Es ist ein verregneter Samstagabend und ich sitze mit dir in einer kleinen Kneipe in Frankfurt Bockenheim. Du trägst Jeans und ein rotes Oberteil, dein Haar ist zu Zöpfen gebunden, du rauchst. Zuvor sind wir essen gewesen, beim Perser, ich habe dich eingeladen, du hast einen ehemaligen Mitbewohner getroffen, dann sind wir kurz durch die Nacht spaziert. Nun trinken wir Cocktails, wir unterhalten uns, wir werden kritisch, wir werden traurig, wir lachen und spinnen herum. Du bist jemand, bei dem ich sein kann, wer ich bin, ohne Unverständnis zu provozieren, ohne mich verstellen zu müssen, ohne Erwartungen zu begegnen, die mir so fremd sind wie eine außerirdische Kultur. Wir teilen eine Sicht auf die Welt, auf das, was uns stört, was wir mögen, und ich merke, ich mag vor allem dich.

Wir stehen uns politisch nahe, wenn man das so ausdrücken kann. Uns eint der Kampf gegen die Übel dieser Welt, doch Hoffnung treibt dich dabei nicht, eher sei es Rastlosigkeit, man könne eben etwas tun oder schweigend resignieren. Eigentlich aber möchtest du hier weg, sagst du, und mit hier meinst du Deutschland, nicht diesen Moment in dieser kleinen, gemütlichen Kneipe. Ein Häuschen, vielleicht ein Bauernhof, gemeinsam mit ein paar Freunden, das wäre das Richtige, erklärst du mir, und deine Augen funkeln ein wenig bei der Vorstellung daran. Du nennst es andächtig Utopia.

Es mangelt am Willen zur Umsetzung, antworte ich dir und es stimmt. Du bist nicht die erste, die mir von diesem Traum vorschwärmt, denn ich kenne viele, die vom Weggehen träumen, vom selbstbestimmten Leben, nur keinen, der es macht. Auch für dich sei es eher ein Plan B, eine Rückzugsmöglichkeit, gesellst du dich zu ihnen, für die Zeit, wenn dir das Leben hier in diesem Land nicht mehr angenehm erscheint.

Ich finde es jetzt schon nicht mehr angenehm, gestehe ich dir, und du bist der erste Mensch, der bei diesen Worten nicht lacht, nicht mindestens schmunzelt oder mich fragend ansieht. Du nämlich schaust mich an, mit einem Blick, der mir sagt, dass du genau verstehst. Wir führen den Gedanken weiter, bis du mir erklärst, wie du dir das Ganze vorstellst, vielleicht in Griechenland, mit ein paar Tieren und Gemüse und was man eben braucht, um so autark zu sein, wie es die Umstände erlauben. Der Abend klingt aus und ich stoße mit dir darauf an, ihn umzusetzen, deinen Plan B, und du lachst und freust dich und sagst: Ja, das machen wir. Ich sehe Zukunft, wo ein Fragezeichen war. Wir sind Komplizen, die den Ausbruch wagen.

In den Tagen darauf rechne ich zusammen, was ich gespart habe, drucke Immobilienangebote aus, reise um die halbe Welt, um mir einen guten Eindruck von den interessantesten Objekten zu machen, lese Bestimmungen, plane voraus. Drei Wochen später treffen wir uns in deiner Wohnung, ich lege dir Fotos vor, ohne dir meinen Favoriten zu verraten, und deine Wahl fällt auf das gleiche Haus. Wir lachen, freuen uns, gehen Planungen durch, überschlagen Finanzen. Ganz die Realistin, die du bist, wirfst du ein, du fändest das alles wunderbar, nur könntest du nicht von heute auf morgen deine Wohnung aufgeben und deinen Job kündigen, da gäbe es Fristen, und dein Kater mache dir Sorgen, der habe doch sein Revier, und all das Rechtliche. Das macht nichts, beschwichtige ich, dann fahre ich alleine schon mal vor, richte alles her, ich kümmere mich um unser Haus, widme mich dem Bürokratischen, freue mich auf dich, und dem Kater wird es gefallen. Du nickst und dann umarmst du mich auf eine Art, dass ich mich fühle, als würde ich nach langer Odyssee zu Hause ankommen.

Am nächsten Tag plündere ich meine Konten, besteige ein Flugzeug und fliege einem neuen Leben entgegen. Ich kaufe ein Haus, das Haus, unser Haus, mit riesigem Grundstück und modrigem Holzzaun rundherum, die Mauern in einem Rotton, der dir gefallen wird, die Zimmer groß genug, falls wir Besuch oder mal Kinder haben wollen. Das Dach ist nicht ganz dicht, wie ich beim ersten Regen feststellen muss, aber wir sind es auch nicht. Ich renoviere, ich streiche, verlege Böden und lerne mauern, ich lege mich ins Zeug und fühle mich zum ersten Mal als freier Mensch. So verbringe ich Wochen, dann Monate. Mit der Begeisterung eines Kindes schicke ich dir immer wieder Fotos und selbstgedrehte Videos, und du sagst, du willst noch deine Promotion fertigstellen, dann kommst du. Ich freue mich wahnsinnig darauf, wenn du kommst, antworte ich dir.

Das Dach ist mittlerweile gut, das Haus bezugsfertig, was auszubessern war, habe ich ausgebessert. Die Renovierung kommt voran, wenn auch langsam, und zwischendrin versuche ich mich als Gärtner, lese mich schlau, pflanze an, gieße, verteile Dünger, hoffe und warte. Einiges gedeiht, manches nicht, und ich bin stolz, weil das für einen ersten Versuch gar nicht so schlecht ist. Du hast von uns beiden den grüneren Daumen, du wirst mich auslachen, wenn du kommst.

Zwei Monate später bekommst du ein Angebot für eine Stelle an der Uni, ein Einjahresvertrag, und du sagst, so lange solle ich mich noch gedulden, danach aber kämst du. Mir macht es nichts aus, die Renovierung braucht noch etwas Zeit, und ich sage, ich freue mich darauf, wenn du kommst, du wirst ein wunderschönes Haus vorfinden.

Draußen wird es langsam grün und ich filme auch das, schicke es dir, will dir zeigen, dass selbst unter meiner Regie pflanzliches Leben möglich ist. Du lachst so herzlich über meine angestrengten Gärtnerversuche, dass alle Kilometer zwischen uns vergessen sind. Kurz bevor du auflegst, seufzt du, denn du wärst so gerne hier, und ich spiele es herunter, es ist doch nicht mal mehr ein Jahr.

Vier Monate vergehen, in denen wir mailen, chatten, telefonieren, ich schicke dir weiterhin Bilder und Videos, hege Vorfreude, und dann schreibst du mir, du bist jetzt an einem Forschungsprojekt beteiligt, das du super interessant findest, und man erwägt, dich fest einzustellen, und wie großartig das ist und ob ich mich freue.

Drei Tage später antworte ich dir, schicke dir einen Link auf ein kleines regionales Nachrichtenportal, schreibe sonst nichts. Du rufst mich an, obwohl du nicht viel Zeit hast, wie du mir erklärst, du machst gerade Pause, gleich musst du zurück. Du bist verwirrt, sagst du, und ob das ein Scherz sei, aber es ist alles echt, versichere ich dir, das Feuer und der Totalschaden. Utopia ist abgebrannt.

4 Kommentare
  1. Der Duderich
    Der Duderich sagte:

    Scheiße, nochmal!
    So ziemlich das romantischste, was ich in letzter Zeit gelesen habe. Auch das melo-dramatischste.
    Eine Geschichte, die zwischen Buchdeckeln gehört!

    Bin über Paulinchen a.Z. auf Dich gestoßen, und Dich spontan in mein Herz (weil ich Dein Hochgefühl und Deinen emotionalen Absturz so gut nachvollziehen kann) und in meine Blog-Roll aufgenommen.

    Wahre Geschichte?
    (Wie) Geht es weiter?

    Grüße, Duderich

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  2. S aus L
    S aus L sagte:

    Die Geschichte ist toll und so zutreffend, dass mir fast die Tränen in den Augen stehen. Diese Gespräche mit Freunden kenne ich, wie oft hat man gegrübelt über dieses Leben… und es mit Midlifecrisis abgetan, weil man es einfach nicht schafft auszubrechen …und mit allem Gewesenen (inklusive anerzogener Hoffnungen, es doch noch in dieser Gesellschaft zu etwas zu bringen) abzubrechen.

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