Noch die inhu­mans­ten Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen kön­nen als sinn­haft und attrak­tiv erlebt wer­den durch das still­schwei­gen­de Ein­ver­ständ­nis von Men­schen, die durch inhu­ma­ne Exis­tenz­be­din­gun­gen dar­auf vor­be­rei­tet wor­den sind, sie zu akzeptieren.
(Mar­ga­re­te Stein­rü­cke, in: Pierre Bour­dieu – Der Tote packt den Lebenden)

Betrach­tet man die Ent­wick­lungs­dy­na­mik von Bil­dungs­sys­te­men, dann drängt sich die Ver­mu­tung auf, dass die Schu­le selbst sozi­al selek­tiv auf die Sozia­li­sa­ti­ons­prak­ti­ken ein­wirkt und sys­te­ma­tisch die Prak­ti­ken bestimm­ter Bevöl­ke­rungs­grup­pen abwer­tet. Sie ent­wi­ckelt for­ma­le Leis­tungs­kri­te­ri­en, die sich als unfä­hig erwei­sen, die Dif­fe­renz milieu­spe­zi­fi­scher Erfah­run­gen und Befä­hi­gun­gen zu erken­nen, son­dern ganz im Gegen­teil einer unfle­xi­blen und not­wen­dig dis­kri­mi­nie­ren­den Defi­zit­lo­gik ver­haf­tet blei­ben. Gemes­sen wird daher nicht das Kön­nen, son­dern die Abwei­chung des Kön­nens von den poli­tisch gesetz­ten Leis­tungs­stan­dards. Eine sol­che Bewer­tungs­lo­gik dient nicht der Bil­dung des ein­zel­nen, son­dern allein der Selek­ti­on Her­an­wach­sen­der. Die­se Bewer­tungs­lo­gik ent­fal­tet ihre ver­hee­ren­de Wir­kung auf die Betrof­fe­nen nicht nur dadurch, dass sie den Her­an­wach­sen­den bestimm­te Optio­nen der Ent­wick­lung bzw. der Ent­fal­tung ihrer Per­sön­lich­keit vor­ent­hält. Mehr noch: Die Schü­ler wer­den im Hin­blick auf ihre je eige­ne Leis­tungs­fä­hig­keit und in der Wert­schät­zung ihrer Per­son sys­te­ma­tisch abge­wer­tet, degra­diert und damit zu qua­si-patho­lo­gi­schen Fäl­len einer Gesell­schaft, die am Wohl­erge­hen ihrer Kin­der oft­mals nur dann ein Inter­es­se zu haben scheint, wenn die­se aus „gutem“ Hau­se kommen.
(Mat­thi­as Grund­mann – Hand­lungs­be­fä­hi­gung und Milieu)

Was Psych­ia­trie und Psy­cho­lo­gie als Geis­tes­krank­heit vor­füh­ren, ist an die Vor­stel­lung gebun­den, daß es sich dabei um zuneh­men­den Rea­li­täts­ver­lust han­delt. Mehr oder weni­ger Rea­li­täts­be­zug – danach wird alles mensch­li­che Ver­hal­ten klas­si­fi­ziert. »Rea­li­tät« wird dabei aus­schließ­lich als äuße­re Rea­li­tät verstanden.
In der Tat ist der Rea­li­täts­be­zug – sein Feh­len oder der Grad der Erge­ben­heit an die äuße­re Rea­li­tät – ein Ras­ter, in das man Men­schen ein­ord­nen kann und das uns ermög­licht, eine Klas­si­fi­zie­rung vor­zu­neh­men vom psy­cho­ti­schen Ver­hal­ten über die Neu­ro­se zur Nor­ma­li­tät. Doch ein sol­ches Sche­ma ver­deckt, daß es auch noch eine ande­re Art von Krank­heit gibt, die viel gefähr­li­cher ist als die, die vom Ver­lust des Rea­li­täts­be­zugs gekenn­zeich­net ist.
Die­se ande­re Art von Krank­heit zu sehen erfor­dert einen Wech­sel der Blick­rich­tung und eine Abkehr von den her­kömm­li­chen Kate­go­rien. Dann wird man sehen, daß sich hin­ter der Ori­en­tie­rung an der »Rea­li­tät«, die gemein­hin das Kri­te­ri­um für Gesund­heit ist, eine tie­fe­re und weni­ger augen­fäl­li­ge Patho­lo­gie ver­birgt: die des »nor­ma­len« Ver­hal­tens, die Patho­lo­gie der Anpas­sung als Fol­ge der Preis­ga­be des Selbst.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Man zitiert immer wie­der Tal­ley­rands Satz, die Spra­che sei dazu da, die Gedan­ken des Diplo­ma­ten (oder eines schlau­en und frag­wür­di­gen Men­schen über­haupt) zu ver­ber­gen. Aber genau das Gegen­teil hier­von ist rich­tig. Was jemand wil­lent­lich ver­ber­gen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich sel­ber, auch was er unbe­wußt in sich trägt: die Spra­che bringt es an den Tag. Das ist wohl auch der Sinn der Sen­tenz: Le style c’est l’hom­me; die Aus­sa­gen eines Men­schen mögen ver­lo­gen sein – im Stil sei­ner Spra­che liegt sein Wesen hül­len­los offen.
(Vic­tor Klem­pe­rer – LTI)

Wenn ich fünf­und­zwan­zig Jah­re lang kei­nen Cent aus­gä­be, jede Monats­heu­er sorg­fäl­tig auf die and­re leg­te, wäh­rend der gan­zen Zeit nie ohne Arbeit wäre, dann könn­te ich nach Ablauf jener fünf­und­zwan­zig Jah­re uner­müd­li­chen Arbei­tens und Spa­rens mich zwar nicht zur Ruhe set­zen, könn­te aber nach wei­te­ren fünf­und­zwan­zig Jah­ren Arbei­tens und Spa­rens mich mit eini­gem Stolz zur unters­ten Schicht der Mit­tel­klas­se zäh­len. Zu jener Schicht, die sagen darf: Gott sei gelobt, ich habe einen klei­nen Not­pfen­nig auf die Sei­te gelegt für Regen­ta­ge. Und da die­se Volks­schicht jene geprie­se­ne Schicht ist, die den Staat in sei­nen Fun­da­men­ten erhält, so wür­de ich dann ein wert­vol­les Mit­glied der mensch­li­chen Gesell­schaft genannt wer­den kön­nen. Die­ses Ziel errei­chen zu kön­nen, ist fünf­zig Jah­re Spa­rens und Arbei­tens wert. Das Jen­seits hat man sich dann gesi­chert und das Dies­seits für andre.
(B. Tra­ven – Das Totenschiff)

Das sym­bo­li­sche Kapi­tal besteht aus einem belie­bi­gen Merk­mal, Kör­per­kraft, Reich­tum, Kampf­erprobt­heit, das wie eine ech­te magi­sche Kraft sym­bo­li­sche Wir­kung ent­fal­tet, sobald es von sozia­len Akteu­ren wahr­ge­nom­men wird, die über die zum Wahr­neh­men, Erken­nen und Aner­ken­nen die­ser Eigen­schaft nöti­gen Wahr­neh­mungs- und Bewer­tungs­ka­te­go­rien ver­fü­gen: Ein Merk­mal, das, weil es auf sozi­al geschaf­fe­ne »kol­lek­ti­ve Erwar­tun­gen« trifft, auf Glau­ben, eine Art Fern­wir­kung aus­übt, die kei­nes Kör­per­kon­takts bedarf. Man gibt einen Befehl, und es wird ihm gehorcht: Dies ist ein zutiefst magi­scher Akt. (…) Damit der sym­bo­li­sche Akt eine der­ar­ti­ge, ohne sicht­ba­re Ver­aus­ga­bung von Ener­gie erziel­te magi­sche Wir­kung aus­üben kann, muß ihm eine oft unsicht­ba­re und jeden­falls ver­ges­se­ne, ver­dräng­te Arbeit vor­an­ge­gan­gen sein und bei den Adres­sa­ten die­ses Erzwin­gungs- und Befehl­s­ak­tes die­je­ni­gen Dis­po­si­tio­nen erzeugt haben, deren es bedarf, damit sie, ohne daß sich ihnen die Fra­ge des Gehor­sams über­haupt stell­te, das Gefühl haben, gehor­chen zu müs­sen. Die sym­bo­li­sche Gewalt ist jene Gewalt, die, indem sie sich auf die »kol­lek­ti­ven Erwar­tun­gen« stützt, auf einen sozi­al begrün­de­ten und ver­in­ner­lich­ten Glau­ben, Unter­wer­fun­gen erpreßt, die als sol­che gar nicht wahr­ge­nom­men werden.
(Pierre Bour­dieu – Die Öko­no­mie der sym­bo­li­schen Güter, in: Prak­ti­sche Vernunft)

Unser­ei­ner muß ja immer war­ten, wohin er auch kommt. Denn wer kein Geld besitzt, von dem nimmt man an, daß er wenigs­tens uner­meß­lich viel Zeit hat. Wer Geld besitzt, kann es mit Geld abma­chen; wer kein Geld zum Hin­le­gen hat, muß es mit sei­ner Zeit bezah­len und mit sei­ner Geduld. Denn wird man gar auf­säs­sig oder äußert man sei­ne Unge­duld in einer Wei­se, die unbe­liebt ist, so weiß der Beam­te so vie­le Wege zu gehen, daß man vier­mal mehr an Zeit bezah­len muß. So beläßt man es bei der Zeit­stra­fe, die einem auf­er­legt wird.
(B. Tra­ven – Das Totenschiff)

Was schon könn­te man an Loh­nens­wer­tem oder Nütz­li­chem beken­nen? Was uns wider­fah­ren ist, ist ent­we­der allen wider­fah­ren oder uns allein; in dem einen Fall ist es nichts Neu­es, im ande­ren unbe­greif­lich. Wenn ich schrei­be, was ich emp­fin­de, dann weil ich auf die­se Wei­se das Fie­ber mei­nes Emp­fin­dens sen­ke. Was ich beken­ne, ist nicht von Bedeu­tung, denn nichts ist von Bedeu­tung. Ich mache Land­schaf­ten aus dem, was ich emp­fin­de. Mache Feri­en von mei­nen Gefüh­len. Ich begrei­fe ohne wei­te­res, daß Frau­en aus Kum­mer sti­cken und Strümp­fe stri­cken, weil es Leben gibt. Mei­ne alte Tan­te leg­te end­lo­se Aben­de lang Pati­en­cen. Mei­ne Pati­en­cen sind mei­ne Gefühlsbekenntnisse.
Fer­nan­do Pes­soa – Das Buch der Unruhe

An die­ser Stel­le ist es nötig, etwas zur sozio­lo­gi­schen Sicht des mensch­li­chen Seins zu sagen. Kri­mi­na­li­tät wird zum Bei­spiel als eine Fol­ge der Armut gese­hen. Doch dies erklärt nicht, war­um die Mehr­heit nicht kri­mi­nell wird. Dar­aus wie­der­um kann man aber nicht schluß­fol­gern, Armut hät­te kei­nen Zusam­men­hang mit Kri­mi­na­li­tät. Man kommt nicht umhin, eini­ges zu dif­fe­ren­zie­ren. Wenn ein Hung­ri­ger stiehlt, han­delt er nicht aus Hab­gier; und wenn er dabei, ohne es zu wol­len, jeman­den umbringt, ist es kein vor­sätz­li­cher Mord. Ande­rer­seits gehö­ren die Rei­chen und Mäch­ti­gen zu jenen in unse­rer Gesell­schaft, die Krie­ge anzet­teln, die Lebens­grund­la­ge ande­rer Men­schen zer­stö­ren, Natur und Men­schen ver­gif­ten. Sie aber sit­zen nicht in den Gefäng­nis­sen. Kri­mi­nal­sta­tis­ti­ken ver­zeich­nen nur des­halb mehr Arme als Rei­che, weil sol­che Sta­tis­ti­ken der Ideo­lo­gie der Rei­chen und Mäch­ti­gen unter­lie­gen und weil sie nicht alle For­men von Destruk­ti­vi­tät aufführen.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Sinn­kri­se. Ich komm in die Bera­tung, sagt sto­ckend ein Kli­ent, weil ich so komisch trau­rig bin die gan­ze Zeit, weil alles mich so sinn­los dünkt. – (Berich­ti­gung: Dies sagt nicht ein Kli­ent, sehr vie­le sagen es; ich wäh­le stell­ver­tre­tend einen und nenn ihn Zemp und refe­rie­re lückenhaft.)
Wuchs gedrun­gen. Flei­schi­ge Gestalt. Glied­ma­ßen kurz. Gang eher schlep­pend. Gute, blaue Augen. Tre­vi­ra-Hosen, bügel­frei, hand­ge­strick­te Wes­te. Zemp ist ein Volks­schul­leh­rer, Mit­te vier­zig, Fami­lie, im Mili­tär Major.
Weiß Ihre Frau um Ihren Zustand?
Neinnein.
Sie sagen zwei­mal nein, warum?
Ich will es ihr nicht sagen, es wür­de sie belasten.
Spürt sie’s nicht ohnehin?
Ich neh­me mich zusammen.
Sie haben also das Gefühl, es wür­de Ihre Frau belas­ten, wenn Sie ihr anver­trau­ten, wie’s Ihnen wirk­lich geht?
Ja, schon. Ich … ich bin sonst eben nicht so schwach. Ich muß dage­gen kämp­fen, und Sie als Fach­mann, dach­te ich, Sie ken­nen doch die Waffen.
Sie has­sen Ihre düs­te­re Gemütsverfassung?
Sehr.
Und das Gefühl, daß alles sinn­los ist, scheint Ihnen ungehörig?
Es ist ein Virus, wie ein Virus. Ein Überfall.
Ich kür­ze ab: Natür­lich besteht die ers­te Pha­se der »Behand­lung« dar­in, dem Zemp zu zei­gen, daß man auch als Major und Ehe­mann und Vater ein biß­chen schwach sein darf; daß zwei­tens Pro­ble­me sei­ner Art rein waf­fen­tech­nisch nicht zu lösen sind; daß drit­tens ein Sym­ptom so wenig feind­lich wie ein Leucht­turm ist, der auf Gefah­ren­zo­nen hin­weist. – Und in der nächs­ten Pha­se, die ich »poli­tisch« im wei­ten Wort­sinn nen­nen möch­te, geht es dann dar­um, zu erwä­gen, ob Sinn­lo­sig­keits­ge­füh­le und Betrüb­nis nicht allen­falls ver­stan­den wer­den könn­ten als durch­aus ange­mes­se­ne, Intakt­heits­sehn­sucht offen­ba­ren­de Reak­ti­ons­ge­bär­den gegen eine Wirk­lich­keit, die über wei­te Stre­cken so beschaf­fen ist, daß einer, der sich in ihr nicht trau­rig fühlt, sein Trau­er­de­fi­zit betrau­ern müßte.
(Mar­kus Wer­ner – Froschnacht)