Freund­li­che Beziehungen

Nach etwa einem hal­ben Jahr hat­te sie das bit­te­re Gefühl, alle Men­schen ent­täuscht zu haben. Sie hat­te ein Büch­lein voll Adres­sen, aber wag­te nie­mand mehr anzu­ru­fen. Womit hat­te sie alle die­se freund­li­chen Freun­de ent­täuscht? Sie wuß­te es nicht, sie erfuhr es nicht. Es bedrück­te sie ernst­haft. Indes­sen, und dies ver­wirr­te Sibyl­le noch mehr, hat­te sie über­haupt nichts ver­scherzt, ganz und gar nicht; traf man sich zufäl­lig, tön­te es genau wie beim ersten­mal: Hal­lo Sibyl­le! und auf der andern Sei­te war kei­ne Spur von Ent­täu­schung. All die­se offe­nen und so selbst­ver­ständ­li­chen Leu­te, schien es, erwar­te­ten nicht mehr von einer mensch­li­chen Bezie­hung; sie brauch­te nicht wei­ter­zu­wach­sen, die­se so freund­li­che Bezie­hung. Und das war für Sibyl­le wohl das Trau­ri­ge; nach zwan­zig Minu­ten ist man mit die­sen Men­schen so weit wie nach einem hal­ben Jahr, wie nach vie­len Jah­ren, es kommt nichts mehr hin­zu. Es bleibt bei dem offen­her­zi­gen Wunsch, daß es dem andern wohl­erge­he. Man ist befreun­det, um es in irgend­ei­ner Wei­se nett zu haben, und im übri­gen gibt es ja Psych­ia­ter, so etwas wie Gara­gis­ten für Innen­le­ben, wenn einer Defek­te hat und nicht sel­ber fli­cken kann. Jeden­falls soll man nicht sei­ne Freun­de mit einer trau­ri­gen Geschich­te belas­ten; sie haben dann auch, in der Tat, nichts zu lie­fern als einen eben­so all­ge­mei­nen wie unver­bind­li­chen Optimismus.
(Max Frisch – Stiller)

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