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Wenn ein Duft gefällt, so ver­sucht man ihn fest­zu­hal­ten, ihn wie­der­zu­fin­den; man läßt sich nicht voll­stän­dig von ihm berau­schen, um ihn ana­ly­sie­ren zu kön­nen und ihn all­mäh­lich in sich auf­zu­neh­men, bis sich der Sin­nes­ein­druck durch die blo­ße Erin­ne­rung wie­der­her­stel­len läßt; wenn der Duft wie­der­kommt, atmet man ihn lang­sa­mer, vor­sich­ti­ger ein, um auch die feins­ten Nuan­cen zu erfas­sen. Eine star­ke Duft­wol­ke steigt einem zu Kopf, hin­ter­läßt jedoch das auf­rei­zen­de Gefühl von etwas Unfer­ti­gem, Unvoll­ende­tem. Oder sie läßt einem auf unan­ge­neh­me Wei­se den Atem sto­cken, man möch­te sie los­wer­den, um wie­der frei zu atmen, oder aber es ist ein hef­ti­ger, zu schnell wie­der ver­gan­ge­ner Rausch, weil nur das Ner­ven­sys­tem berührt wor­den ist. Es ist Glück, über­wäl­tigt zu wer­den und nichts mehr zu wis­sen. Doch noch ein Eck­chen Bewußt­sein zu haben, das immer weiß, was geschieht, und das durch die­ses Wis­sen dem gesam­ten intel­lek­tu­el­len, ver­nünf­ti­gen Wesen erlaubt, in jeder Sekun­de an dem gegen­wär­ti­gen Glück teil­zu­ha­ben, die­ses Eck­chen Bewußt­sein zu haben, das die Ent­wick­lung der Freu­de lang­sam nach­voll­zieht, das ihr bis an die äußers­ten Enden folgt, ist das nicht auch Glück? Es gibt ein Eck­chen, das nicht mit­schwingt, doch die­ses Eck­chen bleibt Zeu­ge der erleb­ten Freu­de – das, was sich erin­nert und sagen kann: Ich bin glück­lich gewe­sen und ich weiß war­um. Ich will ger­ne den Kopf ver­lie­ren, aber ich will den Augen­blick begrei­fen, da ich den Kopf ver­lie­re, und die Erkennt­nis des abdan­ken­den Bewußt­seins soweit wie mög­lich trei­ben. Man soll sein Glück nicht in Abwe­sen­heit erleben.
Mar­cel­le Sau­va­geot – Fast ganz die Deine

»Am Ende mei­nes Besuchs im Kran­ken­haus hat er ange­fan­gen, Erin­ne­run­gen zu erzäh­len. Er hat mir ins Gedächt­nis geru­fen, was ich mit sech­zehn gesagt haben muß. In dem Moment habe ich den ein­zi­gen Sinn von Freund­schaft, wie sie heu­te prak­ti­ziert wird, begrif­fen. Der Mensch ist auf sie ange­wie­sen, damit sein Gedächt­nis funk­tio­niert. Sich an sei­ne Ver­gan­gen­heit zu erin­nern, sie immer bei sich zu haben ist viel­leicht die not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung dafür, die Inte­gri­tät sei­nes Ichs zu wah­ren, wie man so sagt. Damit das Ich nicht schrumpft, damit es sein Volu­men behält, müs­sen die Erin­ne­run­gen begos­sen wer­den wie Topf­blu­men, und die­ses Gie­ßen erfor­dert den regel­mä­ßi­gen Kon­takt mit Zeu­gen der Ver­gan­gen­heit. Sie sind unser Spie­gel; unser Gedächt­nis; man ver­langt nichts von ihnen, außer daß sie von Zeit zu Zeit die­sen Spie­gel polie­ren, damit man sich dar­in anschau­en kann. Aber mich inter­es­siert nicht im gerings­ten, was ich auf dem Gym­na­si­um gemacht habe! Was ich mir seit mei­ner frü­hen Jugend, viel­leicht seit mei­ner Kind­heit immer gewünscht habe, war etwas ganz ande­res: die Freund­schaft als obers­ter Wert. Ich sage oft: vor die Wahl zwi­schen der Wahr­heit und dem Freund gestellt, wäh­le ich immer den Freund. Ich sag­te es, um zu pro­vo­zie­ren, aber ich mein­te es ernst. Heu­te weiß ich, daß die­se Maxi­me archa­isch ist. Sie moch­te für Achill gel­ten, den Freund des Patro­klos, für Alex­and­re Dumas‘ Mus­ke­tie­re, sogar für Sancho, der trotz all ihrer Zwis­tig­kei­ten ein ech­ter Freund sei­nes Herrn war. Aber sie gilt nicht für uns. Ich gehe in mei­nem Pes­si­mis­mus so weit, daß ich heu­te bereit bin, die Wahr­heit der Freund­schaft vor­zu­zie­hen. (…) Die Freund­schaft war für mich der Beweis, daß es etwas Stär­ke­res gibt als die Ideo­lo­gie, als die Reli­gi­on, als die Nati­on. In Dumas‘ Roman befin­den sich die Freun­de oft in geg­ne­ri­schen Lagern, so daß sie gezwun­gen sind, gegen­ein­an­der zu kämp­fen. Aber das ändert nichts an ihrer Freund­schaft. Sie hel­fen ein­an­der trotz­dem heim­lich, lis­tig und set­zen sich über die Wahr­heit ihres jewei­li­gen Lagers hin­weg. Sie haben die Freund­schaft über die Wahr­heit, die Sache, die Befeh­le von oben gestellt, über den König, über die Köni­gin, über alles.«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

Er erwach­te völ­lig ent­kräf­tet in einem Kran­ken­haus­bett und konn­te sich weder dar­an erin­nern wie noch war­um er hier­her­ge­kom­men war. Hat­te er einen Unfall gehabt, war er ein­fach bloß umge­kippt oder hat­te er viel­leicht einen Schlag­an­fall erlit­ten? Sei­ne Arme und sei­ne Bei­ne schmerz­ten ihn, und als er ver­such­te, sie mehr als ein paar Zen­ti­me­ter zu bewe­gen, gab er nach kur­zer Zeit erschöpft auf. Sei­ne Augen ver­nah­men eine mensch­li­che Sil­hou­et­te neben dem Bett, doch noch erkann­te er dar­in kein Gesicht. Ver­wirrt und ohne die­sen Schat­ten direkt anzu­spre­chen, stam­mel­te er bloß: „Wo… wo bin ich hier? Was ist mit mir passiert?“
„Pssst“, flüs­ter­te eine Frau­en­stim­me zärt­lich. „Sei unbe­sorgt, mein Schatz, alles wird wie­der gut. Hab kei­ne Angst. Du bist hier in den bes­ten Händen. “
Er erkann­te die­se Stim­me sofort. Sie gehör­te sei­ner Freun­din, genau­ge­nom­men sei­ner ehe­ma­li­gen Freun­din, die­ser Frau aus ver­gan­ge­nen Zei­ten, die ihn, wie er es aus­drü­cken wür­de, vor drei elend lan­gen Jah­ren aus Grün­den ver­las­sen hat, die er nie ver­ste­hen wird, nach­dem sie bei­de für fünf gute Jah­re eine Bezie­hung mit­ein­an­der geführt hat­ten. Als es zum Ende kam, ging sie fort und warf nie einen Blick zurück, doch er kam nie­mals über sie hin­weg. Er dach­te immer noch an sie und er ver­miss­te sie an jedem Mor­gen, wenn er auf­wach­te, an jedem Abend, wenn er ein­schlief, in jedem Bett, in dem er lag. Am Anfang glaub­te er, das gin­ge bald vor­bei, er wür­de das Ver­mis­sen hin­ter dem All­tag leicht ver­ber­gen kön­nen, und wäre erst etwas Zeit ver­gan­gen, dann wür­de er sie irgend­wann ver­ges­sen, doch es ver­strich erst ein Jahr, dann zwei Jah­re und schließ­lich drei, ohne dass es ihm gelang, sie aus sei­nen Gedan­ken und vor allem aus sei­nen Gefüh­len zu ver­ban­nen. Mehr­mals hat­te er in die­ser Zeit ver­sucht, eine Bezie­hung mit einer ande­ren Frau auf­zu­bau­en, also wei­ter­zu­ma­chen, die Wun­den der Ver­gan­gen­heit wenn schon nicht zu hei­len, dann doch wenigs­tens zu ver­bin­den, aber kei­nem die­ser Ver­su­che war letz­ten Endes ein lan­ger Bestand gegönnt. Er muss­te sich irgend­wann ein­ge­ste­hen, dass kei­ne die­ser Bezie­hun­gen einen Wert für sich hat­te, son­dern sie in Wahr­heit nur ein unbe­wuss­ter und ver­zwei­fel­ter Ver­such waren, sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din zu erset­zen, die für ihn so uner­setz­bar war. Kei­ne die­ser Ersatz­be­zie­hun­gen konn­te er für all­zu lan­ge Zeit auf­recht­erhal­ten, kei­ne die­ser Frau­en konn­te ihn ver­zau­bern, denn jede von ihnen ver­glich er mit ihr und kei­ne war für ihn so gut wie sie, kei­ne genüg­te sei­nem Ver­gleich, kei­ne war ein Dupli­kat sei­ner ein­zi­gen gro­ßen Liebe.
„Du? Wie­so bist du hier? Und… du nennst mich Schatz? War­um? Wir sind… schon so lan­ge nicht mehr zusammen.“
„Ich dach­te, es wür­de dir gefal­len. Ich weiß, wie sehr du mich vermisst.“
„Was weißt du schon“, seufz­te er.
„Ich kann es dir nicht ver­übeln“, ergänz­te sie kokett, beug­te sich zu ihm hin­un­ter und flüs­ter­te in sein Ohr: „Ich war das Bes­te, das dir je pas­siert ist, und ich wer­de es für immer sein.“
„War­um bist du hier?“ wie­der­hol­te er sei­ne Frage.
„Freust du dich denn nicht? Ich weiß, dass du bis heu­te stän­dig an mich denkst, selbst nach all den Jah­ren. Ich weiß, wie sehr du mich brauchst, jetzt noch mehr denn je, und dass du mich nicht los­las­sen kannst, selbst wenn du woll­test. Du ver­misst mich, du hast dich in dei­ner Sehn­sucht ein­ge­mau­ert und du kommst dort nicht her­aus. Kann es einen grö­ße­ren Lie­bes­be­weis geben als jenen, wel­chen du mit dir her­um­trägst? Ich bin hier, weil ich das weiß, und weil ich schät­zen gelernt habe, wie sehr du wirk­lich an mir hängst.“
Unter gro­ßer Anstren­gung dreh­te er sich in sei­nem Bett von ihr weg und ver­barg sein Gesicht, damit sie dar­in nicht sehen konn­te, wie sehr sie ihn mit die­sen Wor­ten erwischt hatte.
„Ent­schul­di­ge, mein Schatz, ich lass dich erst ein­mal allein. Du bist noch sehr schwach und sicher auch sehr müde. Wir reden spä­ter. Nimm die hier, die hel­fen dir“, sag­te sie und zeig­te auf zwei Pil­len und ein Glas mit Was­ser, das direkt dane­ben stand. Dann ging sie zur Tür, dreh­te sich noch ein­mal um, pus­te­te ihm einen Luft­kuss zu und ver­ließ den Raum.
In den dar­auf­fol­gen­den Tagen ver­bes­ser­te sich sein Zustand ein wenig, doch fiel es ihm noch immer schwer, Arme und Bei­ne zu bewe­gen, sodass an Auf­ste­hen noch lan­ge nicht zu den­ken war. Das Zim­mer, in dem er sich befand, war rela­tiv klein, er sah zwei Schrän­ke, ein Fens­ter und einen beschei­de­nen Tisch mit einem Stuhl. Jeden Tag besuch­te ihn sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din und umsorg­te ihn lie­be­voll. Sie brach­te ihm Bücher, Zeit­schrif­ten und Mahl­zei­ten, sie unter­hielt sich mit ihm über die alten, gemein­sa­men Zei­ten, erzähl­te ihm von den neu­es­ten Ereig­nis­sen und ver­sorg­te ihn mit neu­en Medi­ka­men­ten. Er fühl­te sich in ihren Hän­den gebor­gen und konn­te bei wei­tem nicht ver­heh­len, sich über ihre Anwe­sen­heit mehr als nur zu freu­en. Die Zeit ver­ging jedoch, ohne dass sich sein Zustand wesent­lich ver­bes­sert hät­te, doch was ihn viel mehr ver­wun­der­te, war die merk­wür­di­ge Tat­sa­che, dass er wäh­rend sei­nes Auf­ent­halts bis­lang kein Pfle­ge­per­so­nal oder einen Arzt zu Gesicht bekom­men hat­te. Selbst als er den klei­nen Knopf drück­te, um jeman­den an sein Bett zu rufen, kam nie­mand, es geschah nichts. Ein­zig sei­ne Ex-Freun­din erschien mit einer gewis­sen Regel­mä­ßig­keit, also sprach er sie dar­auf an:
„Ich habe hier noch nie eine Schwes­ter gese­hen, geschwei­ge denn einen Arzt.“
„Sei unbe­sorgt, mein Schatz, man küm­mert sich sehr gut um dich. Ich habe dem Per­so­nal klar­ge­macht, dass ich mich, soweit es geht, allei­ne um dich küm­mern wer­de und man dein Zim­mer wirk­lich nur im Not­fall zu betre­ten hat. Ich will kei­ne Leu­te hier um dich her­um, die dich stän­dig stö­ren oder mit irgend­was beläs­ti­gen, wenn du dich doch scho­nen musst.“
„Aber nicht ein­mal ein Arzt war hier…“
„Doch, doch“, beru­hig­te sie ihn, „der Arzt war ges­tern Abend bei dir, als du schon tief und fest geschla­fen hast. Ich war dabei. Du hast geschla­fen wie ein Stein, aber dei­nen Schlaf hast du auch bit­ter nötig. Der Arzt woll­te dich auf­we­cken, aber ich hab ihn ange­faucht, er soll dich bloß in Ruhe las­sen, solan­ge es kein Not­fall ist. Da ist er gegan­gen.“ Sie fing an zu lachen. „Du weißt, ich kann sehr über­zeu­gend sein.“
Als sie nach ein wenig Plau­de­rei schließ­lich ging, nahm er sich vor, an die­sem Abend ein­fach so lan­ge es ihm mög­lich sein wür­de wach zu blei­ben, soll­te der Arzt erneut nach sei­nem Zustand sehen wol­len. Er rang mit der Müdig­keit, aber er ließ sich von ihr nicht über­man­nen, und so war­te­te er bis in die frü­hen Mor­gen­stun­den. Es erschien weder ein Arzt noch sonst irgend­je­mand. Schließ­lich schlief er ein und wur­de eini­ge Stun­den spä­ter von sei­ner ein­zi­gen, treu­en Besu­che­rin geweckt, die ihm sein Früh­stück ans Bett servierte.
An die­sem Mor­gen jedoch war er auf­grund des weni­gen Schlafs völ­lig aus­ge­laugt, und als er die Pil­len zu sich neh­men woll­te, die schon seit dem ers­ten Tag jede sei­ner Mahl­zei­ten beglei­te­ten, ver­lor er sie aus den Fin­gern. Sie schie­nen unter sein Bett zu rol­len, aber so genau konn­te er das nicht beob­ach­ten. Sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din stand wäh­rend­des­sen am Fens­ter und bekam von alle­dem nichts mit, also beließ er es dabei. In den fol­gen­den Stun­den bemerk­te er, dass das Gefühl in sei­nen Armen und Bei­nen mehr und mehr zurück­kehr­te und es ihm zuneh­mend leich­ter fiel, sie zu bewe­gen. Er wuss­te nicht, ob er das als Zufall abtun oder auf das Aus­las­sen der Medi­ka­men­te zurück­füh­ren soll­te, also sprach er die­se Fra­ge am Abend an:
„Was sind das eigent­lich für Pil­len, die du mir jedes Mal mitbringst?“
„Die sind für dei­ne Schmer­zen, mein Schatz“, ent­geg­ne­te sie mit einem Lächeln auf den Lip­pen, in das er sich damals sofort ver­liebt hat­te, „die sol­len dich beruhigen.“
Unter Schmer­zen jedoch litt er nur, wenn er die­se Mit­tel zu sich nahm, doch dass er zu die­ser Erkennt­nis gekom­men war, woll­te er ihr nicht mit­tei­len. Er ent­schloss sich dazu, die Pil­len in Zukunft heim­lich zu mei­den. Irgend­et­was stimmt hier nicht, dach­te er bei sich, erst sah er weit und breit kein Per­so­nal und nun die­ser… Zufall.
Am nächs­ten Mor­gen fühl­te er sich wesent­lich bes­ser, sehr zu sei­ner Ver­wun­de­rung. Arme und Bei­ne konn­te er nun frei bewe­gen, so als sei nie­mals irgend­was gesche­hen. War denn je irgend­was gesche­hen? Er rich­te­te sich zunächst im Bett auf, schwang dann die Bei­ne her­aus und stand schließ­lich auf, ohne jene Glie­der­schmer­zen zu ver­spü­ren, die ihn seit sei­nem Auf­wa­chen ans Bett gefes­selt hat­ten. Nach kur­zem Zögern ging er zur Tür, doch als er die Klin­ke her­un­ter­drück­te, geschah gar nichts. Sie ließ sich nicht öff­nen. Und da ver­stand er. Die Pil­len soll­ten ihm nicht hel­fen, sie soll­ten ihn im Bett hal­ten. Sie woll­te ihn nicht gehen lassen.
Sein Blick fiel auf das Fens­ter, das der ein­zi­ge Aus­weg zu sein schien. Er zog den Vor­hang zur Sei­te, öff­ne­te es und muss­te fest­stel­len, dass er sich hier wohl im vier­ten oder fünf­ten Stock befand. Ein Sprung wür­de wahr­schein­lich töd­lich enden, und irgend­et­was, an dem er sich hät­te fest­hal­ten, an dem er nach unten hät­te klet­tern kön­nen, konn­te er nicht sehen. Er war gefan­gen. Plötz­lich hör­te er ein Geräusch an der Tür, und bevor er sich zurück ins Bett legen konn­te, stand sie schon im Raum und warf ihm einen über­rasch­ten Blick zu.
„Dein Zustand hat sich end­lich gebes­sert“, sag­te sie und ver­such­te, sich ihre Über­ra­schung nicht anmer­ken zu las­sen. „Ich bin so glück­lich, ich dach­te schon, du wür­dest für immer dort lie­gen bleiben.“
„Die Tür war abge­sperrt“, bemerk­te er knapp. „War­um?“
„Ach, mein Schatz, das ist nur zu dei­nem Besten.“
„Erklär mir das! Wie zum Teu­fel soll das denn zu mei­nem Bes­ten sein?“
„Ver­traust du mir nicht mehr?“
„Es fällt mir zuneh­mend schwer, jeman­dem zu ver­trau­en, der mich ein­sperrt und mit irgend­wel­chem Zeug voll­pumpt, das mir jede Hand­lung unmög­lich macht.“
„Reg dich bit­te nicht auf.“
„Bring mir einen Arzt!“
„Es gibt hier kei­ne Ärz­te. Ich küm­me­re mich um dich, nur ich.“
„Du bist verrückt!“
„Leg dich wie­der hin, mach es dir gemüt­lich und lass dich ein­fach von mir ver­sor­gen. Ich habe dich in den letz­ten drei Jah­ren im Stich gelas­sen, das tut mir leid, aber alles kann wie­der so wer­den, wie du es dir wünschst. Wir blei­ben zusam­men, nur wir bei­de. Du brauchst sonst nie­man­den. Niemanden!“
Er sah sie an und blick­te dann zum Fens­ter, das immer noch geöff­net war. Ihr über­rasch­tes Gesicht wich einem Aus­druck der Ver­zweif­lung, dann purer Wut. Als sie eini­ge Schrit­te auf ihn zuging, stieg er in das Fens­ter, hielt sich am Rah­men fest und sprach zu ihr, sie sol­le zurück­blei­ben, sie sol­le ihn nicht anrüh­ren, sonst wür­de er sprin­gen. Sie blieb ste­hen und setz­te wie­der ihr berau­schen­des Lächeln auf.
„Ich weiß, du ver­misst mich an jedem ein­zel­nen Tag, seit­dem ich dich ver­las­sen habe.“ Ihre Stim­me war süß und gleich­zei­tig vol­ler Ero­tik, so als wol­le sie ihn ver­füh­ren. „Ich weiß, du liebst mich heu­te noch genau wie vor drei Jah­ren, und ich weiß, dass du auch immer noch die Hoff­nung hegst, mit mir dein gan­zes Leben zu ver­brin­gen. Wir könn­ten zusam­men noch ein­mal anfan­gen, das hast du dir doch all die Jah­re gewünscht. Nur du und ich, für immer. Bleib bei mir, mein Schatz. Willst du dein Leben denn ein­fach weg­schmei­ßen, wenn du los­lässt und springst?“
„Du bist nicht mein Leben!“, schrie er sie an, blick­te in ihre Augen, lös­te die Fin­ger vom Rah­men und ließ sich aus dem Fens­ter fal­len. „Du warst es viel zu lang.“
Völ­lig benom­men wach­te er in einem Kran­ken­haus­bett auf und konn­te sich weder dar­an erin­nern wie noch war­um er hier­her­ge­kom­men war. Neben dem Bett erkann­te er eine mensch­li­che Sil­hou­et­te, die irgend­et­was zu irgend­je­man­dem sag­te, den er nicht sehen konn­te. Plötz­lich erschien eine zwei­te Gestalt, die sich ihm als Arzt vor­stell­te und ihm erklär­te, es habe lan­ge Zeit nicht gut für ihn aus­ge­se­hen: „Sie waren für eini­ge Zeit im Koma, aber nun haben Sie ja doch noch den Sprung zurück ins Leben geschafft.“

Eine Wit­we hei­ra­te­te einen Wit­wer. In der ers­ten Nacht lagen sie neben­ein­an­der. Die Wit­we hat­te Lust auf den Mann, doch er hör­te nicht auf, von sei­ner ver­stor­be­nen Frau zu erzäh­len. Irgend­wann fing auch die Frau an, von ihrem ver­stor­be­nen Mann zu reden. Bald dar­auf schnarch­te der Mann neben ihr.
In der zwei­ten Nacht zog sich die Frau aus und leg­te sich zu ihrem Mann, doch als sie ihn strei­chel­te, sag­te er: »Das erin­nert mich an mei­ne Frau, selig soll sie im Schoß Got­tes wei­len. Sie hat auch immer gern mei­ne Brust­haa­re gestrei­chelt.« Er zün­de­te sich eine Ziga­ret­te an und erzähl­te lan­ge von sei­ner ver­stor­be­nen Frau. Die Wit­we besann sich und sag­te dar­auf, daß ihr ver­stor­be­ner Mann im ent­schei­den­den Augen­blick auch immer eine Ziga­ret­te geraucht und sein Mund davon wie ein Aschen­be­cher gestun­ken habe, wes­halb ihr die Lust oft ver­gan­gen sei. Aber bevor sie mit ihrem Satz zu Ende war, schnarch­te der Mann.
In der drit­ten Nacht nahm die Frau eine Fla­sche Wein mit ins Schlaf­zim­mer. Sie zog sich aus, zün­de­te eine Ker­ze an und schenk­te dem Mann ein. Das hat­te bei ihrem Ver­stor­be­nen immer Wun­der bewirkt.
Der neue Ehe­mann nahm einen Schluck. »Chi­an­ti?« frag­te er begeistert.
»Ja«, ant­wor­te­te die Frau hoffnungsvoll.
»Das erin­nert mich an Vene­dig, wo ich damals mit mei­ner so temperamentvollen…«
Da trat die Frau den Mann so kräf­tig in die Sei­te, daß er aus dem Bett fiel.
»Was ist los mit dir?« schimpf­te er.
»Nichts. Das Bett ist nur für zwei. Wir aber lie­gen seit drei Tagen hier zu viert, da kann es leicht pas­sie­ren, daß einer herausfällt.«
(Rafik Scha­mi – Lob­lied und ande­re Olivenkerne)