Wo immer nämlich diese Gesellschaft nicht funktioniert, wo immer sie versagt, wird ihr Versagen an den Ärmsten offenbar.
Jede Veränderung im sozialen Raum, jede Verschärfung des Wettbewerbs, jede Zunahme an Gewalt im öffentlichen Leben, jede Kontaminierung billigen Essens hinterlässt in der Lebenserfahrung von Armen ihre Spuren. Auch wie Gesellschaft sich verändert, in ihren Klassen- und Geschlechtsverhältnissen ebenso wie in ihrer Mitmenschlichkeit, das erfahren die Armen zuerst. Sie werden deshalb eben nicht nur materiell und gesundheitlich, sie werden auch psychologisch und moralisch am empfindlichsten von den Einbußen der Gesellschaft getroffen.
In der Armut wird das Selbstbild der Gesellschaft gekränkt und bestätigt: gekränkt, weil sie ihre idealen Bilder ohne Rückstände produzieren möchte, bestätigt, weil sie diese Armut ja selbst herstellt, die Produktion von Armut also genau so forciert wie ihr Pendant, den Wohlstand.
In dieser Kultur, und das heißt auch in den Beziehungen der Menschen untereinander, hat sich der Wert der Verkäuflichkeit und Käuflichkeit derart verselbständigt, dass Menschen schon degradiert werden, weil sie nicht am Warenverkehr teilnehmen können oder wollen. Jede Gesinnung, jedes Phänomen, jede Erscheinung, jede menschliche Hervorbringung, jede Leistung wird auf optimale Verkäuflichkeit untersucht und abgerichtet. Unvorstellbar, welche Kultur sich entwickeln könnte, wenn nicht jede Lebensregung an ihrer Markttauglichkeit gemessen, wenn Zugang zur Öffentlichkeit nicht nur Dingen verschafft würde, die sich verkaufen lassen, wenn, mit einem Wort, jeder täte, was er gesellschaftlich für wichtig, und nicht, was er für profitabel hielte. Eine Utopie mehr.
(Roger Willemsen – Der Knacks)

Und niemand versteht besser anzutreiben, niemand versteht höhnischer zu sagen: »Schlapper Hund! Solltest mich mal sehen!« als der Mit-Tote, als der Mit-Prolet, als der Mit-Hungernde, als der Mit-Gepeitschte. Selbst die Galeerensklaven haben ihren Stolz und ihr Ehrgefühl, sie haben den Stolz, gute Galeerensklaven zu sein und ›nun einmal zu zeigen‹, was sie können. Wenn das Auge des Kommandorufers, der mit der Peitsche die Reihen entlanggeht, wohlgefällig auf ihm ruht, so ist er beglückt, als hätte ihm ein Kaiser persönlich einen Orden an die Brust geheftet.
(B. Traven – Das Totenschiff)

Der irreparable Mensch ist der Mensch, der das Chaos hinter sich hat, und die Ordnung in der Marotte, in der Konvention, in den Tröstungen der Gewohnheit, im Tic, in der Routine, im Stil findet. Er wird nichts mehr. Kultivierte er früher vielleicht noch das aufklärerische Ideal, das Ich-Gebilde müsse stetig, plausibel, aus sich heraus entwickelt aufsteigen, so blamiert das Selbstbild im Knacks jede Vorstellung einer sich zielgerichtet entwickelnden Persönlichkeit. Am Ende erweist er sich als allenfalls amüsierbar.
(Roger Willemsen – Der Knacks)

Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedesmal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind – nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er muß es sein. Wir können nicht mehr! Wir kündigen ihm die Bereitschaft, auf weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfaßbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, dass unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei. „Du bist nicht“, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte, „wofür ich dich gehalten habe“. Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.
(Max Frisch – Tagebuch 1946-1949)

What if the water that came out of the shower was treated with a chemical that responded to a combination of things, like your heartbeat, and your body temperature, and your brain waves, so that your skin changed color according to your mood? If you were extremely excited your skin would turn green, and if you were angry you’d turn red, obviously, and if you felt like shiitake you’d turn brown, and if you were blue you’d turn blue.
Everyone could know what everyone else felt, and we could be more careful with each other, because you’d never want to tell a person whose skin was purple that you’re angry at her for being late, just like you would want to pat a pink person on the back and tell him, „Congratulations!“
Another reason it would be a good invention is that there are so many times when you know you’re feeling a lot of something, but you don’t know what the something is. Am I frustrated? Am I actually just panicky? And that confusion changes your mood, it becomes your mood, and you become a confused, gray person. But with the special water, you could look at your orange hand and think, I’m happy! That whole time I was actually happy! What a relief!
(Jonathan Safran Foer – Extremely Loud & Incredibly Close)

Die ursprüngliche Beziehung zu der sozialen Welt, durch die und für die man geschaffen ist, ist ein Besitzverhältnis, das den Besitz des Besitzers durch seine Besitztümer impliziert. Wenn das Erbe sich den Erben angeeignet hat, wie Marx sagt, kann der Erbe sich das Erbe aneignen. Und diese Aneignung des Erben durch das Erbe, die Anpassung des Erben an das Erbe, die die Bedingung für die Aneignung des Erbes durch den Erben ist (und die weder etwas Mechanisches noch etwas Schicksalhaftes hat), vollzieht sich durch den kombinierten Effekt der in die Lebensbedingungen des Erben eingeschriebenen Konditionierungen und der pädagogischen Aktion seiner Vorfahren, der angeeigneten Eigentümer. Der geerbte, dem Erbe angepasste Erbe braucht nicht zu wollen, d.h. zu überlegen, zu wählen und bewusst zu entscheiden, um das zu tun, was mit den Interessen des Erbes übereinstimmt, seiner Wahrung und Mehrung dienlich ist. Er mag genau genommen nicht einmal wissen, was er tut und was er sagt, und vermag gleichwohl nichts zu tun oder zu sagen, was nicht den Erfordernissen des Erbes entspricht. (…) Dies kann in dem Gefühl zum Ausdruck kommen, genau »am richtigen Platz« zu sein, genau das zu tun, was man zu tun hat, und es auf glückliche Weise – im objektiven wie im subjektiven Sinne – zu tun oder in der resignierten Überzeugung, nichts anderes tun zu können, auch eine freilich weniger glückliche Weise, sich für das, was man tut, geschaffen zu fühlen.
(Pierre Bourdieu – Der Tote packt den Lebenden, in: Der Tote packt den Lebenden)

In jeder Hinsicht ist Kultur Ergebnis eines Kampfes. Das versteht sich von selbst, weil mit der Idee der Kultur auch immer die menschliche Würde auf dem Spiel steht. Das bedeutet, daß in einer Klassengesellschaft diejenigen, die von der Kultur ausgeschlossen sind, auch in ihrer Würde und in ihrer menschlichen Existenz getroffen sind und sich getroffen fühlen. Diejenigen wiederum, die die Kultur besitzen oder sich zumindest in ihrem Besitz wähnen (der Glaube ist hier wesentlich) vergessen ständig all die Leiden und Erniedrigungen, die im Namen dieser Kultur geschehen. Die Kultur ist hierarchisch organisiert und sie trägt zur Unter- und Überordnung von Menschen bei, wie etwa ein Möbel- oder ein Kleidungsstück, an denen man sofort erkennen kann, auf welcher Sprosse der sozialen und kulturellen Hierarchie sein Besitzer steht. Im Bereich der Politik, aber nicht allein dort, verurteilen die offiziöse Kultur und der von ihr beanspruchte Respekt diejenigen zum Schweigen, die nicht als Träger dieser Kultur anerkannt sind. Um aber die sozialen Kämpfe und Auseinandersetzungen um die jeweilige Kultur vollständig erkennbar zu machen, muß man immer wieder hinweisen auf jene Illusion, die aus der immer auch sinnlich-materiellen Erscheinungsweise von Kultur resultiert. Der Umstand, daß kulturelle Erscheinungen immer auch als sinnlich faßbare Äußerungen von Personen in Erscheinung treten, erweckt den Eindruck, als sei Kultur die natürlichste und die persönlichste und damit also auch die legitimste Form des Eigentums.
(Pierre Bourdieu – Politik, Bildung und Sprache, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)

Die Trauer ist das eine. Das andere ist der Eintritt in eine Sphäre des Verlusts. Anders gesagt: Der Verlust ist das eine, das andere aber ist, ihn dauern zu sehen und zu wissen, wie er überdauern wird: Nicht im Medium des Schmerzes und nicht als Klage, nicht einmal expressiv, sondern sachlich, als graduelle Verschiebung der Erlebnisintensität.
Man könnte auch sagen: Etwas Relatives tritt ein. Was kommt, misst sich an diesem Erleben und geht gleichfalls durch den Knacks. Es ist der negative Konjunktiv: Etwas ist schön, wäre da nicht… Es tritt ein Moment ein, in dem alles auch das eigene Gegenteil ist. Als kämen, auf die Spitze getrieben, die Dinge unmittelbar aus dem Tod und müssten sich im Leben erst behaupten und bewähren.
(…)
Vielleicht wird jemand sagen, dieser eine Verlust sei ein Kontrastmittel. In der Konfrontation mit ihm wirkten die Farben der Welt nun leuchtender, als sei das Dauernde durch die Begegnung mit dem Vergänglichen noch wunderbarer. Es ist die Dialektik der Sonntagsrede. Als müsste man dem eigenen Leben nur Verluste zuführen und würde gleich dessen froh, was man hat. Nein, man kann ganz gut unterscheiden zwischen der Schlappe, dem Unglück, dem Scheitern, der Einbuße, dem Verlust, der überwunden werden kann. Man kann ja in manchem Verlust diesen selbst nicht einmal fühlen, sondern möchte lachen: über die Pantomime des Tragöden, über das Stummfilm-Pathos der Trauer. Man wird darüber hinwegkommen, über die Trauer und über das Gelächter, das sie weckte.
Aber der Knacks ist etwas anderes, über ihn kommt man nicht hinweg. Er ist ein Schub, meist bewegt er sich lautlos und unmerklich. Erst im Rückblick kann man sagen: Dann war nichts mehr wie zuvor. Eine posthume Perspektive, die des Passé. Die Farben nehmen jetzt Patina an, die Genüsse büßen ihre Frische ein, die Erfahrung wählt einen flachen Einfallswinkel, sie kommt eher vermittelt, wie durch eine Membran gegangen. Das Leben wechselt die Sphäre, es reift, es altert, und irgendwann ist zum ersten Mal das Gefühl da, überhaupt ein eigenes Alter zu haben, das heißt, es fühlen zu können.
(Roger Willemsen – Der Knacks)

Art is that thing having to do only with itself – the product of a successful attempt to make a work of art. Unfortunately, there are no examples of art, nor good reasons to think that it will ever exist. (Everything that has been made has been made with a purpose, everything with an end that exists outside that thing, i.e., ›I want to sell this‹, or ›I want this to make me famous and loved‹, or ›I want this to make me whole‹, or worse, ›I want this to make others whole‹.) And yet we continue to write, paint, sculpt, and compose. Is this foolish of us?
(Jonathan Safran Foer – Everything is Illuminated)

Mr. Black said, „I once went to report on a village in Russia, a community of artists who were forced to flee the cities! I’d heard that paintings hung everywhere! I heard you couldn’t see the walls through all of the paintings! They’d painted the ceilings, the plates, the windows, the lampshades! Was it an act of rebellion! An act of expression! Were the paintings good, or was that beside the point! I needed to see it for myself, and I needed to tell the world about it! I used to live for reporting like that! Stalin found out about the community and sent his thugs in, just a few days before I got there, to break all of their arms! That was worse than killing them! It was a horrible sight, Oskar: their arms in crude splints, straight in front of them like zombies! They couldn’t feed themselves, because they couldn’t get their hands to their mouths! So you know what they did!“ „They starved?“ „They fed each other! That’s the difference between heaven and hell! In hell we starve! In heaven we feed each other!“ „I don’t believe in the afterlife.“ „Neither do I, but I believe in the story!“
(Jonathan Safran Foer – Extremely Loud & Incredibly Close)