Schnipsel
Zitate, Musik und Aufgeschnapptes
Sometimes they call it a heartbeat, but it’s much quicker than that
Ballboy – Where Do the Nights of Sleep Go To When They Do Not Come to Me
Man zitiert immer wieder Talleyrands Satz, die Sprache sei dazu da, die Gedanken des Diplomaten (oder eines schlauen und fragwürdigen Menschen überhaupt) zu verbergen. Aber genau das Gegenteil hiervon ist richtig. Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag. Das ist wohl auch der Sinn der Sentenz: Le style c’est l’homme; die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen.
(Victor Klemperer – LTI)
Wenn ich fünfundzwanzig Jahre lang keinen Cent ausgäbe, jede Monatsheuer sorgfältig auf die andre legte, während der ganzen Zeit nie ohne Arbeit wäre, dann könnte ich nach Ablauf jener fünfundzwanzig Jahre unermüdlichen Arbeitens und Sparens mich zwar nicht zur Ruhe setzen, könnte aber nach weiteren fünfundzwanzig Jahren Arbeitens und Sparens mich mit einigem Stolz zur untersten Schicht der Mittelklasse zählen. Zu jener Schicht, die sagen darf: Gott sei gelobt, ich habe einen kleinen Notpfennig auf die Seite gelegt für Regentage. Und da diese Volksschicht jene gepriesene Schicht ist, die den Staat in seinen Fundamenten erhält, so würde ich dann ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft genannt werden können. Dieses Ziel erreichen zu können, ist fünfzig Jahre Sparens und Arbeitens wert. Das Jenseits hat man sich dann gesichert und das Diesseits für andre.
(B. Traven – Das Totenschiff)
Das symbolische Kapital besteht aus einem beliebigen Merkmal, Körperkraft, Reichtum, Kampferprobtheit, das wie eine echte magische Kraft symbolische Wirkung entfaltet, sobald es von sozialen Akteuren wahrgenommen wird, die über die zum Wahrnehmen, Erkennen und Anerkennen dieser Eigenschaft nötigen Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien verfügen: Ein Merkmal, das, weil es auf sozial geschaffene »kollektive Erwartungen« trifft, auf Glauben, eine Art Fernwirkung ausübt, die keines Körperkontakts bedarf. Man gibt einen Befehl, und es wird ihm gehorcht: Dies ist ein zutiefst magischer Akt. (…) Damit der symbolische Akt eine derartige, ohne sichtbare Verausgabung von Energie erzielte magische Wirkung ausüben kann, muß ihm eine oft unsichtbare und jedenfalls vergessene, verdrängte Arbeit vorangegangen sein und bei den Adressaten dieses Erzwingungs- und Befehlsaktes diejenigen Dispositionen erzeugt haben, deren es bedarf, damit sie, ohne daß sich ihnen die Frage des Gehorsams überhaupt stellte, das Gefühl haben, gehorchen zu müssen. Die symbolische Gewalt ist jene Gewalt, die, indem sie sich auf die »kollektiven Erwartungen« stützt, auf einen sozial begründeten und verinnerlichten Glauben, Unterwerfungen erpreßt, die als solche gar nicht wahrgenommen werden.
(Pierre Bourdieu – Die Ökonomie der symbolischen Güter, in: Praktische Vernunft)
Unsereiner muß ja immer warten, wohin er auch kommt. Denn wer kein Geld besitzt, von dem nimmt man an, daß er wenigstens unermeßlich viel Zeit hat. Wer Geld besitzt, kann es mit Geld abmachen; wer kein Geld zum Hinlegen hat, muß es mit seiner Zeit bezahlen und mit seiner Geduld. Denn wird man gar aufsässig oder äußert man seine Ungeduld in einer Weise, die unbeliebt ist, so weiß der Beamte so viele Wege zu gehen, daß man viermal mehr an Zeit bezahlen muß. So beläßt man es bei der Zeitstrafe, die einem auferlegt wird.
(B. Traven – Das Totenschiff)
I don’t need another friend,
when most of them,
I can barely keep up with.
I’m perfectly able to hold my own hand,
but I still can’t kiss my own neck.
Wye Oak – Civilian
Was schon könnte man an Lohnenswertem oder Nützlichem bekennen? Was uns widerfahren ist, ist entweder allen widerfahren oder uns allein; in dem einen Fall ist es nichts Neues, im anderen unbegreiflich. Wenn ich schreibe, was ich empfinde, dann weil ich auf diese Weise das Fieber meines Empfindens senke. Was ich bekenne, ist nicht von Bedeutung, denn nichts ist von Bedeutung. Ich mache Landschaften aus dem, was ich empfinde. Mache Ferien von meinen Gefühlen. Ich begreife ohne weiteres, daß Frauen aus Kummer sticken und Strümpfe stricken, weil es Leben gibt. Meine alte Tante legte endlose Abende lang Patiencen. Meine Patiencen sind meine Gefühlsbekenntnisse.
Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe
Looking for somewhere to stand and stay I leaned on the wall and the wall leaned away.
The National – Slow Show
An dieser Stelle ist es nötig, etwas zur soziologischen Sicht des menschlichen Seins zu sagen. Kriminalität wird zum Beispiel als eine Folge der Armut gesehen. Doch dies erklärt nicht, warum die Mehrheit nicht kriminell wird. Daraus wiederum kann man aber nicht schlußfolgern, Armut hätte keinen Zusammenhang mit Kriminalität. Man kommt nicht umhin, einiges zu differenzieren. Wenn ein Hungriger stiehlt, handelt er nicht aus Habgier; und wenn er dabei, ohne es zu wollen, jemanden umbringt, ist es kein vorsätzlicher Mord. Andererseits gehören die Reichen und Mächtigen zu jenen in unserer Gesellschaft, die Kriege anzetteln, die Lebensgrundlage anderer Menschen zerstören, Natur und Menschen vergiften. Sie aber sitzen nicht in den Gefängnissen. Kriminalstatistiken verzeichnen nur deshalb mehr Arme als Reiche, weil solche Statistiken der Ideologie der Reichen und Mächtigen unterliegen und weil sie nicht alle Formen von Destruktivität aufführen.
(Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität)
Sinnkrise. Ich komm in die Beratung, sagt stockend ein Klient, weil ich so komisch traurig bin die ganze Zeit, weil alles mich so sinnlos dünkt. – (Berichtigung: Dies sagt nicht ein Klient, sehr viele sagen es; ich wähle stellvertretend einen und nenn ihn Zemp und referiere lückenhaft.)
Wuchs gedrungen. Fleischige Gestalt. Gliedmaßen kurz. Gang eher schleppend. Gute, blaue Augen. Trevira-Hosen, bügelfrei, handgestrickte Weste. Zemp ist ein Volksschullehrer, Mitte vierzig, Familie, im Militär Major.
Weiß Ihre Frau um Ihren Zustand?
Neinnein.
Sie sagen zweimal nein, warum?
Ich will es ihr nicht sagen, es würde sie belasten.
Spürt sie’s nicht ohnehin?
Ich nehme mich zusammen.
Sie haben also das Gefühl, es würde Ihre Frau belasten, wenn Sie ihr anvertrauten, wie’s Ihnen wirklich geht?
Ja, schon. Ich … ich bin sonst eben nicht so schwach. Ich muß dagegen kämpfen, und Sie als Fachmann, dachte ich, Sie kennen doch die Waffen.
Sie hassen Ihre düstere Gemütsverfassung?
Sehr.
Und das Gefühl, daß alles sinnlos ist, scheint Ihnen ungehörig?
Es ist ein Virus, wie ein Virus. Ein Überfall.
Ich kürze ab: Natürlich besteht die erste Phase der »Behandlung« darin, dem Zemp zu zeigen, daß man auch als Major und Ehemann und Vater ein bißchen schwach sein darf; daß zweitens Probleme seiner Art rein waffentechnisch nicht zu lösen sind; daß drittens ein Symptom so wenig feindlich wie ein Leuchtturm ist, der auf Gefahrenzonen hinweist. – Und in der nächsten Phase, die ich »politisch« im weiten Wortsinn nennen möchte, geht es dann darum, zu erwägen, ob Sinnlosigkeitsgefühle und Betrübnis nicht allenfalls verstanden werden könnten als durchaus angemessene, Intaktheitssehnsucht offenbarende Reaktionsgebärden gegen eine Wirklichkeit, die über weite Strecken so beschaffen ist, daß einer, der sich in ihr nicht traurig fühlt, sein Trauerdefizit betrauern müßte.
(Markus Werner – Froschnacht)
Neueste Kommentare