der Lage sind, die­sen Vor­gang zu sehen. Auf­grund unse­rer Ent­wick­lung wer­den wir bestrebt sein, uns nicht so zu sehen, wie wir sind, son­dern so, wie wir mei­nen, daß wir gese­hen wer­den soll­ten. Es wer­den Image und wirk­li­ches Sein sich nicht ent­spre­chen. Und wenn sie sich nicht ent­spre­chen, wird die­ser Wider­spruch der inne­ren Rea­li­tät stän­di­ge Quel­le von Angst sein. Die­ser Wider­spruch bedroht uns mit dem Zusam­men­bruch, und die Angst davor zwingt uns erst recht, auf unse­re Gefüh­le zu »ver­zich­ten«.

Für jene, die in das Erschei­nungs­bild »nor­ma­len« Ver­hal­tens hin­ein­schlüp­fen, weil sie die Span­nung der Wider­sprü­che zwi­schen der uns auf­er­leg­ten Rea­li­tät und ihrer inne­ren Welt nicht ertra­gen, für sol­che Men­schen gibt es bald kei­ne wirk­li­chen Gefüh­le mehr. Statt des­sen gehen sie mit Ideen von Gefüh­len um, haben kei­ne Erfah­rung mehr mit ihnen. Sie prä­sen­tie­ren auf­ge­setz­te Gefüh­le als ihre eige­nen und sagen sich von den wah­ren Gefüh­len los. Je »gesün­der« das Image ihrer Iden­ti­tät, das sie ange­nom­men haben, des­to erfolg­rei­cher wer­den sie die­se Mani­pu­la­ti­on voll­zie­hen kön­nen. Und es ist Mani­pu­la­ti­on, da ihr Ziel nicht der Aus­druck ihrer selbst ist, son­dern sie den ande­ren davon über­zeu­gen wol­len, daß sie ange­mes­sen han­deln, den­ken und füh­len. Dies sind die Men­schen, die ich als die wirk­lich Wahn­sin­ni­gen unter uns zei­gen möchte.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Von tau­send Erfah­run­gen, die wir machen, brin­gen wir höchs­tens eine zur Spra­che, und auch die­se bloß zufäl­lig und ohne die Sorg­falt, die sie ver­dien­te. Unter all den stum­men Erfah­run­gen sind die­je­ni­gen ver­bor­gen, die unse­rem Leben unbe­merkt sei­ne Form, sei­ne Fär­bung und sei­ne Melo­die geben. Wenn wir uns dann, als Archäo­lo­gen der See­le, die­sen Schät­zen zuwen­den, ent­de­cken wir, wie ver­wir­rend sie sind. Der Gegen­stand der Betrach­tung wei­gert sich still­zu­ste­hen, die Wor­te glei­ten am Erleb­ten ab, und am Ende ste­hen lau­ter Wider­sprü­che auf dem Papier. Lan­ge Zeit habe ich geglaubt, das sei ein Man­gel, etwas, das es zu über­win­den gel­te. Heu­te den­ke ich, daß es sich anders ver­hält: daß die Aner­ken­nung der Ver­wir­rung der Königs­weg zum Ver­ständ­nis die­ser ver­trau­ten und doch rät­sel­haf­ten Erfah­run­gen ist. Das klingt son­der­bar, ja eigent­lich abson­der­lich, ich weiß. Aber seit ich die Sache so sehe, habe ich das Gefühl, das ers­te­mal rich­tig wach und am Leben zu sein.
(Pas­cal Mer­cier – Nacht­zug nach Lissabon)

Es ist ein Irr­tum zu glau­ben, die ent­schei­den­den Momen­te eines Lebens, in denen sich sei­ne gewohn­te Rich­tung für immer ändert, müß­ten von lau­ter und grel­ler Dra­ma­tik sein, unter­spült von hef­ti­gen inne­ren Auf­wal­lun­gen. Das ist ein kit­schi­ges Mär­chen, das sau­fen­de Jour­na­lis­ten, blitz­licht­süch­ti­ge Fil­me­ma­cher und Schrift­stel­ler, in deren Köp­fen es aus­sieht wie in einem Bou­le­vard­blatt, in die Welt gesetzt haben. In Wahr­heit ist die Dra­ma­tik einer lebens­be­stim­men­den Erfah­rung oft von unglaub­lich lei­ser Art. Sie ist dem Knall, der Stich­flam­me und dem Vul­kan­aus­bruch so wenig ver­wandt, daß die Erfah­rung im Augen­blick, wo sie gemacht wird, oft gar nicht bemerkt wird. Wenn sie ihre revo­lu­tio­nä­re Wir­kung ent­fal­tet und dafür sorgt, daß ein Leben in ein ganz neu­es Licht getaucht wird und eine voll­kom­men neue Melo­die bekommt, so tut sie das laut­los, und in die­ser wun­der­vol­len Laut­lo­sig­keit liegt ihr beson­de­rer Adel.
(Pas­cal Mer­cier – Nacht­zug nach Lissabon)

Unser Bewusst­sein hat sich im Lau­fe eini­ger Jahr­hun­der­te sehr ver­än­dert, unser Gefühls­le­ben sehr viel weni­ger. Daher eine Dis­kre­panz zwi­schen unse­rem intel­lek­tu­el­len und unse­rem emo­tio­na­len Niveau. Die meis­ten von uns haben so ein Paket mit fleisch­far­be­nem Stoff, näm­lich Gefüh­le, die sie von ihrem intel­lek­tu­el­len Niveau aus nicht wahr­ha­ben wol­len. Es gibt zwei Aus­we­ge, die zu nichts füh­ren; wir töten unse­re pri­mi­ti­ven und also unwür­di­gen Gefüh­le ab, soweit als mög­lich, auf die Gefahr hin, daß dadurch das Gefühls­le­ben über­haupt abge­tö­tet wird, oder wir geben unse­ren unwür­di­gen Gefüh­len ein­fach einen ande­ren Namen. Wir lügen sie um. Wir eti­ket­tie­ren sie nach dem Wunsch unse­res Bewusst­seins. Je wen­di­ger unser Bewusst­sein, je bele­se­ner, um so zahl­rei­cher und um so nobler unse­re Hin­ter­tü­ren, um so geist­vol­ler die Selbst­be­lü­gung! Man kann sich ein Leben lang damit unter­hal­ten, und zwar vor­treff­lich, nur kommt man damit nicht zum Leben, son­dern unwei­ger­lich in die Selbst­ent­frem­dung. (…) Es ist merk­wür­dig, was sich uns, sobald wir in der Selbst­über­for­de­rung und damit in der Selbst­ent­frem­dung sind, nicht alles als Gewis­sen anbie­tet. Die inne­re Stim­me, die berühm­te, ist oft genug nur die koket­te Stim­me eines Pseu­do-Ich, das nicht dul­det, daß ich es end­lich auf­ge­be, daß ich mich selbst erken­ne, und es mit allen Lis­ten der Eitel­keit, nöti­gen­falls sogar mit Falsch­mel­dun­gen aus dem Him­mel ver­sucht, mich an mei­ne töd­li­che Selbst­über­for­de­rung zu fes­seln. Wir sehen wohl unse­re Nie­der­la­ge, aber begrei­fen sie nicht als Signa­le, als Kon­se­quen­zen eines ver­kehr­ten Stre­bens, eines Stre­bens weg von unse­rem Selbst.
(Max Frisch – Stiller)

Über­haupt fürch­ten sie sich vor jeder offe­nen Fra­ge; sie den­ken immer gera­de so weit, wie sie die Ant­wort schon in der Tasche haben, eine prak­ti­sche Ant­wort, eine Ant­wort, die ihnen nütz­lich ist. Und inso­fern den­ken sie über­haupt nicht; sie recht­fer­ti­gen nur. Sie wagen es unter kei­nen Umstän­den, sich selbst in Zwei­fel zu zie­hen. Ist das nicht gera­de das Zei­chen geis­ti­ger Unfreiheit?
(Max Frisch – Stiller)

Die Men­schen ver­ler­nen das Schen­ken. Der Ver­let­zung des Tausch­prin­zips haf­tet etwas Wider­sin­ni­ges und Unglaub­wür­di­ges an; da und dort mus­tern selbst Kin­der miß­trau­isch den Geber, als wäre das Geschenk nur ein Trick, um ihnen Bürs­ten oder Sei­fe zu ver­kau­fen. […] Der Ver­fall des Schen­kens spie­gelt sich in der pein­li­chen Erfin­dung der Geschenk­ar­ti­kel, die bereits dar­auf ange­legt sind, daß man nicht weiß, was man schen­ken soll, weil man es eigent­lich gar nicht will. Die­se Waren sind bezie­hungs­los wie ihre Käu­fer. Sie waren Laden­hü­ter schon am ers­ten Tag. Ähn­lich der Vor­be­halt des Umtauschs, der dem Beschenk­ten bedeu­tet: hier hast du dei­nen Kram, fang damit an, was du willst, wenn dir´s nicht paßt, ist es mir einer­lei, nimm dir etwas ande­res dafür.
(Theo­dor W. Ador­no – Mini­ma Moralia)

Was ist die gesell­schaft­li­che Funk­ti­on der Fach­spra­che? Ich habe gesagt, ech­te Kom­mu­ni­ka­ti­on sei Gemein­sam­keit und Ver­än­de­rung. Die Fach­spra­che ist nicht unschul­dig. Der Mann, der sie spricht, der vor uns von Rol­len und auf der Basis von Wech­sel­be­zie­hun­gen funk­tio­nie­ren­den Grup­pen schwatzt, und von Wert­vor­stel­lun­gen und den Zie­len des Lehr­plans und bes­se­rer Über­ein­stim­mung und über­ge­ord­ne­ten und unter­ge­ord­ne­ten Per­so­nen, der hat die Absicht, uns auf Distanz zu hal­ten; er will sei­ne Spe­zia­li­tät – sein klei­nes Stück eines im Wesent­li­chen unteil­ba­ren Gan­zen – eben als Spe­zia­li­tät für sich behal­ten. Er hat kein Inter­es­se dar­an, sich uns anzu­nä­hern, uns sei­ne Fähig­kei­ten zu ver­mit­teln, son­dern über uns zu ste­hen und uns zu mani­pu­lie­ren. Kurz­um, er will ein »Exper­te« blei­ben. Der Phi­lo­soph möch­te, im Gegen­satz dazu, dass alle Men­schen zu Phi­lo­so­phen wer­den. Sei­ne Rede­wei­se erzeugt Gleich­heit. Er hat die Absicht, sich uns anzu­nä­hern und uns die Fähig­keit zum selbst­stän­di­gen Den­ken und Han­deln zu vermitteln.
(Geor­ge Den­ni­son – The Lives of Child­ren; zitiert nach: John Holt – Kin­der ler­nen selbst­stän­dig oder gar nicht(s)

Edu­ca­ti­on… now seems to me per­haps the most aut­ho­ri­ta­ri­an and dan­ge­rous of all the social inven­ti­ons of man­kind. It is the deepest foun­da­ti­on of the modern slave sta­te, in which most peo­p­le feel them­sel­ves to be not­hing but pro­du­cers, con­su­mers, spec­ta­tors, and ‘fans,’ dri­ven more and more, in all parts of their lives, by greed, envy, and fear. My con­cern is not to impro­ve ‘edu­ca­ti­on’ but to do away with it, to end the ugly and anti­hu­man busi­ness of peo­p­le-sha­ping and to allow and help peo­p­le to shape themselves.
(John Holt zum The­ma Un-/Deschoo­ling)

Arbeit ist Schei­ße! Bei die­ser Aus­sa­ge han­delt es sich um eine selbst­ver­ständ­li­che Tat­sa­che, und wäre spe­zi­ell die deut­sche Gesell­schaft nicht so ver­blö­det, müß­te man sich schä­men, eine sol­che Bana­li­tät zu Papier zu bringen.

Wie fort­ge­schrit­ten die­se Ver­blö­dung ist, zeigt sich dar­an, daß die Aus­sa­ge »Arbeit ist Schei­ße!« bei den meis­ten Zeit­ge­nos­sen eben kein all­ge­mei­nes Gäh­nen her­vor­ruft, son­dern komi­scher­wei­se als Tabu-Bruch auf­ge­faßt wird. Die­ser Tabu-Bruch spal­tet die Mei­nun­gen. »Arbeit ist Schei­ße« ruft bei vie­len Zeit­ge­nos­sen die wüten­de Fra­ge her­vor: »Und wovon willst Du leben?« – als wenn das eine mit dem ande­ren auch nur das gerings­te zu tun hätte!

Wenn Ideo­lo­gen von der »Selbst­ver­wirk­li­chung des Men­schen durch Arbeit« faseln, dann lügen sie. Zwar gibt es nicht weni­ge, für die Arbeit das größ­te Ver­gnü­gen ist, genau­so wie es ja immer wie­der Idio­ten gibt, die sich nichts Erre­gen­de­res vor­stel­len kön­nen als für Volk und Vater­land den Hel­den­tod zu ster­ben. Sol­che Leis­tun­gen set­zen aller­dings jede Men­ge Erzie­hung und Moral voraus.

Lohn­ar­beit unter­schei­det sich durch eine wesent­li­che Eigen­schaft von Skla­ven­ar­beit: Die Arbeits­kräf­te ver­kau­fen sich selber.

Von all die­sen Men­schen­freun­den betreut, kann sich die Arbeits­kraft etwas dar­auf ein­bil­den, die Arbeit aus­zu­hal­ten. Die jün­ge­ren Exem­pla­re prot­zen mit ihrer immer wie­der stei­ge­rungs­fä­hi­gen Arbeits­ge­schwin­dig­keit, die alten mit ihrer Zuver­läs­sig­keit. Vie­le trach­ten danach, sich zum Arbeits­auf­se­her hoch­zu­schlei­men, labern davon, daß es »woan­ders noch schlim­mer sei«, glot­zen in ihrer Bild­zei­tung her­um, kot­zen sich über den Trai­ner »ihres« Fuß­ball­ver­eins aus und sind stolz dar­auf, Arbei­ter zu sein.
(Prin­zi­pi­en und Dok­trin des Wis­sen­schaft­li­chen Pogo-Dog­ma­tis­mus)