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Viel liest man über die nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen, die es haben kann, füt­tert man sozia­le Netz­wer­ke, die eige­ne Home­page oder Blogs mit per­sön­li­chen Infor­ma­tio­nen. Wenn­gleich vie­les davon auch zutref­fend ist und die opti­mier­te Selbst­in­sze­nie­rung oder Öffent­lich­ma­chung intims­ter Details bis­wei­len ins Patho­lo­gi­sche abdrif­tet, so ist ein immer wie­der erwähn­ter Punkt doch unter Umstän­den auch nütz­lich: Schnüf­fe­lei durch den aktu­el­len oder einen poten­ti­el­len Arbeitgeber.

Das Pro­fil in sozia­len Netz­wer­ken, die eige­ne Home­page und Aus­sa­gen in Blogs wer­den mit der Sche­re im Kopf ver­fasst oder in vor­aus­ei­len­dem Gehor­sam zen­siert, um der Angst zu begeg­nen, der tat­säch­li­che oder poten­ti­el­le Arbeit­ge­ber könn­te Details über Pri­vat­le­ben, poli­ti­sche oder sexu­el­le Ori­en­tie­rung, Vor­lie­ben und Abnei­gun­gen oder per­sön­li­che Mei­nun­gen erfah­ren und als – natür­lich inof­fi­zi­el­le – Grund­la­ge für nega­ti­ve Kon­se­quen­zen her­an­zie­hen, sei es das Ableh­nen einer Bewer­bung und Nicht­ein­stel­lung, das Über­ge­hen bei einer Beför­de­rung oder in Extrem­fäl­len die Kün­di­gung. Warum?

Genau­so, wie die­se dreis­te Schnüf­fe­lei durch wenig Ver­trau­en ver­die­nen­de Unter­neh­men, denen das Pri­vat­le­ben ihrer Mit­ar­bei­ter, solan­ge es die Arbeit selbst nicht beein­träch­tigt, nicht Grund für nega­ti­ve Sank­tio­nen sein darf, soll und muss, in die eine Rich­tung funk­tio­niert, wirkt sie auch in die ande­re, näm­lich als vor­züg­li­cher Arbeit­ge­ber­fil­ter. Möch­te man für eine Fir­ma arbei­ten, die her­um­schnüf­felt und einen Men­schen nicht ein­stellt, weil er per­sön­li­che, viel­leicht sogar pein­li­che Par­ty­fo­tos in ein sozia­les Netz­werk gela­den hat? Möch­te man für eine Fir­ma arbei­ten, die eine poli­ti­sche Mei­nung jen­seits der eigens pro­pa­gier­ten als Knock-Out-Kri­te­ri­um betrach­tet? Wenn man nicht ein­ge­stellt wird, weil man sich in die­ser oder jener Orga­ni­sa­ti­on enga­giert, ist das dann, abseits vom Öko­no­mi­schen, wirk­lich ein Grund zur Trau­er oder nicht eher zur Freu­de dar­über, dass man nicht Teil eines Unter­neh­men mit sol­chen Prak­ti­ken gewor­den ist? Was für ein Zustand ist das, wenn man vor­sich­tig sein muss, wel­che poli­ti­schen oder per­sön­li­chen Aus­sa­gen man trifft?

„Selbst schuld“, hört man süf­fi­sant von den­je­ni­gen, die sich ent­spre­chend sol­cher an sie gestell­ten Erwar­tun­gen zen­sie­ren und die eige­ne Per­sön­lich­keit demü­tig ver­ste­cken. „Selbst schuld“, kann man ihnen eigent­lich nur antworten.

Seit Jah­ren schon möch­te ich ein Buch über etwas schrei­ben, das mir sehr am Her­zen liegt. Oder wenigs­tens ein PDF mit vie­len Sei­ten. Der Ursprung die­ses Wun­sches liegt in mitt­ler­wei­le schon nicht mehr fass­ba­rer Ver­gan­gen­heit, doch einen ernst­haf­ten Anfang mach­te die­ser Gedan­ke dann erst zum Ende mei­ner Schul­zei­ten, aber bis heu­te habe ich mit die­sem Vor­ha­ben kei­ne gro­ßen Fort­schrit­te erzielt. Ideen kom­men und gehen und das Kon­zept wächst unauf­hör­lich, trotz­dem schaf­fen es nur die sel­tens­ten die­ser Ideen als aus­for­mu­lier­te Sät­ze, Abschnit­te oder gar Sei­ten aufs elek­tro­ni­sche Papier. Warum?

Vie­le Din­ge spie­len eine Rol­le. Die übli­chen Ver­däch­ti­gen natür­lich: man­geln­de Zeit, Faul­heit, nagen­der Per­fek­tio­nis­mus und die Angst vor dem ers­ten Ent­wurf, der nie über­zeugt. Eini­ge davon – wahr­schein­lich die meis­ten – mögen Aus­re­den sein, das ist sicher, doch sind all das gene­rell Grün­de, mit denen umge­gan­gen, denen begeg­net wer­den kann. Es sind Stei­ne auf dem Weg, die weg­zu­räu­men nicht das Pro­blem ist, wenn man weiß, dass man den Weg unbe­dingt gehen möchte.

Der Haupt­grund aller­dings, der mich dar­an hin­dert, irgend­wie sinn­voll mit mei­nem Text vor­an­zu­kom­men, liegt in der Zukunft. Es sind all die Din­ge, die in mei­nem Kopf als gro­ßes Muss auf mich zukom­men: Ich muss Haus­ar­bei­ten machen, ich muss Refe­ra­te vor­be­rei­ten, ich muss für Prü­fun­gen ler­nen (obwohl ich noch nie für Prü­fun­gen gelernt habe). Es ist dabei nicht der Zeit­auf­wand an sich, der für die­se Din­ge jeweils auf­ge­bracht wer­den muss, denn er lässt mir genug Spiel­raum für Frei­zeit, son­dern es sind die Din­ge als sol­che, in denen ich kei­nen per­sön­li­chen Sinn sehe, die das Pro­blem darstellen.

Frei­zeit bedeu­tet nicht gleich­zei­tig freie Zeit. Wenn in den Semes­ter­fe­ri­en alle Haus­ar­bei­ten hin­ter mir lie­gen, kei­ne Klau­su­ren anste­hen und auch das kom­men­de Semes­ter im Ide­al­fall noch eini­ge Wochen ent­fernt liegt, ist das nur Frei­zeit, aber kei­ne freie Zeit. Im Hin­ter­kopf ist mir stets das stö­ren­de Wis­sen all­ge­gen­wär­tig, dass ich bald, wenn die­se kur­ze Pha­se der Frei­zeit ver­gan­gen sein wird, wie­der neue Refe­ra­te wer­de vor­be­rei­ten müs­sen. Wenn die Refe­ra­te vor­be­rei­tet und gehal­ten wur­den, fol­gen die dazu­ge­hö­ri­gen Haus­ar­bei­ten, nach den Haus­ar­bei­ten fol­gen neue Refe­ra­te. Wenn irgend­wann Refe­ra­te und Haus­ar­bei­ten ein­mal vor­bei sind, ste­hen Diplom­ar­beit und Diplom­prü­fung bereits vor der Tür. Danach Bewer­bun­gen, Vor­stel­lungs­ge­sprä­che, Ein­ar­bei­tung, Arbeits­all­tag. Jede die­ser neu­en Stu­fen ist von lächer­li­chen Bestä­ti­gun­gen irgend­wel­cher Instan­zen bezeich­net: eine bestan­de­ne Klau­sur oder Prü­fung, eine Note, eine gut­ge­hei­ße­ne Arbeit, der Abschluss eines Pro­jekts, die Ver­set­zung in ein ande­res Be(s)tätigungsfeld.

All die­ses Müs­sen hängt in mei­nem Kopf stän­dig unbe­wusst über allem ande­ren, wie ein Rau­schen im Radio, das einem die Musik ver­dirbt. Wenn ich Frei­zeit habe, ver­geu­de ich sie mit irgend­wel­chen Seri­en oder Spie­len, räu­me auf oder um, wid­me mich ganz gene­rell dem so genann­ten Amü­se­ment und Enter­tain­ment, um mich von einem Muss zum nächs­ten zu han­geln und die Zeit dazwi­schen tot­zu­schla­gen, in der Hoff­nung auf ein Ende die­ses Muss-Kreis­laufs. Doch immer wie­der erscheint irgend­wo eine neue Stu­fe. Para­ly­se. Nie bekom­me ich es hin, mich end­lich mit dem zu beschäf­ti­gen, womit ich mich schon so lan­ge beschäf­ti­gen möch­te und was mir zudem so sehr am Her­zen liegt. Hin­zu kommt die Eigen­schaft all die­ser Neben­schau­plät­ze – Haus­ar­bei­ten, Refe­ra­te, Bewer­bun­gen und so wei­ter -, eine der­art gro­ße Men­ge an Auf­merk­sam­keit für sich zu bean­spru­chen, dass ein effek­ti­ves und unge­stör­tes Kon­zen­trie­ren auf das, was mir eigent­lich wirk­lich wich­tig ist, gar nicht mög­lich ist.

Mei­ne letz­te freie Zeit, die nicht nur als Frei­zeit bezeich­net wer­den kann, genoss ich direkt nach dem Abitur, als noch völ­lig offen war, ob ich Zivil­dienst wür­de leis­ten müs­sen oder nicht und wie es danach wei­ter­ge­hen wür­de. Die­se Zeit, in der nicht klar war, wel­ches Muss als nächs­tes und wann auf­tre­ten wür­de, in der es kei­nen fest gere­gel­ten Ablauf für die Zukunft gab, kei­ne struk­tu­rier­ten Plä­ne, kei­ne star­ren Schie­nen, auf denen alles ziel­ge­rich­tet dahin­rollt, war gleich­zei­tig die produktivste.

Was wir brau­chen, ist freie Zeit, die nicht bloß Frei­zeit ist.

Sie haben sich immer über die bie­de­ren Schlips­trä­ger und Hosen­an­zug­trä­ge­rin­nen lus­tig gemacht, die bei Ban­ken, Ver­si­che­run­gen und Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen arbei­ten oder bei ande­ren, genau­so mie­fi­gen wie lang­wei­li­gen Fir­men unter­ge­kom­men sind und dort ihr trost­lo­ses Dasein ver­rich­ten. Das war ihre Sicht­wei­se. So woll­ten sie nie enden, die­se Per­spek­ti­ve haben sie stets ver­ab­scheut. Nun arbei­ten sie selbst bei sol­cher­art Ban­ken, Ver­si­che­run­gen, Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen, Markt­for­schungs­in­sti­tu­ten oder in ähn­li­chen Fel­dern, die den glei­chen kal­ten Charme ver­sprü­hen, oder stre­ben es an, das zu tun. Warum?

Ver­än­dert haben sie sich nicht. Das ist das Trau­rigs­te dar­an. Hät­ten sie sich geän­dert, hät­ten sie ihre frü­he­ren Über­zeu­gun­gen über Bord gewor­fen, ja pla­ka­tiv aus­ge­drückt sie sozu­sa­gen ver­ra­ten, so wäre das – aus mei­ner per­sön­li­chen mora­li­schen Per­spek­ti­ve – zwar äußerst scha­de, jedoch kon­se­quent und hät­te es ver­dient, respek­tiert zu wer­den. Genau das ist jedoch nicht der Fall. Unver­än­dert gilt ihr Spott und Hohn den Lang­wei­lern und Spie­ßern, wie sie sagen, die in all den seriö­sen Berufs­fel­dern von Ban­ken bis zu Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen ihr Geld ver­die­nen, und auch wei­ter­hin gehen sie mit der Ver­ach­tung der Wer­te hau­sie­ren, die die­je­ni­gen Insti­tu­tio­nen ver­tre­ten, für die sie nun selbst tätig sind. Dass sie selbst dazu­ge­hö­ren, wis­sen sie, und doch ist ihr Ver­hal­ten kein Aus­druck von kri­ti­scher Selbst­iro­nie. Sie sind nicht gewor­den, wer sie nie wer­den woll­ten, son­dern sie spie­len eine Rol­le, sie insze­nie­ren sich, ver­kau­fen sich, zie­hen Mas­ken auf.

Auf der einen Sei­te haben sie ihre Über­zeu­gun­gen behal­ten, doch auf der ande­ren Sei­te agie­ren sie genau ent­ge­gen­ge­setzt. Ihre Über­zeu­gun­gen sind Sonn­tags­über­zeu­gun­gen gewor­den, die unter der Woche in den Schrank gestellt wer­den, und sie selbst haben durch den Druck der öko­no­misch-rea­len Situa­ti­on eine kom­pli­zier­te Aus­prä­gung mul­ti­pler Per­sön­lich­kei­ten und mora­li­scher Fle­xi­bi­li­tät ent­wi­ckelt, die es ihnen erlaubt, meh­re­re sich wider­spre­chen­de Pake­te aus Hand­lungs­mus­tern, Idea­len und Über­zeu­gun­gen in der eige­nen Per­son zu vereinen.

Sie über­neh­men eine Rol­le. Sie haben ein Dreh­buch zuge­schickt bekom­men, das ihnen nicht gefällt, des­sen ihnen zuge­spro­che­ne Rol­le sie inner­lich eigent­lich ableh­nen – und doch spie­len sie sie. An frei­en Tagen läs­tern sie mit ihren Freun­den und Bekann­ten über das, was sie an Arbeits­ta­gen selbst ver­kör­pern. Wenn jemand auf einer Par­ty sei­ne Ansicht zum Aus­druck bringt, er fän­de Arbeit zum Kot­zen, dann fin­den sie das super, so rich­tig unter­stüt­zens­wert, sie klop­fen dem Muti­gen soli­da­risch auf die Schul­ter und geben ihm Recht. Doch wenn am dar­auf­fol­gen­den Mon­tag ein Kol­le­ge mit der glei­chen Ein­stel­lung am Arbeits­platz erscheint und dafür Ärger kas­siert, rau­nen sie bloß noch „der Idi­ot ist selbst schuld!“ und wen­den sich kopf­schüt­telnd ihrer Arbeit zu.

Sie sind kei­ne Heuch­ler – in unter­schied­li­chen Situa­tio­nen glau­ben sie tat­säch­lich ver­schie­de­ne, teils dia­me­tral gegen­sätz­li­che Din­ge und ver­tre­ten ein­an­der wider­spre­chen­de Ansich­ten, ohne die­se Wider­sprüch­lich­keit bewusst zu erfas­sen. Kurz: Ihre neue Rol­le ver­bie­tet es, eine authen­ti­sche Per­sön­lich­keit zum Aus­druck zu brin­gen, ihre Per­sön­lich­keit, son­dern spal­tet die eige­ne Iden­ti­tät in meh­re­re ver­schie­de­ne Schein-Iden­ti­tä­ten auf, die stets dort wirk­sam sind und die eige­ne Per­son mög­lichst ertrag­reich ver­kau­fen, wo sie als ange­mes­sen erschei­nen. Befeu­ert wird der­ar­ti­ges Ver­hal­ten durch wider­sprüch­li­che gesell­schaft­li­che Anfor­de­run­gen, wie etwa Pla­nungs­kom­pe­tenz und Risi­ko­be­reit­schaft, Fle­xi­bi­li­tät und Ver­läss­lich­keit, Kon­sum­freu­dig­keit und Abs­ti­nenz, Frei­heit und Kon­for­mi­tät, Team­fä­hig­keit und Ego­is­mus, Fami­li­en­sinn und stän­di­ge Mobilität.

Die­ses Ver­hal­ten drückt dabei nicht bloß die harm­lo­se Anpas­sung an äuße­re Umstän­de aus, wie sie in jeder Situa­ti­on vor­han­den ist, son­dern ver­kör­pert das all­ge­gen­wär­ti­ge Sich-Ver­kau­fen und die damit ver­bun­de­ne und stets mit­schwin­gen­de Selbstreg(ul)ierung, die dafür sorgt, sich aus Angst vor nega­ti­ven Kon­se­quen­zen, bei­spiels­wei­se von Sei­te des Arbeits­ge­bers, in jeder Situa­ti­on den Anfor­de­run­gen ent­spre­chend zu ver­mark­ten. Wer sich nicht rich­tig ver­kauft, also sich selbst zur Ware erklärt und die eige­ne Ver­wert­bar­keit auto­nom maxi­miert und ent­spre­chend anpreist, sei es nun am Arbeits­platz, in der Dis­co oder in der Uni­ver­si­tät, gilt als hoff­nungs­lo­ser Verlierer.

Jeder steht dabei für sich allei­ne, denn so muss es sein. In der Welt der Selbst­dar­stel­lung und des Sich-selbst-Ver­kau­fens ist jeder ande­re der poten­ti­el­le Feind, der sich schließ­lich eben­falls mög­lichst erfolg­reich ver­kau­fen möch­te. Mit­men­schen wer­den redu­ziert auf Kon­kur­ren­ten. Die­se para­no­ide Atmo­sphä­re des stän­di­gen Miss­trau­ens und der Angst pro­du­ziert ein Ver­hal­ten, das sich schließ­lich auch auf die eige­ne Per­sön­lich­keit und das Ver­hält­nis zu den Mit­men­schen aus­wirkt und dort selbst das Ver­hält­nis zu den­je­ni­gen mit zuneh­men­der Distanz belegt, die einem eigent­lich am nächs­ten ste­hen. Die ego­is­ti­schen und kal­ku­lie­rend-ratio­na­len Durch­set­zungs­stra­te­gien, die im Berufs­le­ben zumeist nahe­ge­legt oder gar auf­ge­zwun­gen wer­den, trans­por­tie­ren sich bis ins Pri­va­te, wo sie sich in der aus­tausch­ba­ren Unver­bind­lich­keit kühl berech­nen­der Ver­hält­nis­se zum Mit­men­schen niederschlagen.

Freund­schaf­ten, so wie alle Bezie­hun­gen zu ande­ren Men­schen, wer­den in die­ser Welt der tota­len Ver­wer­tung und Selbst­ver­wer­tung eben­so als Waren begrif­fen, die nütz­lich und dien­lich sein sol­len, wie alles ande­re auch. Sie sind unver­bind­lich und ober­fläch­lich. Man ver­kauft sich jedem neu­en sozia­len Kon­takt auf eine ande­re Wei­se, um ihm das zu prä­sen­tie­ren, was er sehen möch­te, und maxi­miert dadurch den Erfolg des Selbst­ver­kau­fens. Mas­ken wer­den auf­ge­zo­gen, Rol­len gespielt, Auf­trit­te geübt. Für jeden Kon­takt ent­steht ein neu­es sozia­les Ich, das eine mög­lichst über­zeu­gen­de Fik­ti­on dar­stellt, und die wirk­li­che Per­sön­lich­keit, die Authen­ti­zi­tät der eige­nen Per­son, ver­kriecht sich aus Angst im stil­len Käm­mer­lein, um die auf­ge­bau­ten Illu­sio­nen nicht zu zer­stö­ren. Einen ande­ren Men­schen an sich her­an­zu­las­sen wird als poten­ti­el­le Schwä­che dis­kre­di­tiert, die nur dann in Kauf genom­men wer­den kann, wenn es der eige­nen Lage dien­lich ist, wenn es bei­spiels­wei­se zu Pres­ti­ge­ge­winn oder finan­zi­el­lem Vor­teil führt, zu Pro­blem­lö­sun­gen bei­trägt oder ein den all­ge­gen­wär­ti­gen Druck aus­glei­chen­des Amü­se­ment verspricht.

Stra­te­gien aus der so genann­ten Arbeits­welt, die dort unter Vor­spie­lung eben sol­cher Rol­len und dem Erzeu­gen von Fik­tio­nen zu Erfolg füh­ren sol­len, wer­den nach eini­ger Zeit kri­tik­los in intims­te Berei­che des eige­nen Lebens über­nom­men und mün­den dar­in, den Betrug und die Illu­si­on als ange­mes­se­ne Grund­la­gen zwi­schen­mensch­li­cher Bezie­hun­gen und sogar Part­ner­schaf­ten anzu­se­hen, ohne zu begrei­fen, dass die Über­tra­gung die­ser Ver­hal­tens­wei­sen in eben die­se Sphä­ren, die stets zwin­gend authen­ti­scher Per­sön­lich­kei­ten und Ver­hal­tens­wei­sen bedür­fen, zwangs­läu­fig zu Schwie­rig­kei­ten füh­ren wird. So ist es kein Wun­der, wenn ent­spre­chen­de Freund­schaf­ten oder Part­ner­schaf­ten zerbrechen.

All die­sen Ver­lus­ten wird häu­fig mit dem Ver­such der Umin­ter­pre­ta­ti­on begeg­net: Die Unver­bind­lich­keit, das berech­nen­de Ver­hal­ten und das illu­so­ri­sche Rol­len­spiel sei­en Aus­druck und Not­wen­dig­keit der Frei­heit des eigens selbst­be­stimm­ten Lebens­ent­wurfs. Nur durch das Rol­len­spiel kön­ne man die eige­ne Per­sön­lich­keit vor der feind­li­chen Außen­welt schüt­zen, lau­tet ein ande­rer Ver­such der posi­ti­ven Umdeu­tung, der nicht begreift, dass das Unter­drü­cken und dar­aus de fac­to resul­tie­ren­de Abschaf­fen die­ser authen­ti­schen Per­sön­lich­keit nicht zu deren Erhal­tung bei­trägt. Die­ser Selbst­be­trug erlaubt es, all die nega­ti­ven Kon­se­quen­zen, die sich dar­aus erge­ben, als unver­meid­lich abzu­stem­peln, als hin­der­lich bei der eige­nen Ver­mark­tung. Es ent­steht ein Typus Mensch, der sei­ne fik­tio­na­len Schein-Per­sön­lich­kei­ten, die damit ein­her­ge­hen­de Selbst­ent­frem­dung und das von Kal­kül bestimm­te Kon­kur­renz- und Nutz­den­ken gegen­über sei­nen Mit­men­schen als etwas Posi­ti­ves begreift, das ihn zum Erfolg führt.

Ent­steht dabei eine Gesell­schaft, in der wir uns wohlfühlen?

Für einen Arbeits­platz, den sie has­sen, für eine Aus­bil­dung, die sie gar nicht wol­len, oder sogar nur für ein Prak­ti­kum, das wohl die nie­ders­te Form der Aus­beu­tung dar­stellt, tun sie alles.

Sie leug­nen ihre eige­ne Mei­nung. Sie leug­nen ihre Träu­me. Sie leug­nen ihre Idea­le. Sie leug­nen ihre Ver­gan­gen­heit. Sie leug­nen, was sie sind. Sie zen­sie­ren ihre Inter­net-Auf­trit­te. Sie wol­len nicht zu dem ste­hen, was sie sagen und den­ken. Sie kon­trol­lie­ren, was man bei Goog­le über sie her­aus­fin­den kann, und wenn ihnen etwas nicht gefällt, dann wol­len sie das ändern. Sie neh­men Bil­der aus dem Netz, die sie viel­leicht in einem schlech­ten Licht dar­stel­len könn­ten. Sie wol­len glänzen.

Sie haben stän­dig die Sche­re im Kopf. Sie wol­len nicht auf­fal­len. Zumin­dest nicht nega­tiv. Doch weil es ein­fa­cher ist, über­haupt nicht auf­zu­fal­len, gehen sie die­sen Weg. Sie buckeln nach oben und sie tre­ten nach unten. Sie kuschen und gehorchen.

Sie brau­chen Men­schen, die ihnen sagen, was sie tun sol­len. Sie wol­len nicht allei­ne lau­fen, nicht ohne Füh­rung, nicht ohne Gelän­der. Trotz­dem sind sie ein­sam, auch wenn sie nicht allein sein mögen. Sie wis­sen nicht, wer sie sind, aber das inter­es­siert sie auch gar nicht. Denn sie sind, was ande­re von ihnen ver­lan­gen. Macht das glücklich?

Wie Wiglaf Dros­te so tref­fend schrieb:

Sie wol­len nicht frei sein, also sol­len alle ande­ren auch nicht dür­fen. (…) Wenn man ihnen ihre Leit­plan­ken schon nicht weg­neh­men kann, darf man immer­hin drü­ber­weg hüp­fen. Inner­halb der Leit­plan­ken­kul­tur gibt es nichts zu fin­den, das sich zu suchen lohnte.
(Wiglaf Dros­te bei taz.de)

Gut ist es, an andern sich zu hal­ten. Denn kei­ner trägt das Leben allein.
(Fried­rich Hölderlin)

Kom­mu­ni­ka­ti­on mit den Mit­men­schen ist kei­ne Ein­bahn­stra­ße. Das gilt vor allem, aber nicht exklu­siv, für die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Freun­den. Kom­mu­ni­ka­ti­on mit den Mit­men­schen ist auch kein Selbst­be­die­nungs­ba­sar. Sie sagen dir ihre Mei­nung – unge­fragt. Sie sagen dir, wor­in du so rich­tig schlecht bist – unge­fragt. Sie sagen dir, dass eini­ge dei­ner Ent­schei­dun­gen ziem­lich blöd waren – ungefragt.

Das alles fin­det man viel­leicht in jenen Momen­ten, in denen man es zu hören bekommt, ziem­lich ner­vig und viel­leicht sogar schei­ße, aber es hilft – und es ist ver­dammt viel wert. Weil eben nie­mand per­fekt ist. Weil nie­mand alles auf Anhieb super macht. Weil nie­mand je aus­lernt. Weil nie­mand allei­ne ist. Weil es gut ist, das eige­ne Han­deln des Öfte­ren aus ande­ren Per­spek­ti­ven und dabei nicht immer nur von den glei­chen Per­so­nen beur­teilt zu sehen, Rat­schlä­ge zu erhal­ten und Kri­tik zu ern­ten, da das eige­ne Selbst­bild stets von der Ver­zer­rung geprägt ist, wie man sich sehen möch­te. Und weil man lernt, dass man nicht über jede nicht selbst gemach­te Erfah­rung erha­ben ist.

Sol­che Rat­schlä­ge, Mei­nun­gen oder Kri­ti­ken ande­rer Men­schen in Erwä­gung zu zie­hen oder gar anzu­neh­men, mag viel­leicht anfangs ein wenig das eige­ne Ego ver­let­zen. Oder man ist außer sich, weil ande­re Men­schen die Dreis­tig­keit besit­zen, sich in das eige­ne Leben ein­zu­mi­schen. Aber letz­ten Endes stärkt es die eige­ne Per­sön­lich­keit, und das ist viel wert­vol­ler als ein ange­kratz­tes Ego. Es lohnt sich, dafür even­tu­el­le Mau­ern ein­zu­rei­ßen, die man gegen­über ande­ren Men­schen und sei­ner Umwelt gebaut hat.

Sie anzu­neh­men hat nie etwas mit Schwä­che oder Unfä­hig­keit zu tun. Im Gegen­teil. Schwach – aber vor allem dumm – ist, wer denkt, alles allei­ne am bes­ten zu wis­sen und zu kön­nen. Wer das glaubt, braucht sich nicht zu wun­dern, wenn er schließ­lich tat­säch­lich das Leben ganz allei­ne tra­gen muss. Wer sich abschot­tet, ver­liert viel Wärme.

Eine jener Cha­rak­te­ris­ti­ken, die Freun­de aus­ma­chen, ist eben die­ses Ein­mi­schen. Sie sagen dir von sich aus Din­ge, die du viel­leicht nicht hören willst, und das ist gut so. Sie sagen dir sol­che Din­ge, ohne dar­auf ange­spro­chen zu wer­den, denn auf Auf­for­de­rung könn­te das jeder. Und sie ver­su­chen dir zu hel­fen, auch und gera­de wenn du sie nicht dar­um bit­test oder wenn du wie­der ein­mal so tust, als bräuch­test du kei­ne Hil­fe, denn auf Auf­for­de­rung könn­te auch das jeder Belie­bi­ge. Ein Belie­bi­ger nimmt aller­dings nicht Anteil. Freun­de schon. Das macht sie unbe­zahl­bar. Auch wenn es hin und wie­der nervt.

Das Ende des Jah­res. Mit eini­gen Freun­den und Bekann­ten ging ich auf eine der vie­len Sil­ves­ter­par­tys in die­ser Nacht und die Stim­mung war super. Irgend­wann im Lau­fe des Abends saß ich mit eini­gen Leu­ten her­um und unter­hielt mich mit ihnen. Ein Freund aus frü­he­ren Zei­ten, den wir zufäl­lig dort getrof­fen hat­ten, sah uns dasit­zen, kam zu mir her­über und meinte:

„Willst du dich nicht ran­ma­chen? Irgend­ei­ne kriegt man auf jeden Fall…“

Das Inter­es­san­te an sei­ner Aus­sa­ge ist unter ande­rem, dass er Recht hat. Irgendeine(n) fin­det man bei sol­chen Gele­gen­hei­ten auf jeden Fall, wenn man das möch­te. Je spä­ter der Abend, des­to höher die Wahr­schein­lich­keit – das liegt nicht ein­mal haupt­säch­lich am Alko­hol. Und ohne Fra­ge ist das auch völ­lig legi­tim, wenn bei­de Sei­ten nur genau das erwar­ten: Irgendeine(n).

Für mich war die­ser Kom­men­tar jedoch einer jener Momen­te, in denen mir klar wird, dass das, was er aus­drück­te, nicht mei­ne Welt ist. Und dass ich nicht irgend­ei­ne möchte.