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Angesichts der ernüchternden Ergebnisse der unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen durchgeführten Bemühungen, die sozialen Chancenungleichheiten im Bildungssystem abzubauen, ist der Frage nachzugehen, welche Funktion das Schulsystem innerhalb dieser gesellschaftlichen Umstände einnimmt und ob diese Funktion einen Abbau sozialer Ungleichheiten prinzipiell überhaupt fördern kann oder soll.

Zunächst steht der Behauptung, Kinder und Jugendliche bedürften einer einheitlich regulierten Institution, um am gesellschaftlichen Leben erfolgreich teilzunehmen sowie die kulturellen Umgangsformen und Errungenschaften zu erlernen oder zu inkorporieren, die empirische Aussagekraft von knapp einhunderttausend Jahren menschlicher Kulturgeschichte entgegen (vgl. Bock, 2008; zur radikalen Schulkritik exemplarisch Holt, 1976; Illich, 1995), sodass als einzig genuine Legitimation des Bestehens einer Institution Schule nur die Selektionsfunktion in Hinblick auf die Verwertbarkeit ihrer Schüler am Arbeitsmarkt bestehen bleibt[1] – zusätzlich zur Funktion der Reproduktion sozialer Ungleichheit, die als zu überwindendes Defizit verschleiert ist, womit deren systemimmanenter Charakter überspielt wird. Institutionalisierte, formalisierte, standardisierte Bildung war seit ihrer Entstehung immer ein Herrschaftsinstrument, das das Exkludieren und Festlegen von Regeln erlaubt und zu einer kulturellen wie Bildungsselektion führt, „die dem eigentlichen Ziel von ‚Bildung‘, nämlich für das Leben zu lernen, entgegensteht“ (Bittlingmayer & Grundmann, 2006, S. 94):

„Wenn wir auf allen Gebieten das Verlangen nach der Einführung von geregelten Bildungsgängen und Fachprüfungen laut werden hören, so ist selbstverständlich nicht ein plötzlich erwachender ‚Bildungsdrang‘, sondern das Streben nach Beschränkung des Angebots für die Stellungen und deren Monopolisierung zugunsten der Besitzer von Bildungspatenten der Grund“ (Weber, 1980, S. 577).

Schulische Bildungsprozesse legen weniger Wert auf Bildung an sich, als vielmehr auf Bildungszertifikate, die „über herrschaftsabhängige Zertifizierungsprozesse“ (Solga, 2005, S. 28) erworben werden müssen. Das Schulsystem bezieht sich folglich in erster Linie auf einen systemfunktionalen Bildungsbegriff und weniger auf eine individuell-lebensweltliche und gesamtgesellschaftlich-emanzipative Ebene, fungiert mit seiner „bedarfsangemessenen Begrenzung höherer Bildung“ (Büchner, 2003, S. 9) somit „als Akteur der Produktion der Produzenten“ (Hepp, 2009, S. 30). Was innerhalb des Schulsystems stattfindet, orientiert sich nur vordergründig an den Bedürfnissen der Schüler und stellt vielmehr „dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für die Zuordnung von Personen zu Positionen Qualifikations- bzw. Kompetenzsignale zur Verfügung“ (Solga, 2005, S. 27; vgl. Huisken, 2005). Diese systemfunktionale, dem Primat des Arbeitsmarkts unterworfene Perspektive, die die Verwertbarkeit von Bildung in den Fokus rückt, nicht die Alltagsrelevanz, wird von einem Großteil der Erziehungs- und Bildungsforschung übernommen, die damit ihrerseits – bewusst oder unbewusst – zur Reproduktion sozialer (Bildungs-)Ungleichheiten beiträgt:

„In den meisten Arbeiten zur Bildungsungleichheit wird das leistungsfixiert hierarchisierende Bildungssystem nicht in Frage gestellt, obwohl es selbst in einem vergleichsweise egalitär ausgerichteten sozialen Gefüge notwendig Bildungshierarchien erzeugt“ (Grundmann, Dravenau, & Bittlingmayer, 2006, S. 250; vgl. Grundmann, 2011).

Die Analyse der Bildungsprozesse und -ungleichheiten, selbst die kritische, orientiert sich häufig ergo zu sehr an den hegemonialen normativen Grundannahmen und den faktischen Gegebenheiten, ohne diese in Frage zu stellen, was aber gerade kritische Wissenschaft auszeichnen würde[2]. Da Schule als solche unhinterfragt übernommen wird und sich die Bildungsforschung an ihr orientiert, „kommen nur diejenigen individuellen Kompetenzentwicklungen in den Blick, die in gewisser Hinsicht schulbildungskonform sind“ (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Edelstein, 2006, S. 16; vgl. Grundmann, Dravenau, & Bittlingmayer, 2006), d.h. „alle nicht schulkonformen Wissensbestände [werden] bildungssoziologisch abgewertet“ (Bittlingmayer, 2006, S. 53). Solange die das Schulsystem rahmenden gesellschaftliche Verhältnisse, die Arbeitsmarktorientierung und die kulturelle Hierarchisierung an sich nicht in Frage gestellt werden, „darf auch der Suche nach neuen, den gesellschaftlichen Verhältnissen angepassten Erziehungsidealen eine gesunde Skepsis entgegengebracht werden“ (Grundmann, 2011, S. 82). Gerade die deutsche PISA-Diskussion belegt die analytische Kurzsichtigkeit weiter Teile von Politik und Bildungsforschung, da – den ökonomisch-funktionalistischen, defizitorientierten Bildungsbegriff der OECD übernehmend, der zugunsten eines Bildungsverständnisses der ‚Qualifikationen‘ die unterschiedlichen sozialen Bildungsbedingungen vernachlässigt (vgl. Otto & Schrödter, 2010; Raidt, 2009) – größerer Fokus auf die unterdurchschnittliche Leistung deutscher Schulkinder als auf soziale Ungleichheit gelegt wurde (vgl. Solga, 2005, S. 30) und in der Folgezeit eine verstärkte Ausrichtung der Schule an wirtschaftlichen Maßstäben (vgl. Ball & Youdell, 2008; Rohlfs, 2011; Raidt, 2009) gefordert und auch umgesetzt wurde. Bildung und Bildungserfolg werden in diesem Kontext reduziert auf eine Steigerung der Konkurrenzfähigkeit, sowohl auf individueller sowie auf internationaler Ebene: „Insgesamt wird deutlich, dass PISA ein normatives und funktionales Bildungsverständnis transportiert, das auf die effiziente Ausbildung von Humanressourcen ausgerichtet ist“ (Raidt, 2009, S. 205).

Angesichts dieser Funktion des Schulsystems und der eingeschränkten kritischen Debatte, die darüber geführt wird, ist fraglich, ob eine umfassende Reform des Bildungssystems zur Reduzierung sozialer Bildungsungleichheiten unter diesen Vorzeichen überhaupt möglich ist – selbst eine rationale Pädagogik (vgl. Bourdieu 2001) beispielsweise dürfte mit ihrer an den individuellen Bildungsbedürfnissen orientierten Perspektive recht schnell in Widerspruch zur arbeitsmarktorientierten Perspektive treten, wenngleich das Gros bisheriger Untersuchungen zur Bildungsungleichheit doch gezeigt hat, dass weniger die von PISA bewerteten ‚Qualifikationen‘, sondern vielmehr materielle Mittel, kulturelles Kapital und entsprechende Habitus Voraussetzungen für schulischen Erfolg sind.


[1] Damit sollen die positiven Effekte der Schule nicht ignoriert werden, nur sind diese auch ohne derartige Institution realisierbar, während die Selektions- und Legitimationsfunktionen dem Schulwesen eigen sind.

[2] Dieser eingeschränkte soziologische Blick ist zum Teil sicher auch dem Umstand geschuldet, im Rahmen des politisch Gewünschten bleiben zu wollen, um überhaupt politisches Gehör zu finden.

 


Literatur:

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  9. Grundmann, M., Dravenau, D., & Bittlingmayer, U. H. (2006). Milieuspezifische Handlungsbefähigung an der Schnittstelle zwischen Sozialisation, Ungleichheit und Lebensführung? In M. Grundmann, D. Dravenau, U. H. Bittlingmayer, & W. Edelstein, Handlungsbefähigung und Milieu. Zur Analyse milieuspezifischer Alltagspraktiken und ihrer Ungleichheitsrelevanz (S. 237-251). Berlin: LIT Verlag.
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  13. Illich, I. (1995). Entschulung der Gesellschaft. München: Beck.
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  16. Rohlfs, C. (2011). Bildungseinstellungen. Schule und formale Bildung aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  17. Solga, H. (2005). Meritokratie – die moderne Legitimation ungleicher Bildungschancen. In P. A. Berger, & H. Kahlert (Hrsg.), Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert (S. 19-38). Weinheim und München: Juventa.
  18. Weber, M. (1980). Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Mohr (Siebeck).

„In der Regel fehlen denen, die über Bildungskapital in nennenswertem Umfang nicht verfügen, die ›richtigen‹ Informationen für eine in die höchsten Positionen führende Bildungsinvestition, es fehlt ihnen die Vertrautheit mit den Strukturen und Werten der Schule, und wo diese nicht fehlt, wie zum Beispiel in den Familien der Lehrer oder der kleinen Beamten, da fehlen ihnen die materielle Sicherheit und auch die Sicherheit des Habitus, die jene riskanten Bildungswege ermöglichen würden, die den höchsten Gewinn versprechen“ (Krais & Gebauer, 2002, S. 41).

Zusätzlich zu einer kulturellen und habituellen Passung, die sich als primärer Herkunftseffekt auf die schulischen Leistungen auswirkt, ist die Bildungslaufbahn innerhalb des Schulsystems von zahlreichen sich kumulierenden Entscheidungen geprägt, die je nach sozialer Herkunft unterschiedlich ausfallen, von der Wahl der vorschulischen Betreuung und der Grundschule, über die weiterführende Schulform, die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung oder eines Studiums bis hin zur Wahl des spezifischen Studienfachs. Diese Bildungsentscheidungen sind vor allem in den ersten Abschnitten des Bildungsverlaufs wie etwa beim Übergang von der Grund- in die weiterführende Schule elterliche Entscheidungen, während später auch der Schüler selbst die Entscheidungen beeinflussen kann[1].

In der Bildungsforschung dominieren verschiedene, auf Boudons (1974) Modell rationaler Wahlentscheidungen fußende Konzepte (für einen Überblick siehe Maaz, Hausen, McElvany, & Baumert, 2006; Becker R., 2011; Stocké, 2010) die Erklärung der herkunftsspezifischen Bildungsentscheidungen, wie etwa die Theorie rationaler Bildungsentscheidungen (vgl. Erikson & Jonsson, 1996), der mikrotheoretische Ansatz (vgl. Breen & Goldthorpe, 1997) oder die Wert-Erwartungs-Theorie (vgl. Esser, 1999). Der Kern all dieser Theorien „besteht in der Annahme, dass Individuen bei der Entscheidungsfindung kalkulieren, welche Erträge sich aus dem Besuch eines bestimmten Bildungsgangs ergeben und welche Kosten damit verbunden sind“ (Maaz, Hausen, McElvany, & Baumert, 2006, S. 303; vgl. Hillmert, 2007), demzufolge es sich bei Bildungsentscheidungen um zukunftsorientierte, nutzenmaximierende, zielgerichtete rationale Abwägung als „Teil der Lebensplanung“ (Becker R., 2011, S. 107) handele. Verallgemeinernd wird hierzu das Motiv des Statuserhalts unterstellt (vgl. Maaz, 2006; Maaz, Hausen, McElvany, & Baumert, 2006; Becker R., 2007; Hillmert, 2007; Becker R., 2011), das als alleiniges Motiv allerdings bereits zu kurz greift, da milieuspezifische Einstellungsmuster und Bildungsaspirationen gegenüber der Schule existieren, die sich in entsprechenden herkunftsspezifischen ‚Strategien‘ äußern, seien es je nach Milieu etwa Aufstiegs- oder Vermeidungsstrategien. Damit verbunden ist zudem die Frage, wessen Nutzen eigentlich gemeint ist, wenn von Nutzenmaximierung gesprochen wird (vgl. Ditton, 2007, S. 251) – der der Familie, der des Kindes oder gar ein gänzlich anderer.

Die ungleichen, herkunftsspezifischen Bildungsentscheidungen werden in diesem Kontext mit einer je nach sozialer Herkunft unterschiedlich ausfallenden Einschätzung und Bewertung der eigenen Leistungen, des potentiellen Studienerfolgs und des Kostenrisikos erklärt (vgl. Becker & Lauterbach, 2007; Becker R., 2010), d.h. „[d]ie Rationalität der Bildungsentscheidung ergibt sich daher aus der (vernünftigen) Beachtung von Möglichkeiten und Zwängen der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, die wiederum mit der sozialen Position der Familie und ihren Ressourcen gegeben sind“ (Becker R., 2007, S. 165). Wenngleich darauf hingewiesen wird, dass derartige „Evaluations- und Auswahlprozesse (…) nicht zwangsläufig bewusst vorgenommen werden“ (Becker R., 2011, S. 127) müssen, wird doch immer wieder betont, derartige Bildungsentscheidungen basierten auf „komplexen  Entscheidungsprozessen, denen in der Regel mehr oder weniger umfassende Informationssuchen, selektive Informationsverarbeitungen und darauf basierende Abwägungsprozesse vorausgehen“ (ebd., S. 107) – hier wird entweder ein Widerspruch offenbar, oder es handelt sich um eine Einschränkung der latent rationalistischen Sichtweise zugunsten anderer Erklärungsansätze wie etwa unter Zuhilfenahme des Habituskonzepts. Für letzteres spricht, dass zugleich ‚frames‘ und ‚habits‘ angeführt werden, die zu sicheren und ‚automatischen Entscheidungen‘ führen sollen, da sie „sich in der Vergangenheit immer bewährt haben“ (ebd., S. 127) und es die „Unbestimmtheit der konkreten Handlungssituation (…) möglicherweise strukturell unmöglich [macht], i.e.S. ‚rational’ zu handeln“ (Hillmert, 2007, S. 92), weswegen auf bewährte, erfahrungsmäßige (und eher unbewusste) Handlungsmechanismen zurückgegriffen werden muss.

In diesem Sinne soll das Konzept der rationalen Wahl mit jenem des Habitus verbunden werden, da „rationale Entscheidungen üblicherweise mit den inkorporierten Schemata des Habitus weitgehend zusammenfallen“ (Lange-Vester & Teiwes-Kügler, 2006, S. 60; vgl. Vester, 2006; Grundmann, 2006), was nichts anderes bedeutet, als dass ein Individuum die objektiven Perspektiven, Chancen und Wahrscheinlichkeiten habituell verinnerlicht hat, die somit zur Grundlage der eigenen, subjektiven herkunftsspezifischen Rationalität geworden sind, sodass objektive Möglichkeiten und subjektive Entscheidungen in einer Art Wahl der wahrscheinlichsten Zukunft – vermittelt über die implizite Komplizenschaft des Habitus mit den ihn erzeugenden Strukturen – in der Regel übereinstimmen, da der Habitus und der mit ihm einhergehende praktische Sinn als „Natur gewordene, in motorische Schemata und automatische Körperreaktionen verwandelte gesellschaftliche Notwendigkeit“ (Bourdieu, 1987b, S. 127; vgl. Krais & Gebauer, 2002) eine Rationalität erzeugt, die den erfahrenen gesellschaftlichen Umständen am besten angepasst ist: „Ob die Wahl eines Studiums oder die Entscheidung für einen Lehrberuf eher rational kalkulierend oder eher ohne spezifische Kalkulation erfolgt, lässt sich deshalb oft gar nicht unterscheiden, weil beide Logiken des Handelns zu übereinstimmenden Ergebnissen führen“ (Lange-Vester & Teiwes-Kügler, 2006, S. 60) und „Übereinstimmungen zwischen dem Willen der Akteure und den Lenkungen des Bildungssystems die Regel sind“ (Lange-Vester, 2009, S. 273). Wenn also eine rationale Wahl per Beobachtung konstruiert wird, heißt das nicht zwangsläufig, dass der Akteur diese auch bewusst als rationale Wahl erfahren bzw. vollzogen hat, da „bewusstes und kalkulierendes Handeln im Alltag von Menschen einen Sonderfall, keineswegs den ‚Normalmodus‘ des Handelns darstellt“ (Bittlingmayer, 2006, S. 45; vgl. Vester, 2004), sind doch die „einträglichsten Strategien (…) meist die, welche außerhalb jeder Berechnung (…) erzeugt werden“ (Bourdieu, 1987a, S. 116), weshalb zwar „eine sehr enge Korrelation zwischen wissenschaftlich konstruierten objektiven Wahrscheinlichkeiten (…) und subjektiven Erwartungen“ (ebd., S. 100) festgestellt werden kann, die aber nicht als Beleg für bewusst-kalkulierendes Handeln missverstanden werden sollte (vgl. ebd.; Krais & Gebauer, 2002; Wigger, 2009; Bourdieu & Wacquant, 1996).

Über den Habitus werden in der Regel „die unwahrscheinlichsten Praktiken (…) durch eine Sofortunterwerfung unter die Ordnung, die aus der Not gern eine Tugend macht, also Abgelehntes verwirft und Unvermeidliches will, als undenkbare ausgeschieden“ (Bourdieu, 1987a, S. 100), bevor überhaupt eine bewusst-kalkulierende Abwägung stattfinden kann; so zum Beispiel im Fall des schulablehnenden Verhaltens unter Kindern aus schulbildungsfernen Milieus, denn hierbei werden die Spielregeln von vornherein abgelehnt, das Spiel nicht anerkannt, weil die ohnehin geringen objektiven Erfolgschancen bereits habituell verinnerlicht worden sind. Bildungsstrategien und rationale Bildungsentscheidungen können somit nicht anders begriffen werden denn als „eine (implizite) Vernünftigkeit der Handlungspläne, wie sie sich aus dem Habitus des Individuums bzw. der Familie und aus der jeweiligen Position im sozialen Raum ergibt“ (Brake & Büchner, 2009, S. 69), dementsprechend diese Vernünftigkeit mit den jeweils milieuspezifischen Alltagspraktiken, deren Zusammenwirken mit dem Handlungsfeld Schule, der unterschiedlichen Schulnähe und der Wertschätzung der Schule als auch der von der Schule erfahrenen Wertschätzung variiert (vgl. Lange-Vester & Teiwes-Kügler, 2006; Grundmann, 2006) und nicht objektiv fassbar, sondern nur anhand der subjektiven Dispositionen erklärbar ist.

Jeder rationalistische Erklärungsansatz der Bildungsentscheidungen ist folglich „intellektuellozentrisch“ (Bourdieu & Wacquant, 1996, S. 153) und begeht daher den Fehler, objektiv feststellbare Strategien als subjektive Strategien zu interpretieren und dahingehend umzudeuten (vgl. Bourdieu, 1998, S. 207 & 210; Bourdieu & Wacquant, 1996, S. 100; Krais & Gebauer, 2002, S. 23), womit er einer retrospektiven Illusion aufliegt, indem „die objektiv finalisierte Aktion des Habitus als das Ergebnis einer bewussten und kalkulierten (…) Strategie aufgefasst wird und nicht als eine objektive Strategie, die ihren Erfolg vielfach nur ihrer Unbewusstheit (…) verdankt“ (Bourdieu, 2011, S. 25), zumal es trivial bis tautologisch anmutet zu konstatieren, Akteure entschieden sich in einem rationalen Prozess für diejenige Alternative, die bei rationaler Abwägung am sinnvollsten sei.

Hinzu kommen Konfliktverhältnisse zwischen Alltagspraxis und schulischer Praxis, die maßgeblichen Einfluss auf die jeweils verfolgten Bildungsstrategien ausüben. In den unteren, schulbildungsferne(re)n Milieus provoziert die Schule einen „konflikthafte Gegensatz, der hier zwischen lebensweltlich relevanter und institutionell geforderter Bildung besteht“ (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2007, S. 48; vgl. Bittlingmayer & Grundmann, 2006; Dravenau & Groh-Samberg, 2005), der letzten Endes eine die soziale Identität massiv beeinträchtigende Bildungsentscheidung hervorruft, die zugunsten der Schule und gegen das Herkunftsmilieu oder zugunsten des Herkunftsmilieus und gegen die Schule ausfällt, denn jene „Handlungsbefähigungen und Kompetenzen, die in der einen Welt zählen, sind in der jeweils anderen nichts wert“ (ebd., S. 49). Spätestens an dieser Stelle sollte deutlich werden, dass eine rein auf Nutzenmaximierung und rationale Abwägung fokussierte Analyse derartige identitätsstiftende oder -bedrohende Einflüsse und potentielle Entfremdungsprozesse größtenteils ignoriert und nur eine lückenhafte Erklärung leisten kann, die der Akteursperspektive kaum gerecht wird, da auch die zu erwartende Entfremdung und Entbehrung und die damit einhergehenden Zumutungen in die Bildungsentscheidungen eingehen (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Edelstein, 2006). Die vor allem bei Familien mit niedrigem Bildungsstatus zu beobachtende Selbsteliminierung aus dem Schulsystem, d.h. die Wahl wenig ertragreicher Bildungslaufbahnen, der Abbruch derselben oder die Entwicklung von Gegenwelten kann darum als Selbstschutz verstanden werden, um „der weiteren Konfrontation mit den lebensweltlich inkommensurablen Imperativen schulischer Bildung aus dem Weg [zu] gehen“ (Grundmann, Groh-Samberg, Bittlingmayer, & Bauer, 2003, S. 39; vgl. Ditton, 2010; Dravenau, 2006).

Unzureichende analytische Schärfe weisen die Rational-Choice-Theorien auch hinsichtlich des herkunftsspezifischen Zeithorizonts bei der Bildungsplanung auf (vgl. Becker R., 2010; Becker R., 2011; Ditton, 2007), der von der materiellen und kulturellen Situation der Familie abhängig ist. Die Vorstellung im Kontext der Theorien rationaler Wahl lautet vereinfacht ausgedrückt: Aufgrund der materiellen Situation und weil die Ausbildungswege unterschiedliche Kosten und Nutzen aufweisen, wird von den Akteuren in einem mehr oder weniger rationalen Prozess der bewusste Zeithorizont angepasst, der für Planungen zur Verfügung steht. Diese Vorstellung ist erneut als rationalistisch zurückzuweisen, da sich der herkunftsspezifische Zeithorizont nicht nur in rationaler Betrachtung und dem Maß der kalkulierenden Vorausplanung äußert, sondern auch im Denken, der Wahrnehmung und somit dem Habitus an sich (vgl. Bourdieu, 2000; Garhammer, 2002; Levine, 1999). Da untere, schulbildungsferne Milieus über kaum materielles und kulturelles Kapital verfügen und „lebensweltlich gerade darauf angewiesen sind, nur geringe Erwartungen an ihre Zukunft, an die Planbarkeit ihres Lebens und an längerfristige Ziele und biografische ‚Projekte‘ zu stellen“ (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2007, S. 56), entwickeln sie einen Habitus der Not, der als einzige lebensweltlich praktikable Strategie auf Hedonismus und das Genießen des im Augenblick Gegebenen setzt (vgl. Bourdieu, 1982, S. 297) und damit den Zeithorizont stark einschränkt  – dies allerdings nicht als Ergebnis bewusster Prozesse, sondern im Sinne einer habituellen Anpassung an die lebensweltlichen Erfordernisse. Dies bedeutet, für riskantere Ausbildungsgänge und umfassende Bildungsplanungen können sich hauptsächlich solche Akteure entscheiden, die über einen entsprechenden habituellen Zeithorizont und die diesem zugrundeliegende ökonomische Grundlage verfügen, wohingegen in „unberechenbaren Lebensverhältnissen (…) das Ethos planmäßiger Lebensführung wenig [nutzt]“ (Vester, 2004, S. 46), da es mit den alltäglichen Praxen, die zum (Über-)Leben im Herkunftsmilieu notwendig sind, kollidiert.

Vermeintlich irrationale Bildungsentscheidungen, wie etwa die Wahl der Realschule statt des Gymnasiums oder der Abbruch eines Studiums, sind folglich nicht als irrational im eigentlichen Sinne zu begreifen, da dies die jeweils herkunftsspezifische Rationalität verkennen würde, auf der die Entscheidungen basieren, ohne dabei zwingend Ausdruck subjektiv rationaler Entscheidungen zu sein, „sondern sie können im jeweiligen sozialen Kontext funktional sein“ (Hillmert, 2007, S. 91; vgl. Bittlingmayer, 2006; Dravenau, 2006; Grundmann, 2006) und lediglich unterschiedliche Anschlussfähigkeit an die Anforderungen des institutionalisierten Bildungswesens aufweisen:

„Jede Einzelentscheidung, durch die sich ein Kind vom weiteren Bildungsaufstieg ausschließt oder in einen aussichtlosen Zweig relegieren läßt, resultiert, selbst wenn sie durch den Druck innerer Berufung oder die Feststellung unzureichender Befähigung erzwungen scheint, aus der Gesamtheit der objektiven Relationen zwischen sozialer Klasse und Bildungssystem“ (Bourdieu & Passeron, 1971, S. 178).

Am Beispiel des Studiums lässt sich das Dargelegte exemplarisch verdeutlichen. Selbst bei vergleichbaren schulischen Leistungen weisen Kinder aus Familien mit hoher formaler Bildung eine deutlich stärkere Studienintention auf als Kinder aus schulbildungsfernen Milieus (vgl. Maaz, 2006; Reemtsma Begabtenförderungswerk, 2009; Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2010) und nehmen auch dann eher ein Studium auf, wenn sie sich selbst schlechte Leistungen attestieren und niedrige Erfolgserwartungen haben (vgl. Becker R., 2010). Studenten aus unteren Milieus denken außerdem häufiger an Studienabbruch (vgl. Lange-Vester & Teiwes-Kügler, 2004) – nicht selten, weil sie einen stärkeren Praxisbezug vermissen (vgl. Reemtsma Begabtenförderungswerk, 2009, S. 29), was die soziale Distanz zu abstrakter Bildung verdeutlicht – und geben als Ausdruck des schulbildungsfernen Habitus einen generell höheren Beratungsbedarf an (vgl. Isserstedt, Middendorff, Kandulla, Borchert, & Leszczensky, 2010, S. 35 & 461).

Entfremdung, institutionelle Steuerung und mangelnde Passungsverhältnisse erwecken den Anschein, als seien es die Individuen selbst, die ihre Bildungswege wählen, sich durchsetzen oder eliminieren lassen, obwohl vielmehr unterschiedliche Bildungsstrategien, divergierende Zeithorizonte, implizite und explizite Zwänge und symbolische Gewalt, letztlich also Habitusunterschiede und die in der Herkunftsfamilie vorliegende Kapitalausstattung für die Selbsteliminierungen aus dem Bildungssystem verantwortlich sind (vgl. Vester, 2004; Lange-Vester, 2009).


[1] Gemeint ist hiermit die gezielte, bewusste Beeinflussung der konkreten Bildungsentscheidung – die schulischen Leistungen eines Schülers tragen ohnehin zur Entscheidungsfindung bei, sei es als limitierender Faktor oder als Zugangsberechtigung.


Literatur:

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  7. Bittlingmayer, U. H., & Grundmann, M. (2006). Die Schule als (Mit-)Erzeugerin des sozialen Raums. Zur Etablierung von Bildungsmilieus im Zuge rapider Modernisierung. Das Beispiel Island. In M. Grundmann, D. Dravenau, U. H. Bittlingmayer, & W. Edelstein, Handlungsbefähigung und Milieu. Zur Analyse milieuspezifischer Alltagspraktiken und ihrer Ungleichheitsrelevanz (S. 75-95). Berlin: LIT Verlag.
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„Kinder aus sozial benachteiligten Familien gehören zwar zu den größten Bildungsverlierer(inne)n, ihre Armut basiert jedoch selten auf falschen oder fehlenden Schulabschlüssen, denn die Letzteren sind höchstens Auslöser und Verstärker, aber nicht Verursacher materieller Not. Bildungsdefizite führen allerdings oft zu einer Verfestigung der Armut“ (Butterwegge, 2010, S. 541).

Letzten Endes stellt sich bei Forderungen nach mehr und besserer Schule – also beispielsweise beim Ruf nach Frühförderung und Verschulung des Kindergartens oder Ganztagsschule – die Frage, wie weit die Anstrengungen gehen sollen, um die Illusion zu verfolgen, das Bildungswesen könne ihm immanente und gesellschaftlich bedingte Probleme lösen. Wie entsprechende Studienergebnisse zeigen, ist frühe Förderung allein nicht ausreichend, solange die Kinder innerhalb ihres elterlichen Milieus mit dessen Alltagspraxis und Bildungsaspiration verweilen; ganztagsschulische Betreuung wiederum ist ebenso ineffektiv, solange die Eingangskompetenzen aufgrund der unterschiedlichen Herkunft derart ungleich sind (vgl. beispielsweise Arens, 2007, S. 145; Deutsches Jugendinstitut, 2004; Becker & Lauterbach, 2007a; Becker & Lauterbach, 2007b; Kreyenfeld, 2007; Ehmke & Jude, 2010; Pfeiffer, 2010; Weinert, Ebert, & Dubowy, 2010, S. 43; Statistisches Bundesamt, 2011). Folglich müsste – aus einer Defizitperspektive urteilend – sowohl eine möglichst frühe Förderung als auch eine möglichst umfassende Betreuung durch die Schule stattfinden, um elterliche Einflüsse zu begrenzen, den Kindern die Ausbildung schulnaher Habitus zu ermöglichen und negative Peergruppeneffekte auszuschließen: „Je zeitlich umfassender schulische Bildungsprozesse sind und je geringer der Anteil der elterlichen Betreuung, desto geringer sind herkunftsbedingte Ungleichheiten im Leistungsniveau“ (Jungbauer-Gans, 2004, S. 381; vgl. Becker & Lauterbach, 2007b).

Im Endeffekt läuft dies auf eine frühe und umfassende Herauslösung aus dem Herkunftsmilieu hinaus, wie es etwa der Bezirksbürgermeister in Berlin-Neukölln angesichts der Bildungsproblematik fordert: „Die Kinder müssen raus aus dem Milieu, so früh wie möglich in die Krippe und dann auf die Ganztagsschule“ (Müller M., 2011, S. 9). Neben der Frage der praktischen Umsetzbarkeit stellt sich somit auch eine normative Frage: Soll Schule den Einfluss der Eltern auf ein Minimum reduzieren und die Freizeit der Kinder bestimmen, um potentiell Chancenungleichheit zu verringern, und wäre dies dann auch im Interesse der Kinder, oder handelt es sich seinerseits um symbolische Gewalt hinter dem Deckmantel der Herstellung sozialer Chancengleichheit, womit im Kontext des bestehenden Schulsystems aber lediglich Angleichung an die legitime Kultur gemeint sein kann und eine Blindheit gegenüber den tatsächlichen gesellschaftlichen Ursachen sozialer Ungleichheit zementiert wird?

Der einengende Fokus auf das Bildungssystem verschleiert das gesellschaftliche Verteilungsproblem der relevanten Ressourcen und erklärt es zu einem Problem, das allein mittels mehr Schulbildung behoben werden könne – ein Bildungsdiskurs, der derart geführt wird, kann seinerseits als Ideologie begriffen werden, denn es ist fraglich, „ob sich die Spaltung der Gesellschaft tatsächlich durch mehr oder eine bessere Bildung für alle überwinden bzw. bewältigen lässt“ (Butterwegge, 2010, S. 540). Es findet lediglich eine über die meritokratische Ideologie legitimierte Subjektivierung und Verengung des eigentlichen gesellschaftlichen Problems der Ressourcenverteilung statt (vgl. Becker & Hadjar, 2011, S. 51), sodass Armut und schulischer Misserfolg aus einer Defizitperspektive heraus als Problem der Verhaltensweise, die nur der ‚Umerziehung‘ bedürfe, behoben werden könnten, während die gesellschaftlich ungleiche Verteilung des Kapitals unhinterfragt bleibt, was für das kulturelle, aber am stärksten für das ökonomische Kapital zutreffend ist, das wiederum dem kulturellen Kapital zugrunde liegt:

„Viel entscheidender als die Umverteilung von Geld sei, dass Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu den Bildungsinstitutionen und zum Arbeitsmarkt erhalten, heißt es immer häufiger. Zu fragen wäre freilich, weshalb die Bedeutung des Geldes für die Teilhabe der Menschen am gesellschaftlichen Leben ausgerechnet zu einer Zeit gesunken sein soll, wo es in sämtlichen Lebensbereichen wichtiger als früher, aber auch ungleicher denn je verteilt ist“ (Butterwegge, 2008).

Mit dem Fokus auf »Bildungsferne« und vermeintliche kulturelle »Defizite« werden die „empirischen Befunde der Ungleichheits- und Bildungsforschung (…) von grundlegenden Fragen nach sozialer Herrschaft und Gerechtigkeit weitgehend entkoppelt“ (Grundmann, Dravenau, & Bittlingmayer, 2006, S. 251), denn „[s]tatt materieller, d.h. Verteilungsgerechtigkeit wird heute in der Regel bloß noch Chancengleichheit gefordert“ (Butterwegge, 2010, S. 546), die allen lediglich gleiche Startchancen sichern soll, das Rennen danach aber der sozialen Herkunft überlässt. Die Alternative, d.h. das die soziale Ungleichheit effektiver bekämpfende Vorgehen bestünde darin, vom Staat zu verlangen und ihm zu ermöglichen, „daß er seine regulierende Tätigkeit ausübt, fähig dazu, die »Fatalität« der ökonomischen und sozialen Mechanismen zu konterkarieren, die der gesellschaftlichen Ordnung immanent sind“ (Bourdieu, 1992a, S. 173), wofür es „weiterhin der Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen“ (Butterwegge, 2008) bedarf. Armut oder beruflicher Misserfolg basieren also nur vordergründig auf mangelndem schulischen Bildungserfolg, da dieser seinen Ursprung in der ungleichen Verteilung der Ressourcen hat. Solange vor allem das ökonomische Kapital derart ungleich verteilt ist und (Bildungs-)Erfolg von diesem Kapital abhängt, werden demzufolge soziale Ungleichheiten fortbestehen: „Einkommensarmut mutiert so zu kultureller und Bildungsarmut“ (Rabe-Kleberg, 2010, S. 51; vgl. Becker R., 2011).

Das gegenwärtige Bildungssystem darf folglich weder „zum alleinigen Bestimmungsfaktor sozialer Ungleichheit“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 44) noch „zur zentralen Institution für die Herstellung gesellschaftlicher Chancengleichheit“ (ebd., S. 45) verklärt werden, da beide Perspektiven – mit je unterschiedlichen Vorzeichen – den Stellenwert des Schulsystems überschätzen und die gesamtgesellschaftliche Grundlage außer Acht lassen. Das Schulsystem muss als spezifisches System innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Systems betrachtet werden, das die „vorgegebenen Struktur-, System- und gesellschaftlich-sozialen Bedingungen nicht aushebeln“ (Ditton, 2011, S. 261) kann und dessen Einfluss entsprechend begrenzt ist: „Es wäre unrealistisch zu erwarten, dass durch Reformen im Bildungswesen allein der Kreislauf der sozialen Reproduktion durchbrochen werden könnte. Man kommt nicht um die Erkenntnis herum, dass Schulsysteme auch ein Spiegel der jeweiligen Gesellschaft sind“ (Ditton, 2007, S. 267).

Der mögliche Beitrag von Bildungsreformen zur Lösung eines genuin gesamtgesellschaftlichen Problems muss also als recht gering eingestuft werden, wohingegen „die Länder mit der niedrigsten sozialen Disparität der Bildungsbeteiligung auch Länder mit größerer sozialer Gleichheit sind“ (Fend, 2009, S. 65; vgl. Becker R., 2011, S. 104). Schule kann keine Gleichheit herstellen, wo gesellschaftlich keine Gleichheit herrscht und gewollt ist, sie erfüllt daher die paradoxe Funktion, einerseits den Abbau geburtsständischer Privilegien vorangetrieben, andererseits aber neue Hierarchisierungsmechanismen und Legitimierungsformen etabliert zu haben, die diese soziale Ungleichheit viel effektiver verschleiern (vgl. Büchner, 2003). Durch eine bloße Reform des Schulsystems können vielleicht spezifische Reproduktionsmechanismen abgeschwächt werden, die Mechanismen der sozialen Reproduktion an sich werden sich jedoch lediglich verlagern, denn wird ein Reproduktionsmechanismus aufgedeckt oder ausgeschaltet, „so wächst das Interesse der Inhaber von Kapital, sich solcher Reproduktionsstrategien zu bedienen, die eine bessere Verschleierung der Kapitaltransmission gewährleisten“ (Bourdieu, 1992b, S. 75), weshalb „der Weg zu einer weniger durch Ungleichheit gekennzeichneten Gesellschaft nicht in erster Linie über Reformen des Schulsystems verläuft, sondern über direkt wirksame Maßnahmen zum Abbau von Ungleichheit“ (Ditton, 2007, S. 267).

Letztlich handelt es sich bei sozialer Ungleichheit um kein spezifisches Problem des Bildungssektors, sondern um ein gesamtgesellschaftliches Problem, sodass anstelle der Fixierung auf das Schulsystem die ungleiche Kapitalverteilung und die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese bedingen, in den Fokus der Betrachtung zu stellen sind. Bildung kann Armut nicht bekämpfen, wenn letztere gesamtgesellschaftlich produziert, hingenommen und legitimiert wird.


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Leistungsgesellschaft oder Meritokratie bedeutet sinngemäß eine „Herrschaftsordnung nach Maßgabe von Begabung und Leistungsfähigkeit des Einzelnen“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 39), wonach soziale Unterschiede nicht per se als ungerecht angesehen werden, solange sie das Ergebnis individueller Leistungsunterschiede sind (vgl. Hillmert, 2007). Hervorgehoben wird von einem liberalen Standpunkt, dass eine meritokratische Gesellschaft fairer und freiheitlicher erscheine als ein Wohlfahrtsstaat, der „durch gezielte Eingriffe in die Lebensumstände von Menschen individuelle und kollektive Chancengleichheit herzustellen“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 38) versucht. Chancengleichheit wird nach dieser Auffassung lediglich als Sicherung gleicher Startchancen verstanden, auf deren Basis individuelle Leistung den weiteren Erfolg determinieren soll, womit der Staat seine gesellschaftsformenden Ansprüche aufgibt und ein Modell formaler Gleichbehandlung zugrunde legt. Beides ist ebenso zutreffend für das Schulsystem als Vertreter der staatlichen Ordnung. Einkommens- und Machtunterschiede wie auch Bildungsungleichheiten werden in diesem Kontext zunächst als legitim betrachtet, wenn keine leistungsfremden Einflüsse diese Ungleichheiten mitbestimmen, denn die „Regelung des Zugangs zu begehrten und knappen sozialen Positionen sollte in einer demokratischen Gesellschaft nach Leistung, Können und Anstrengung, d.h. nach nachvollziehbaren und gesellschaftlich akzeptierten bzw. allgemein als gerecht empfundenen Kriterien, erfolgen“ (Ditton, 2007, S. 244; vgl. Becker & Hadjar, 2011).

Sind die resultierenden Leistungsunterschiede in der Vergangenheit hauptsächlich mit der ungleichen Verteilung von Intelligenz und sogenannten Begabungen und Talenten erklärt worden, die allerdings ihrerseits bereits soziale Konstruktionen und keine natürlichen Eigenschaften darstellen (vgl. Solga, 2005), so sind derartige Biologismen heutzutage gegenüber der Vorstellung von Fleiß und Anstrengung in den Hintergrund getreten[1] (vgl. Hillmert, 2007), was bedeutet, wer eine erfolgreiche schulische Ausbildung und vielleicht ein Studium absolviert hat, habe sich gemäß der meritokratischen Idee für diese Bildungszertifikate und die mit ihnen einhergehenden Einkommens- und Lebenschancen folglich durch Kompetenz und Anstrengung qualifiziert. Diese Erklärung ist allerdings in Frage zu stellen, da unterschiedliche Anstrengungen kaum Beachtung finden – ein Arbeiterkind beispielsweise hat auf dem Weg zum erfolgreichen Abschluss eines Studiums weitaus höhere Hürden zu überwinden als ein Akademikerkind, doch findet dies in den Bildungszertifikaten keinerlei Würdigung, sondern wird als Folge der formalen Gleichheit aller Bildungsteilnehmer vielmehr neutralisiert (vgl. Solga, 2005, S. 26). Vergessen wird zudem, dass Leistung, Fleiß und Anstrengung nicht als objektive Kategorien vorausgesetzt werden können (vgl. Becker & Hadjar, 2011, S. 54), da die Definition von Leistung stets nur aus einer sozialen Position heraus und mit bestimmten Vorstellungen dessen, was sich hinter dem Begriff verbirgt, definiert und durchgesetzt werden kann, und zwar von jenen Akteuren, die die gesellschaftliche (Deutungs-)Macht innehaben.

Generell wird soziale Ungleichheit im Sinne der meritokratischen Ordnung als vermeintlich notwendiges gesellschaftliches Anreizsystem betrachtet, in dem die Knappheit hoher, prestige- und einkommensträchtiger Positionen die gesellschaftlichen Akteure zum allgemeinen – vorranging über Bildung vollzogenen – Wettbewerb motivieren und so schließlich die Leistungsfähigsten offenbaren soll (vgl. Becker & Hadjar, 2011; Solga, 2005). Diese Annahme erscheint schon logisch-deduktiv fragwürdig, da ein solcher Anreiz vor allem Akteure motivieren dürfte, die Interesse an einem hohen Einkommen und Ansehen haben, ohne aber verlässliche Aussagen über (relative) Leistungsfähigkeit zuzulassen. Paradox ist weiterhin der Umstand, dass Meritokratie nach den eigenen Maßstäben prinzipiell nur in einer nicht-hierarchisierten Gesellschaft überhaupt störungsfrei funktionieren kann, wenn also keine Effekte sozialer Hierarchisierung wirken können, was das Prinzip als solches allerdings ad absurdum führt, da Meritokratie ihrerseits eine Hierarchisierung zur Folge hat und diese legitimiert.

Innerhalb der real existierenden Meritokratie hingegen können Leistungsmerkmale nicht unabhängig von leistungsfremden Einflüssen durch die soziale Herkunft betrachtet werden, womit „entgegen aller (meritokratischen) Rhetorik die Zertifizierung von Bildungsleistungen sowie institutionell unterschiedliche Bildungslaufbahnen, deren Zugang über die (gezeigte und bewertete) vorangegangene Leistung gesteuert wird, notwendigerweise (!) mit Herkunftsunterschieden in der Schule verbunden sind“ (Solga, 2005, S. 20; vgl. Arens, 2007). Das Ergebnis der meritokratischen Logik, die auf formale Gleichbehandlung aller Akteure ohne Berücksichtigung ihrer sozialen Herkunft setzt und die herkunftsspezifischen kulturellen Unterschiede damit vollständig ignoriert, steht infolgedessen im Widerspruch zu deren Verheißungen: „Gerade weil Leistung zählt und nicht die Herkunft, ergibt sich, dass schlussendlich (…) durch die Anwendung des Leistungsprinzips die Herkunft darüber entscheidet, wer an den gleichen Anforderungen scheitert und wer sich im schulischen Leistungsvergleich durchsetzt“ (Huisken, 2005, S. 37; vgl. Solga, 2005):

„[I]ndem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur“ (Bourdieu, 2001a, S. 39).

Strukturelle Ursachen der Bildungsungleichheit werden durch die individualisierte Erklärung über Leistung in den Hintergrund gedrängt, es findet eine vermeintliche „Ablösung kategorial definierter Ungleichheit nach Status/Klasse/Schicht (sowie auch Geschlecht) durch eine individuell definierte Ungleichheit nach Leistung“ (Solga, 2005, S. 28; vgl. Solga & Wagner, 2007; Bittlingmayer, 2006) statt, infolge derer sich die vom Bildungssystem Beurteilten ihren Erfolg oder Misserfolg selbst zuschreiben:

„Die hier gleichermaßen erfahrbaren Formen struktureller und symbolischer Gewalt werden für die Deklassierten und Dequalifizierten umso leidvoller und entwaffnender, als sie unter den Vorzeichen und Verheißungen einer an individueller Selbstverwirklichung  und -behauptung orientierten ‚Gesellschaft der Individuen‘ die Schuld für ihr Versagen zwangsläufig bei sich selbst suchen und dann wohl auch entdecken werden müssen“ (Schultheis, 2009, S. 264).

In Anbetracht der bisherigen Ausführungen und der in Bildungsstudien immer wieder festgestellten sozialen Bildungsungleichheiten kann Meritokratie nicht anders denn als Ideologie begriffen werden, die „die Akzeptanz der sozialen Ordnung und damit die Stabilität der Gesellschaft“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 50) fördern soll und als „normative Selbstdefinition moderner Gesellschaften für die Begründung und Legitimation sozialer Ungleichheiten“ (Solga, 2005, S. 23) fungiert, sodass die gesamtgesellschaftlichen sozialen Ungleichheiten wie auch Bildungsungleichheiten als legitime Ungleichheiten wahrgenommen werden. Sie ist somit unter Einnahme einer systemfunktionalen Perspektive allenfalls ein ‚necessary myth‘, „weil die Akzeptanz des meritokratischen Prinzips in der Gesellschaft zum einen die Heranziehung askriptiver Prinzipien bei der Vergabe von Positionen und Belohnungen verdrängt hat und zum anderen das Prinzip dennoch (sic!) motivierend wirkt, durch Leistung eine privilegierte Position in der Gesellschaft zu erreichen“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 58) – ersteres ist allerdings eine relativistische Perspektive, die nicht einmal zutreffend ist, da das meritokratische Prinzip die Heranziehung askriptiver Merkmale bloß verschleiert (vgl. Bourdieu & Passeron, 1971, S. 225f), nicht ersetzt, wohingegen letzteres schon fast zynisch erscheint, denn „[w]ie weit eine soziale Gruppe im meritokratischen Wettbewerb gekommen ist, hängt dabei entscheidend von ihrem Startkapital an Bildung, Besitz und sozialen Beziehungen ab“ (Vester, 2004, S. 19).

Hierarchisierung von Bildung & Kultur

„Die Schule ist eine gesellschaftliche Institution zur Vermittlung der legitimen Kultur“ (Krais, 2004, S. 122).

Das mit der meritokratischen Ideologie verbundene Konzept der formalen Gleichheit, das im Kontext der Schule kulturelle und habituelle Unterschiede der Schüler ignoriert, obwohl sie entscheidend zu Erfolg oder Misserfolg beitragen, führt damit zu Formen kultureller Passung als Produkt einer „systemischen Standardisierung, die sozusagen zwangsläufig soziale Erfahrungsdifferenzen in den Bildungsumwelten außerhalb des institutionalisierten Bildungswesens unberücksichtigt lässt“ (Grundmann, Groh-Samberg, Bittlingmayer, & Bauer, 2003, S. 36). Diese Standardisierung, die blind gegenüber kulturellen Herkunftsunterschieden und milieuspezifischen Bildungsinhalten ist, führt de facto zu einer Hierarchisierung von Kultur und der sie inkorporierenden Habitus, da sie die Schüler unabhängig von deren Herkunft anhand ein und derselben normativen Schablone bewertet, weshalb schulbildungsnahe Milieus von dieser Standardisierung profitieren – sie „muss als Standardisierungsinstanz des Wissens mit offensivem Neutralitätsanspruch verstanden werden, die bestimmte Wissensformen vermittelt und die besondere kindliche und jugendliche Handlungsstrategien belohnt oder bestraft“ (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Edelstein, 2006, S. 16; vgl. Grundmann, Dravenau, & Bittlingmayer, 2006).

Einem Schüler bleibt nichts anderes übrig, als die herkunftsspezifische Kultur in die Schule hineinzutragen, dort anzubieten und von dieser in die kulturelle Hierarchie einordnen zu lassen, was allerdings nicht explizit geschieht, sondern unter dem Deckmantel der formalen Gleichbehandlung. Unterschiedliche Habitus und kulturelle Praxen unterscheiden sich letztlich nur darin, „dass sie von unterschiedlichen sozialen Gruppen unterschiedlich wertgeschätzt werden“ (Bittlingmayer, 2006, S. 47), die Schule diese unterschiedliche Wertschätzung allerdings absolut setzt und ihr zu Allgemeingültigkeit verhilft – die abstrakte Bildung beispielsweise, die in der Schule vorherrschend ist, erfährt Wertschätzung vor allem in den oberen Milieus, während sie in unteren Milieus den alltäglichen Anforderungen widerspricht, dennoch wird sie qua Schule zum allgemeinen Maßstab der Bewertung und zum Inbegriff von Bildung an sich. Es kommt zu einer Aufwertung bzw. Anerkennung der einen und gleichzeitigen Abwertung der anderen Alltagspraktiken der jeweiligen Herkunftsmilieus, d.h. „die Institutionalisierung von Bildung ist gleichbedeutend mit der selektiven Bewertung von Bildungsprozessen und der hierarchischen Differenzierung von Bildungsgängen und -zertifikaten“ (Dravenau & Groh-Samberg, 2005, S. 117; vgl. Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2004).

Jene kulturelle Ignoranz gegenüber milieuspezifischen Bildungsprozessen, Alltagspraxen und Habitus führt unweigerlich zu einer Defizitlogik, die von den schulischen Standards abweichende Praxen als unzulänglich betrachtet und somit mit dem Ziel der Selektion aus einer qualitativen Differenz eine Hierarchie ableitet, was der Durchsetzung einer spezifischen Deutung legitimer Kultur und legitimer Bildung mittels Ausübung symbolischer Gewalt gleichkommt: „Gemessen wird daher nicht das Können, sondern die Abweichung des Könnens von den politisch gesetzten Leistungsstandards“ (Grundmann, 2006, S. 71; vgl. Kalthoff, 2004; Lange-Vester, 2009). Diese legitime Kultur fehlt den unteren Milieus in der Regel, „denn diese Kultur und Bildung ist im allgemeinen gegen sie gerichtet“ (Bourdieu, 1992a, S. 39), weshalb die Schule keine neutrale Handlungsinstanz, sondern stets „eingebunden in die Herrschaftsbeziehungen und -auseinandersetzungen in einer Gesellschaft“ (Krais, 2004, S. 122) ist. Zwar verfügen auch diese Milieus über ihre eigenen Formen von Kultur und Bildung, nur ist diese auf dem Markt der schulischen Institutionen nichts wert:

„Diese Kinder lernen das Schweigen, das Nicht-Können in der Schule, weil ihre Habitusformen durch die Schule stigmatisiert werden. Dementsprechend lernen sie auch eine Form der Selbsteinschätzung, die zwar den Stolz auf praktische Überlebensfähigkeiten, aber gleichzeitig die Anerkennung der Legitimität der Überlegenheit der anderen und der eigenen Unterlegenheit enthält. Sie übernehmen das Stigma in ihr Selbstbild; der Reproduktionskreislauf ist wiederum geschlossen“ (Liebau, 2009, S. 51).

Scheinbar defizitäre Handlungsschemata und kulturelle Praktiken, wie etwa die Sprache, bewertet anhand institutioneller Erfordernisse und entsprechender Vorstellungen, sind also nicht unbedingt defizitär, sondern lediglich adäquat zu den Erfordernissen der erfahrenen Umwelt, die aber von der Schule entwertet werden, wodurch die produzierten Bildungsungleichheiten „bis in die Erfahrungswelt der Familie hineinwirken“ (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2007, S. 48). Erst diese schulische Standardisierung und Hierarchisierung von Kultur macht es möglich – und aus dieser Perspektive erforderlich –, von bildungsnahen und bildungsfernen Milieus zu sprechen (Bittlingmayer, 2006, S. 44), wobei stets Schulbildung gemeint ist und diese Nähe oder Ferne die Anschlussfähigkeit bzw. Passung oder eben Anpassung und damit letztlich die eigene Unterordnung unter die herrschenden Vorstellungen legitimer Kultur bedeutet.

Schule als Legitimationsinstanz sozialer Ungleichheit

„Die symbolische Macht ist eine Macht, die in dem Maße existiert, wie es ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Anerkennung zu verschaffen; d.h. eine (ökonomische, politische, kulturelle oder andere) Macht, die die Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür verkennen zu lassen“ (Bourdieu, 1992b, S. 82).

Das Schulsystem kann angesichts der meritokratischen Ideologie, die zu einer Hierarchisierung von Kultur und milieuspezifischen habituellen Praktiken führt, und „gerade durch die Entwicklung der Schulbildung zu einem alternativlosen Pfad des gesellschaftlichen Aufstiegs“ (Bittlingmayer & Grundmann, 2006, S. 77) keineswegs als neutrale Institution betrachtet werden, die soziale Ungleichheiten lediglich reproduziert oder um deren Auflösung bemüht ist, sondern ist zudem Ort der Produktion sozialer Ungleichheiten, die sie zugleich legitimiert, womit kulturelle und institutionelle Diskriminierung und Privilegierung eng miteinander verknüpft sind (vgl. Dravenau & Groh-Samberg, 2005, S. 114; Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2004). Da Privilegien und die soziale Stellung nicht mehr über Verwandtschaft und Herkunft legitimierbar sind, erfolgt die Reproduktion der sozialen Ordnung nun über das Bildungssystem (vgl. Bourdieu & Passeron, 1971; Solga, 2005), denn die „Unterschiede, die innerhalb der Gesellschaft gesetzt werden und sich durchsetzen können, sind durch schulische Differenzen legitimiert und werden durch die Verteilung sozialer Zugangsmöglichkeiten, die die Schule über ihre Zertifikate und Zeugnisse vergibt, verobjektiviert und sanktioniert“ (Hepp, 2009, S. 24).

Die Schule legitimiert in letzter Instanz vermittels des kulturellen Passungsverhältnisses die Übertragung des kulturellen Erbes, das somit – im Gegensatz zum ökonomischen Erbe – als Erbe verkannt wird. Durch das Prinzip der formalen Gleichheit, das von allen fordert, was nur einigen dank Herkunft zugänglich ist (vgl. Bourdieu, 2001a), und den von staatlicher Seite recht hohen Einsatz von Zeit und Geld innerhalb des Schulsystems, das von sich behauptet, allen gleiche Chancen zu bieten, wird hinter dem Anschein von Fairness und gutem Willen die objektive Funktion des Bildungssystems verborgen[2], „denn, wollte man billiger und schneller vollziehen, was das System ohnehin leistet, würde man eine Funktion offenlegen und damit hinfällig machen, die nur im verborgenen wirken kann“ (Bourdieu & Passeron, 1971, S. 226).

Zugleich vollzieht sich innerhalb des Schulsystems eine „Transformation der Einstellung zum System und seinen Sanktionen (…), die unerläßlich ist, damit das System funktionieren und alle seine Funktionen erfüllen kann“ (ebd.). Diese Transformation wird aufgrund der scheinbar konsequenten Weise, wie Leistung und Bildungszertifikate die Statuszuweisung bestimmen bzw. dieser Anschein verbreitet wird, selbstredend von den vom Schulsystem Privilegierten, aber auch vom Großteil der von ihm Diskriminierten vollzogen (vgl. Solga, 2005), denn „in dem Maß, wie es eliminiert, gelingt es ihm, die Verlierer davon zu überzeugen, dass sie selbst für ihre Eliminierung verantwortlich sind“ (Bourdieu, 2001b, S. 21; vgl. Bourdieu & Passeron, 1971, S. 225), womit die Autorität der Schule als Gatekeeperin, die die weiteren Lebenschancen maßgeblich mitbestimmt, und als vermeintlich objektive Bewertungsinstanz in der Regel unhinterfragt bleibt, da den Akteuren „die Einsicht in die soziale Konstitution dieser Prozesse (…) systematisch versperrt“ (Liebau, 2009, S. 52) wird.

Während die Verlierer des Systems meist nach einiger Zeit die individualisierte Erklärung für ihren Misserfolg, die ihnen immer wieder vorgehalten wird, akzeptieren und sich diesen Misserfolg selbst zuschreiben, wird die Verklärung der Bildungswege als selbstbestimmte, nur von der eigenen Leistung abhängige Ergebnisse selbstverständlich auch von den Gewinnern des Systems mitgetragen, jedoch nicht primär, um etwa bewusste Distinktion zu betreiben oder gezielt die Verschleierung der Mechanismen zu unterstützen, sondern vor allem, um die Illusion von Selbstbestimmung aufrechtzuerhalten, die für die Habitus schulbildungsnaher Milieus charakteristisch ist – so „versuchen sie sich von der unerträglichen Idee zu distanzieren, daß eine so wenig selbstgewählte Determinante [die soziale Herkunft; MM] den, der alles daran setzt, sich selbst frei zu bestimmen, prägen könnte“ (Bourdieu & Passeron, 1971, S. 54).

Gerade in schulbildungsfernen Milieus steht die in der Schule durchgesetzte legitime Kultur der eigenen, milieuspezifischen Kultur gegenüber und übt symbolische Gewalt aus, weshalb schulische Bildung als Durchsetzung kultureller Hegemonie begriffen werden kann; der Glaube an einen über Leistung vermittelten, herkunftsunabhängigen Zugang zu Bildung erhält folglich die soziale Ungleichheit des Bildungswesens am Leben und bewirkt, dass die betroffenen Akteure die auf sie einwirkende symbolische Gewalt und symbolische Macht als legitim anerkennen und damit „die Sichtweisen, die die Herrschenden [und das Schulsystem als verlängerter Arm der herrschenden Verhältnisse; MM] auf sie haben, als legitime anerkennen und selbst übernehmen“ (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2007, S. 57). Es werden also durch institutionelle Sanktionen dauerhafte Unterschiede produziert und legitimiert, die von den Betroffenen wiederum habituell verinnerlicht werden, was vor allem für von Versagenserlebnissen geprägte Schüler mit emotionalen Stresssymptomen, Prüfungsangst, Vermeidungsverhalten und ähnlichem verbunden sein kann, d.h. diese „Schüler werden im Hinblick auf ihre je eigene Leistungsfähigkeit und in der Wertschätzung ihrer Person systematisch abgewertet, degradiert und damit zu quasi-pathologischen Fällen“ (Grundmann, 2006, S. 71).

Zusammenfassend kann das Schulsystem nicht einfach als nach dem Leistungsprinzip operierender Faktor sozialer Mobilität begriffen werden, da eine solche Auffassung die ihm spezifischen Prozesse und Mechanismen der Reproduktion sowie der Produktion sozialer Ungleichheiten bestenfalls verkennt und schlimmstenfalls zusätzlich legitimiert, „[d]eutet doch im Gegenteil alles darauf hin, dass es einer der wirksamsten Faktoren der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung ist, indem es der sozialen Ungleichheit den Anschein von Legitimität verleiht und dem kulturellen Erbe, dem als natürliche Gabe behandelten Vermögen, seine Sanktion erteilt“ (Bourdieu, 2001a, S. 25).


[1] Diese Umdeutung soll vielleicht den immanenten Widerspruch auflösen, der der biologistischen Erklärung von Leistungsunterschieden zugrunde liegt, denn letztlich ist Bildung kein erworbenes Merkmal und folglich auch keine Leistung, wenn Bildungserfolg nur von ‚natürlicher‘ Ausstattung abhängt (vgl. Solga, 2005).

[2] Lehrern und anderen Verantwortlichen soll damit nicht per se jeder gute Wille abgesprochen werden, der subjektiv durchaus vorliegen mag (und teilweise selbst zur Produktion sozialer Ungleichheit beiträgt), doch die objektive Funktion des Schulsystems in der Regel nicht beeinträchtigt.


Literatur:

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Während Bildung „im traditionellen Sinne (…) als die erarbeitende und aneignende Auseinandersetzung mit der Welt schlechthin und Inbegriff der Selbstverwirklichung des Menschlichen im Menschen“ (Büchner, 2003, S. 7) verstanden wird, die Selbstentfaltung und Emanzipation ermöglicht, zeigt sich im Alltag und der öffentlichen Debatte dagegen vielmehr, dass es vor allem die staatlich anerkannten Bildungsabschlüsse und -titel sind, d.h. institutionalisierte Bildung, die für die beruflichen Chancen und damit letztlich die soziale Statuszuweisung ausschlaggebend sind. Dieses Gewicht institutionalisierter Bildung verleitet zur Nutzung eines verkürzten Bildungsbegriffs, der Bildung auf die Inhalte und Abschlüsse eben jener institutionalisierten Bildungsgänge reduziert und damit kurzerhand Bildungsprozesse und -inhalte außerhalb schulischer Sphären negiert, womit die in Bildungserfolg und -misserfolg sich niederschlagende (In)Kompatibilität zwischen herkunftsspezifischer, im Habitus inkorporierter Bildung und den institutionalisierten Bildungsvorstellungen aus dem analytischen Blickfeld verschwindet: „Die häufig anzutreffende Gleichsetzung von Bildung und erworbenen Bildungspatenten, die auf der Grundlage standardisierter Bildungsinhalte erworben werden, verfehlt diejenigen Momente von Bildung, die quer zu den in der Schule vermittelten Bildungsformen und -inhalten liegen“ (Grundmann, Groh-Samberg, Bittlingmayer, & Bauer, 2003, S. 27; vgl. Bittlingmayer, 2006). Um eine derartige Verkürzung zu vermeiden, ist zunächst eine differenzierte Betrachtung und Gegenüberstellung der Begriffe Sozialisation, Bildung und Erziehung notwendig.

Sozialisation ist als allumfassender Begriff zur Beschreibung „der sozialen Gestaltung von verlässlichen Sozialbeziehungen und der intergenerationalen Tradierung sozialen Handlungswissen“ (Grundmann, 2011, S. 63) zu verstehen, auf dessen Grundlage die Begriffe Bildung und Erziehung auf die konkrete inhaltliche Ausgestaltung dieses Sozialisationsprozesses abheben. Sämtliche Handlungen und Prozesse, die dazu beitragen, einem Akteur die Eingliederung in seine soziale Umwelt zu ermöglichen, an deren gesellschaftlichem Leben teilzunehmen und teilzuhaben sowie sein Verständnis über diese Prozesse zu erweitern, sind als Sozialisation zu begreifen. Demgegenüber bezeichnet der Begriff Bildung die „Kultivierung von Handlungswissen einzelner Individuen“ (ebd.), Erziehung „die Etablierung sozial erwünschter Eigenschaften von Personen durch Bezugspersonen“ (ebd.); beide Begriffe dienen demzufolge zur inhaltlichen Konkretisierung und Differenzierung von Sozialisationsprozessen. Bildung ist gemäß dieser abstrakten Definition keineswegs beschränkt auf institutionalisierte Bildungsprozesse, sondern umfasst jede Art von Handlungswissen, die einem Akteur nachhaltig zur Einbindung in das soziale Leben verhilft, wobei dieses Wissen in schulischen Einrichtungen, durch Traditionen oder schlicht im alltäglichen Leben weitergegeben und erworben werden kann (vgl. Suderland, 2004) – nicht immer widerspruchsfrei. Wie dieser Fokus auf Einbindung in die gesellschaftliche Umwelt bereits nahelegt, orientieren sich sowohl Bildung, zumindest jene, die von außen zielgerichtet an ein Individuum herangetragen wird, als auch Erziehung an solchen Verhaltensweisen und Wissensbeständen, die den gegenwärtigen sozialen Normen und Vorstellungen, den Anforderungen und Einschränkungen der gesellschaftlichen Welt entsprechen, „indem sie vor allem jene Eigenschaften und Fähigkeiten in den Blick nehmen, die gesellschaftlich wertgeschätzt werden“ (Grundmann, 2011, S. 64), wodurch die zu Erziehenden und zu Bildenden entsprechend geformt und auf das gesellschaftliche Leben vorbereitet werden sollen. Somit verfolgen Bildung und Erziehung in der Regel mindestens implizit systemfunktionale Ziele, die den Rahmen für die Formen und Inhalte von Bildung vorgeben und eine mit diesem kompatible Erziehung bedingen. Unter Berücksichtigung des Stellenwerts schulischer Bildung ist selbige in der gegenwärtigen Gesellschaft mit ihrem Fokus auf formale Bildungsgänge und -abschlüsse „einer Funktionalisierung durch gesellschaftliche Institutionen“ (ebd., S. 70) unterworfen, die eine Erziehung bedingt, die – soweit ihr das möglich ist – versucht, den Anforderungen dieser Funktionalisierung durch Anpassung innerfamiliärer oder generell alltagspraktischer Bildungs- und Erziehungsprozesse entgegenzukommen, zum Beispiel durch gezielte Vorbereitung auf schulische Bildungsinhalte. Zu Spannungsverhältnissen kommt es dabei, wenn diese Bildungs- und Erziehungsprozesse der unmittelbaren Lebensumwelt, d.h. des Bezugs- und Herkunftsmilieus, jenen Bildungsanforderungen widersprechen, die von den gesellschaftlichen Institutionen gefordert und vorausgesetzt werden – sind die Bildungsinhalte der Schule für das alltägliche Leben eines Schülers irrelevant oder umgekehrt, passt also der Habitus des Schülers, der die herkunftsspezifischen Bildungsinhalte inkorporiert hat, nicht zu den institutionellen Erfordernissen, so entstehen Inkompatibilitäten, die in der Regel zu schulischem Misserfolg führen.

Drei Arten von Bildung

Drei Arten der Bildung (Klicken zum Vergrößern).
Quelle: Rohlfs, 2011, S. 41.

Zum Verständnis des Zustandekommens derartiger Inkompatibilitäten zwischen individuellem Habitus und schulischen Anforderungen ist eine weitere Differenzierung des Bildungsbegriffs notwendig (vgl. Abbildung), die der Verkürzung auf institutionelle Bildung entgegentritt.

Neben formaler, staatlich sanktionierter Bildung, die das Monopol über die Vergabe der in der Regel für die berufliche und soziale Position ausschlaggebenden Bildungstitel innehat und nicht nur strukturiert wie zielgerichtet, sondern ferner in eigens dafür geschaffenen, symbolisch wie auch juristisch legitimierten Institutionen mit hierarchischen Strukturen, vorgegebenen Regeln, ständiger Leistungszertifizierung und Teilnahmeverpflichtung stattfindet, kann strukturierte und zielgerichtete Bildung auch non-formal, außerhalb der formalen Bildungs- und Berufsbildungsinstitutionen vonstattengehen, beispielsweise in Vereinen, Nachmittagskursen, Verbänden oder in Form von Nachhilfeangeboten, wobei nebst eingeschränkter Zertifizierungsmöglichkeit dieser Art von Bildung die freiwillige, nichtverpflichtende Teilnahme an derartigen Bildungsangeboten das zentrale Charakteristikum non-formaler Bildung darstellt (vgl. Rohlfs, 2011). Nicht minder relevant ist allerdings das Lernen im informellen Kontext, das spontan vom individuellen Akteur ausgeht, sich ungeplant vollzieht und „indirekt und gewöhnlich anlassbezogen-sporadisch-zufällig, also situativ an akuten Einzelproblemen und deren Lösung orientiert, unzusammenhängend, vordergründig-utilitaristisch wie unkritisch-unreflektiert“ (Rohlfs, 2011, S. 39) ist. Zwar kann informelle Bildung bisweilen zertifiziert werden (man denke etwa an Kopfnoten), doch unterliegen die Bildungsprozesse an sich keiner Struktur oder Steuerung und folgen keinen formalen Vorgaben, die als Grundlage einer Bewertung nötig wären, sodass in der Regel keine Zertifizierung informeller Bildung möglich ist. Von entscheidender Bedeutung ist zudem, dass informelle Bildung „in der natürlichen (sozialen) Umwelt der Bildungsakteure“ (ebd.) stattfindet und sich dadurch auszeichnet, „dass Lernsituation und praktischer Verwendungszusammenhang zusammenfallen“ (Dravenau & Groh-Samberg, 2005, S. 118). Was auf derartige informell-situative Weise gelernt wird, weist stets unmittelbaren Bezug zur konkreten Lebenswelt des Akteurs auf (vgl. Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2007), sei es im Kontext der Lösung eines alltagspraktischen Problems oder der Kommunikation mit den umgebenden Mitmenschen, während formale Bildung einen solchen Alltagsbezug zwar aufweisen kann, dieser aber nicht selbstverständlich ist, da sich außer bei bildungsnaher Herkunft die „Lern- und Bildungsprozesse in der Familie deutlich von jenen unterscheiden, die in institutionalisierten Bildungseinrichtungen vorherrschen“ (ebd., S. 43) – als Beispiel sei hier nur auf das Lesen klassischer Literatur verwiesen, das für einen Schüler durchaus mit dessen Alltagspraxis kompatibel sein kann, sofern dieser in einem entsprechenden kulturellen Umfeld aufgewachsen ist; es verliert jedoch jegliche außerschulische Relevanz für einen Schüler, in dessen Alltagspraxen das Lesen an sich oder diese konkrete Form der Literatur (so gut wie) keine Rolle spielt. Dieses herkunftsspezifische kulturelle Erbe, das sich für das Passungsverhältnis mit der Schule verantwortlich zeichnet, wird, da die Vererbung in Form informeller Bildung stattfindet, „auf osmotische Weise übertragen, ohne jedes methodische Bemühen und jede manifeste Einwirkung“ (Bittlingmayer & Grundmann, 2006, S. 76).

Die hier vollzogene Trennung[1] in formale, non-formale und informelle Bildung soll trotz des großen Gewichts, das die formale Bildung in Hinblick auf beruflichen Erfolg und Statuszuweisung einnimmt, nicht zu einer Hierarchisierung der verschiedenen Erscheinungsformen von Bildung verleiten, sondern das oftmals auf institutionelle Bildung verengte Bildungsverständnis erweitern. Eine solche Hierarchisierung nämlich würde die Tatsache entwerten und negieren – womit nun seinerseits keine umgekehrte Hierarchisierung nahegelegt, sondern jede Form der Hierarchisierung an sich in Frage gestellt werden soll –, „dass der weitaus größte Teil aller menschlichen Lernprozesse (…) außerhalb der Bildungsinstitutionen stattfinde[t]“ (Rohlfs, 2011, S. 47). Bildung beginnt demzufolge nicht erst mit formalen Bildungsformen, sondern bereits mit den in den Habitus eingehenden alltäglichen Lern- und Bildungsprozessen eines Heranwachsenden in Familie und genereller Lebenswelt, die den Großteil der Erfahrungen nicht nur, aber besonders im Kindesalter ausmachen; gelernt wird also vorwiegend „durch Praxis, durch Nachmachen und Mittun, durch Aneignung von Routinen und Gewohnheiten und durch die dementsprechende Entwicklung von Denk-, Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsmustern, die aus der Herkunftskultur stammen und in ihr Sinn haben“ (Liebau, 2009, S. 47).

Diese Ausführungen machen deutlich, dass die Aneignung von Bildung, d.h. das Lernen „nicht nur als bewusste kognitive, sondern auch als eher unbewusste psychische und gefühlsmäßige Verarbeitung von Eindrücken, Informationen, Erlebnissen etc.“ (Rohlfs, 2011, S. 36) verstanden werden muss, das sich „bewusst wie unbewusst, intentional wie beiläufig, theoretisch wie praktisch“ (ebd.) vollzieht. Bildungsprozesse, begriffen als Inkorporierung von Kultur, und das mit ihnen verbundene Lernen finden daher nur selten rein kognitiv, sondern vielmehr habituell statt – während formale Bildung eher auf der rationalen Ebene anzusiedeln ist, geschieht das grundlegende, informelle Lernen mehrheitlich beiläufig und ohne gezielte Intention, woraus weiteres Konfliktpotential erwachsen kann, weil etwaige Inkompatibilitäten zwischen formalen Bildungsanforderungen und Habitus infolgedessen nicht allein durch rationale Intervention oder Reflexion auflösbar sind.

Diese wesentlichen Unterschiede zwischen den formalen, in ausgewiesenen Bildungseinrichtungen stattfindenden und den informellen, sich in der Familie vollziehenden Bildungsprozessen machen deutlich, welch analytische Kurzsichtigkeit eine Verengung des Bildungsbegriffs auf institutionalisierte Bildungsprozesse zur Folge hat, die nur formalem Lernen einen Wert zumisst und „mit dem informellen Lernen eher «Nichtbildung» [assoziiert], weil Spiel und «tun und lassen können, was man will» mit Verschwendung von Bildungsressourcen gleichgesetzt wird“ (Dollase, 2007, S. 6; vgl. Rohlfs, 2011), womit all jene Bildungsformen, -prozesse und -inhalte jenseits der institutionellen Vorgaben und damit auch die daraus resultierenden Passungs- oder Konfliktverhältnisse ignoriert werden. Wenn nicht gar explizit, so liegt diesem auch in der empirischen Bildungsforschung verbreiteten  hierarchischen Bildungsverständnis (dazu kritisch Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2007; Grundmann, 2011) doch zumindest implizit eine Defizitlogik zugrunde, die sämtliche herkunftsspezifischen Bildungsprozesse abwertet und als minderwertig betrachtet, solange diese nicht im schulischen Kontext anschlussfähig oder verwertbar sind, was gleichzeitig die dieser Hierarchisierung zugrundeliegende Vorstellung und den Anspruch reproduziert, bei schulischer Bildung handele es sich um die (einzig) legitime Form von Kultur (vgl. Bock, 2008; Grundmann, Groh-Samberg, Bittlingmayer, & Bauer, 2003). Wenngleich durch Zertifizierung, staatlich anerkannte Abschlüsse, Orientierung an Lehrplänen und weitgehende Standardisierung von Lernprozessen und -inhalten die schulische Bildung als legitime Bildung ausgewiesen ist, die für Statuszuweisung und als Qualifikationsnachweis für beruflichen Ein- oder Aufstieg herangezogen wird, so darf doch nicht übersehen werden, dass außerschulische Bildungsprozesse auch dann stattfinden, „wenn schulische Bildungsverläufe fehlschlagen, verkürzt oder abgebrochen werden“ (Grundmann, Groh-Samberg, Bittlingmayer, & Bauer, 2003, S. 27) – nur werden eben diese vermeintlich unnützen Bildungsprozesse und -inhalte selbst dann nicht als legitime Bildung anerkannt, wenn sie für den konkreten Akteur zum täglichen Überleben in Milieu und Gesellschaft von teils existentieller Bedeutung sind.

Wie hieran deutlich wird, bedingt die Formalisierung von Bildung nicht nur eine Hierarchisierung von Kultur, die mit dieser Institutionalisierung und der damit einsetzenden Abwertung außerschulischer Bildungsprozesse einhergeht, sondern formt Bildung generell zu einem „ökonomisch-politischen Instrument“, das vordergründig zwar mit den Versprechen von Emanzipation, Mündigkeit und Selbstverwirklichung maskiert wird, dabei allerdings nur „jene Kulturtechniken vermittelt [und akzeptiert; MM], die politisch und ökonomisch gewollt sind“ (Grundmann, 2011, S. 72). Erziehung erschöpft sich in diesem Sinne darauf, die Ausprägung eines möglichst schulkonformen Habitus zu fördern bzw. sicherzustellen, der sowohl ‚leistungsfähig‘ ist als auch die erwünschten Charakterzüge aufweist – „eine gute Erziehung zeichnet sich demnach durch optimale Vorbereitung auf die Schule aus“ (ebd., S. 70), demgegenüber eine Erziehung, die eine solche Vorbereitung nicht leisten kann (oder will), automatisch als defizitär betrachtet wird. Insofern kann von einem emanzipatorischen Element überhaupt nur dann die Rede sein, wenn die Bildungsanforderungen sich mit den eigenen Lebensentwürfen und – unmittelbar relevanter – den Anforderungen des täglichen Lebens decken oder diesen zumindest nicht widersprechen; in jedem anders gelagerten Fall findet das Gegenteil von Emanzipation statt, nämlich eine die soziale Hierarchie reproduzierende symbolische und strukturelle Gewalt, vermittelt über die Abwertung herkunftsspezifischer kultureller Praktiken, indem „Erziehung und Bildung (…) zur Selektion und Legitimation ungleicher Lebenschancen herangezogen“  (Grundmann, 2011, S. 64) werden.

Völlig unbeachtet bleiben bei der Verkürzung des Bildungsbegriffs und der damit verknüpften Hierarchisierung von Kultur die Perspektiven der betroffenen Akteure, die über eine jeweils eigene, herkunftsspezifische Kultur mit divergierenden Bildungsstrategien verfügen und diese in das institutionelle Bildungssystem hineintragen, wo ihnen aufgrund ihrer Anschlussfähigkeit entweder Akzeptanz entgegengebracht wird und sich ein Gefühl der selbstverständlichen Zugehörigkeit einstellen kann, oder infolge kultureller Differenz strikte Abwertung entgegenschlägt und ein diffuses Gefühl der Nichtzugehörigkeit entsteht, was u.a. das Phänomen der Selbsteliminierung zur Folge hat, also das scheinbar (!) freiwillige und selbstgewählte verfrühte Ausscheiden aus dem Bildungssystem oder die Beschränkung auf objektiv wenig ertragreiche, aber subjektiv als sicher empfundene Bildungswege. Wie deutlich geworden sein sollte, ist zum Verständnis dieses Passungsverhältnisses der „Bildungsbegriff aus seiner institutionellen Verankerung zu entgrenzen“ (Grundmann, Groh-Samberg, Bittlingmayer, & Bauer, 2003, S. 27), da nur mittels eines solchen breitgefassten Bildungsbegriffs, der unter Rückgriff auf das Habituskonzept die herkunftsspezifischen  Bildungsstrategien und -inhalte im Kontext ihrer Lebenswelt beleuchtet und ernst nimmt, anstatt sie unter der Prämisse einer Defizitlogik abzuwerten, „diejenigen sozialisatorischen Alltagspraktiken, individuellen Handlungsbefähigungen und Handlungsstrategien sichtbar [gemacht werden können], die für die Reproduktion der sozial ungleichen Bildungserfolge sozialisatorisch verantwortlich sind und die in der Regel außerhalb der schulischen Alltagspraxis selbst liegen“ (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Edelstein, 2006, S. 16; vgl. Bittlingmayer, 2006).

Wird der Bildungsbegriff von seiner Fixierung auf schulische Bildung gelöst und differenziert betrachtet, so muss auch der darauf aufbauende Begriff des Bildungserfolgs eine ähnliche Differenzierung erfahren, um unter anderem deutlich machen zu können, wie Bildungserfolg einer Lesart gegebenenfalls anderen Vorstellungen von Bildungserfolg – insbesondere jenen innerhalb des Bildungssystems – zuwiderlaufen kann.

Zunächst kann Bildungserfolg individuell-lebensweltlich begriffen werden, als allgemeine Handlungsbefähigung, um am alltäglichen Leben in der gegebenen Bezugswelt, d.h. dem umgebenden Milieu, teilnehmen und teilhaben zu können (vgl. Huisken, 2005; Bittlingmayer, 2006; Dravenau, 2006; Grundmann, 2006; Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2007; Bock, 2008; Grundmann, 2011). Bildungserfolg in diesem Sinne zeichnet sich dadurch aus, die milieuspezifischen Handlungs- und Umgangsformen, die alltäglichen Praxen wie auch sprachlichen Besonderheiten (etwa Umgangssprache oder Dialekt)  zu erlernen und anwenden zu können, was in der Regel in Form von informeller Bildung geschieht und somit bei den Akteuren einen herkunftsspezifischen, an die konkreten Anforderungen angepassten Habitus herausbildet. Als erfolgreich gilt hier, wer sich aufgrund dieses Habitus in seinem Milieu als Zugehöriger und sich zugehörig Fühlender bewegen kann.

Weiterhin kann Bildungserfolg aus einer Perspektive verstanden werden, die Bildung als Bürgerrecht (vgl. Dahrendorf, 1966) oder gesamtgesellschaftlich-emanzipatives Element betrachtet, das sowohl den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen ermöglicht als auch Grundlage für die aktive politische Teilnahme und damit letztlich die Gestaltung der Gesellschaft ist (vgl. Büchner, 2003; Huisken, 2005; Butterwegge, 2010; Quenzel & Hurrelmann, 2010; Grundmann, 2011). Nach diesem Verständnis ist Bildung nicht nur für die Handlungsbefähigung im direkten Milieu von zentraler Bedeutung, sondern ebenfalls essentieller Bestandteil der politischen Meinungsbildung und der Möglichkeit zur Einflussnahme auf gesellschaftliche Bedingungen. Wird Zugang zu Bildung verwehrt oder ist dieser sozial ungleich verteilt, hat dies nicht nur Konsequenzen für die individuellen Arbeitsmarktchancen und sämtliche damit verknüpften Auswirkungen auf die betroffenen Individuen, sondern bedeutet gleichzeitig eine Einschränkung der politischen Mit- oder bloß Selbstbestimmung, d.h. letztlich ein Ungleichgewicht demokratischer Partizipationsmöglichkeiten. Schulische Bildung kann mit derartigen Emanzipationsprozessen wiederum in Konflikt geraten, wenn diese beispielsweise die Regeln und Abläufe der schulischen Institutionen in Frage stellen.

Wie anfangs bereits dargelegt, wird Bildungserfolg in der Regel allerdings allein mit dem Erfolg oder Misserfolg innerhalb institutioneller Bildungseinrichtungen und den von diesen vergebenen Bildungszertifikaten gleichgesetzt, was auch von Teilen der soziologischen Bildungsforschung und vor allem den PISA-Studien übernommen wird (vgl. Becker & Hadjar, 2011; exemplarisch OECD, 2010). Dies entspricht einer systemfunktionalen Betrachtung im Kontext des Bildungssystems und des darauf aufbauenden Arbeitsmarkts; Bildungsungleichheiten an sich, wenn auch nicht zwingend soziale Ungleichheiten, werden aus dieser systemfunktionalen Perspektive heraus als notwendig erachtet und positiv bewertet, da unterschiedliche berufliche Positionen auch unterschiedliche schulische Abschlüsse voraussetzen und ein gleiches Maß an Bildung somit Unter- bzw. Überqualifikation produzieren würde. Weder die Befähigung zur alltäglichen Lebensführung und die Anpassung an die Erfordernisse der unmittelbaren Lebenswelt noch die gesellschaftliche sowie politische Partizipation stehen bei dieser Definition von Bildungserfolg im Vordergrund, sondern die Erlangung von Berufsqualifikation und eines entsprechenden Status, was bedeutet, dass Bildungserfolg anhand der Vermittlung und Überprüfung schulischer Bildung in Form von Noten, Zertifikaten und dem Zugang zu höherer Bildung sowie letztlich dem daraus resultierenden beruflichen Erfolg gemessen wird. Hierbei handelt es sich um eine Messung anhand objektiver Kriterien, die sowohl die Akteursperspektive als auch milieuspezifische Differenzen unberücksichtigt lässt.

Bildungserfolg ist demzufolge nicht gleich Bildungserfolg, und Bildungserfolg im einen Sinne muss nun nicht mit Bildungserfolg in einem anderen Sinne einhergehen, vielmehr eröffnen sich erhebliche Konfliktdimensionen. Wer durch spezifische Milieubedingungen geprägt und innerhalb dieser alltäglichen Lebensbedingungen sozialisiert wurde, in diesem Sinne also Bildungserfolge aufweisen kann, die ihn zur Gestaltung des täglichen Lebens befähigen, ist dadurch nicht gleichsam prädestiniert für schulische Bildungserfolge, weil die jeweiligen Definitionen von Bildungserfolg sich diametral widersprechen können – ist beispielsweise im Rahmen der alltäglichen Praxen eine Konzentration auf handwerkliche Tätigkeiten oder konkrete Problemlösungsstrategien nötig, negiert die Schule kurzerhand durch ihren Fokus auf abstrakte Bildung diese milieuspezifischen Bildungserfolge und stellt ihnen eine ganz eigene Definition derselben gegenüber, die mit den Milieubedingungen nicht oder nur bedingt kompatibel ist. Es stehen sich in Folge zwei Auffassungen von Bildungserfolg gegenüber, die nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind, nicht zuletzt, weil sie im außerschulischen Leben für den jeweiligen Akteur ganz unterschiedliche Relevanz aufweisen können, bis hin zur völligen lebensweltlichen Irrelevanz schulischer Bildungsprozesse.


[1] Bei der hier vollzogenen Trennung in formale, non-formale und informelle Bildung handelt es sich vorrangig um eine Trennung analytischer Natur, da sich die Bildungsformen in der alltäglichen Praxis durchaus überschneiden und deren Grenzen verschwimmen können (vgl. Abbildung), so z.B. bei Gesprächen, beim Spielen oder anderen Handlungen im schulischen Kontext, die zwar am Ort formaler Bildung stattfinden, allerdings nicht zu den formalen Lerninhalten zählen.


Literatur:

  1. Becker, R., & Hadjar, A. (2011). Meritokratie – Zur gesellschaftlichen Legitimation ungleicher Bildungs-, Erwerbs- und Einkommenschancen in modernen Gesellschaften. In R. Becker (Hrsg.), Lehrbuch der Bildungssoziologie (2. Auflage) (S. 37-62). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  2. Bittlingmayer, U. H. (2006). Grundzüge einer mehrdimensionalen sozialstrukturellen Sozialisationsforschung. In M. Grundmann, D. Dravenau, U. H. Bittlingmayer, & W. Edelstein, Handlungsbefähigung und Milieu. Zur Analyse milieuspezifischer Alltagspraktiken und ihrer Ungleichheitsrelevanz (S. 37-55). Berlin: LIT Verlag.
  3. Bittlingmayer, U. H., & Grundmann, M. (2006). Die Schule als (Mit-)Erzeugerin des sozialen Raums. Zur Etablierung von Bildungsmilieus im Zuge rapider Modernisierung. Das Beispiel Island. In M. Grundmann, D. Dravenau, U. H. Bittlingmayer, & W. Edelstein, Handlungsbefähigung und Milieu. Zur Analyse milieuspezifischer Alltagspraktiken und ihrer Ungleichheitsrelevanz (S. 75-95). Berlin: LIT Verlag.
  4. Bock, K. (2008). Einwürfe zum Bildungsbegriff. Fragen für die Kinder- und Jugendhilfeforschung. In H.-U. Otto, & T. Rauschenbach (Hrsg.), Die andere Seite der Bildung. Zum Verhältnis von formellen und informellen Bildungsprozessen (2. Auflage) (S. 91-105). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  5. Büchner, P. (2003). Stichwort: Bildung und soziale Ungleichheit. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 6. Jahrg. (Heft 1/2003), S. 5-24.
  6. Butterwegge, C. (2010). Kinderarmut und Bildung. In G. Quenzel, & K. Hurrelmann (Hrsg.), Bildungsverlierer – Neue Ungleichheiten (S. 537-555). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  7. Dahrendorf, R. (1966). Bildung ist Bürgerrecht : Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: Nannen.
  8. Dollase, R. (2007). Bildung im Kindergarten und Früheinschulung. Ein Fall von Ignoranz und Forschungsamnesie. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 21 (1), S. 5-10.
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  10. Dravenau, D., & Groh-Samberg, O. (2005). Bildungsbenachteiligung als Institutioneneffekt. Zur Verschränkung kultureller und institutioneller Diskriminierung. In P. A. Berger, & H. Kahlert (Hrsg.), Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert (S. 103-129). Weinheim und München: Juventa.
  11. Grundmann, M. (2006). Milieuspezifische Handlungsbefähigung sozialisationstheoretisch beleuchtet. In M. Grundmann, U. H. Bittlingmayer, D. Dravenau, & W. Edelstein, Handlungsbefähigung und Milieu. Zur Analyse milieuspezifischer Alltagspraktiken und ihrer Ungleichheitsrelevanz (S. 57-73). Berlin: LIT Verlag.
  12. Grundmann, M. (2011). Sozialisation – Erziehung – Bildung: Eine kritische Begriffsbestimmung. In R. Becker (Hrsg.), Lehrbuch der Bildungssoziologie (2. Auflage) (S. 63-85). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  13. Grundmann, M., Bittlingmayer, U. H., Dravenau, D., & Edelstein, W. (2006). Bildungsstrukturen und sozialstrukturelle Sozialisation. In M. Grundmann, U. H. Bittlingmayer, D. Dravenau, & W. Edelstein, Handlungsbefähigung und Milieu. Zur Analyse milieuspezifischer Alltagspraktiken und ihrer Ungleichheitsrelevanz (S. 13-35). Berlin: LIT Verlag.
  14. Grundmann, M., Bittlingmayer, U., Dravenau, D., & Groh-Samberg, O. (2007). Bildung als Privileg und Fluch – zum Zusammenhang zwischen lebensweltlichen und institutionalisierten Bildungsprozessen. In R. Becker, & W. Lauterbach (Hrsg.), Bildung als Privileg (2. Auflage) (S. 43-70). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  15. Grundmann, M., Groh-Samberg, O., Bittlingmayer, U. H., & Bauer, U. (2003). Milieuspezifische Bildungsstrategien in Familie und Gleichaltrigengruppe. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 6. Jahrg. (Heft 1/2003), S. 25-45.
  16. Huisken, F. (2005). Der »PISA-Schock« und seine Bewältigung. Hamburg: VSA-Verlag.
  17. Liebau, E. (2009). Der Störenfried. Warum Pädagogen Bourdieu nicht mögen. In B. Friebertshäuser, M. Rieger-Ladich, & L. Wigger (Hrsg.), Reflexive Erziehungswissenschaft (2. Auflage) (S. 41-58). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  18. OECD (Hrsg.). (2010). Bildung auf einen Blick 2010. Paris: OECD Publishing/W. Bertelsmann Verlag. Online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1787/eag-2010-de (28.07.2012).
  19. Quenzel, G., & Hurrelmann, K. (2010). Bildungsverlierer: Neue soziale Ungleichheiten in der Wissensgesellschaft. In G. Quenzel, & K. Hurrelmann (Hrsg.), Bildungsverlierer – Neue Ungleichheiten (S. 11-33). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  20. Rohlfs, C. (2011). Bildungseinstellungen. Schule und formale Bildung aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  21. Suderland, M. (2004). Territorien des Selbst. Frankfurt/M: Campus.

Im Kontext des Habituskonzepts und der Bourdieuschen Milieuforschung ist von ökonomischem, kulturellem sowie sozialem Kapital die Rede. Um diese verschiedenen Formen des Kapitals, die bei Bourdieu zur Sprache kommen, zu betrachten, ist es zunächst einmal wichtig, den Begriff des Kapitals generell zu definieren. Bourdieu spricht von Kapital als „akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, »inkorporierter« Form“ (Bourdieu, 1992b, S. 49).

Im Gegensatz zu einer verengenden Betrachtungsweise, die jegliche Kapitalformen jenseits des ökonomischen Kapitals als solches schlicht verkennt, identifiziert Bourdieu neben dem ökonomischen Kapital auch kulturelles sowie soziales Kapital.

Die Betrachtung der Gesellschaft unter rein ökonomischen Gesichtspunkten ignoriert die symbolische Logik der Distinktion und die Effekte des kulturellen Kapitals, die den Besitzern eines umfangreichen Kulturkapitals auf Grund dessen Seltenheitswerts besondere Profite wie etwa schulische Bildungserfolge ermöglichen:

„D. h., derjenige Teil des Profits, der in unserer Gesellschaft aus dem Seltenheitswert bestimmter Formen von kulturellem Kapital erwächst, ist letzten Endes darauf zurückzuführen, daß nicht alle Individuen über die ökonomischen und kulturellen Mittel verfügen, die es ihnen ermöglichen, die Bildung ihrer Kinder über das Minimum hinaus zu verlängern, das zu einem gegebenen Zeitpunkt für die Reproduktion der Arbeitskraft mit dem geringsten Marktwert erforderlich ist“ (ebd., S. 57f).

Hierbei wird anhand des kulturellen Kapitals bereits deutlich, dass die drei genannten Kapitalarten gesellschaftlich ungleich verteilt sind, wobei deren Verteilungsstruktur „der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt“ (ebd., S. 50) entspricht, sodass die „ungleiche Verteilung von Kapital (…) somit die Grundlage für die spezifischen Wirkungen von Kapital“ (ebd., S. 58) bildet. Auf dieser Grundlage ist soziale Herkunft „als Verkettung von Merkmalen der sozioökonomischen Stellung, des kulturellen sowie des sozialen Kapitals zu verstehen“ (Baumert & Maaz, 2006, S. 24), die soziale Ungleichheiten abbilden: „Durch die Verknüpfung und Korrelation der verschiedenen Kapitalarten erfolgt eine Kumulation von Vor- bzw. Nachteilen in den verschiedenen sozialen Klassen“ (Jungbauer-Gans, 2004, S. 377). Ein gewichtiger Vorteil dieser Operationalisierung sozialer Herkunft ist der Umstand, dass mit Blick auf Kapitalzusammensetzung, -wirkung und den daraus resultierenden Habitus eine Perspektive eingenommen wird, die sich nicht auf abstrakte Kategorien und Strukturmerkmale beschränkt, sondern ebenso Prozessmerkmale beleuchtet und konkrete Eigenheiten wie die Zusammensetzung des Freundeskreises, Freizeitbeschäftigungen oder Erziehungsstile beinhaltet (vgl. Krais, 2004; Watermann & Baumert, 2006; Brake & Büchner, 2009).

Das kulturelle Kapital kann als Bildung und Handlungswissen in jedweder Form, über das eine Person verfügt, beschrieben werden und lässt sich in die drei Unterformen des inkorporierten, objektivierten und institutionalisierten Kulturkapitals differenzieren.

Das inkorporierte Kulturkapital bezeichnet die verinnerlichte Form des Kulturkapitals, es „wird in persönlicher Bildungsarbeit erworben und kann am ehesten als kognitive Kompetenz und ästhetischer Geschmack beschrieben werden“ (Jungbauer-Gans, 2004, S. 377). Die Voraussetzung für jegliche Inkorporierung ist eine persönliche Investition von Zeit, die aufzubringen sowohl der jeweilige Akteur als auch dessen Familie (ökonomisch) in der Lage sein müssen, denn die Akkumulation des kulturellen Kapitals und damit dessen individuelle Effektivität „hängt vielmehr auch davon ab, wieviel nutzbare Zeit (…) in der Familie zur Verfügung steht, um die Weitergabe des Kulturkapitals zu ermöglichen und einen verzögerten Eintritt in den Arbeitsmarkt zu gestatten“ (Bourdieu, 1992b, S. 72), weswegen sich hier Vorteile für ökonomisch gutsituierte Familien ergeben. Als sinnvollstes Maß für inkorporiertes Kulturkapital bezeichnet Bourdieu die gesamte Dauer des Bildungserwerbs, also diejenige Zeit, in welcher auf dem Wege sozialer Vererbung Kulturkapital weitergegeben wird, wobei hier sehr darauf zu achten ist, diese nicht fälschlicherweise auf die Schulzeit zu reduzieren, da ansonsten erneut – wie bei der rein ökonomischen Betrachtungsweise – die Transmission des kulturellen Kapitals in der Familie komplett unberücksichtigt bliebe (vgl. ebd., S. 56). Da sich die herkunftsspezifischen und schulspezifischen Bildungsinhalte allerdings durchaus widersprechen können, ist somit die Zeit der Primärerziehung, die für die Vermittlung kultureller Praktiken aufgewendet wurde, „je nach dem Abstand zu den Erfordernissen des schulischen Marktes entweder als positiver Wert [in Rechnung zu stellen], als gewonnene Zeit und Vorsprung, oder als negativer Faktor, als doppelt verlorene Zeit, weil zur Korrektur der negativen Folgen nochmals Zeit eingesetzt werden muß“ (ebd., S. 56) – für den Schulerfolg irrrelevante Praxen werden somit aus Perspektive der legitimen Kultur als Fehlinvestitionen betrachtet.

Das einmal inkorporierte Kulturkapital wird unweigerlich zum festen Bestandteil der Person und formt ihren Habitus, bleibt dabei aber stets von den Umständen der ersten Aneignung geprägt (vgl. ebd., S. 56f), woran ersichtlich wird, welchen nachhaltigen Einfluss die herkunftsspezifische Kapitalzusammensetzung und die Vererbung dieses Kapitals auf den individuellen Habitus und schließlich die schulischen Erfolge aufweist.

Demgegenüber stellt objektiviertes Kulturkapital, so wie ein Buch, ein Bild, ein Computer oder ein Instrument, eine autonome, materiell übertragbare Form von Kulturkapital dar (vgl. ebd., S. 59). Es kann beliebig unmittelbar weitergeben, verschenkt, vererbt und gekauft werden, wofür lediglich eine ökonomische Investition nötig ist. Durch diesen Umstand ist das objektivierte Kulturkapital sehr eng an das ökonomische Kapital gebunden. Die Aneignung des objektivierten Kulturkapitals, die es erst als Kapital wirksam werden lässt, setzt allerdings anknüpfungsfähiges inkorporiertes kulturelles Kapital voraus – ein Buch bleibt eine bloße Blättersammlung, solange nicht inkorporiertes Kulturkapital in Form der Lesefähigkeit vorliegt.

Eine gewisse Objektivierung wiederum erfährt das inkorporierte Kulturkapital durch die Form des institutionalisierten kulturellen Kapitals, das in Gestalt von zu vergebenen schulischen bzw. akademischen Titeln existiert. Die institutionalisierte Form des Kulturkapitals stellt damit eine offizielle Anerkennung und Legitimierung des inkorporierten Kulturkapitals dar und ist „ein Zeugnis für kulturelle Kompetenz, das seinem Inhaber einen dauerhaften und rechtlich garantierten konventionellen Wert überträgt“ (ebd., S. 61). Ein derartiges Zeugnis legitimiert damit nicht nur die familiäre Vererbung kulturellen Kapitals und die dadurch erzeugten sozialen Ungleichheiten, sondern bescheinigt dem Absolventen einer anerkannten Bildungseinrichtung zudem dauerhaft, was der Autodidakt ständig beweisen muss, wobei die einzige Differenz zwischen beiden Akteuren ihre Entsprechung mit und ihre Unterwerfung unter die als legitim erachteten Bildungsinstitutionen ist, womit durch institutionelle Sanktionen bleibende und für die weiteren Lebenswege höchst relevante Grenzen produziert werden, da sie eine wesensmäßige Unterscheidung zwischen offiziell anerkanntem und durch den Bildungstitel nachgewiesenem bzw. garantiertem Kulturkapital auf der einen sowie nicht offiziell anerkanntem Kulturkapital auf der anderen Seite vollziehen (vgl. ebd., S. 62; Solga, 2005). An dieser Stelle sei erneut auf die damit einhergehende Abwertung alltagsrelevanter Praxen verwiesen, wenn diese nicht den schulischen (und damit herrschenden) Vorstellungen legitimer Kultur entsprechen.

Soziales Kapital wiederum definiert Bourdieu als „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ (Bourdieu, 1992b, S. 63). Diese Ressourcen, die über das Netz potentiell erschlossen werden können, umfassen sowohl ökonomisches (beispielsweise in Form von Krediten oder anderweitiger finanzieller Unterstützung), kulturelles (beispielsweise als Zugang zu objektiviertem Kulturkapital) als auch weiteres soziales Kapital (‚ein Freund eines Freundes‘), das „nicht in der direkten Verfügung des Individuums“, sondern „an die Existenz anderer Personen gebunden“ (Hollstein, 2007, S. 53) ist. Das Netz dient hierbei als Multiplikator, sodass letztlich das für einen Akteur tatsächlich verfügbare Kapital nicht bloß das direkt zugängliche, sondern zudem das über das Netzwerk aktivierbare Kapital einschließt (Bourdieu, 1992b, S. 64). Mit der Größe des jeweiligen sozialen Netzes und der sozialen Position der Gegenüber korreliert somit der Umfang des eigenen Gesamtkapitals, wobei qualitative Stärke durchaus Vorrang vor quantitativem Ausmaß des Netzes einnimmt (vgl. Mewes, 2010).

Die unterschiedlichen Kapitalarten sind, wie bereits angeschnitten, untereinander konvertierbar und stets miteinander verwoben, sodass keine Kapitalart als von den anderen Kapitalarten unabhängige verstanden werden kann. Kulturelle, soziale wie ökonomische Ressourcen der Eltern beispielsweise (oder auch der Peers) sind nur nützlich, wenn sie entsprechend genutzt werden (können) und soziales Kapital in Form von Beziehungen besteht, die eine solche Nutzung erlauben und fördern (vgl. Allmendinger, Ebner, & Nikolai, 2007, S. 489). Innerhalb der Familie wirken sich die Familienstruktur, die physische Präsenz und die Förderkultur auf die schulischen Leistungen eines Kindes aus – besteht kein (regelmäßiger) Kontakt zu den Eltern oder fehlt eine solche Förderkultur, kann das Kind kaum vom kulturellen Kapital der Eltern profitieren (vgl. ebd.). Außerhalb der Familie ist es die Peergroup und das unmittelbare Milieu, das sich auf die Leistungen auswirkt. In- und außerhalb der Familie lassen sich das kulturelle Kapital und die kulturelle Praxis nicht von den Sozialbeziehungen und damit dem sozialen Kapital trennen. Bei niedrigem formalem Bildungsniveau konzentrieren sich die sozialen Beziehungen zudem vorwiegend auf Verwandtschaft und Nachbarschaft (vgl. Diewald & Lüdicke, 2007; Mewes, 2010), ein Zugriff auf kulturelles Kapital über große soziale Netzwerke, wie sie für Milieus mit hoher formaler Bildung charakteristisch sind, wird damit erschwert bis unmöglich.

Anhand der Akkumulation kulturellen Kapitals in inkorporierter Form wurde bereits im Ansatz deutlich, wie essentiell die Verfügbarkeit ökonomischen Kapitals sich auf die zur Inkorporierung verfügbare Zeit auswirkt, da „ein Individuum die Zeit für die Akkumulation kulturellen Kapitals nur so lange ausdehnen kann, wie ihm seine Familie freie, von ökonomischen Zwängen befreite Zeit garantieren kann“ (Bourdieu, 1992b, S. 59), und auch Zeit, sich mit dem Kind zu beschäftigen, bedarf ökonomischer Sicherheit, sich diese Zeit ‚leisten‘ zu können. Das ökonomische Kapital erzeugt neben den unmittelbaren ökonomischen Vorteilen ein Gefühl materieller Sicherheit und erlaubt den Zugriff auf und die Akkumulation kulturellen Kapitals, ist folglich sowohl direkt als auch indirekt für die Habitusbildung verantwortlich. Es liegt daher sowohl allen anderen Kapitalarten zugrunde, muss aber gleichzeitig Transformationen erfahren, wo die direkte Vererbung ökonomischen Kapitals als illegitim erscheinen könnte, um diese Vererbung zu verschleiern und zu legitimieren (vgl. ebd., S. 70ff) – eben als Vererbung kulturellen Kapitals. Während die Verfügbarkeit über ökonomisches Kapital vergleichbar offensichtlich und quantifizierbar ist, die Effekte des kulturellen Kapitals und dessen Vererbung aber verborgener vonstattengehen und es häufig als Kapital verkannt wird – so wird nicht selten das inkorporierte kulturelle Kapital naturalisiert und als Intelligenz, Begabung, Talent deklariert – , muss festgehalten werden, „daß die Übertragung von Kulturkapital zweifellos die am besten verschleierte Form erblicher Übertragung von Kapital ist“ (ebd., S. 58), denn „[d]er Umstand, daß kulturelle Erscheinungen immer auch als sinnlich faßbare Äußerungen von Personen in Erscheinung treten, erweckt den Eindruck, als sei Kultur die natürlichste und die persönlichste und damit also auch die legitimste Form des Eigentums“ (Bourdieu, 1992a, S. 27). Infolgedessen müssen aufgrund der Ungleichverteilung des kulturellen Kapitals und der generellen Hierarchisierung von Kultur die „spezifischen Strategien, mit denen die verschiedenen sozialen Klassen und deren Teilfraktionen ihre soziale Stellung erhalten oder zu verbessern streben“ (Vester, 2004, S. 27), genauso wie die schulische Definition legitimer Kultur und die Abwertung davon abweichender sozialer Praxen als soziale Kämpfe verstanden werden.

In der sozialwissenschaftlichen Bildungsforschung fristen auf Bourdieu und dessen Kapital- sowie Habituskonzept aufbauende Ansätze bislang jedoch ein Schattendasein (vgl. Kalthoff, 2004) oder werden bisweilen in einer Form umgesetzt, die kulturelles Kapital definitorisch auf Hochkultur verkürzt (vgl. de Graaf & de Graaf, 2006; dazu kritisch Jungbauer-Gans, 2006). Zwar findet das Konzept des kulturellen und sozialen Kapitals in den die öffentlichen Debatten über Bildungschancen immer wieder hervorrufenden PISA-Studien durchaus Anwendung, allerdings wurde in diesen Ansätzen die kulturelle Praxis lediglich im Kontext von PISA 2000 über Fragen nach Besitz von Kulturgütern, zum kulturellen Leben in der Familie und zur Teilhabe der Schüler an Formen der Kultur bzw. der kommunikativen Praxis ermittelt (vgl. Baumert & Maaz, 2006; Baumert, 2001; Watermann & Baumert, 2006). In der Folgestudie aus dem Jahr 2003 wurden zunächst sämtliche Fragen zur Verhaltensdimension des kulturellen Kapitals gestrichen, sodass als Indikator für kulturelles Kapital einzig der Besitz von Kulturgütern erfasst wird, der eher Rückschlüsse auf den finanziellen als auf den kulturellen Hintergrund der Familien erlaubt (vgl. Jungbauer-Gans, 2004), bis schließlich PISA 2006 jeglichen Bezug auf Bourdieu vermissen ließ (vgl. Kramer & Helsper, 2010). Selbst zu Beginn der PISA-Studien wurden die theoretischen Annahmen Bourdieus nur begrenzt methodisch umgesetzt, „ohne allerdings – und das markiert die entscheidende Differenz zu kritischer Bildungsforschung – dessen radikale, also auf den Grund gehende, Einschätzungen, die in der Klassenstrukturiertheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation gründen, zu teilen bzw. aufzunehmen“ (Sünker, 2008, S. 224). Im Gegenteil findet sich dort vielmehr „eine Abwehr, die teilweise mit einer unvollständigen und einseitigen Rezeption Bourdieus einhergeht“ (Vester, 2006, S. 23). Mit dieser Abkehr von der Erfassung der Prozessmerkmale kultureller Praxis beschränken sich die PISA-Studien auf rein objektivistische Merkmale zur Definition der sozialen Herkunft, weshalb der Beitrag zur Erklärung sozialer Chancen- und Bildungsungleichheiten unbefriedigend bleiben muss: „Auf diese Weise können zwar statistische Korrelationen zwischen spezifischen Indikatoren wie zum Beispiel zwischen der sozialen Herkunft und der individuellen schulischen Leistungsfähigkeit herausgearbeitet werden; verstanden sind die sozialen Prozesse und Mechanismen, die zu diesen Korrelationen führen, damit aber noch nicht“ (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Edelstein, 2006, S. 15).


Literatur:

  1. Allmendinger, J., Ebner, C., & Nikolai, R. (2007). Soziale Beziehungen und Bildungserwerb. In A. Franzen, & M. Freitag (Hrsg.), Sozialkapital (S. 487-513). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  2. Baumert, J. (Hrsg.). (2001). PISA 2000 – Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich.
  3. Baumert, J., & Maaz, K. (2006). Das theoretische und methodische Konzept von PISA zur Erfassung sozialer und kultureller Ressourcen der Herkunftsfamilie: Internationale und nationale Rahmenkonzeption. In J. Baumert, P. Stanat, & R. Watermann (Hrsg.), Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen (S. 11-29). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  4. Bourdieu, Pierre (1992a). Politik, Bildung und Sprache (Interview). In P. Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht (S. 13-29). Hamburg: VSA-Verlag.
  5. Bourdieu, Pierre (1992b). Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital. In P. Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht (S.49-79). Hamburg: VSA-Verlag.
  6. Brake, A., & Büchner, P. (2009). Dem familialen Habitus auf der Spur. Bildungsstrategien in Mehrgenerationenfamilien. In B. Friebertshäuser, M. Rieger-Ladich, & L. Wigger (Hrsg.), Reflexive Erziehungswissenschaft (2. Auflage) (S. 59-80). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  7. de Graaf, P. M., & de Graaf, N. D. (2006). Hoch- und popkulturelle Dimensionen kulturellen Kapitals: Auswirkungen auf den Bildungsstand der Kinder. In W. Georg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit im Bildungssystem (S. 147-173). Konstanz: UVK.
  8. Diewald, M., & Lüdicke, J. (2007). Akzentuierung oder Kompensation? Zum Zusammenhang von Sozialkapital, sozialer Ungleichheit und subjektiver Lebensqualität. In J. Lüdicke, & M. Diewald (Hrsg.), Soziale Netzwerke und soziale Ungleichheit (S. 11-51). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  9. Grundmann, M., Bittlingmayer, U. H., Dravenau, D., & Edelstein, W. (2006). Bildungsstrukturen und sozialstrukturelle Sozialisation. In M. Grundmann, U. H. Bittlingmayer, D. Dravenau, & W. Edelstein, Handlungsbefähigung und Milieu. Zur Analyse milieuspezifischer Alltagspraktiken und ihrer Ungleichheitsrelevanz (S. 13-35). Berlin: LIT Verlag.
  10. Hollstein, B. (2007). Sozialkapital und Statuspassagen – Die Rolle von institutionellen Gatekeepern bei der Aktivierung von Netzwerkressourcen. In J. Lüdicke, & M. Diewald (Hrsg.), Soziale Netzwerke und soziale Ungleichheit (S. 53-83). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  11. Jungbauer-Gans, M. (2004). Einfluss des sozialen und kulturellen Kapitals auf die Lesekompetenz. Zeitschrift für Soziologie, 33. Jahrg. (Heft 5), S. 375–397.
  12. Jungbauer-Gans, M. (2006). Kulturelles Kapital und Mathematikleistungen – eine Analyse der PISA 2003-Daten für Deutschland. In W. Georg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit im Bildungssystem (S. 175-198). Konstanz: UVK.
  13. Kalthoff, H. (2004). Schule als Performanz. In S. Engler, & B. Krais (Hrsg.), Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen (S. 115-140). Weinheim und München: Juventa.
  14. Krais, B. (2004). Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ‚Die Reproduktion sozialer Ungleichheit und die Rolle der Schule‘. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 24. Jahrg. (Heft 2), S. 115-123.
  15. Kramer, R.-T., & Helsper, W. (2010). Kulturelle Passung und Bildungsungleichheit – Potentiale einer an Bourdieu orientierten Analyse der Bildungsungleichheit. In H.-H. Krüger, U. Rabe-Kleberg, R.-T. Kramer, & J. Budde (Hrsg.), Bildungsungleichheit revisited (S. 103-125). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  16. Mewes, J. (2010). Ungleiche Netzwerke – Vernetzte Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  17. Solga, H. (2005). Meritokratie – die moderne Legitimation ungleicher Bildungschancen. In P. A. Berger, & H. Kahlert (Hrsg.), Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert (S. 19-38). Weinheim und München: Juventa.
  18. Sünker, H. (2008). Bildungspolitik, Bildung und soziale Gerechtigkeit. PISA und die Folgen. In H.-U. Otto, & T. Rauschenbach (Hrsg.), Die andere Seite der Bildung. Zum Verhältnis von formellen und informellen Bildungsprozessen (2. Auflage) (S. 223-236). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  19. Vester, M. (2004). Die Illusion der Bildungsexpansion. In S. Engler, & B. Krais (Hrsg.), Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen (S. 13-53). Weinheim und München: Juventa.
  20. Vester, M. (2006). Die ständische Kanalisierung der Bildungschancen. In W. Georg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit im Bildungssystem (S. 13-54). Konstanz: UVK.
  21. Watermann, R., & Baumert, J. (2006). Entwicklung eines Strukturmodells zum Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und fachlichen und überfachlichen Kompetenzen: Befunde national und international vergleichender Analysen. In J. Baumert, P. Stanat, & R. Watermann (Hrsg.), Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen (S. 61-94). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.


 

(Re-)Produktion und Legitimation sozialer Ungleichheit durch das Bildungssystem

Obwohl es sich bei Bildungsungleichheit um eines der kontinuierlich behandelten Themen der soziologischen Forschung handelt, fristete es im öffentlichen Bewusstsein nach der ersten Hochphase der Bildungsungleichheitsforschung und anschließender Bildungsexpansion ein Schattendasein. Erst mit Erscheinen der ursprünglichen PISA-Studie ist Bildungs- und Chancenungleichheit wieder ins öffentliche und auch politische Bewusstsein gerückt. Wie jede der nachfolgenden PISA-Studien und die sie begleitenden Debatten offenbaren, weist das Problem der Bildungs- und Chancenungleichheit eine erhebliche Persistenz auf. Im Zuge der Bildungsexpansion konnte zwar die generelle Bildungsbeteiligung gesteigert und der Zugang zu höheren Bildungsabschlüssen erweitert werden, doch sind sowohl diese Zugangschancen als auch die Chancen innerhalb der Bildungsinstitutionen weiterhin sozial ungleich verteilt, denn es hat lediglich eine quantitative Annäherung stattgefunden, die das Problem als solches allerdings nicht neutralisiert hat. Im Anschluss an die Bildungsexpansion sind gar neue soziale Schließungsmechanismen zu beobachten, die die erzielten Erfolge relativieren und die sozialen Bildungsungleichheiten wieder ansteigen lassen.

Zentrales Anliegen der hier zum Download bereitgestellten Arbeit ist es, das Zustandekommen von Bildungsungleichheiten und deren Persistenz unter Zuhilfenahme des Habituskonzepts und darauf aufbauender Milieu- und Passungstheorien nachzuzeichnen, um daraus schließlich gesamtgesellschaftliche Beobachtungen und Konsequenzen in Bezug auf den Abbau oder die Vermeidung von Bildungsungleichheiten abzuleiten. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff des milieuspezifischen Habitus und einer entsprechenden Kultur, die je nach sozialer Position divergierende Inhalte und Praxen umfasst und die aufgrund dieser immanenten Differenzen unterschiedliches Potential zur Anknüpfung an und Identifikation mit schulischen Bildungsinhalten aufweist. Anders ausgedrückt: Alltagsweltliche Bildung und schulische Bildung zeichnen sich je nach sozialer Herkunft durch einen unterschiedlichen Grad an Kompatibilität aus.

Download: Habitus, Herkunft und Bildungserfolg (PDF – 97 Seiten – 1,4 MB)

Die Zeit bis zum Schuljahres-Ende vergeht. Ich bilde mir ein, ich leiste in dieser Zeit etwas. Aber mit Leistung kann einer dies und der andere das meinen. Ich bin der Meinung, ich leiste etwas, was die Lehrer für Leistung halten. Für meinen Vater sind Leistungen die Arbeiten, die ich im Haus und auf den Feldern verrichte (…) Für die Dorfburschen besteht meine Leistung in der Kumpelei mit ihnen. Für sie bin ich in jener Zeit wenig leistungsfähig. (…) Es gab nie eine Zeit, in der ich gern in die Schule ging. Ich habe Mustermenschen stets mit etwas Skepsis bestaunt, zum Beispiel diesen Noatnick, der zwei Schulklassen übersprang, und von dem behauptet wird, er habe zwei Lebensjahre eingespart. Ich weiß nicht, ob der liebe Gott bei der Erschaffung des Menschen an die Schule dachte, aber dieser Noatnick ist, als ob ihn Gott bearbeitet hätte, damit er in die Schule passt. Ich hingegen bin neugierig auf alles, was sich außerhalb der Schule zuträgt, aber das trägt mir keine hochen Zensuren ein.
(Erwin Strittmatter – Der Laden, Band 2)

Betrachtet man die Entwicklungsdynamik von Bildungssystemen, dann drängt sich die Vermutung auf, dass die Schule selbst sozial selektiv auf die Sozialisationspraktiken einwirkt und systematisch die Praktiken bestimmter Bevölkerungsgruppen abwertet. Sie entwickelt formale Leistungskriterien, die sich als unfähig erweisen, die Differenz milieuspezifischer Erfahrungen und Befähigungen zu erkennen, sondern ganz im Gegenteil einer unflexiblen und notwendig diskriminierenden Defizitlogik verhaftet bleiben. Gemessen wird daher nicht das Können, sondern die Abweichung des Könnens von den politisch gesetzten Leistungsstandards. Eine solche Bewertungslogik dient nicht der Bildung des einzelnen, sondern allein der Selektion Heranwachsender. Diese Bewertungslogik entfaltet ihre verheerende Wirkung auf die Betroffenen nicht nur dadurch, dass sie den Heranwachsenden bestimmte Optionen der Entwicklung bzw. der Entfaltung ihrer Persönlichkeit vorenthält. Mehr noch: Die Schüler werden im Hinblick auf ihre je eigene Leistungsfähigkeit und in der Wertschätzung ihrer Person systematisch abgewertet, degradiert und damit zu quasi-pathologischen Fällen einer Gesellschaft, die am Wohlergehen ihrer Kinder oftmals nur dann ein Interesse zu haben scheint, wenn diese aus „gutem“ Hause kommen.
(Matthias Grundmann – Handlungsbefähigung und Milieu)

Zu meinen, wenn man allen gleiche wirtschaftliche Mittel bereitstelle, gäbe man auch allen, sofern sie die unerläßliche „Begabung“ mitbrächten, gleiche Chancen (…), hieße in der Analyse der Hindernisse auf halbem Wege stehenbleiben und übersehen, daß die an Prüfungskriterien gemessenen Fähigkeiten weit mehr als durch natürliche „Begabung“ (…) durch die mehr oder minder große Affinität zwischen den kulturellen Gewohnheiten einer Klasse und den Anforderungen des Bildungswesens oder dessen Erfolgskriterien bedingt sind. (…) Das kulturelle Erbe ist so ausschlaggebend, daß auch ohne ausdrückliche Diskriminierungsmaßnahmen die Exklusivität garantiert bleibt, da hier nur ausgeschlossen scheint, wer sich selbst ausschließt. (…) Die Mechanismen, die zur Eliminierung der Kinder aus den unteren und mittleren Klassen führen, wären bei einer systematischen Stipendien- und Studienbeihilfepolitik, die alle Gesellschaftsklassen formal gleichstellen würde, fast ebenso (nur diskreter) wirksam; daß die verschiedenen Gesellschaftsklassen auf den verschiedenen Stufen des Bildungswesens ungleich vertreten sind, ließe sich dann mit noch besserem Gewissen auf ungleiche Begabung und ungleichen Bildungseifer zurückführen. Kurz, die Tragweite der sozialen Ungleichheitsfaktoren ist so groß, daß auch eine wirtschaftliche Angleichung nicht viel ändern würde, da das Bildungssystem immer weiter soziales Privileg in Begabung oder individuelles Verdienst umdeuten und die Ungleichheit dadurch legitimieren würde. (…) In der Überzeugung, daß man nur ordentlich zu rechnen brauche, um in der besten aller denkbaren Gesellschaften auch das beste aller Bildungswesen zu schaffen, verfallen die neuen optimistischen Philosophen der Sozialordnung in die alte Sprache aller Soziodizeen, die zu beweisen versuchen, daß die Sozialordnung so ist, wie sie sein soll, weil man ihre scheinbaren Opfer nicht einmal mehr zur Ordnung rufen muß, da sie ohnehin bereitwillig das sind, was sie sein sollen. Diese Bildungsforscher dienen stillschweigend der Funktion der Legitimierung und Bewahrung der Sozialordnung, die das Bildungswesen erfüllt, wenn es die Klassen, die es ausschließt, von der Legitimität ihres Ausschlusses überzeugt, indem es sie hindert, die Prinzipien, aufgrund derer es sie ausschließt, zu erkennen und anzufechten. Die Urteile der Bildungsinstanzen sind deshalb so definitiv, weil sie mit der Verurteilung zugleich Vergessen über die sozialen Implikationen des Urteils verhängen. Damit soziales Schicksal in freie Berufung und persönliches Verdienst umgedeutet werden kann (…), muß das Bildungswesen als „Oberster Priester der Göttin Notwendigkeit“ die Individuen erfolgreich davon überzeugen, daß sie ihr Schicksal, das durch die soziale Notwendigkeit längst über sie verhängt war, selbst gewählt oder verdient haben. Besser als die politischen Religionen, deren konstanteste Funktion (…) darin bestand, die herrschenden Klassen mit einer Theodizee ihres Privilegs auszustatten, besser als die Heilslehren vom Jenseits, die zur Perpetuierung der Sozialordnung durch das Versprechen beitrugen, diese Ordnung werde nach dem Tode umgestürzt, besser als die Doktrin vom Karma, die (…) den sozialen Rang jedes Individuums im Kastensystem aus dem Grad seiner religiösen Vollkommenheit im Kreislauf der Seelenwanderung ableitete, vermag es heute das Bildungswesen mit seiner Ideologie der „natürlichen Begabung“ und der „angeborenen Neigungen“, den Kreislauf der Reproduktion der sozialen Hierarchien und der Bildungshierarchien zu legitimieren.
(Pierre Bourdieu / Jean-Claude Passeron – Die Illusion der Chancengleichheit)