Ich ent­zie­he das Vertrauen

Ich ent­zie­he einer Gesell­schaft das Ver­trau­en, die aus Men­schen besteht und trotz­dem auf der Angst vor dem Mensch­li­chen grün­det. Ich ent­zie­he einer Zivi­li­sa­ti­on das Ver­trau­en, die den Geist an den Kör­per ver­ra­ten hat. Ich ent­zie­he einem Kör­per das Ver­trau­en, der nicht mein eige­nes Fleisch und Blut, son­dern eine kol­lek­ti­ve Visi­on vom Nor­mal­kör­per dar­stel­len soll. Ich ent­zie­he einer Nor­ma­li­tät das Ver­trau­en, die sich selbst als Gesund­heit defi­niert. Ich ent­zie­he einer Gesund­heit das Ver­trau­en, die sich selbst als Nor­ma­li­tät defi­niert. Ich ent­zie­he einem Herr­schafts­sys­tem das Ver­trau­en, das sich auf Zir­kel­schlüs­se stützt. Ich ent­zie­he einer Sicher­heit das Ver­trau­en, die eine letzt­mög­li­che Ant­wort sein will, ohne zu ver­ra­ten, wie die Fra­ge lau­tet. Ich ent­zie­he einer Phi­lo­so­phie das Ver­trau­en, die vor­gibt, dass die Aus­ein­an­der­set­zung mit exis­ten­ti­el­len Pro­ble­men been­det sei. Ich ent­zie­he einer Moral das Ver­trau­en, die zu faul ist, sich dem Para­do­xon von Gut und Böse zu stel­len und sich lie­ber an »funk­tio­niert« oder »funk­tio­niert nicht« hält. Ich ent­zie­he einem Recht das Ver­trau­en, das sei­ne Erfol­ge einer voll­stän­di­gen Kon­trol­le des Bür­gers ver­dankt. Ich ent­zie­he einem Volk das Ver­trau­en, das glaubt, tota­le Durch­leuch­tung scha­de nur dem, der etwas zu ver­ber­gen hat. Ich ent­zie­he einer METHO­DE das Ver­trau­en, die lie­ber der DNA eines Men­schen als sei­nen Wor­ten glaubt. Ich ent­zie­he dem all­ge­mei­nen Wohl das Ver­trau­en, weil es Selbst­be­stimmt­heit als untrag­ba­ren Kos­ten­fak­tor sieht. Ich ent­zie­he dem per­sön­li­chen Wohl das Ver­trau­en, solan­ge es nichts wei­ter als eine Varia­ti­on auf den kleins­ten gemein­sa­men Nen­ner ist. Ich ent­zie­he einer Poli­tik das Ver­trau­en, die ihre Popu­la­ri­tät allein auf das Ver­spre­chen eines risi­ko­frei­en Lebens stützt. Ich ent­zie­he einer Wis­sen­schaft das Ver­trau­en, die behaup­tet, dass es kei­nen frei­en Wil­len gebe. Ich ent­zie­he einer Lie­be das Ver­trau­en, die sich für das Pro­dukt eines immu­no­lo­gi­schen Opti­mie­rungs­vor­gangs hält. Ich ent­zie­he Eltern das Ver­trau­en, die ein Baum­haus »Ver­let­zungs­ge­fahr« und ein Haus­tier »Anste­ckungs­ri­si­ko« nen­nen. Ich ent­zie­he einem Staat das Ver­trau­en, der bes­ser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst. Ich ent­zie­he jenem Idio­ten das Ver­trau­en, der das Schild am Ein­gang unse­rer Welt abmon­tiert hat, auf dem stand: »Vor­sicht! Leben kann zum Tode führen.«
Juli Zeh – Cor­pus Delicti

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