Habi­tus – Ent­ste­hung und Abgren­zung zum Kon­zept der sozia­len Rolle

Der Begriff des Habi­tus selbst ist bereits weit­aus älter als Bour­dieus Aus­ar­bei­tung des hier im Fokus ste­hen­den Kon­zepts. Ein kon­kre­ter Zeit­punkt der Ent­ste­hung des Bour­dieu­schen Habi­tus-Kon­zepts ist aller­dings nicht benenn­bar, führt er den Begriff und ein grund­le­gen­des Kon­zept des Habi­tus doch bereits in sei­nen frü­hes­ten Wer­ken zur Ana­ly­se ein, lässt ihn in spä­te­ren Ver­öf­fent­li­chun­gen immer wie­der zur Erwäh­nung kom­men und benutzt ihn als Grund­la­ge zur Aus­ar­bei­tung wei­te­rer gesell­schafts­ana­ly­ti­scher Kon­zep­te, wodurch das Habi­tus-Kon­zept in sei­nen Arbei­ten ste­tig wei­ter­ent­wi­ckelt wird.

Jene frü­hes­ten Wer­ke Bour­dieus (die­ser Abschnitt bezieht sich haupt­säch­lich auf Bour­dieu (2000): Die zwei Gesich­ter der Arbeit), die das Habi­tus-Kon­zept ein­führ­ten, ent­stan­den zur Zeit sei­nes Auf­ent­halts in Alge­ri­en, das sich mit­ten im gesell­schaft­li­chen Wan­del von der vor­ka­pi­ta­lis­ti­schen Welt der kaby­li­schen Bau­ern zur von der Kolo­nia­li­sie­rung auf­ge­zwun­ge­nen kapi­ta­lis­ti­schen Welt der moder­nen Öko­no­mie befand. Für uns selbst­ver­ständ­li­che Pro­zes­se, näm­lich die dem kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tem ent­spre­chen­den Pro­zes­se des öko­no­misch-ratio­na­len Han­delns, waren, wie Bour­dieu fest­stell­te, für die kaby­li­schen Bau­ern kei­nes­wegs ver­traut oder selbst­ver­ständ­lich, das öko­no­misch-ratio­na­le Han­deln somit als Vor­aus­set­zung der kapi­ta­lis­ti­schen Welt kei­nes­wegs uni­ver­sell ausgeprägt.

Das Wirt­schafts­sys­tem der kaby­li­schen Bau­ern stell­te sich als ein Sys­tem der Tausch­pro­zes­se dar, das auf der Logik von Gabe und Gegen­ga­be sowie Treu und Glau­ben auf­bau­te und sein Funk­tio­nie­ren durch die dahin­ter­ste­hen­de Ehre regel­te. Die­ses wie­der­um für die kaby­li­schen Bau­ern selbst­ver­ständ­li­che Sys­tem der Rezi­pro­zi­tät und Unent­gelt­lich­keit, das zur Siche­rung der Ehre finan­zi­ell und mate­ri­ell unöko­no­mi­sche Hand­lun­gen in Kauf nahm und durch­aus auch vor­aus­setz­te, stand nun in kras­sem Gegen­satz zum für kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaf­ten selbst­ver­ständ­li­chen Sys­tem des öko­no­misch-ratio­na­len Han­delns, das eben jene finan­zi­ell und mate­ri­ell schein­bar unver­nünf­ti­gen Hand­lun­gen der kaby­li­schen Bau­ern als sol­che ver­kann­te, ohne das dahin­ter­lie­gen­de öko­no­mi­sche Sys­tem der Kaby­lei oder die Vor­aus­set­zun­gen zur Ent­ste­hung des eige­nen, kapi­ta­lis­ti­schen öko­no­mi­schen Sys­tems zu erkennen.

Erhiel­ten die Men­schen der Kaby­lei nun finan­zi­el­len Lohn für ihre Arbeit, die vor­her stets ihr gewohn­tes Wirt­schafts­sys­tem von Tausch und Gegen­tausch gewohnt waren, so gaben sie die­ses Geld meist sofort aus, ohne es sich für län­ge­re Zeit ein­zu­tei­len. Sie ver­füg­ten folg­lich nicht über das Ver­ständ­nis im Umgang mit dem Geld, han­del­ten also schein­bar öko­no­misch unver­nünf­tig, waren aber kei­nes­wegs unfä­hig im Ein­tei­len, Vor­rat hal­ten oder Auf­spa­ren gene­rell, son­dern besa­ßen ganz im Gegen­teil durch­dach­te und für sie selbst­ver­ständ­li­che Sys­te­me zum Ein­tei­len ihrer Vor­rä­te an Natu­ra­li­en, waren nun aber auf ein­mal einem Wirt­schafts­sys­tem des Gel­des gegen­über­ge­stellt, das voll­kom­men anders funktionierte.

Die kaby­li­schen Bau­ern ver­füg­ten ergo zwar über die Erfah­rung und das Ver­ständ­nis ihres eige­nen Wirt­schafts­sys­tems, hat­ten jedoch kein Ver­ständ­nis von öko­no­mi­scher Ratio­na­li­tät, wie sie für kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaf­ten selbst­ver­ständ­lich ist, wel­ches ihnen im Kon­text des durch die Kolo­nia­li­sie­rung auf­ge­zwun­ge­nen kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tem aller­dings als selbst­ver­ständ­lich und uni­ver­sell ver­brei­tet unter­stellt wurde.

Jenes Feh­len des moder­nen Ver­ständ­nis­ses der öko­no­mi­schen Ratio­na­li­tät und die damit ein­her­ge­hen­de schein­ba­re „Unver­nünf­tig­keit“ im Umgang mit dem kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tem erweck­te Bour­dieus Inter­es­se zur Ana­ly­se der Ent­ste­hung die­ser Situa­ti­on, wobei er sich kei­nes­wegs von der ver­lo­cken­den, weil ein­fa­chen, eth­no­zen­tris­ti­schen Con­clu­sio ver­lei­ten ließ, die­sen Men­schen vor­schnell ein­fach all­ge­mei­ne oder öko­no­mi­sche Unfä­hig­keit oder Unver­nünf­tig­keit zu attes­tie­ren. Er woll­te viel­mehr her­aus­fin­den, war­um die­se Men­schen nicht über das der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft zugrun­de lie­gen­de und doch als uni­ver­sell geglaub­te Ver­ständ­nis öko­no­mi­scher Ratio­na­li­tät ver­füg­ten; wie­so sie so han­del­ten, wie sie han­del­ten, eben öko­no­misch schein­bar „unver­nünf­tig“.

Der ers­te als auch grund­le­gen­de Schluss sei­ner Erkennt­nis­se und deren Ana­ly­se stell­te dabei dem im kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tem selbst­ver­ständ­li­chen Prin­zip des öko­no­misch-ratio­na­len Han­delns selbst gewis­se sozia­le Vor­aus­set­zun­gen zugrun­de. Zum einen stellt die Struk­tur des kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tems an sich eine sozia­le Vor­aus­set­zung für die Aus­bil­dung des ent­spre­chen­den öko­no­misch-ratio­na­len Han­delns dar, des­sen es bedarf, doch wei­ter­hin sind auch bestimm­te sozia­le Insti­tu­tio­nen, bestimm­te Sicht­wei­sen der Welt, bestimm­te Dis­po­si­tio­nen als Vor­aus­set­zun­gen zu nen­nen. Dem Anspruch der Uni­ver­sa­li­tät des öko­no­mi­schen Den­kens, wie es in kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten ver­stan­den wird, oder gar der Vor­stel­lung eines ent­spre­chen­den uni­ver­sel­len homo oeco­no­mic­us, der die Regeln jenes öko­no­mi­schen Han­delns ganz selbst­ver­ständ­lich beherrscht, erteilt Bour­dieu damit eine kla­re Absa­ge, indem er anführt, dass die­se öko­no­mi­sche Denk­wei­se, wie sie für die kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten cha­rak­te­ris­tisch ist, nur unter bestimm­ten sozia­len Vor­aus­set­zun­gen gebil­det wird und über­haupt nur gebil­det wer­den kann, die aber ihrer­seits nicht uni­ver­sell gel­ten. Wenn­gleich die Men­schen der Kaby­lei nicht über das den kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten ent­spre­chen­de Ver­ständ­nis der öko­no­mi­schen Ratio­na­li­tät ver­füg­ten, waren sie also kei­nes­wegs ‚dumm‘ oder ‚zurück­ge­blie­ben‘, son­dern ledig­lich geprägt durch diver­gie­ren­de sozia­le Vor­aus­set­zun­gen, eben jene der kaby­li­schen vor­ka­pi­ta­lis­ti­schen Welt, die wie­der­um zu einer eige­nen Logik, zu einem eige­nen Wirt­schafts­sys­tem und damit auch zu einer eige­nen öko­no­mi­schen Ratio­na­li­tät führ­ten, was sich auch als Logik der Pra­xis oder prak­ti­sche Ver­nunft bezeich­nen lässt, die eine Logik oder Ver­nunft dar­stellt, die der umge­ben­den gesell­schaft­li­chen Pra­xis ent­spricht. Das Han­deln der Kaby­len war folg­lich zwar öko­no­misch unver­nünf­tig in dem Sin­ne, der der Öko­no­mie­theo­rie der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten zugrun­de liegt, die mit ihrem Ver­ständ­nis von öko­no­mi­schem Han­deln aller­dings nur einen beson­de­ren Fall der all­ge­mei­nen Öko­no­mie von Hand­lun­gen abdeckt und damit jedem Han­deln abseits des mate­ri­el­len Öko­no­mis­mus impli­zit eine öko­no­mi­sche Dimen­si­on abspricht, folg­te aller­dings nichts­des­to­trotz einer eige­nen Logik und einer Ratio­na­li­tät der Pra­xis ihrer vor­ka­pi­ta­lis­ti­schen Welt, die in sich ihren eige­nen öko­no­mi­schen Regeln folgte.

Das Habi­tus-Kon­zept geht genau auf die­sen Umstand ein und liegt des­sen Erklä­rung zugrun­de: Die Men­schen der Kaby­lei hat­ten die für sie selbst­ver­ständ­li­chen Sicht­wei­sen und Hand­lungs­wei­sen durch ihre Pri­mär­er­zie­hung inkor­po­riert, so wie die Men­schen aus den kapi­ta­lis­ti­schen Kolo­ni­al­mäch­ten das ihrer­seits selbst­ver­ständ­li­che Han­deln und die für sie gewohn­ten Sicht­wei­sen inkor­po­riert hat­ten. Die neu­en Bedin­gun­gen, die nun den kaby­li­schen Men­schen auf­er­legt wur­den, waren voll­kom­men neu und ent­spra­chen nicht län­ger den inkor­po­rier­ten Hand­lungs- und Sicht­wei­sen ihres durch die vor­ka­pi­ta­lis­ti­sche Welt der Kaby­lei gepräg­ten Habi­tus. Ihre zwei­te Natur, ihr inkor­po­rier­ter Habi­tus war also mit einem Mal Ver­hält­nis­sen aus­ge­setzt, denen er nicht län­ger ent­sprach – sie waren sozu­sa­gen ‚Gefan­ge­ne‘ ihres Habi­tus, der von gänz­lich ande­ren und damit auch für gänz­lich ande­re gesell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se geprägt wur­de. Bour­dieu bezeich­net die­sen Effekt als hys­te­re­sis, also als eine Art Träg­heit im Habi­tus, die sich gegen­über neu­en Ver­hält­nis­sen äußert (hier sei zum Bei­spiel auf das zuvor erwähn­te Ver­hal­ten im Umgang mit Geld verwiesen).

Habi­tus als Alter­na­ti­ve zur sozia­len Rolle

Ein kon­tro­ver­ser Aspekt bei der Betrach­tung von Indi­vi­du­um und Gesell­schaft ist die Bezie­hung zwi­schen bei­den: „Die Sozio­lo­gie muss die Men­schen als ver­ge­sell­schaf­te­te Indi­vi­du­en den­ken kön­nen“ (Krais 2004, S. 93). Es muss folg­lich ein Kon­strukt gefun­den wer­den, das den objek­ti­ven Sinn, eben dass Gesell­schaft über­haupt besteht bzw. ent­steht, und die sub­jek­ti­ve Absicht der dar­in befind­li­chen Akteu­re, die ja nicht expli­zit lau­tet, nun irgend­wie Gesell­schaft ‚zu machen‘, auf eine rea­lis­ti­sche Wei­se ver­bin­det (vgl. Krais/Gebauer 2002, S. 65f).

Ein sozio­lo­gisch ein­fluss­rei­ches Kon­strukt die­ser Art ist das der sozia­len Rol­le, das aller­dings eini­ge Defi­zi­te auf­weist, die als sol­che mehr oder weni­ger an Beach­tung ver­lo­ren haben, aber selbst fort­be­stehen. Die sozia­le Rol­le zen­triert sich in ihrer Betrach­tung und Erklä­rung der sozia­len Welt auf Nor­men und Regeln, sodass das Indi­vi­du­um gemäß die­ser Denk­art als der Gesell­schaft ent­ge­gen­ge­setz­tes betrach­tet wird und sich an einer bestimm­ten Men­ge von star­ren Regeln und Nor­men zu ori­en­tie­ren hat, um ver­ge­sell­schaf­tet und in sei­ne jewei­li­ge Rol­le gedrängt zu wer­den, wäh­rend hin­ge­gen Bour­dieus Habi­tus-Kon­zept das Indi­vi­du­um von Anfang an als ver­ge­sell­schaf­te­tes Indi­vi­du­um begreift. Eine solch radi­ka­le Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen und Ent­ge­gen­set­zung von Indi­vi­du­um und Gesell­schaft, wie sie das Para­dig­ma der Rol­len-Theo­rie pos­tu­liert, erscheint wenig rea­li­täts­nah und wird von Bour­dieu daher zuguns­ten des von Beginn an ver­ge­sell­schaf­te­ten, gesell­schaft­lich gepräg­ten Indi­vi­du­ums aufgegeben.

Ein zen­tra­ler Kri­tik­punkt am Kon­zept der sozia­len Rol­le ist wei­ter­hin die Abwe­sen­heit eines zen­tra­len Ichs, die Abwe­sen­heit einer Iden­ti­tät der sozia­len Sub­jek­te. Das Kon­zept der sozia­len Rol­le begreift das Han­deln der Men­schen in einer Form, die unter­stellt, dass die­se unter­schied­li­che sozia­le Rol­len spie­len, je nach Situa­ti­on, in der sie sich befin­den. Die­se Rol­len unter­schei­den sich gemäß des Rol­len-Kon­zepts recht deut­lich von­ein­an­der und über­la­gern sich nicht oder nur sehr gering, sind also von­ein­an­der fein säu­ber­lich getrennt, ver­gleich­bar mit dem Begriff des Spiels („play“) im Sin­ne Meads Iden­ti­täts­theo­rie (vgl. Mead 1978), bei dem ver­schie­de­ne Rol­len zeit­lich von­ein­an­der getrennt über­nom­men wer­den. Eine zen­tra­le Iden­ti­tät als Struk­tur diver­ser Dis­po­si­tio­nen, in der die­se unter­schied­li­chen Rol­len ver­eint sind und die sich gegen­sei­tig beein­flus­sen oder zu denen das Sub­jekt in einer gewis­sen Wei­se steht, wird im Rol­len­kon­zept als sol­che gar nicht vor­ge­se­hen (vgl. Krais 2004, S.94).

Das durch das Rol­len­mo­dell prak­ti­zier­te Abspre­chen des Bestehens einer sol­chen per­sön­li­chen Iden­ti­tät ist jedoch äußerst frag­lich, liegt es doch viel­mehr nahe, ganz im Gegen­teil fest­zu­hal­ten, dass eine der­ar­ti­ge sau­be­re Tren­nung ver­schie­de­ner Rol­len nicht exis­tiert. Bour­dieu führt hier zur Ver­an­schau­li­chung das Bei­spiel der indi­vi­du­ell-cha­rak­te­ris­ti­schen Schrift an, die auf jed­we­der Unter­la­ge und mit jed­we­dem Schreib­ge­rät eine per­sön­li­che Prä­gung auf­weist. Mei­nes Erach­tens lässt sich dies in Bezug auf eine zen­tra­le Iden­ti­tät sogar direkt auf den Begriff der Rol­le über­tra­gen, wenn bei­spiels­wei­se eine Thea­ter­auf­füh­rung betrach­tet wird: Zwar kann ein Thea­ter­schau­spie­ler unter­schied­lichs­te Rol­len über­neh­men, die hier, im Thea­ter­schau­spiel, natür­lich noch radi­ka­ler, noch wech­sel­haf­ter und noch gegen­sätz­li­cher sein kön­nen als beim all­täg­li­chen sozia­len Han­deln, aber es wird stets auch eine cha­rak­te­ris­ti­sche Note des Schau­spie­lers erkenn­bar sein. Kurz: „Der Habi­tus ist das ver­ei­ni­gen­de Prin­zip, das den ver­schie­de­nen Hand­lun­gen des Indi­vi­du­ums ihre Kohä­renz, ihre Sys­te­ma­tik und ihren Zusam­men­hang gibt“ (Krais 2004, S. 95).

Das Rol­len­kon­zept beschreibt zusätz­lich zur Ent­ge­gen­set­zung von Indi­vi­du­um und Gesell­schaft eine Ent­ge­gen­set­zung von Kör­per und Geist. Die sozia­le Rol­le ist hier als rein geis­ti­ges Kon­zept zu sehen, das den Kör­per „außer­halb des Sozia­len“ (ebd.) posi­tio­niert, wohin­ge­gen der Begriff des Habi­tus Geist und Kör­per in der sozia­len Pra­xis ver­bin­det, indem der Habi­tus von inkor­po­rier­ter Struk­tur und inkor­po­rier­ter Geschich­te oder inkor­po­rier­ter Erfah­rung aus­geht, wobei die­se Inkor­po­rie­rung durch­aus auch wört­lich zu ver­ste­hen ist, da der spe­zi­fi­sche Habi­tus auch den Kör­per einer Per­son prägt, zum Bei­spiel durch bestimm­te Ver­hal­tens­wei­sen, Bewe­gun­gen oder Sprach­sti­le, und sich dadurch wie­der­um pro­du­ziert und repro­du­ziert. Der Kör­per ist dabei aller­dings nicht bloß Medi­um zur Aus­füh­rung geis­ti­ger Ope­ra­tio­nen, „in dem sich der Habi­tus aus­drückt“ (ebd., S. 96), also blo­ßes mecha­ni­sches Auf­tre­ten des Habi­tus, son­dern selbst Bestand­teil und akti­ver Spei­cher des­sel­ben (vgl. bei­spiels­wei­se Bour­dieu 2001).

Das bewuss­te oder unbe­wuss­te Wis­sen um die Erwar­tun­gen der jeweils ande­ren Men­schen, das bewuss­te oder unbe­wuss­te Anti­zi­pie­ren, stellt einen wei­te­ren wich­ti­gen Unter­schei­dungs­punkt zwi­schen Habi­tus- und Rol­len-Kon­zept dar. Wäh­rend das Rol­len-Kon­zept in ratio­na­lis­ti­scher Manier vor­aus­setzt, stets bewusst die Erwar­tun­gen der ande­ren Akteu­re in Bezug auf bestimm­te Situa­tio­nen oder Anfor­de­run­gen zu anti­zi­pie­ren und es die Erfah­rung und Geschicht­lich­keit aus­blen­det, geht das Habi­tus-Kon­zept Bour­dieus, wie bereits zuvor beschrie­ben, von einer „objektive[n] Zweck­be­stimmt­heit“ aus, ohne dass das sozia­le Han­deln des Ein­zel­nen sub­jek­tiv „bewusst auf einen expli­zit for­mu­lier­ten Zweck bezo­gen wäre“ (Bour­dieu 1981 zitiert nach Krais 2004, S. 96). Viel­mehr wird hier mit einer Selbst­ver­ständ­lich­keit und Unmit­tel­bar­keit agiert, die aus der inkor­po­rier­ten Geschich­te oder Erfah­rung resul­tiert. Bour­dieu ver­wen­det hier­für zur Dar­le­gung die Meta­pher des Spiels (vgl. ebd., S. 97): Die im Habi­tus inkor­po­rier­ten Erfah­run­gen, die inkor­po­rier­te Geschich­te, ermög­licht ein unbe­wuss­tes und intui­ti­ves Han­deln, das sub­jek­tiv nicht expli­zit struk­tur­funk­tio­na­lis­tisch auf einen bestimm­ten Zweck aus­ge­rich­tet sein muss und dabei äußerst krea­tiv zu Wer­ke geht. Es ist also, um die Meta­pher des Spiels auf das Fuß­ball­spiel zu kon­kre­ti­sie­ren, nicht so, dass die Spie­ler in Hin­blick auf einen objek­ti­ven Sinn oder Zweck ihre Hand­lun­gen dem­ge­mäß sub­jek­tiv voll­stän­dig in mecha­nis­ti­scher Art wie in einem Uhr­werk auf­ein­an­der abstim­men, folg­lich eine von außen ange­tra­ge­ne Rol­le erfül­len, zum Bei­spiel anhand bestimm­ter Regeln alle fünf Schrit­te einen Pass spie­len zu müs­sen, son­dern dass sie viel­mehr ein­fach auf Basis ihrer Spiel­erfah­rung spie­len, dabei krea­tiv sind und dar­aus das objek­tiv nach­voll­zieh­ba­re Spiel an sich mit sei­nen von den Spie­lern zuvor erlern­ten Struk­tu­ren, als Meta­pher für Gesell­schaft, erneut ent­steht. Ohne sub­jek­tiv bewusst Bezug auf eine der­ar­ti­ge Norm des Pass­spie­lens zu neh­men, wer­den sich die Spie­ler rein intui­tiv auf Basis des­sen, was sie gelernt haben, den Ball ange­mes­sen zupas­sen und u.a. durch die­ses Pass­spiel ent­steht stets das objek­ti­ve Fuß­ball­spiel, an dem sie teil­ha­ben, das sich und sei­ne Struk­tu­ren auf die­se Wei­se repro­du­ziert. Die Men­schen als Spie­ler im Gesell­schafts­spiel rich­ten ihre Hand­lun­gen folg­lich nicht bewusst dar­auf aus, die­se Gesell­schaft her­zu­stel­len oder Struk­tu­ren zu erhal­ten und wer­den dabei nicht von außen in ihre Rol­len gedrängt, son­dern las­sen durch die unter­schied­lichs­ten (unbe­wuss­ten) all­täg­li­chen Hand­lungs­wei­sen Gesell­schaft ent­ste­hen, die ihrer­seits wie­der­um durch die im Habi­tus ver­in­ner­lich­ten und als selbst­ver­ständ­lich erlern­ten Ver­hal­tens­wei­sen ihre Struk­tur repro­du­ziert: „Die Men­schen ver­hal­ten sich so, wie sie es gelernt haben und wie sie es kön­nen, und Gesell­schaft funk­tio­niert trotz­dem“ (Krais 2004, S. 104). Die Struk­tur der Gesell­schaft und ihre Insti­tu­tio­nen wer­den also nicht durch eine bestimm­te Men­ge star­rer Regeln auf rein geis­ti­ger Ebe­ne rea­li­siert, die den Men­schen im- oder expli­zit auf­ge­zwun­gen wird und die sie ver­in­ner­li­chen müs­sen, damit sie auf die­se oder jene Art inner­halb der gesell­schaft­li­chen Struk­tur zu funk­tio­nie­ren haben, son­dern durch den Habi­tus als Kör­per gewor­de­nes Sozia­les, der die gesell­schaft­li­che Pra­xis regelt und dabei Raum für Spon­ta­nei­tät und Krea­ti­vi­tät bie­tet: „Die Regel­haf­tig­keit der Gesell­schaft und der sozia­len Sub­jek­te ent­steht im kör­per­li­chen Han­deln, und der prak­ti­sche Sinn ist die mit dem Habi­tus gege­be­ne Fähig­keit, Hand­lungs­wei­sen zu erzeu­gen, die mit den sozia­len Ord­nun­gen über­ein­stim­men“ (ebd., S. 95).

In dem­je­ni­gen Spiel, mit dem der per­sön­li­che Habi­tus der Spie­ler über­ein­stimmt, wer­den die Spie­ler nun auf­grund der in ihrem Habi­tus inkor­po­rier­ten Spiel­erfah­rung rein intui­tiv han­deln und müs­sen in einer neu­en Situa­ti­on die­ses Spiels, die noch nie zuvor da gewe­sen ist, nicht erst bewusst dar­über nach­den­ken, was nun zu tun sei. Der Habi­tus ist also inner­halb der Gren­zen die­ses Spiels als Meta­pher für die sozia­len Ver­hält­nis­se und der in ihm inkor­po­rier­ten Spiel­erfah­rung äußerst vari­an­ten­reich und krea­tiv und damit kei­ne blo­ße Ver­in­ner­li­chung einer gewis­sen Anzahl star­rer Regeln, son­dern auch die Vor­weg­nah­me und gleich­zei­ti­ge Her­bei­füh­rung einer wahr­schein­li­chen Zukunft.

Lite­ra­tur:

  1. Bour­dieu, Pierre (2000). Die zwei Gesich­ter der Arbeit. Inter­de­pen­den­zen von Zeit- und Wirt­schafts­struk­tu­ren am Bei­spiel der alge­ri­schen Über­gangs­ge­sell­schaft. Kon­stanz: UVK.
  2. Bour­dieu, Pierre (2001). Habi­tus und Ein­ver­lei­bung. In Pierre Bour­dieu, Medi­ta­tio­nen. Zur Kri­tik der scho­las­ti­schen Ver­nunft (S. 177–188). Frankfurt/M: Suhrkamp.
  3. Krais, Bea­te (2004). Habi­tus und sozia­le Pra­xis. In Mar­ga­re­te Stein­rü­cke (Hrsg.), Pierre Bour­dieu. Poli­ti­sches For­schen, Den­ken und Ein­grei­fen (S. 91–106). Ham­burg: VSA-Verlag.
  4. Krais, Bea­te / Gun­ter Gebau­er (2002). Habi­tus. Bie­le­feld: transcript.
  5. Mead, Geor­ge Her­bert (1978). Iden­ti­tät. In Charles W. Mor­ris (Hrsg.), Geist, Iden­ti­tät und Gesell­schaft aus der Sicht des Sozi­al­be­ha­vio­ris­mus (S. 187–253). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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