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Es ist ein verregneter Samstagabend und ich sitze mit dir in einer kleinen Kneipe in Frankfurt Bockenheim. Du trägst Jeans und ein rotes Oberteil, dein Haar ist zu Zöpfen gebunden, du rauchst. Zuvor sind wir essen gewesen, beim Perser, ich habe dich eingeladen, du hast einen ehemaligen Mitbewohner getroffen, dann sind wir kurz durch die Nacht spaziert. Nun trinken wir Cocktails, wir unterhalten uns, wir werden kritisch, wir werden traurig, wir lachen und spinnen herum. Du bist jemand, bei dem ich sein kann, wer ich bin, ohne Unverständnis zu provozieren, ohne mich verstellen zu müssen, ohne Erwartungen zu begegnen, die mir so fremd sind wie eine außerirdische Kultur. Wir teilen eine Sicht auf die Welt, auf das, was uns stört, was wir mögen, und ich merke, ich mag vor allem dich.

Wir stehen uns politisch nahe, wenn man das so ausdrücken kann. Uns eint der Kampf gegen die Übel dieser Welt, doch Hoffnung treibt dich dabei nicht, eher sei es Rastlosigkeit, man könne eben etwas tun oder schweigend resignieren. Eigentlich aber möchtest du hier weg, sagst du, und mit hier meinst du Deutschland, nicht diesen Moment in dieser kleinen, gemütlichen Kneipe. Ein Häuschen, vielleicht ein Bauernhof, gemeinsam mit ein paar Freunden, das wäre das Richtige, erklärst du mir, und deine Augen funkeln ein wenig bei der Vorstellung daran. Du nennst es andächtig Utopia.

Es mangelt am Willen zur Umsetzung, antworte ich dir und es stimmt. Du bist nicht die erste, die mir von diesem Traum vorschwärmt, denn ich kenne viele, die vom Weggehen träumen, vom selbstbestimmten Leben, nur keinen, der es macht. Auch für dich sei es eher ein Plan B, eine Rückzugsmöglichkeit, gesellst du dich zu ihnen, für die Zeit, wenn dir das Leben hier in diesem Land nicht mehr angenehm erscheint.

Ich finde es jetzt schon nicht mehr angenehm, gestehe ich dir, und du bist der erste Mensch, der bei diesen Worten nicht lacht, nicht mindestens schmunzelt oder mich fragend ansieht. Du nämlich schaust mich an, mit einem Blick, der mir sagt, dass du genau verstehst. Wir führen den Gedanken weiter, bis du mir erklärst, wie du dir das Ganze vorstellst, vielleicht in Griechenland, mit ein paar Tieren und Gemüse und was man eben braucht, um so autark zu sein, wie es die Umstände erlauben. Der Abend klingt aus und ich stoße mit dir darauf an, ihn umzusetzen, deinen Plan B, und du lachst und freust dich und sagst: Ja, das machen wir. Ich sehe Zukunft, wo ein Fragezeichen war. Wir sind Komplizen, die den Ausbruch wagen.

In den Tagen darauf rechne ich zusammen, was ich gespart habe, drucke Immobilienangebote aus, reise um die halbe Welt, um mir einen guten Eindruck von den interessantesten Objekten zu machen, lese Bestimmungen, plane voraus. Drei Wochen später treffen wir uns in deiner Wohnung, ich lege dir Fotos vor, ohne dir meinen Favoriten zu verraten, und deine Wahl fällt auf das gleiche Haus. Wir lachen, freuen uns, gehen Planungen durch, überschlagen Finanzen. Ganz die Realistin, die du bist, wirfst du ein, du fändest das alles wunderbar, nur könntest du nicht von heute auf morgen deine Wohnung aufgeben und deinen Job kündigen, da gäbe es Fristen, und dein Kater mache dir Sorgen, der habe doch sein Revier, und all das Rechtliche. Das macht nichts, beschwichtige ich, dann fahre ich alleine schon mal vor, richte alles her, ich kümmere mich um unser Haus, widme mich dem Bürokratischen, freue mich auf dich, und dem Kater wird es gefallen. Du nickst und dann umarmst du mich auf eine Art, dass ich mich fühle, als würde ich nach langer Odyssee zu Hause ankommen.

Am nächsten Tag plündere ich meine Konten, besteige ein Flugzeug und fliege einem neuen Leben entgegen. Ich kaufe ein Haus, das Haus, unser Haus, mit riesigem Grundstück und modrigem Holzzaun rundherum, die Mauern in einem Rotton, der dir gefallen wird, die Zimmer groß genug, falls wir Besuch oder mal Kinder haben wollen. Das Dach ist nicht ganz dicht, wie ich beim ersten Regen feststellen muss, aber wir sind es auch nicht. Ich renoviere, ich streiche, verlege Böden und lerne mauern, ich lege mich ins Zeug und fühle mich zum ersten Mal als freier Mensch. So verbringe ich Wochen, dann Monate. Mit der Begeisterung eines Kindes schicke ich dir immer wieder Fotos und selbstgedrehte Videos, und du sagst, du willst noch deine Promotion fertigstellen, dann kommst du. Ich freue mich wahnsinnig darauf, wenn du kommst, antworte ich dir.

Das Dach ist mittlerweile gut, das Haus bezugsfertig, was auszubessern war, habe ich ausgebessert. Die Renovierung kommt voran, wenn auch langsam, und zwischendrin versuche ich mich als Gärtner, lese mich schlau, pflanze an, gieße, verteile Dünger, hoffe und warte. Einiges gedeiht, manches nicht, und ich bin stolz, weil das für einen ersten Versuch gar nicht so schlecht ist. Du hast von uns beiden den grüneren Daumen, du wirst mich auslachen, wenn du kommst.

Zwei Monate später bekommst du ein Angebot für eine Stelle an der Uni, ein Einjahresvertrag, und du sagst, so lange solle ich mich noch gedulden, danach aber kämst du. Mir macht es nichts aus, die Renovierung braucht noch etwas Zeit, und ich sage, ich freue mich darauf, wenn du kommst, du wirst ein wunderschönes Haus vorfinden.

Draußen wird es langsam grün und ich filme auch das, schicke es dir, will dir zeigen, dass selbst unter meiner Regie pflanzliches Leben möglich ist. Du lachst so herzlich über meine angestrengten Gärtnerversuche, dass alle Kilometer zwischen uns vergessen sind. Kurz bevor du auflegst, seufzt du, denn du wärst so gerne hier, und ich spiele es herunter, es ist doch nicht mal mehr ein Jahr.

Vier Monate vergehen, in denen wir mailen, chatten, telefonieren, ich schicke dir weiterhin Bilder und Videos, hege Vorfreude, und dann schreibst du mir, du bist jetzt an einem Forschungsprojekt beteiligt, das du super interessant findest, und man erwägt, dich fest einzustellen, und wie großartig das ist und ob ich mich freue.

Drei Tage später antworte ich dir, schicke dir einen Link auf ein kleines regionales Nachrichtenportal, schreibe sonst nichts. Du rufst mich an, obwohl du nicht viel Zeit hast, wie du mir erklärst, du machst gerade Pause, gleich musst du zurück. Du bist verwirrt, sagst du, und ob das ein Scherz sei, aber es ist alles echt, versichere ich dir, das Feuer und der Totalschaden. Utopia ist abgebrannt.

Es ist nur Widerstand, wenn dir Widerstand entgegenschlägt. Das klingt trivial und doch scheint es viele zu überfordern. Sie nennen sich Widerständler und – das ist das Tragische daran – sie fühlen sich auch so. Am Wochenende und nach Feierabend nehmen sie an Kundgebungen teil, verzichten dafür immerhin auf Party, Fernseher oder Shoppengehen, sie schreiben kritische Artikel, manche noch Leserbriefe, sie besuchen Kongresse und Diskussionsrunden, kurzum: Sie sagen ihre Meinung. Das halten sie für Widerstand, für radikal, manche gar für einen Umsturz des Systems, und das System lacht sich ins Fäustchen, weil es weiß, wie alles läuft: Eine Meinungsäußerung ist kein Widerstand, keine ernstzunehmende Provokation, vielmehr selbstverständlich oder wenigstens banal, und alles ist so herrlich relativ, dass jede Meinung recht hat, jeder Einwand wird umarmt und rasch osmotisch eingesaugt, kommt nie mehr raus, noch jeder Blödsinn wird als Blödsinn anerkannt. Jeder kritische Gedanke wird vereinnahmt. Die Welt ist schlecht, sagst du, und diese Welt sagt: Lass uns gemeinsam daran arbeiten, und schon bist du ein Kollaborateur.

Du kannst sagen, der Staat sei zum Kotzen, ein Monster und ein Menschenfeind, und wenn du schlechte Freunde hast, dann werden sie dich dafür auslachen, und wenn du etwas weniger schlechte Freunde hast, werden sie bloß mit ihren Köpfen nicken, und dem Staat ist es egal. Auf letzteres kommt es an. Die Staatsmacht hat kein Interesse an deiner persönlichen Privatmeinung, solange du noch höflich ihren Regeln folgst, denn darauf baut sie auf; sie schert sich nicht um deine Sympathie, so sicher ist ihr ihre Herrschaft. Das ist der so genannte Fortschritt gegenüber einem Unrechtsstaat, dem freie Meinung noch als Tücke gilt, weil er den Umstand nicht begriffen hat, wie manche Freiheit hier und da, großmütig gewährt, dem eigenen Bestehen hilft. Je länger die Leine, desto freier fühlt sich der Hund und hält sein Herrchen für den Heiland. Du kannst dir nun natürlich einbilden, du würdest Tag und Nacht verfolgt, kannst dich zum Helden verklären und einen Kämpfer nennen, kannst paranoid werden und dein Telefon nicht mehr benutzen, kannst hinter jedem nur noch Staatsmacht sehen, weil du glaubst, deine Meinung wäre irgendjemandem ein Dorn im Auge, doch die Wahrheit ist: Sie ist egal, so wie es deinen Chef nicht im geringsten schert, wie sehr du deine Arbeit auch verfluchen magst, solange du bloß jeden Morgen pünktlich bist.

Meinungsäußerung alleine ist kein Widerstand. Du kannst auf Demos gehen und deine Meinung kundtun, du kannst ganz schrecklich radikal ins Internet schreiben oder Flugzettel verteilen und damit Leute überzeugen, die schon längst überzeugt sind, oder ganz anderen Leuten deine Texte in die Hand drücken, die noch nicht überzeugt sind und die sich denken: Ach! Die dann nach Hause gehen und ihr Leben weiterleben wie bisher, weil es sie einen Scheiß interessiert, welche Fakten du ihnen ins Gesicht wirfst, denn sie haben schon ihre Meinung und die ist stärker als jeder Fakt. Es ist ein bildungsbürgerliches Märchen, man könne andere mit Fakten überzeugen. Spart euch eure Flyer, sie sind nur Umweltverschmutzung. Es geht nicht um Fakten und Argumente und Rationalität. Das ging es nie. Ginge es um Fakten, hätten wir eine andere Welt, eine schönere, für alle; Rassismus wäre kein Problem, es gäbe keine Intoleranz, Kriege würden selten, Armut wäre abgeschafft, dafür überall Frieden, Freude, Eierkuchen.

Es geht nicht um Fakten, es geht ums Gefühl. Das ist der wahre Klassengegensatz bei uns: Auf der einen Seite die Klasse derer, die sich gut fühlen, selbst wenn es ihnen schlecht geht, die positiven Denker, die Verdränger, die Ignoranten, die Arschlöcher und Naiven, und auf der anderen Seite jene, die an der Welt verzweifeln, die sich schlecht fühlen, selbst wenn es ihnen gut zu gehen hat. Wer sich gut fühlt, der meidet jene, die sich schlecht fühlen, weil sie ihn anstecken könnten mit ihrer schlechten Laune, mit ihrem Weltschmerz und ihrer negativen Aura, diese Miesmacher, die alles ändern wollen, die den neuen Mittelklassewagen nicht als heiße Schleuder, sondern bloß als Umweltschande sehen, als lächerliches Statussymbol. Das will doch keiner hören! Du kannst dich wohlfühlen, selbst wenn es allen scheiße geht, und daran krankt die Welt. Dann lebst du lieber in deiner wunderbaren Schaumstoffumgebung, deiner Gummizelle mit Vollpension, anstatt dich dem Leben auszusetzen, wie es dort draußen wütet, denn wüten tut es, mehr als du dir denkst. Wen interessieren Fakten, wenn du ein gutes Leben führen kannst.

Nein, Meinungsäußerung alleine ist kein Widerstand. Die effektivste Art des Widerstands, die alle Herrschaftsformen überdauern wird, ist die Verweigerung, wenn du dich dem verwehrst, das Besitz von dir ergreifen und dein Denken und dein Tun bestimmen will. Schick deine Kinder nicht zur Schule, und man wird sie dir schleunigst entreißen oder dich wenigstens für deinen Trotz bestrafen, bis du Einsicht zeigst, so nennen sie die Kapitulation. Geh nicht arbeiten, und man wird dich einer Zwangsarbeit zuweisen, die man flüchtig rosa anmalt und als gut gemeinte Eingliederungsmaßnahme tarnt, selbst wenn einer gar nicht eingegliedert werden will, weil das Böse immer schöne Namen trägt und mit guten Absichten daherkommt, oder aber man wird dich triezen, bis du zerbrichst und resignierst und dir »freiwillig« eine Arbeit suchst, nur um der Erniedrigung zu entgehen – das gilt hier heute schon als Freiheit. Geh in den Supermarkt und nimm dir, was du brauchst, ohne zu bezahlen, und man wird dich dafür anklagen. Deine Meinung ist kein Widerstand, solange du brav bist, unterwürfig, fügsam, treu, solange du arbeiten gehst, wenn man es von dir verlangt, solange du zahlst, was die Kasse anzeigt, solange du folgst, wenn man dir befiehlt. Meinungsäußerung ist ein Ventil, das man dir zugesteht, damit du nicht zum Widerständler wirst, denn du darfst ja alles sagen, frei und unbeschwert, und jeder darf es toll finden oder dumm oder lächerlich oder gemein und es hat alles keine Konsequenz.

Du kannst nicht gegen etwas sein und dich dann doch daran beteiligen, nicht wenn du ehrlich mit dir sein willst. Verweigerst du aber, bist du ein Fall für Moralisten und Pädagogen­propaganda, Sozialarbeits­kollaborateure oder Therapeuten­gaslighting, Politiker und sonstige Widerstandsbekämpfer. Nur in den seltensten Fällen steht dir ein Polizist mit Schild und Schlagstock gegenüber, die Macht hat viel subtilere Methoden. Du bist gestört, sagt der Therapeut, du bist ein Parasit, sagt der Politiker, du handelst unmoralisch, sagt der Prediger, du musst doch an die Zukunft denken, sagt deine Erziehung, und alle wollen sie dich wieder eingliedern in ihre Vorstellung von einem guten Leben und keiner begreift, warum du dich wehrst. Eingliederung, das ist der Punkt, und das Wort drückt es schon aus: Sei ein Glied in unserer Formation, marschiere mit, sei ständig frohen Mutes. Da stehen sie dann, studierte und kluge Leute, und fragen sich Beulen in den Kopf, wie sich einer gegen dieses tolle Leben auflehnen kann, dieses Leben in der Schaumstoffwelt, in der alles herrlich bunt ist, weich und wunderbar, man stößt nirgends an, solange man nur brav ist und gehorcht, sie kriegen das nicht in ihren Schädel rein. Sie haben studiert, um blöd zu werden, und dafür hat es sich gelohnt, sie sind konform, bestanden haben sie mit Bestnote.

Reine Meinungsäußerung ist kein Widerstand, niemand wird für seine Meinung an die Wand gestellt, keiner gefoltert, nicht hier, nicht heute, nicht wenn jede Meinung gleichgültig vorüberzieht, du bist nicht Hans und Sophie Scholl. Eine Meinungsäußerung ist bloß bequem, Schaumstoff um das tobende Gewissen. Äußere deine Meinung und beweise der Welt, vor allem aber beweise dir selbst: Ich habe meinen Unmut kundgetan, ich war nicht still. Es schläft sich ruhiger in der Nacht, nur ändern wird es freilich nichts.

Wir leben ein paar Augenblicke und tun so rasend wichtig. Der eine braucht den Ausdruck »Schwerpunktthema«, der andre spricht von »musikalischer Umrahmung«, der dritte sagt: »Anforderungsprofil«, und solche Wörter tönen so, als würden die, die sie verwenden, ewig leben, und ich kann nicht begreifen, warum der Mund kein Schamteil ist. Wir leben ein paar Augenblicke und achten doch auf Bügelfalten, und ist ein weiches Ei zu hart, macht man Theater. Hier fehlt ein Komma! sagen wir. Und wenn der Hürlimann nicht endlich seine Büsche stutzt! Ich steh auf Kümmel. Nicht mein Typ. Naturschwamm oder Kunststoffschwamm? Sie werden mich noch kennenlernen. Ich ziehe Schritte in Erwägung, da man beim Schweizer Radio die vierte Strophe vieler Jodellieder meistens abklemmt. Du, ist der Meier schwul, er trägt ein selbstgestricktes Rosa-Westchen. Wir leben ein paar Augenblicke und sind so falsch, so schwatzhaft, so himmelschreiend oberflächlich und tun die ganze Zeit die Pflicht, die Pflicht und werden dabei schlecht und dumm und grölen in der Freizeit blöd herum und vögeln ruppig. Wir haben Mut zu nichts und Angst vor allem, wir stehen zeitig auf und tun die Pflicht und schämen uns, wenn wir mal liegen bleiben, und wären froh um eine Grippe. Die Eskapadenfreudigkeit nimmt ab, man denkt schon vor der Sünde an den Katzenjammer, uns fehlt nicht nur die Lust, uns fehlt sogar die Lust zur Lust, schon sie gilt als obszön, nicht aber der Verzicht und nicht die Pflicht und nicht die pausenlose feige Füg- und Folgsamkeit und ihre Folge, die Verblödung.
(Markus Werner – Froschnacht)

Arbeit verhöhnt die Freiheit. Offiziell können wir uns glücklich schätzen, von Rechtsstaat und Demokratie umgeben zu sein. Andere arme Unglückliche, die nicht so frei sind wie wir, müssen in Polizeistaaten leben. Diese Opfer folgen Befehlen, egal wie willkürlich sie sind. Die Behörden halten sie unter dauernder Aufsicht. Staatsbeamte kontrollieren sogar kleinste Details ihres Alltagslebens. Die Bürokraten, die sie herumschubsen, müssen sich nur nach oben verantworten, in öffentlichen wie in Privat-Angelegenheiten. So und so werden Abweichung und Auflehnung bestraft. Regelmäßig leiten Informanten Berichte an die Behörden weiter. Das alles gilt als sehr schlecht.
Und das ist es auch, obwohl es nichts weiter darstellt als eine Beschreibung eines modernen Arbeitsplatzes. Die Liberalen und Konservativen und Freiheitlichen, die sich über Totalitarismus beschweren, sind Schwindler und Heuchler. (…) In einem Büro oder einer Fabrik herrscht dieselbe Art von Hierarchie und Disziplin wie in einem Kloster oder einem Gefängnis. Tatsächlich haben Foucault und andere gezeigt, daß Gefängnisse und Fabriken etwa zur gleichen Zeit aufkamen, und ihre Betreiber entliehen sich bewußt Kontrolltechniken voneinander. Ein Arbeiter ist ein Teilzeitsklave. Der Chef sagt, wann es losgeht, wann gegangen werden kann und was in der Zwischenzeit getan wird. Er schreibt vor, wieviel Arbeit zu erledigen ist und mit welchem Tempo. Es steht ihm frei, seine Kontrolle bis in demütigende Extreme auszuweiten, indem er festlegt (wenn ihm danach ist), welche Kleidung vorgeschrieben wird und wie oft die Toilette aufgesucht werden darf. Mit wenigen Ausnahmen kann er jeden aus jedem Grund feuern, oder auch ohne Grund. Er läßt bespitzeln und nachschnüffeln, er legt Akten über jeden Angestellten an. Widersprechen heißt „Unbotmäßigsein“, als wäre der Arbeiter ein ungezogenes Kind, und es sorgt nicht nur für sofortige Entlassung, es verringert auch die Chancen auf Arbeitslosenunterstützung. Ohne es unbedingt gutzuheißen, ist es wichtig anzumerken, daß Kinder zu Hause und in der Schule die gleiche Behandlung erfahren, bei ihnen durch die angenommene Unreife gerechtfertigt. Was sagt uns das über ihre Eltern und Lehrer, die arbeiten?
(Bob Black – Die Abschaffung der Arbeit; im Original: The Abolition of Work)

One of the most inspirational speeches in recorded history was given by a comedian by the name of Charlie Chaplin:

 

The Greatest Speech Ever Made auf YouTube

So lange ich zurückdenken kann, war ich noch niemals richtig glücklich. Es liegt nicht an persönlichen Eitelkeiten, dass es so ist, wie es ist. Meine Kindheit war erfüllt und ich übte bis vor kurzem einen angesehenen Beruf aus, der es mir ermöglichte, ein gutes Leben zu führen, zumindest materiell. Ich bin emotional gut ausgeglichen, wie man es wohl ausdrücken würde, und kann mich in Liebesdingen nicht allzu viel beschweren. Dennoch hat es da in meinem Leben schon immer andere Einflüsse gegeben, Interferenzen sozusagen, Störfaktoren, die es mir unmöglich machten, mit diesem Leben wirklich glücklich zu sein. Es kommt mir vor, als blickte ich durch trübes Glas, das mir den ganzen schönen Ausblick ruiniert. Ich habe mich hin und wieder glücklich gewähnt, doch ich war es nicht. Die Welt, die mich umgibt, drückt wie ein Stein im Schuh, der jeden noch so kleinen Schritt mit Schmerzen unterlegt. Es ist der Zustand dieser Welt, der störend auf mein Leben einwirkt, der Stein im Schuh, das trübe Glas, das dieses Leben unerträglich werden lässt. Jede persönliche Freude wird zur Farce, wenn sie von Unglück umgeben ist. Wie führt man ein gutes Leben in einer schlechten Welt?

Ich habe schon vor langer Zeit damit aufgehört, anderen Menschen von meinem Unbehagen zu erzählen, denn ihre Antworten sind immer gleich: »Das Leben ist kein Wunschkonzert«, sagen sie, oder: »Es ist nun mal so«, sie meißeln Phrasen in die Welt wie: »Anderen geht es viel schlechter« und »Nimm’s nicht so schwer«, sie antworten nicht ernsthaft, sie geben nur wieder. Als würde das irgendetwas ändern, stellen sie Sprüche in den Raum und wollen damit Trost spenden oder abspeisen, das eine kommt dem anderen gleich, denn es sind sinnlose, inhaltsleere Sätze. »Hau doch ab, wenn es dir hier nicht gefällt«, legen sie mir unmissverständlich nahe, ein ums andere Mal, doch wo ist es besser, frage ich mich dann.

Sie meinen, ich müsse nur endlich erwachsen werden und mich einfach bloß zusammenreißen, müsse begreifen, dass all das normal ist, worüber ich beunruhigt bin. Ihnen fällt überhaupt nicht auf, wie oft sie »man muss« und wie selten sie »ich will« verwenden. Sie verlangen Disziplin, doch ich möchte niemandes Sklave sein, nicht einmal mein eigener, oder vielmehr schon gar nicht. Sie werfen mir unaufhörlich vor, ich käme nicht zurecht mit dieser Welt. Sie sagen, ich sei depressiv und krank, als wäre es ein Ausdruck der geistigen Gesundheit, an kranke Verhältnisse gut angepasst zu sein. Sie möchten mich behandeln, mich normalisieren, mich wieder eingliedern in diese Welt, mit der ich meinen Frieden schließen soll, doch wenn sie Frieden sagen, meinen sie bloß Kapitulation. Sie wollen, dass ich verleugne, wie ich mich wirklich fühle, sie möchten mein Unbehagen in einen Kasten sperren und diesen dann irgendwo versenken, auf dass er für immer verschwunden bleibt. Sie drängen mich dazu, mein inneres Leben aufzugeben, um am äußeren zu partizipieren. Ich soll es jenen recht machen, die mich als Menschen negieren. Aber bin ich wirklich krank? Bin ich krank, weil ich aus dem herausfalle, was sie allen Ernstes als normal bezeichnen?

Es gilt als Ausdruck von Normalität, sich bereitwillig in eine Gesellschaft einzufügen, die systematisch ihre Grundlagen zerstört und die sich um das Wohlergehen ihrer Insassen nicht sonderlich schert. Es ist normal, dass wir mehr Geld und Kreativität in Waffen oder gegenseitige Abschreckung investieren als in Bildung und Kultur, weil wir uns so sehr bemühen, das Gegeneinander zu optimieren, während das Füreinander brachliegt. Es ist normal, dass diejenigen, die Kriege vom Zaun brechen und ihre Mitmenschen wie wertlosen Dreck behandeln, als Mächtige in den Parlamenten und Aufsichtsräten sitzen, in unseren Regierungen und wichtigen Entscheidungsgremien. Wir stoßen uns nicht daran, dass Wissen aus wirtschaftlichen Gründen unter Verschluss gehalten wird, anstatt es zum Wohle der Allgemeinheit offen zur Verfügung zu stellen, und wir nehmen es anstandslos hin, uns Gesetzen beugen zu müssen, von denen nur wenige profitieren, weil wir es anders niemals kennengelernt haben. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, auch nur ansatzweise von Verschwendung zu reden, wenn so viele der klügsten Köpfe ihre kostbare Zeit damit verbringen, nutzlose Dinge zu verkaufen, die weder benötigt noch begehrt werden, in Berufen, die jeden Tag aufs Neue dazu beitragen, die Welt ein kleines bisschen destruktiver zu gestalten. Es ist uns egal, dass die einen sterben, während die anderen an diesem Tod verdienen, so wie wir uns auch gleichmütig daran gewöhnt haben, Nahrung zu uns zu nehmen, die uns vergiftet und langsam umbringt, solange das für den Hersteller bedeutet, ein wenig günstiger produzieren zu können.

Unser gesamtes Leben, unsere Pläne und noch die sehnsuchtsvollsten Träume unterwerfen wir einem ständigen Zwang, dem sich alles bedingungslos unterzuordnen hat, doch es stellt für uns keinerlei Widerspruch dar, wenn wir diese totale Disziplinierung dann als höchste Form der Unabhängigkeit begreifen, als Ausdruck eines selbstbestimmten Daseins. Wir nehmen sinnlose, seelenzermürbende Jobs an, die wir hassen und in denen wir uns aufreiben, weil es für uns nichts Ungewöhnliches ist, dass nur diejenigen überleben dürfen, die auch bereit sind, dafür zu arbeiten, während Tausende täglich verhungern, die einfach nur zu arm sind, um sich ihre Mahlzeiten überhaupt leisten zu können. Wir definieren uns so ehrgeizig über die willkürlich festgelegten Zahlen, die am Ende des Monats auf unserem Konto vorzufinden sind, dass es für uns nicht wirklich besorgniserregend ist, wenn eine Handvoll Menschen mehr besitzen können als der ganze große Rest der Welt; eine Welt, in der ein Leben nur so viel wert ist, wie es erwirtschaften kann. Zufriedenheit, Freude und Glück werden abhängig gemacht von objektivistischen Kategorien: mehr haben, mehr können, mehr sein als andere, in einer quantifizierbaren Art und Weise, sich dadurch schließlich besser, größer, mächtiger zu fühlen als sie wird zum Maßstab der eigenen Persönlichkeit, zum Sinngeber in einer globalen Konkurrenz.

Jeden Tag nehmen wir billigend in Kauf, dass für überflüssigen Luxus unwiderruflicher Schaden an Umwelt und Anderen entsteht, ohne auch nur einen ernsthaften Gedanken daran zu verschwenden, welche ökologischen und sozialen Folgen unser Handeln hat. Es ist alltägliche Routine geworden, dass Menschen sterben oder wie schwerste Verbrecher behandelt werden, bloß weil sie den verzweifelten Versuch wagen, von einem Stückchen Land zu einem anderem zu gelangen. Wir bauen Zäune um uns herum, damit uns die anderen nicht zu nahe kommen, wir grenzen uns ab, schließen uns ein und haben Angst voreinander, aber wir sehen darin nichts Außergewöhnliches, es ist uns kein Grund zur Sorge. Die Normalität dieser Zustände, die für mehr und mehr Menschen nur noch mit Psychopharmaka zu verkraften sind, beunruhigt uns nicht. Diese ganze Katastrophe, die uns jeden Tag umgibt, sie betrifft uns zwar, aber sie berührt uns nicht. Wir gehen teilnahmslos unseren Tagesgeschäften nach, denn das alles enthält für uns keine Botschaft, außer jener der Selbstverständlichkeit. Wir wissen genau darüber Bescheid und obwohl wir etwas unternehmen könnten, ändert sich nichts.

Es gibt noch so vieles, mit dem ich mich genauso wenig abfinden kann und auch nicht abfinden möchte, zu vieles, um es aufzuzählen, weil es jeden Versuch einer Aufzählung sprengen würde; diese ganzen Normalitäten einer fremdartigen Welt, die für mich nicht normal, noch weniger lebenswert ist.

Seit jeher wird an mich die Erwartung herangetragen, ein Teil dessen zu werden, was mir zuwider ist, mich einzugliedern in eine Welt, die alle Eingegliederten verschlingt. Viel zu häufig litt ich unter Albträumen und bin schweißgebadet aufgewacht, noch viel häufiger habe ich erst gar nicht einschlafen können, weil ich mir ausmalte, wie es mit meinem Leben weitergehen würde in dieser Welt: Für den Rest meiner Tage müsste ich so gut wie jeden Morgen aufstehen, um mit vorgetäuschter Freiwilligkeit der gleichen, unbedeutenden Beschäftigung nachzugehen, was letzten Endes doch bloß heißt, das am Leben zu erhalten, was alles Lebendige unter sich erdrückt. Mit etwas Glück hätte ich am Abend ein paar Stunden dieser so genannten Freizeit, die es mir erlauben würden, mich von meinem Arbeitstag zu erholen, so wie man den Soldaten ins Lazarett bringt, nicht aus Nächstenliebe, sondern damit er wieder kämpfen kann, also würde ich ein wenig einkaufen, fernsehen, mich betrinken oder was man eben macht in jener Zeit, die noch zum Leben übriggeblieben ist, doch in der Regel bloß verfliegt, dann ginge ich schlafen und alles begänne am nächsten Tag von vorn. War es das? Macht das ein Leben aus?

Wenn ich ehrlich mit mir sein möchte, kann und darf ich das nicht Leben nennen, obwohl ich mit diesem trostlosen Schicksal noch zu den wenigen Privilegierten auf diesem Planeten gehören würde, zu jenen, denen es gut zu gehen hat, weil es dem Großteil noch viel schlechter geht. Ich reagierte auf diese Bedrohung mit Angstzuständen und Nervenzusammenbrüchen, ich war regelmäßig panisch und ich werde es noch heute, wenn ich mir vorstelle, dass ich auf diese Art in dieser Welt den Rest meines Daseins verbringen müsste, oder wenn schon nicht den Rest, dann wenigstens den größten Teil. Mein Leben war von Anfang an eingeteilt, festgelegt, geplant; es war nicht vorgesehen, dass man mich jemals dazu angehört hätte, was ich denn von alledem halte, das man mir zumuten würde. Niemand hat je gefragt, ob ich damit glücklich oder auch nur einverstanden bin, weil es niemanden interessiert.

All das ist normal. Das sind die Normen, an denen ich gemessen werden soll. »So ist eben das Leben«, wird mir immer wieder weisgemacht, und als ›das Leben‹ bezeichnen sie eine gewaltsam aufrechterhaltene Ordnung der Welt. Ich wollte so nicht leben, will so nicht leben, nicht in dieser Welt, das ist nicht mein Entwurf für ein gelungenes Dasein. Ich sehe nicht die geringste Motivation für den Versuch, mich als produktives Mitglied in diese Gesellschaft einzugliedern, und ich habe erstrecht kein Interesse daran, mich eingliedern zu lassen, weil ich mit allem, was sie ausmacht, grundlegend uneinverstanden bin. Jeden Tag denke ich, ich muss hier raus, muss mich aus diesem Gefängnis irgendwie befreien. Je mehr ich diese Welt begreife, desto weniger möchte ich darin leben, je mehr ich ihre Abläufe verstehe, desto weniger möchte ich daran beteiligt sein. Wie kann man sich den Zustand der Welt betrachten und dennoch glücklich sein?

Der Wahnsinn liegt in der Normalität, die für all diese Zustände gleichgültig in Anspruch genommen wird. Wir alle tragen als Komplizen dazu bei, mit jedem Tag, an dem wir es hinnehmen, das Destruktive als normal zu begreifen, denn die Ordnung der Welt hält unsere Köpfe besetzt. Wir sagen Freiheit und wir meinen damit, uns zwischen vorgegebenen Alternativen entscheiden zu dürfen. Wir sagen Sicherheit und wir haben dabei im Sinn, einen langfristigen Arbeitsplatz zu finden. Wir sagen Glück und wir stellen uns darunter vor, im Lotto zu gewinnen oder in einer Prüfung erfolgreich zu sein. Unsere Sprache und unsere Sehnsüchte haben sich den Zwängen angepasst, weil sie uns ständig als Normalitäten vorgehalten werden, von Institutionen, Politikern, Therapeuten, Eltern und letzten Endes allen, die immer noch glauben, diese Normalitäten seien normal. Ich bin nicht krank. Krank ist diese Welt und was mich daran deprimiert, nein, melancholisch werden lässt, das ist die Tatsache, dass dennoch ich es bin, der allgemein für krank gehalten wird, weil ich mit dieser ach so wunderbaren Welt nicht klarkomme, mit ihr auch gar nicht klarkommen möchte. Die objektiven Zustände werden nicht besser, bloß weil ich lerne, damit umzugehen; es ist ja gerade dieses Klarkommen, das dem Bestehenden zum Fortbestand verhilft. Wer also hat nun Recht? Wer von uns ist krank? Liegt es an mir, wenn ich mich unbehaglich fühle?

Tag um Tag musste ich es mir anhören, immer und immer wieder: »Hau doch ab« und »Wander doch aus«, »Werd endlich erwachsen« und »Gewöhn dich dran«, »Reiß dich zusammen« oder »Bring dich doch um«. Früher oder später fand noch jede Diskussion, all die mit Worten geführten Freiheitskämpfe, ihr Ende an diesem einen Punkt, mit einem dieser Sätze. Jedes Mal, wenn ich Einspruch erhob gegen die Normalitäten dieser Welt, wenn ich Beschwerde führte gegen jene Zustände, mit denen ich nicht leben will, wenn ich Vorgänge kritisierte oder wenn ich Nachrichten las und zum Ausdruck brachte, dass ich mit dem, was geschieht, nicht einverstanden bin, waren die Antworten immer gleich, die Phrasen wie einstudiert. Wie viel Zwang wirkt auf einen Menschen, um solche Sätze zu formulieren?

Während es früher schnell hieß: »Dann geh doch nach drüben«, heißt es heute: »Dann wander doch aus«, oder noch schlimmer, aber ehrlicher: »Dann bring dich doch um«. Ich jedoch hänge an meinem Leben, ich genieße es, so gut es mir die Umstände erlauben. Ich suche mir Freiräume, Schlupflöcher und Hintertüren, die mir ein wenig Luft zum Atmen bieten. Es ist nicht mein Leben, das mir Sorgen bereitet, sondern die Welt um mich herum, das Korsett, in das mein Leben hier gesteckt werden soll. Was mich bedrückt, ist nicht das Dasein, weder meines noch allgemein, sondern vielmehr der Rahmen, in dem es sich wiederfinden muss, jener Zustand der Welt, in den es sich anstandslos einzubetten hat und den ich nicht verschuldet habe, es sind die so genannten Freiheiten, die mir wie allen anderen aufdringlich angeboten werden, die aber keine ernstzunehmenden Freiheiten sind.

Was sagt das über einen Zustand aus, über diesen Zustand, wenn dir diejenigen, die ihn so vehement verteidigen, als Alternative nichts weiter anzubieten haben als den Tod? Geh unter oder füge dich, die Wahl ist Kollaps oder Kollaboration, also betrachte ich diese Menschen mit einer wachsenden Distanz, als wären sie Gehilfen einer feindseligen Besatzungsmacht. Selbst noch, wenn ich rationale Gründe präsentiere, warum ich mich in diese Welt nicht einfügen möchte, warum ich mich an ihren Abläufen nicht beteiligen will, werde ich des unvernünftigen Verhaltens beschuldigt, als hätte man den Maßstab einfach umgekehrt. »Reiß dich zusammen«, lautet das dauernde Diktat, und sie begreifen den Befehl als Tugend, wie sie das wohl auch dem Schnorrer in der Fußgängerzone antworten würden, der sie bloß nach etwas Kleingeld fragt, doch wenn der sich letztlich für Verweigerung und gegen Kapitulation entscheidet, so ist mir dessen Konsequenz allemal sympathischer als der erhobene Zeigefinger derjenigen, die mir erzählen wollen, das Problem sei eine Frage meiner eigenen Befindlichkeit. Ich fühle mich einsam, wenn ich unter solchen Menschen bin. Kraft Geburt erhielt ich das Recht, ich selbst zu sein, doch seitdem wird es mir auf diese Art verwehrt.

Mit jedem zusätzlichen Wort ließen mich diese und ähnliche Antworten ein kleines bisschen unglücklicher werden, bis ich mich schließlich auf die Suche nach etwas Anderem begab, nach einem schöneren und glücklicheren Leben in einer schöneren und glücklicheren Welt. Trotz all des Hohns und der ständigen Entmutigungen habe ich etwas Besseres gefunden als den Tod, etwas Hoffnungsvolleres als Kapitulation. Etwas, das sich all jene, die mir derartige Antworten geben oder so genannte Ratschläge erteilen, niemals hätten träumen lassen. Etwas, das sogar ich selbst vor wenigen Monaten noch für nahezu unmöglich gehalten hätte. Ohne viel Gepäck verschwand ich eines ganz normalen Tages aus dem, was ich bis dahin mein Leben genannt hatte, ich ging fort, ohne große Reisepläne zu schmieden, und ließ ein für alle Mal zurück, was mich schon viel zu lange unglücklich gemacht hatte. Ich fand einen Ort, an dem die Menschen anders sind, Menschen, denen es ähnlich geht wie mir. Ich schloss mich ihnen an, hier fand ich meine Heimat.

Wo ich nun lebe, gibt es keine Armut, weil jeder einzelne von uns im Reichtum schwimmt, denn wir haben uns gegenseitig und alles Notwendige, das man zum Leben wirklich braucht. Es gibt keine zweihundert Fernsehprogramme, keine teuren Sportwagen und keine goldenen Wasserhähne, dafür aber Solidarität, Vertrauen und Freiheit; keinen materiellen Überfluss, jedoch auch keinen Verzicht. Wir haben hier kein Geld, kein Gehalt, weil wir es nicht brauchen, und wir beugen uns keinen Herrschern, weil wir nicht länger Beherrschte sein möchten. Wir kennen keine Arbeitslosigkeit, keinen Terrorismus und keine Paranoia. Niemand wird zu seinem Tun gezwungen, keiner muss sich einem anderen irgendwie unterordnen, es gibt weder Chefs noch Hierarchien, es werden keine Befehle gegeben und kein Gehorsam verlangt. Wir sind Gleiche unter Gleichen. Es existiert kein Militär, keine Polizei, niemand baut Mauern und Zäune um sich herum. Wir gehen aufeinander zu, anstatt uns gegenseitig die Schädel einzuschlagen, treffen Entscheidungen, indem wir alle gleichberechtigt darin einbeziehen, wir haben Mitgefühl und zeigen den gebührenden Respekt, sowohl im Umgang miteinander als auch gegenüber dem, was uns umgibt. Wir nehmen uns so viel wir brauchen, aber wir zerstören nicht, wir beuten nicht aus, weder uns selbst noch das, wovon wir leben. Das Unwohlsein über die Normalitäten jener Welt, die wir allesamt zurückließen, die Diskrepanz zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit, diese Spannung zwischen dem, was ist, und den eigenen Gefühlen, wird hier nicht als Krankheit empfunden. Hier bin ich glücklich. Hier. Endlich.

„Wir stehen vor einem Rätsel“, erklärte der junge Arzt im Kreis seiner Kollegen. „Kein Wort, keine einzige Reaktion. Seit Monaten ist er in diesem Zustand, obwohl wir keine neurologische Ursache feststellen können. Im Gegenteil. Die Aktivität in seinem Gehirn ist bemerkenswert.“

Es ist so unerhört lächerlich, daß alle die Länder, die von sich behaupteten, sie seien die freiesten Länder, in Wahrheit ihren Bewohnern die geringste Freiheit gewähren und sie das ganze Leben hindurch unter Vormundschaft halten. Verdächtig ist jedes Land, wo soviel von Freiheit geredet wird, die angeblich innerhalb seiner Grenzen zu finden sei. Und wenn ich bei einer Einfahrt in den Hafen eines großen Landes eine Riesenstatue der Freiheit sehe, so braucht mir niemand zu erzählen, was hinter der Statue los ist. Wo man so laut schreien muß: Wir sind ein Volk von freien Menschen!, da will man nur die Tatsache verdecken, daß die Freiheit vor die Hunde gegangen ist oder daß sie von Hunderttausenden von Gesetzen, Verordnungen, Verfügungen, Anweisungen, Regelungen und Polizeiknüppeln so abgenagt worden ist, daß nur noch das Geschrei, das Fanfarengeschmetter und die Freiheitsgöttinnen übriggeblieben sind.
(B. Traven – Das Totenschiff)

What should I do about the wild and the tame? The wild heart that wants to be free, and the tame heart that wants to come home. I want to be held. I don’t want you to come too close. I want you to scoop me up and bring me home at nights. I don’t want to tell you where I am. I want to keep a place among the rocks where no one can find me. I want to be with you.
(Jeanette Winterson – Lighthousekeeping)

Niemand sollte jemals arbeiten.
Arbeit ist die Ursache nahezu allen Elends in der Welt. Fast jedes erdenkliche Übel geht aufs Arbeiten oder auf eine fürs Arbeiten eingerichtete Welt zurück. Um das Leiden zu beenden, müssen wir aufhören zu arbeiten.
Das bedeutet nicht, daß wir aufhören sollten, Dinge zu tun. Vielmehr sollten wir eine neue Lebensweise schaffen, der das Spielen zugrundeliegt; sozusagen eine spielerische Revolution.
Spielerisches Leben ist völlig inkompatibel zur bestehenden Wirklichkeit. Das sagt alles über die „Wirklichkeit“, das Schwerkraftloch, das dem Wenigen im Leben, das es noch vom bloßen Überleben unterscheidet, die Lebenskraft absaugt. Seltsamerweise – oder vielleicht auch nicht – sind alle alten Ideologien konservativ, weil sie an die Arbeit glauben.
Die Liberalen fordern ein Ende der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Ich fordere ein Ende des Arbeitsmarktes. Die Konservativen unterstützen das Recht auf Arbeit. Mit Karl Marx‘ eigensinnigem Schwiegersohn Paul Lafargue unterstütze ich das „Recht auf Faulheit“. So wie die Surrealisten – abgesehen davon, daß ich es ernst meine – fordere ich volle Arbeitslosigkeit. Die Trotzkisten agitieren für die permanente Revolution. Ich agitiere für permanentes Feiern. Aber wenn alle Ideologen die Arbeit verteidigen, was sie ja tun, und das nicht nur, weil sie andere dazu bringen wollen, ihren Teil mitzumachen, geben sie es doch ungern zu. Sie führen endlose Debatten über Löhne, Arbeitsstunden, Arbeitsbedingungen, Ausbeutung, Produktivität und Gewinnchancen. Sie reden gern über alles – außer über die Arbeit selbst. Diese Experten, die sich anbieten, uns das Denken abzunehmen, teilen selten ihre Erkenntnisse über die Arbeit mit uns, trotz der Bedeutung für unser aller Leben. Untereinander streiten sie sich ein bißchen über die Einzelheiten. (…) All diese Ideologen haben ernste Differenzen über die Verteilung der Macht. Genauso klar ist, daß sie der Macht als solcher nicht widersprechen und daß sie uns alle am Arbeiten halten wollen.
Die Entwürdigung, die die meisten Arbeitenden bei ihren Jobs erleben, entspringt der Summe der verschiedensten Demütigungen, die unter dem Begriff „Disziplin“ zusammengefaßt werden können. Foucault hat dieses Phänomen komplexer dargestellt, aber es ist eigentlich ganz einfach. Disziplin besteht aus der Absolutheit der totalitären Kontrolle am Arbeitsplatz – Überwachung, Fließband, vorgegebenes Arbeitstempo, Produktionsziffern, Stechuhr usw. Disziplin ist das, was Fabrik, Büro und Geschäft mit dem Gefängnis, der Schule und dem Irrenhaus gemein haben. Es ist etwas historisch Einzigartiges und Furchtbares. Es überstieg die Fähigkeiten solch teuflischer Diktatoren wie weiland Nero oder Dschingis Khan oder Iwan des Schrecklichen. So schlecht ihre Absichten auch gewesen sein mögen, ihnen fehlte die Maschinerie, um ihre Untertanen so gründlich zu kontrollieren, wie es moderne Despoten vermögen. Disziplin ist die charakteristisch moderne Funktionsweise der gesellschaftlichen Kontrolle, es ist ein innovatives Eintrichtern, gegen das bei der ersten sich bietenden Gelegenheit eingeschritten werden muß.
So steht es mit der Arbeit. Spielen ist das gerade Gegenteil. Spielen ist immer freiwillig. Was ansonsten Spiel wäre, wird zur Arbeit, sobald es erzwungen wird.
Wir haben jetzt die Möglichkeit, die Arbeit abzuschaffen und den notwendigen Anteil Arbeit durch eine Vielfalt an neuen freien Aktivitäten zu ersetzen. Die Abschaffung der Arbeit erfordert eine Annäherung von zwei Seiten, einer quantitativen und einer qualitativen. Auf der einen, der quantitativen Seite, müssen wir die Menge geleisteter Arbeit massiv reduzieren. Gegenwärtig ist die meiste Arbeit einfach nutzlos und wir sollten sie loswerden. Auf der anderen Seite – und ich denke, diese qualitative Annäherung ist der Knackpunkt und der wirklich revolutionäre Aufbruch – müssen wir die wenige nutzbringende Arbeit in verschiedenste spielerische und handwerkliche Freuden verwandeln, nicht unterscheidbar von anderen freudvollen Tätigkeiten, außer dadurch, daß sie nebenbei nützliche Endprodukte hervorbringen. Das sollte sie aber keinesfalls weniger verlockend machen. In der Folge könnten alle künstlichen Schranken von Macht und Besitz fallen. Schöpfung wäre nicht mehr Erschöpfung. Und wir könnten alle aufhören, voreinander Angst zu haben.
Ich unterstelle nicht, daß diese Verwandlung bei jeder Art von Arbeit möglich ist. Aber dann ist die meiste Arbeit auch nicht wert, erhalten zu werden. Nur ein kleiner und sich noch verkleinernder Ausschnitt der Arbeitswelt dient letztlich einem Zweck, den nicht erst die Verteidigung und Reproduktion des Arbeitssystems und seiner politischen und rechtlichen Anhängsel nötig machen (…): die meiste Arbeit dient direkt oder indirekt der wirtschaftlichen oder sozialen Kontrolle. Es wäre also einfach so möglich, Millionen von Verkäufern, Soldaten, Managern, Polizisten, Börsianern, Priestern, Bankiers, Anwälten, Lehrern, Vermietern, Wachen und Werbeleuten von der Arbeit zu befreien, nebst allen, die für sie arbeiten.
(Bob Black – Die Abschaffung der Arbeit; im Original: The Abolition of Work)

Seit Jahren schon möchte ich ein Buch über etwas schreiben, das mir sehr am Herzen liegt. Oder wenigstens ein PDF mit vielen Seiten. Der Ursprung dieses Wunsches liegt in mittlerweile schon nicht mehr fassbarer Vergangenheit, doch einen ernsthaften Anfang machte dieser Gedanke dann erst zum Ende meiner Schulzeiten, aber bis heute habe ich mit diesem Vorhaben keine großen Fortschritte erzielt. Ideen kommen und gehen und das Konzept wächst unaufhörlich, trotzdem schaffen es nur die seltensten dieser Ideen als ausformulierte Sätze, Abschnitte oder gar Seiten aufs elektronische Papier. Warum?

Viele Dinge spielen eine Rolle. Die üblichen Verdächtigen natürlich: mangelnde Zeit, Faulheit, nagender Perfektionismus und die Angst vor dem ersten Entwurf, der nie überzeugt. Einige davon – wahrscheinlich die meisten – mögen Ausreden sein, das ist sicher, doch sind all das generell Gründe, mit denen umgegangen, denen begegnet werden kann. Es sind Steine auf dem Weg, die wegzuräumen nicht das Problem ist, wenn man weiß, dass man den Weg unbedingt gehen möchte.

Der Hauptgrund allerdings, der mich daran hindert, irgendwie sinnvoll mit meinem Text voranzukommen, liegt in der Zukunft. Es sind all die Dinge, die in meinem Kopf als großes Muss auf mich zukommen: Ich muss Hausarbeiten machen, ich muss Referate vorbereiten, ich muss für Prüfungen lernen (obwohl ich noch nie für Prüfungen gelernt habe). Es ist dabei nicht der Zeitaufwand an sich, der für diese Dinge jeweils aufgebracht werden muss, denn er lässt mir genug Spielraum für Freizeit, sondern es sind die Dinge als solche, in denen ich keinen persönlichen Sinn sehe, die das Problem darstellen.

Freizeit bedeutet nicht gleichzeitig freie Zeit. Wenn in den Semesterferien alle Hausarbeiten hinter mir liegen, keine Klausuren anstehen und auch das kommende Semester im Idealfall noch einige Wochen entfernt liegt, ist das nur Freizeit, aber keine freie Zeit. Im Hinterkopf ist mir stets das störende Wissen allgegenwärtig, dass ich bald, wenn diese kurze Phase der Freizeit vergangen sein wird, wieder neue Referate werde vorbereiten müssen. Wenn die Referate vorbereitet und gehalten wurden, folgen die dazugehörigen Hausarbeiten, nach den Hausarbeiten folgen neue Referate. Wenn irgendwann Referate und Hausarbeiten einmal vorbei sind, stehen Diplomarbeit und Diplomprüfung bereits vor der Tür. Danach Bewerbungen, Vorstellungsgespräche, Einarbeitung, Arbeitsalltag. Jede dieser neuen Stufen ist von lächerlichen Bestätigungen irgendwelcher Instanzen bezeichnet: eine bestandene Klausur oder Prüfung, eine Note, eine gutgeheißene Arbeit, der Abschluss eines Projekts, die Versetzung in ein anderes Be(s)tätigungsfeld.

All dieses Müssen hängt in meinem Kopf ständig unbewusst über allem anderen, wie ein Rauschen im Radio, das einem die Musik verdirbt. Wenn ich Freizeit habe, vergeude ich sie mit irgendwelchen Serien oder Spielen, räume auf oder um, widme mich ganz generell dem so genannten Amüsement und Entertainment, um mich von einem Muss zum nächsten zu hangeln und die Zeit dazwischen totzuschlagen, in der Hoffnung auf ein Ende dieses Muss-Kreislaufs. Doch immer wieder erscheint irgendwo eine neue Stufe. Paralyse. Nie bekomme ich es hin, mich endlich mit dem zu beschäftigen, womit ich mich schon so lange beschäftigen möchte und was mir zudem so sehr am Herzen liegt. Hinzu kommt die Eigenschaft all dieser Nebenschauplätze – Hausarbeiten, Referate, Bewerbungen und so weiter -, eine derart große Menge an Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen, dass ein effektives und ungestörtes Konzentrieren auf das, was mir eigentlich wirklich wichtig ist, gar nicht möglich ist.

Meine letzte freie Zeit, die nicht nur als Freizeit bezeichnet werden kann, genoss ich direkt nach dem Abitur, als noch völlig offen war, ob ich Zivildienst würde leisten müssen oder nicht und wie es danach weitergehen würde. Diese Zeit, in der nicht klar war, welches Muss als nächstes und wann auftreten würde, in der es keinen fest geregelten Ablauf für die Zukunft gab, keine strukturierten Pläne, keine starren Schienen, auf denen alles zielgerichtet dahinrollt, war gleichzeitig die produktivste.

Was wir brauchen, ist freie Zeit, die nicht bloß Freizeit ist.