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Im Kon­text des Habi­tus­kon­zepts und der Bour­dieu­schen Milieu­for­schung ist von öko­no­mi­schem, kul­tu­rel­lem sowie sozia­lem Kapi­tal die Rede. Um die­se ver­schie­de­nen For­men des Kapi­tals, die bei Bour­dieu zur Spra­che kom­men, zu betrach­ten, ist es zunächst ein­mal wich­tig, den Begriff des Kapi­tals gene­rell zu defi­nie­ren. Bour­dieu spricht von Kapi­tal als „akku­mu­lier­te Arbeit, ent­we­der in Form von Mate­ri­al oder in ver­in­ner­lich­ter, »inkor­po­rier­ter« Form“ (Bour­dieu, 1992b, S. 49).

Im Gegen­satz zu einer ver­en­gen­den Betrach­tungs­wei­se, die jeg­li­che Kapi­tal­for­men jen­seits des öko­no­mi­schen Kapi­tals als sol­ches schlicht ver­kennt, iden­ti­fi­ziert Bour­dieu neben dem öko­no­mi­schen Kapi­tal auch kul­tu­rel­les sowie sozia­les Kapital.

Die Betrach­tung der Gesell­schaft unter rein öko­no­mi­schen Gesichts­punk­ten igno­riert die sym­bo­li­sche Logik der Distink­ti­on und die Effek­te des kul­tu­rel­len Kapi­tals, die den Besit­zern eines umfang­rei­chen Kul­tur­ka­pi­tals auf Grund des­sen Sel­ten­heits­werts beson­de­re Pro­fi­te wie etwa schu­li­sche Bil­dungs­er­fol­ge ermöglichen:

„D. h., der­je­ni­ge Teil des Pro­fits, der in unse­rer Gesell­schaft aus dem Sel­ten­heits­wert bestimm­ter For­men von kul­tu­rel­lem Kapi­tal erwächst, ist letz­ten Endes dar­auf zurück­zu­füh­ren, daß nicht alle Indi­vi­du­en über die öko­no­mi­schen und kul­tu­rel­len Mit­tel ver­fü­gen, die es ihnen ermög­li­chen, die Bil­dung ihrer Kin­der über das Mini­mum hin­aus zu ver­län­gern, das zu einem gege­be­nen Zeit­punkt für die Repro­duk­ti­on der Arbeits­kraft mit dem gerings­ten Markt­wert erfor­der­lich ist“ (ebd., S. 57f).

Hier­bei wird anhand des kul­tu­rel­len Kapi­tals bereits deut­lich, dass die drei genann­ten Kapi­tal­ar­ten gesell­schaft­lich ungleich ver­teilt sind, wobei deren Ver­tei­lungs­struk­tur „der imma­nen­ten Struk­tur der gesell­schaft­li­chen Welt“ (ebd., S. 50) ent­spricht, sodass die „unglei­che Ver­tei­lung von Kapi­tal (…) somit die Grund­la­ge für die spe­zi­fi­schen Wir­kun­gen von Kapi­tal“ (ebd., S. 58) bil­det. Auf die­ser Grund­la­ge ist sozia­le Her­kunft „als Ver­ket­tung von Merk­ma­len der sozio­öko­no­mi­schen Stel­lung, des kul­tu­rel­len sowie des sozia­len Kapi­tals zu ver­ste­hen“ (Bau­mert & Maaz, 2006, S. 24), die sozia­le Ungleich­hei­ten abbil­den: „Durch die Ver­knüp­fung und Kor­re­la­ti­on der ver­schie­de­nen Kapi­tal­ar­ten erfolgt eine Kumu­la­ti­on von Vor- bzw. Nach­tei­len in den ver­schie­de­nen sozia­len Klas­sen“ (Jung­bau­er-Gans, 2004, S. 377). Ein gewich­ti­ger Vor­teil die­ser Ope­ra­tio­na­li­sie­rung sozia­ler Her­kunft ist der Umstand, dass mit Blick auf Kapi­tal­zu­sam­men­set­zung, ‑wir­kung und den dar­aus resul­tie­ren­den Habi­tus eine Per­spek­ti­ve ein­ge­nom­men wird, die sich nicht auf abs­trak­te Kate­go­rien und Struk­tur­merk­ma­le beschränkt, son­dern eben­so Pro­zess­merk­ma­le beleuch­tet und kon­kre­te Eigen­hei­ten wie die Zusam­men­set­zung des Freun­des­krei­ses, Frei­zeit­be­schäf­ti­gun­gen oder Erzie­hungs­sti­le beinhal­tet (vgl. Krais, 2004; Water­mann & Bau­mert, 2006; Bra­ke & Büch­ner, 2009).

Das kul­tu­rel­le Kapi­tal kann als Bil­dung und Hand­lungs­wis­sen in jed­we­der Form, über das eine Per­son ver­fügt, beschrie­ben wer­den und lässt sich in die drei Unter­for­men des inkor­po­rier­ten, objek­ti­vier­ten und insti­tu­tio­na­li­sier­ten Kul­tur­ka­pi­tals differenzieren.

Das inkor­po­rier­te Kul­tur­ka­pi­tal bezeich­net die ver­in­ner­lich­te Form des Kul­tur­ka­pi­tals, es „wird in per­sön­li­cher Bil­dungs­ar­beit erwor­ben und kann am ehes­ten als kogni­ti­ve Kom­pe­tenz und ästhe­ti­scher Geschmack beschrie­ben wer­den“ (Jung­bau­er-Gans, 2004, S. 377). Die Vor­aus­set­zung für jeg­li­che Inkor­po­rie­rung ist eine per­sön­li­che Inves­ti­ti­on von Zeit, die auf­zu­brin­gen sowohl der jewei­li­ge Akteur als auch des­sen Fami­lie (öko­no­misch) in der Lage sein müs­sen, denn die Akku­mu­la­ti­on des kul­tu­rel­len Kapi­tals und damit des­sen indi­vi­du­el­le Effek­ti­vi­tät „hängt viel­mehr auch davon ab, wie­viel nutz­ba­re Zeit (…) in der Fami­lie zur Ver­fü­gung steht, um die Wei­ter­ga­be des Kul­tur­ka­pi­tals zu ermög­li­chen und einen ver­zö­ger­ten Ein­tritt in den Arbeits­markt zu gestat­ten“ (Bour­dieu, 1992b, S. 72), wes­we­gen sich hier Vor­tei­le für öko­no­misch gut­si­tu­ier­te Fami­li­en erge­ben. Als sinn­volls­tes Maß für inkor­po­rier­tes Kul­tur­ka­pi­tal bezeich­net Bour­dieu die gesam­te Dau­er des Bil­dungs­er­werbs, also die­je­ni­ge Zeit, in wel­cher auf dem Wege sozia­ler Ver­er­bung Kul­tur­ka­pi­tal wei­ter­ge­ge­ben wird, wobei hier sehr dar­auf zu ach­ten ist, die­se nicht fälsch­li­cher­wei­se auf die Schul­zeit zu redu­zie­ren, da ansons­ten erneut – wie bei der rein öko­no­mi­schen Betrach­tungs­wei­se – die Trans­mis­si­on des kul­tu­rel­len Kapi­tals in der Fami­lie kom­plett unbe­rück­sich­tigt blie­be (vgl. ebd., S. 56). Da sich die her­kunfts­spe­zi­fi­schen und schul­spe­zi­fi­schen Bil­dungs­in­hal­te aller­dings durch­aus wider­spre­chen kön­nen, ist somit die Zeit der Pri­mär­er­zie­hung, die für die Ver­mitt­lung kul­tu­rel­ler Prak­ti­ken auf­ge­wen­det wur­de, „je nach dem Abstand zu den Erfor­der­nis­sen des schu­li­schen Mark­tes ent­we­der als posi­ti­ver Wert [in Rech­nung zu stel­len], als gewon­ne­ne Zeit und Vor­sprung, oder als nega­ti­ver Fak­tor, als dop­pelt ver­lo­re­ne Zeit, weil zur Kor­rek­tur der nega­ti­ven Fol­gen noch­mals Zeit ein­ge­setzt wer­den muß“ (ebd., S. 56) – für den Schul­erfolg irr­re­le­van­te Pra­xen wer­den somit aus Per­spek­ti­ve der legi­ti­men Kul­tur als Fehl­in­ves­ti­tio­nen betrachtet.

Das ein­mal inkor­po­rier­te Kul­tur­ka­pi­tal wird unwei­ger­lich zum fes­ten Bestand­teil der Per­son und formt ihren Habi­tus, bleibt dabei aber stets von den Umstän­den der ers­ten Aneig­nung geprägt (vgl. ebd., S. 56f), wor­an ersicht­lich wird, wel­chen nach­hal­ti­gen Ein­fluss die her­kunfts­spe­zi­fi­sche Kapi­tal­zu­sam­men­set­zung und die Ver­er­bung die­ses Kapi­tals auf den indi­vi­du­el­len Habi­tus und schließ­lich die schu­li­schen Erfol­ge aufweist.

Dem­ge­gen­über stellt objek­ti­vier­tes Kul­tur­ka­pi­tal, so wie ein Buch, ein Bild, ein Com­pu­ter oder ein Instru­ment, eine auto­no­me, mate­ri­ell über­trag­ba­re Form von Kul­tur­ka­pi­tal dar (vgl. ebd., S. 59). Es kann belie­big unmit­tel­bar wei­ter­ge­ben, ver­schenkt, ver­erbt und gekauft wer­den, wofür ledig­lich eine öko­no­mi­sche Inves­ti­ti­on nötig ist. Durch die­sen Umstand ist das objek­ti­vier­te Kul­tur­ka­pi­tal sehr eng an das öko­no­mi­sche Kapi­tal gebun­den. Die Aneig­nung des objek­ti­vier­ten Kul­tur­ka­pi­tals, die es erst als Kapi­tal wirk­sam wer­den lässt, setzt aller­dings anknüp­fungs­fä­hi­ges inkor­po­rier­tes kul­tu­rel­les Kapi­tal vor­aus – ein Buch bleibt eine blo­ße Blät­ter­samm­lung, solan­ge nicht inkor­po­rier­tes Kul­tur­ka­pi­tal in Form der Lese­fä­hig­keit vorliegt.

Eine gewis­se Objek­ti­vie­rung wie­der­um erfährt das inkor­po­rier­te Kul­tur­ka­pi­tal durch die Form des insti­tu­tio­na­li­sier­ten kul­tu­rel­len Kapi­tals, das in Gestalt von zu ver­ge­be­nen schu­li­schen bzw. aka­de­mi­schen Titeln exis­tiert. Die insti­tu­tio­na­li­sier­te Form des Kul­tur­ka­pi­tals stellt damit eine offi­zi­el­le Aner­ken­nung und Legi­ti­mie­rung des inkor­po­rier­ten Kul­tur­ka­pi­tals dar und ist „ein Zeug­nis für kul­tu­rel­le Kom­pe­tenz, das sei­nem Inha­ber einen dau­er­haf­ten und recht­lich garan­tier­ten kon­ven­tio­nel­len Wert über­trägt“ (ebd., S. 61). Ein der­ar­ti­ges Zeug­nis legi­ti­miert damit nicht nur die fami­liä­re Ver­er­bung kul­tu­rel­len Kapi­tals und die dadurch erzeug­ten sozia­len Ungleich­hei­ten, son­dern beschei­nigt dem Absol­ven­ten einer aner­kann­ten Bil­dungs­ein­rich­tung zudem dau­er­haft, was der Auto­di­dakt stän­dig bewei­sen muss, wobei die ein­zi­ge Dif­fe­renz zwi­schen bei­den Akteu­ren ihre Ent­spre­chung mit und ihre Unter­wer­fung unter die als legi­tim erach­te­ten Bil­dungs­in­sti­tu­tio­nen ist, womit durch insti­tu­tio­nel­le Sank­tio­nen blei­ben­de und für die wei­te­ren Lebens­we­ge höchst rele­van­te Gren­zen pro­du­ziert wer­den, da sie eine wesens­mä­ßi­ge Unter­schei­dung zwi­schen offi­zi­ell aner­kann­tem und durch den Bil­dungs­ti­tel nach­ge­wie­se­nem bzw. garan­tier­tem Kul­tur­ka­pi­tal auf der einen sowie nicht offi­zi­ell aner­kann­tem Kul­tur­ka­pi­tal auf der ande­ren Sei­te voll­zie­hen (vgl. ebd., S. 62; Sol­ga, 2005). An die­ser Stel­le sei erneut auf die damit ein­her­ge­hen­de Abwer­tung all­tags­re­le­van­ter Pra­xen ver­wie­sen, wenn die­se nicht den schu­li­schen (und damit herr­schen­den) Vor­stel­lun­gen legi­ti­mer Kul­tur entsprechen.

Sozia­les Kapi­tal wie­der­um defi­niert Bour­dieu als „die Gesamt­heit der aktu­el­len und poten­ti­el­len Res­sour­cen, die mit dem Besitz eines dau­er­haf­ten Net­zes von mehr oder weni­ger insti­tu­tio­na­li­sier­ten Bezie­hun­gen gegen­sei­ti­gen Ken­nens oder Aner­ken­nens ver­bun­den sind“ (Bour­dieu, 1992b, S. 63). Die­se Res­sour­cen, die über das Netz poten­ti­ell erschlos­sen wer­den kön­nen, umfas­sen sowohl öko­no­mi­sches (bei­spiels­wei­se in Form von Kre­di­ten oder ander­wei­ti­ger finan­zi­el­ler Unter­stüt­zung), kul­tu­rel­les (bei­spiels­wei­se als Zugang zu objek­ti­vier­tem Kul­tur­ka­pi­tal) als auch wei­te­res sozia­les Kapi­tal (‚ein Freund eines Freun­des‘), das „nicht in der direk­ten Ver­fü­gung des Indi­vi­du­ums“, son­dern „an die Exis­tenz ande­rer Per­so­nen gebun­den“ (Holl­stein, 2007, S. 53) ist. Das Netz dient hier­bei als Mul­ti­pli­ka­tor, sodass letzt­lich das für einen Akteur tat­säch­lich ver­füg­ba­re Kapi­tal nicht bloß das direkt zugäng­li­che, son­dern zudem das über das Netz­werk akti­vier­ba­re Kapi­tal ein­schließt (Bour­dieu, 1992b, S. 64). Mit der Grö­ße des jewei­li­gen sozia­len Net­zes und der sozia­len Posi­ti­on der Gegen­über kor­re­liert somit der Umfang des eige­nen Gesamt­ka­pi­tals, wobei qua­li­ta­ti­ve Stär­ke durch­aus Vor­rang vor quan­ti­ta­ti­vem Aus­maß des Net­zes ein­nimmt (vgl. Mewes, 2010).

Die unter­schied­li­chen Kapi­tal­ar­ten sind, wie bereits ange­schnit­ten, unter­ein­an­der kon­ver­tier­bar und stets mit­ein­an­der ver­wo­ben, sodass kei­ne Kapi­tal­art als von den ande­ren Kapi­tal­ar­ten unab­hän­gi­ge ver­stan­den wer­den kann. Kul­tu­rel­le, sozia­le wie öko­no­mi­sche Res­sour­cen der Eltern bei­spiels­wei­se (oder auch der Peers) sind nur nütz­lich, wenn sie ent­spre­chend genutzt wer­den (kön­nen) und sozia­les Kapi­tal in Form von Bezie­hun­gen besteht, die eine sol­che Nut­zung erlau­ben und för­dern (vgl. All­men­din­ger, Ebner, & Niko­lai, 2007, S. 489). Inner­halb der Fami­lie wir­ken sich die Fami­li­en­struk­tur, die phy­si­sche Prä­senz und die För­der­kul­tur auf die schu­li­schen Leis­tun­gen eines Kin­des aus – besteht kein (regel­mä­ßi­ger) Kon­takt zu den Eltern oder fehlt eine sol­che För­der­kul­tur, kann das Kind kaum vom kul­tu­rel­len Kapi­tal der Eltern pro­fi­tie­ren (vgl. ebd.). Außer­halb der Fami­lie ist es die Peer­group und das unmit­tel­ba­re Milieu, das sich auf die Leis­tun­gen aus­wirkt. In- und außer­halb der Fami­lie las­sen sich das kul­tu­rel­le Kapi­tal und die kul­tu­rel­le Pra­xis nicht von den Sozi­al­be­zie­hun­gen und damit dem sozia­len Kapi­tal tren­nen. Bei nied­ri­gem for­ma­lem Bil­dungs­ni­veau kon­zen­trie­ren sich die sozia­len Bezie­hun­gen zudem vor­wie­gend auf Ver­wandt­schaft und Nach­bar­schaft (vgl. Die­wald & Lüdi­cke, 2007; Mewes, 2010), ein Zugriff auf kul­tu­rel­les Kapi­tal über gro­ße sozia­le Netz­wer­ke, wie sie für Milieus mit hoher for­ma­ler Bil­dung cha­rak­te­ris­tisch sind, wird damit erschwert bis unmöglich.

Anhand der Akku­mu­la­ti­on kul­tu­rel­len Kapi­tals in inkor­po­rier­ter Form wur­de bereits im Ansatz deut­lich, wie essen­ti­ell die Ver­füg­bar­keit öko­no­mi­schen Kapi­tals sich auf die zur Inkor­po­rie­rung ver­füg­ba­re Zeit aus­wirkt, da „ein Indi­vi­du­um die Zeit für die Akku­mu­la­ti­on kul­tu­rel­len Kapi­tals nur so lan­ge aus­deh­nen kann, wie ihm sei­ne Fami­lie freie, von öko­no­mi­schen Zwän­gen befrei­te Zeit garan­tie­ren kann“ (Bour­dieu, 1992b, S. 59), und auch Zeit, sich mit dem Kind zu beschäf­ti­gen, bedarf öko­no­mi­scher Sicher­heit, sich die­se Zeit ‚leis­ten‘ zu kön­nen. Das öko­no­mi­sche Kapi­tal erzeugt neben den unmit­tel­ba­ren öko­no­mi­schen Vor­tei­len ein Gefühl mate­ri­el­ler Sicher­heit und erlaubt den Zugriff auf und die Akku­mu­la­ti­on kul­tu­rel­len Kapi­tals, ist folg­lich sowohl direkt als auch indi­rekt für die Habi­tus­bil­dung ver­ant­wort­lich. Es liegt daher sowohl allen ande­ren Kapi­tal­ar­ten zugrun­de, muss aber gleich­zei­tig Trans­for­ma­tio­nen erfah­ren, wo die direk­te Ver­er­bung öko­no­mi­schen Kapi­tals als ille­gi­tim erschei­nen könn­te, um die­se Ver­er­bung zu ver­schlei­ern und zu legi­ti­mie­ren (vgl. ebd., S. 70ff) – eben als Ver­er­bung kul­tu­rel­len Kapi­tals. Wäh­rend die Ver­füg­bar­keit über öko­no­mi­sches Kapi­tal ver­gleich­bar offen­sicht­lich und quan­ti­fi­zier­bar ist, die Effek­te des kul­tu­rel­len Kapi­tals und des­sen Ver­er­bung aber ver­bor­ge­ner von­stat­ten­ge­hen und es häu­fig als Kapi­tal ver­kannt wird – so wird nicht sel­ten das inkor­po­rier­te kul­tu­rel­le Kapi­tal natu­ra­li­siert und als Intel­li­genz, Bega­bung, Talent dekla­riert – , muss fest­ge­hal­ten wer­den, „daß die Über­tra­gung von Kul­tur­ka­pi­tal zwei­fel­los die am bes­ten ver­schlei­er­te Form erb­li­cher Über­tra­gung von Kapi­tal ist“ (ebd., S. 58), denn „[d]er Umstand, daß kul­tu­rel­le Erschei­nun­gen immer auch als sinn­lich faß­ba­re Äuße­run­gen von Per­so­nen in Erschei­nung tre­ten, erweckt den Ein­druck, als sei Kul­tur die natür­lichs­te und die per­sön­lichs­te und damit also auch die legi­tims­te Form des Eigen­tums“ (Bour­dieu, 1992a, S. 27). Infol­ge­des­sen müs­sen auf­grund der Ungleich­ver­tei­lung des kul­tu­rel­len Kapi­tals und der gene­rel­len Hier­ar­chi­sie­rung von Kul­tur die „spe­zi­fi­schen Stra­te­gien, mit denen die ver­schie­de­nen sozia­len Klas­sen und deren Teil­frak­tio­nen ihre sozia­le Stel­lung erhal­ten oder zu ver­bes­sern stre­ben“ (Ves­ter, 2004, S. 27), genau­so wie die schu­li­sche Defi­ni­ti­on legi­ti­mer Kul­tur und die Abwer­tung davon abwei­chen­der sozia­ler Pra­xen als sozia­le Kämp­fe ver­stan­den werden.

In der sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Bil­dungs­for­schung fris­ten auf Bour­dieu und des­sen Kapi­tal- sowie Habi­tus­kon­zept auf­bau­en­de Ansät­ze bis­lang jedoch ein Schat­ten­da­sein (vgl. Kalt­hoff, 2004) oder wer­den bis­wei­len in einer Form umge­setzt, die kul­tu­rel­les Kapi­tal defi­ni­to­risch auf Hoch­kul­tur ver­kürzt (vgl. de Graaf & de Graaf, 2006; dazu kri­tisch Jung­bau­er-Gans, 2006). Zwar fin­det das Kon­zept des kul­tu­rel­len und sozia­len Kapi­tals in den die öffent­li­chen Debat­ten über Bil­dungs­chan­cen immer wie­der her­vor­ru­fen­den PISA-Stu­di­en durch­aus Anwen­dung, aller­dings wur­de in die­sen Ansät­zen die kul­tu­rel­le Pra­xis ledig­lich im Kon­text von PISA 2000 über Fra­gen nach Besitz von Kul­tur­gü­tern, zum kul­tu­rel­len Leben in der Fami­lie und zur Teil­ha­be der Schü­ler an For­men der Kul­tur bzw. der kom­mu­ni­ka­ti­ven Pra­xis ermit­telt (vgl. Bau­mert & Maaz, 2006; Bau­mert, 2001; Water­mann & Bau­mert, 2006). In der Fol­ge­stu­die aus dem Jahr 2003 wur­den zunächst sämt­li­che Fra­gen zur Ver­hal­tens­di­men­si­on des kul­tu­rel­len Kapi­tals gestri­chen, sodass als Indi­ka­tor für kul­tu­rel­les Kapi­tal ein­zig der Besitz von Kul­tur­gü­tern erfasst wird, der eher Rück­schlüs­se auf den finan­zi­el­len als auf den kul­tu­rel­len Hin­ter­grund der Fami­li­en erlaubt (vgl. Jung­bau­er-Gans, 2004), bis schließ­lich PISA 2006 jeg­li­chen Bezug auf Bour­dieu ver­mis­sen ließ (vgl. Kra­mer & Hel­sper, 2010). Selbst zu Beginn der PISA-Stu­di­en wur­den die theo­re­ti­schen Annah­men Bour­dieus nur begrenzt metho­disch umge­setzt, „ohne aller­dings – und das mar­kiert die ent­schei­den­de Dif­fe­renz zu kri­ti­scher Bil­dungs­for­schung – des­sen radi­ka­le, also auf den Grund gehen­de, Ein­schät­zun­gen, die in der Klas­sen­struk­tu­riert­heit der bür­ger­lich-kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schafts­for­ma­ti­on grün­den, zu tei­len bzw. auf­zu­neh­men“ (Sün­ker, 2008, S. 224). Im Gegen­teil fin­det sich dort viel­mehr „eine Abwehr, die teil­wei­se mit einer unvoll­stän­di­gen und ein­sei­ti­gen Rezep­ti­on Bour­dieus ein­her­geht“ (Ves­ter, 2006, S. 23). Mit die­ser Abkehr von der Erfas­sung der Pro­zess­merk­ma­le kul­tu­rel­ler Pra­xis beschrän­ken sich die PISA-Stu­di­en auf rein objek­ti­vis­ti­sche Merk­ma­le zur Defi­ni­ti­on der sozia­len Her­kunft, wes­halb der Bei­trag zur Erklä­rung sozia­ler Chan­cen- und Bil­dungs­un­gleich­hei­ten unbe­frie­di­gend blei­ben muss: „Auf die­se Wei­se kön­nen zwar sta­tis­ti­sche Kor­re­la­tio­nen zwi­schen spe­zi­fi­schen Indi­ka­to­ren wie zum Bei­spiel zwi­schen der sozia­len Her­kunft und der indi­vi­du­el­len schu­li­schen Leis­tungs­fä­hig­keit her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den; ver­stan­den sind die sozia­len Pro­zes­se und Mecha­nis­men, die zu die­sen Kor­re­la­tio­nen füh­ren, damit aber noch nicht“ (Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Edel­stein, 2006, S. 15).


Lite­ra­tur:

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  9. Grund­mann, M., Bitt­ling­may­er, U. H., Dra­ven­au, D., & Edel­stein, W. (2006). Bil­dungs­struk­tu­ren und sozi­al­struk­tu­rel­le Sozia­li­sa­ti­on. In M. Grund­mann, U. H. Bitt­ling­may­er, D. Dra­ven­au, & W. Edel­stein, Hand­lungs­be­fä­hi­gung und Milieu. Zur Ana­ly­se milieu­spe­zi­fi­scher All­tags­prak­ti­ken und ihrer Ungleich­heits­re­le­vanz (S. 13–35). Ber­lin: LIT Verlag.
  10. Holl­stein, B. (2007). Sozi­al­ka­pi­tal und Sta­tus­pas­sa­gen – Die Rol­le von insti­tu­tio­nel­len Gate­kee­pern bei der Akti­vie­rung von Netz­werk­res­sour­cen. In J. Lüdi­cke, & M. Die­wald (Hrsg.), Sozia­le Netz­wer­ke und sozia­le Ungleich­heit (S. 53–83). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  11. Jung­bau­er-Gans, M. (2004). Ein­fluss des sozia­len und kul­tu­rel­len Kapi­tals auf die Lese­kom­pe­tenz. Zeit­schrift für Sozio­lo­gie, 33. Jahrg. (Heft 5), S. 375–397.
  12. Jung­bau­er-Gans, M. (2006). Kul­tu­rel­les Kapi­tal und Mathe­ma­tik­leis­tun­gen – eine Ana­ly­se der PISA 2003-Daten für Deutsch­land. In W. Georg (Hrsg.), Sozia­le Ungleich­heit im Bil­dungs­sys­tem (S. 175–198). Kon­stanz: UVK.
  13. Kalt­hoff, H. (2004). Schu­le als Per­for­manz. In S. Eng­ler, & B. Krais (Hrsg.), Das kul­tu­rel­le Kapi­tal und die Macht der Klas­sen­struk­tu­ren (S. 115–140). Wein­heim und Mün­chen: Juventa.
  14. Krais, B. (2004). Zur Ein­füh­rung in den The­men­schwer­punkt ‚Die Repro­duk­ti­on sozia­ler Ungleich­heit und die Rol­le der Schu­le‘. Zeit­schrift für Sozio­lo­gie der Erzie­hung und Sozia­li­sa­ti­on, 24. Jahrg. (Heft 2), S. 115–123.
  15. Kra­mer, R.-T., & Hel­sper, W. (2010). Kul­tu­rel­le Pas­sung und Bil­dungs­un­gleich­heit – Poten­tia­le einer an Bour­dieu ori­en­tier­ten Ana­ly­se der Bil­dungs­un­gleich­heit. In H.-H. Krü­ger, U. Rabe-Kle­berg, R.-T. Kra­mer, & J. Bud­de (Hrsg.), Bil­dungs­un­gleich­heit revi­si­ted (S. 103–125). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  16. Mewes, J. (2010). Unglei­che Netz­wer­ke – Ver­netz­te Ungleich­heit. Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  17. Sol­ga, H. (2005). Meri­to­kra­tie – die moder­ne Legi­ti­ma­ti­on unglei­cher Bil­dungs­chan­cen. In P. A. Ber­ger, & H. Kah­lert (Hrsg.), Insti­tu­tio­na­li­sier­te Ungleich­hei­ten. Wie das Bil­dungs­we­sen Chan­cen blo­ckiert (S. 19–38). Wein­heim und Mün­chen: Juventa.
  18. Sün­ker, H. (2008). Bil­dungs­po­li­tik, Bil­dung und sozia­le Gerech­tig­keit. PISA und die Fol­gen. In H.-U. Otto, & T. Rau­schen­bach (Hrsg.), Die ande­re Sei­te der Bil­dung. Zum Ver­hält­nis von for­mel­len und infor­mel­len Bil­dungs­pro­zes­sen (2. Auf­la­ge) (S. 223–236). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  19. Ves­ter, M. (2004). Die Illu­si­on der Bil­dungs­expan­si­on. In S. Eng­ler, & B. Krais (Hrsg.), Das kul­tu­rel­le Kapi­tal und die Macht der Klas­sen­struk­tu­ren (S. 13–53). Wein­heim und Mün­chen: Juventa.
  20. Ves­ter, M. (2006). Die stän­di­sche Kana­li­sie­rung der Bil­dungs­chan­cen. In W. Georg (Hrsg.), Sozia­le Ungleich­heit im Bil­dungs­sys­tem (S. 13–54). Kon­stanz: UVK.
  21. Water­mann, R., & Bau­mert, J. (2006). Ent­wick­lung eines Struk­tur­mo­dells zum Zusam­men­hang zwi­schen sozia­ler Her­kunft und fach­li­chen und über­fach­li­chen Kom­pe­ten­zen: Befun­de natio­nal und inter­na­tio­nal ver­glei­chen­der Ana­ly­sen. In J. Bau­mert, P. Sta­nat, & R. Water­mann (Hrsg.), Her­kunfts­be­ding­te Dis­pa­ri­tä­ten im Bil­dungs­we­sen (S. 61–94). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.


Natür­lich kann ich hier arbei­ten. Da arbei­ten ja auch ande­re. Das sehe ich mit eig­nen Augen. Was ein and­rer kann, das kann ich auch. Der Nach­ah­mungs­trieb des Men­schen macht Hel­den und macht Skla­ven. Wenn der nicht an den Peit­schen­hie­ben stirbt, dann wer­de ich sie wohl auch über­le­ben kön­nen. […] Natür­lich kann ich das auch. So geht der Krieg vor­an, und so fah­ren die Toten­schif­fe, alles nach dem sel­ben Rezept. Die Men­schen haben nur eine Scha­blo­ne, nach der sie alles machen; das geht so glatt, daß sie ihr Hirn gar nicht anzu­stren­gen brau­chen, um ein and­res Rezept aus­zu­den­ken. Man geht nichts lie­ber als aus­ge­tre­te­ne Pfa­de. Da fühlt man sich so schön sicher. Der Nach­ah­mungs­trieb ist schuld dar­an, daß die Mensch­heit inner­halb der letz­ten sechs­tau­send Jah­re kei­ne wah­ren Fort­schrit­te gemacht hat, son­dern trotz Radio und Flie­ge­rei in der sel­ben Bar­ba­rei lebt wie am Anfang der euro­päi­schen Peri­ode. So hat es der Vater gemacht, und so hat es der Sohn nach­zu­ma­chen. Schluß. Was für mich, den Vater, gut genug war, wird für dich, du Rotz­na­se, wohl erst recht gut genug sein. […] Allein das, was anders gemacht wur­de als bis­her, allein das, was unter Pro­test der Väter, Päps­te, Hei­li­gen und Ver­ant­wort­li­chen anders gedacht wur­de, hat der Mensch­heit neue Aus­bli­cke ver­schafft und ihr den Glau­ben gege­ben, daß eines fer­nen Tages viel­leicht doch ein Fort­schrei­ten wird beob­ach­tet wer­den kön­nen. Die­ser fer­ne Tag wird in Sicht sein, sobald die Men­schen nicht mehr an Insti­tu­tio­nen glau­ben, nicht an Auto­ri­tä­ten und nicht an eine Reli­gi­on, wel­chen Namen man ihr auch immer geben mag.
B. Tra­ven – Das Totenschiff

Vor etwas mehr als einem hal­ben Jahr habe ich im Bei­trag »Die kom­men­den Tage« die sozia­len Fol­gen der anhal­ten­den Kri­se sowie die auf­kei­men­den Pro­tes­te der Occu­py- als auch ande­rer Bewe­gun­gen skiz­ziert und ver­sucht, deren wei­te­re Ent­wick­lung zu pro­gnos­ti­zie­ren. Genannt wur­den als Kri­sen­phä­no­me­ne der weit­ge­hen­den Abbau des Sozi­al­staats, erstar­ken­der Natio­na­lis­mus, zuneh­men­de Ver­ar­mung, Pre­ka­ri­sie­rung und Ent­so­li­da­ri­sie­rung, Per­so­na­li­sie­rung der Kri­tik, schlei­chen­de Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung sowie die Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Pro­test­be­kämp­fung. Lei­der haben sich sämt­li­che dar­ge­stell­ten Aspek­te in der Zwi­schen­zeit tat­säch­lich wei­ter ver­schärft, eini­ge sogar schnel­ler und gewal­ti­ger, als ich ursprüng­lich gedacht hatte.

Im Fol­gen­den daher eine frag­men­ta­ri­sche Bestands­auf­nah­me, die sich auf den aktu­el­len Zustand Euro­pas kon­zen­triert, ver­bun­den mit zahl­rei­chen exem­pla­ri­schen Links zu Arti­keln und Infor­ma­tio­nen. Sie sol­len als Über­blick und Anhalts­punk­te für wei­ter­ge­hen­de Recher­chen die­nen, damit sich jeder Leser anhand der Berich­te selbst ein Bild machen kann und nicht auf mei­ne Inter­pre­ta­ti­on ange­wie­sen ist.


Abbau des Sozialstaats

Die Spar­maß­nah­men in Grie­chen­land, Ita­li­en, Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, Irland, Spa­ni­en, Por­tu­gal und ande­ren euro­päi­schen Län­dern bedeu­ten nicht zuletzt einen Abbau des Sozi­al­staats. Sie umfas­sen quer durch Euro­pa u.a. Maß­nah­men wie Ren­ten­kür­zun­gen sowie die Anhe­bung des Ren­ten­al­ters, die Locke­rung des Kün­di­gungs­schut­zes, Lohn­kür­zun­gen im öffent­li­chen Dienst, Ein­füh­rung neu­er Gebüh­ren oder Gebüh­ren­er­hö­hun­gen, die Kür­zung von Arbeits­lo­sen­un­ter­stüt­zung, Sozi­al­geld und ähn­li­chen Sozi­al­leis­tun­gen. Die größ­ten Ein­schnit­te fin­den dabei in der Regel in den Berei­chen Gesund­heit und Bil­dung statt, wodurch nicht nur die gegen­wär­ti­ge Ver­sor­gung und Aus­bil­dung der Bevöl­ke­rung beschnit­ten wird, son­dern auch deren indi­vi­du­el­le sowie die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Zukunfts­per­spek­ti­ve. Ent­spre­chend wer­den immer grö­ße­re Tei­le der Bevöl­ke­rung in Armut und Ver­zweif­lung gedrängt, die mit­un­ter zum Sui­zid führt (so ist bei­spiels­wei­se die Sui­zid­ra­te in Grie­chen­land in den letz­ten zwei Jah­ren um mehr als 40 Pro­zent angestiegen).


Rezession

Vor allem die euro­päi­sche Süd­pe­ri­phe­rie, aber auch ande­re euro­päi­sche Staa­ten lei­den unter Rezes­si­on unter­schied­li­chen Aus­ma­ßes, wenn­gleich eini­ge Staa­ten bis­lang davon ver­schont geblie­ben sind. Die strik­ten Maß­nah­men der Austeri­täts­po­li­tik wie­der­um zemen­tie­ren die Abwärts­spi­ra­le der ent­spre­chen­den Län­der in immer tie­fe­re Rezes­si­on, da Lohn­kür­zun­gen, Gebüh­ren- und Steu­er­erhö­hun­gen wie z.B. bei der Mehr­wert­steu­er oder die Ein­füh­rung neu­er Son­der­steu­ern zulas­ten der Unter- und Mit­tel­schicht sich nega­tiv auf den pri­va­ten Kon­sum und damit letzt­lich die Pro­duk­ti­on und das Steu­er­auf­kom­men aus­wir­ken. Auch hier­zu­lan­de wird die Kri­se spür­ba­rer, sodass mit­tel­fris­tig Mel­dun­gen wie die­se kein Ein­zel­fall blei­ben wer­den, zumal wirt­schaft­li­che Abküh­lung auf glo­ba­ler Ebe­ne – mit beson­de­rem Blick auf Chi­na – zu beob­ach­ten ist. Hin­zu kom­men auf­grund immer auf­wen­di­ge­rer För­der­me­tho­den ste­tig stei­gen­de Ener­gie­kos­ten.


Natio­na­lis­mus & zuneh­men­de Entsolidarisierung

Zusätz­lich zur unver­hoh­le­nen und zum Teil auch von poli­ti­scher Sei­te befeu­er­ten Het­ze gegen die ver­meint­li­chen Kri­sen­ver­ur­sa­cher im euro­päi­schen Süden, für deren angeb­li­che Faul­heit und Inkom­pe­tenz man nicht län­ger Zahl­meis­ter sein wol­le, wer­den – allen vor­an durch Deutsch­land – natio­na­le Wirt­schafts­in­ter­es­sen auf Kos­ten von Dritt­staa­ten vor­an­ge­trie­ben. Das Pro­jekt Euro­pa, das die Bevöl­ke­run­gen der euro­päi­schen Staa­ten ein­an­der näher­brin­gen soll­te, ver­kommt zum Gegen­teil. Im Zuge der Kri­se ist nicht nur eine all­ge­mei­ne Spal­tung Euro­pas zu beob­ach­ten, es ist zudem auch ein deut­li­cher Gra­ben zwi­schen den strau­cheln­den euro­päi­schen Staa­ten und Deutsch­land ent­stan­den, letz­te­res sei­ner­seits hege­mo­nia­les Zen­trum der Kri­sen­po­li­tik und gro­ßer Pro­fi­teur des Euros sowie des wirt­schaft­li­chen Ungleich­ge­wichts in Europa.

Selbst noch in der momen­ta­nen Situa­ti­on pro­fi­tiert Deutsch­land zumin­dest kurz­fris­tig aus den Kri­sen­phä­no­me­nen, u.a. durch nied­ri­ge bis nega­ti­ve Zin­sen für Anlei­hen oder etwa den schwa­chen Euro, der deut­sche Expor­te in Län­der außer­halb der Euro­zo­ne ver­bil­ligt. Die­se kurz­fris­ti­gen Vor­tei­le für die deut­sche Wirt­schaft, erkauft auf dem Rücken Euro­pas, soll­ten bei deut­schen Vor­schlä­gen zur Kri­sen­be­kämp­fung stets im Hin­ter­kopf behal­ten wer­den, offen­ba­ren sie doch einen gewich­ti­gen Inter­es­sen­kon­flikt. Erfolgs­mel­dun­gen wie etwa stei­gen­der deut­scher Export sind daher mit Vor­sicht zu genie­ßen, denn mit­tel- bis lang­fris­tig wird der Kelch auch an Deutsch­land nicht vor­über­ge­hen (vgl. Abschnitt Rezes­si­on), gera­de ange­sichts der Export­las­tig­keit der deut­schen Wirtschaft.

Gene­rell wird wei­ter­hin mit­tels natio­na­lis­ti­scher Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en ver­sucht, die von den Kri­sen­ent­wick­lun­gen am stärks­ten Betrof­fe­nen der jewei­li­gen Staa­ten gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len. Natio­na­lis­mus und Ent­so­li­da­ri­sie­rung zei­gen sich exem­pla­risch auch am deut­schen Umgang mit Grie­chen­land, des­sen Bevöl­ke­rung kurz vor den Wah­len mehr oder weni­ger offen ange­droht wur­de, es müs­se unab­hän­gig des Wahl­aus­gangs die an die finan­zi­el­len Hilfs­pa­ke­te geknüpf­ten Bedin­gun­gen erfül­len oder ansons­ten die Kon­se­quen­zen tra­gen. Mit Wolf­gang Schäubles Ambi­tio­nen zur Füh­rung der Euro­grup­pe könn­ten sich deut­sche Vor­machts­an­sprü­che zusätz­lich zemen­tie­ren, die zuletzt mit der Wahl in Frank­reich ins Wan­ken gera­ten waren.

Inner­halb der ein­zel­nen Staa­ten sind ande­re For­men der Ent­so­li­da­ri­sie­rung zu beob­ach­ten, näm­lich ver­stärk­te von oben nach unten gerich­te­te Abgren­zungs­be­mü­hun­gen bis hin zur Abwer­tung schwä­che­rer sozia­ler Grup­pen. Für Deutsch­land fasst der Sozio­lo­ge Wil­helm Heit­mey­er, Her­aus­ge­ber der Stu­die »Deut­sche Zustän­de«, exem­pla­risch zusam­men:

Die lau­fen­den Pro­zes­se der Umver­tei­lung und ihre gesell­schaft­li­che Zer­stö­rungs­kraft neh­men ste­tig zu und füh­ren zu einer immer grö­ßer wer­den­den Spal­tung der Gesell­schaft. Die obe­ren Ein­kom­mens­grup­pen neh­men die­se Spal­tung nur begrenzt wahr, sie sind im Gegen­teil der Mei­nung, dass sie zu wenig vom Wachs­tum pro­fi­tie­ren. Sie sind rasch bereit, die Hil­fe und Soli­da­ri­tät für schwa­che Grup­pen auf­zu­kün­di­gen. Sie wer­ten zuneh­mend stär­ker ab. Die Stu­die macht deut­lich, es exis­tiert eine geball­te Wucht rabia­ter Eli­ten und die Trans­mis­si­on sozia­ler Käl­te durch eine rohe Bür­ger­lich­keit, die sich selbst in der Opfer­rol­le sieht und des­halb immer neue Abwer­tun­gen gegen schwa­che Grup­pen in Sze­ne setzt. Und die Stu­die zeigt, wie stark Men­schen auf­grund von eth­ni­schen, kul­tu­rel­len oder reli­giö­sen Merk­ma­len, der sexu­el­len Ori­en­tie­rung, des Geschlechts, einer kör­per­li­chen Ein­schrän­kung oder aus sozia­len Grün­den mit sol­chen Men­ta­li­tä­ten kon­fron­tiert und ihnen macht­los aus­ge­lie­fert sind. Die Opfer­grup­pen sind mitt­ler­wei­le wehr­los und nicht mobi­li­sie­rungs­fä­hig. Ins­ge­samt ist eine öko­no­mi­sche Durch­drin­gung sozia­ler Ver­hält­nis­se empi­risch beleg­bar. Sie geht Hand in Hand mit einem Anstieg von grup­pen­be­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit. Seit 2008 haben sich die kri­sen­haf­ten Ent­wick­lun­gen zeit­lich mas­siv verdichtet.

Die Wahl­er­geb­nis­se der rech­ten Par­tei­en in Grie­chen­land (zusam­men knapp 17 % für die Par­tei­en Chry­si Avgi und Unab­hän­gi­ge Grie­chen) und Frank­reich (knapp 18 % für die Natio­na­lis­ten unter Mari­ne Le Pen) zei­gen deut­lich, wel­che Rich­tung der­ar­ti­ge Abgren­zungs- und Ent­so­li­da­ri­sie­rungs­ten­den­zen ein­schla­gen kön­nen. Doch nicht nur klei­ne, rechts­ra­di­ka­le Par­tei­en, son­dern auch kon­ser­va­ti­ve Volks­par­tei­en betrie­ben kräf­tig Stim­mungs­ma­che gegen sozi­al Schwa­che und Migran­ten, wie die Wahl­kämp­fe in Frank­reich und Grie­chen­land vor Augen geführt haben. Zudem wird die restrik­ti­ve EU-Migra­ti­ons­po­li­tik in Zei­ten der Kri­se noch schär­fer vor­an­ge­trie­ben, wie etwa mas­si­ve Maß­nah­men zur »Bekämp­fung ille­ga­ler Migra­ti­on« in Grie­chen­land belegen.


Zuneh­men­de Ver­ar­mung und Prekarisierung

Arbeits­lo­sen­zah­len wie zum Bei­spiel die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit in Grie­chen­land (~54 %), Spa­ni­en (~50 %) und Ita­li­en (~30 %) oder Sta­tis­ti­ken der Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung (ers­te­re hier als inter­ak­ti­ve Gra­fik für die USA), der Obdach­lo­sig­keit, der Schul­den­be­las­tung sowie der Armut oder des Armuts­ri­si­kos offen­ba­ren alle­samt anwach­sen­de sozia­le Miss­stän­de (vgl. den Abschnitt zum Abbau des Sozi­al­staats). In vie­len Län­dern ist daher auf­grund der tris­ten Aus­sich­ten bereits von der »ver­lo­re­nen Gene­ra­ti­on« die Rede. Ähn­li­ches gilt für die USA, wo die Illu­si­on einer mode­ra­ten Arbeits­lo­sen­quo­te nur durch sta­tis­ti­sche Spie­le­rei­en auf­recht­erhal­ten wer­den kann.


Entdemokratisierung

Nicht nur wur­den in Grie­chen­land und Ita­li­en Über­gangs­re­gie­run­gen gebil­det, die von unge­wähl­ten Tech­no­kra­ten im Sin­ne der rigi­den Spar­po­li­tik ange­führt wer­den, auch die teils pani­schen Reak­tio­nen in Pres­se, Poli­tik und an den Märk­ten auf den Links­ruck der Wah­len in Frank­reich und Grie­chen­land spre­chen eine deut­li­che, anti­de­mo­kra­ti­sche Spra­che. Poli­ti­sche Pro­zes­se wer­den zuneh­mend an anti­zi­pier­ten Markt­re­ak­tio­nen aus­ge­rich­tet, deren Ver­un­si­che­rung so gut es geht ver­mie­den wird; es fin­det eine Ver­schie­bung der Sou­ve­rä­ni­tät statt, deren Ergeb­nis die »markt­kon­for­me« (Ange­la Mer­kel) Demo­kra­tie ist. Mit dem geplan­ten Fis­kal­pakt wird zudem das Haus­halts­recht der Unter­zeich­ner­staa­ten star­ke Ein­schrän­kun­gen erfah­ren, was einer Schwä­chung par­la­men­ta­ri­scher Kon­trol­le ent­spricht, sowie Ent­schei­dungs­ge­walt u.a. zur EU-Kom­mis­si­on ver­la­gert wer­den, die nicht demo­kra­tisch gewählt ist. Eine Befra­gung der Bevöl­ke­rung mit­tels Refe­ren­dum wird, wie schon bei frü­he­ren Ver­trä­gen auf Ebe­ne der EU, als Bedro­hung betrach­tet oder – wie in Grie­chen­land gesche­hen – gar ver­hin­dert. Immer deut­li­cher tritt der unauf­lös­ba­re Wider­spruch zwi­schen Demo­kra­tie und Kapi­ta­lis­mus zuta­ge. Mit­be­stim­mung und fried­li­cher Pro­test (vgl. den fol­gen­den Abschnitt), so scheint es, wer­den mit Ver­schär­fung der Kri­se mehr und mehr zum Stör­fak­tor für auto­ri­tä­res Kri­sen­ma­nage­ment und Märkte.


Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Protestbekämpfung

Die Pro­test­be­we­gung, ob sie sich nun gegen die aktu­el­le Kri­sen­po­li­tik, Ban­ken­spe­ku­la­tio­nen oder das gegen­wär­ti­ge Sys­tem als Gan­zes rich­tet, hat zwar an Auf­merk­sam­keit von Sei­te der Mas­sen­me­di­en ver­lo­ren, ist jedoch wei­ter­hin sehr aktiv und kann sowohl gro­ße Demons­tra­tio­nen als auch klei­ne­re, all­täg­li­che­re For­men des Pro­tests vor­wei­sen, wie Beset­zun­gen öffent­li­cher Plät­ze, krea­ti­ve Spon­tan­kund­ge­bun­gen, diver­se For­men von Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und ‑ver­sor­gung, zivi­len Unge­hor­sam, wider­stän­di­sche All­tags­pra­xen, Guer­ril­la Gar­dening und direk­te Aktio­nen. In von der Kri­se stark betrof­fe­nen Län­dern wie Grie­chen­land oder Ita­li­en sind in die­sem Kon­text ver­mehrt Aus­schrei­tun­gen zu beobachten.

Auf der ande­ren Sei­te wer­den Pro­test­for­men und deren Teil­neh­mer zuneh­mend kri­mi­na­li­siert, Camps und Demons­tra­tio­nen – teils gewalt­sam – auf­ge­löst und non-kon­for­mes Ver­hal­ten bestraft. Ita­li­en erwägt sogar den Ein­satz des Mili­tärs. Gene­rell scheint die Tole­ranz­schwel­le für Pro­test zu sin­ken, was zuneh­mend die Aus­übung ele­men­ta­rer Frei­heits­rech­te beschnei­den wird, um die Illu­si­on des unge­stör­ten Wei­ter-so auf­recht­zu­er­hal­ten und Eigen­tums­ver­hält­nis­se als auch Geschäfts­be­trieb zu verteidigen.

So weit der aktu­el­le Stand, ohne Anspruch auf Voll­stän­dig­keit – tat­säch­lich exis­tie­ren euro­pa­weit und natür­lich glo­bal auf­grund der anhal­ten­den Kri­se etli­che wei­te­re sozia­le, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Pro­blem­la­gen sowie ent­spre­chen­de Proteste.

Es gibt kei­ne kon­kre­ten Hin­wei­se dar­auf, dass sich die­se Zustän­de in abseh­ba­rer Zukunft ver­bes­sern wer­den. Das Gegen­teil ist der Fall: Wird am bestehen­den Kurs fest­ge­hal­ten, wer­den Arbeits­lo­sig­keit und Sozi­al­ab­bau wei­ter zuneh­men, wor­auf der Lebens­stan­dard der meis­ten Men­schen in den betrof­fe­nen Län­dern absin­ken wird, wäh­rend ver­stärkt auto­ri­tä­re Kri­sen- und Pro­test­be­wäl­ti­gungs­stra­te­gien zu beob­ach­ten sein wer­den. Selbst an jenen, die bis­lang das gegen­wär­ti­ge poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Sys­tem ver­tei­digt oder zumin­dest hin­ge­nom­men haben, weil sie von des­sen gewal­ti­gen Schat­ten­sei­ten nicht direkt betrof­fen waren, dürf­ten die gegen­wär­ti­gen Ent­wick­lun­gen nicht mehr lan­ge unbe­merkt vor­über­ge­hen. Die Ein­schlä­ge kom­men näher. Dies ist das Euro­pa, in dem wir leben.

Lang­fris­tig wer­den die­se Ent­wick­lun­gen wohl vor kei­nem der so genann­ten Durch­schnitts­bür­ger Halt machen, da jeder zusätz­li­che Tag der bestehen­den Ver­hält­nis­se die Zustän­de nur ver­schlim­mert, auch wenn sie man­che spä­ter erfas­sen wer­den als ande­re. Die­ser tris­ten Aus­sicht steht die posi­ti­ve Visi­on gegen­über, die eige­ne Apa­thie und Ohn­macht ange­sichts schein­bar über­mäch­ti­ger Struk­tu­ren zu über­win­den, um aus der Kri­se kon­struk­ti­ve Kraft zu schöp­fen und sich durch Pro­test, alter­na­ti­ve Lebens­wei­sen, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on oder ähn­li­che Maß­nah­men aktiv an der Gestal­tung einer gerech­ten, frei­en, demo­kra­ti­schen und soli­da­ri­schen Gesell­schaft zu betei­li­gen, in der wir ger­ne leben möch­ten. Nie­mand soll­te dar­auf ver­trau­en, von der Poli­tik Lösun­gen zu erhal­ten. Die Poli­tik hat kei­ne Lösun­gen und sie stellt die fal­schen Fra­gen. Es liegt an jedem ein­zel­nen von uns, wie es wei­ter­ge­hen wird.

Sons­ti­ge wei­ter­füh­ren­de Links:

  • Keep Tal­king Greece
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  • Grie­chen­land-Blog
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  • Uhu­par­do
    Aktu­el­le Berich­te aus Spa­ni­en und über die Kri­sen­po­li­tik im Allgemeinen

War­um der Arbeit nach­lau­fen? Da steht man vor dem, der die Arbeit zu ver­ge­ben hat, und wird behan­delt wie ein zudring­li­cher Bett­ler. »Ich habe jetzt kei­ne Zeit, kom­men Sie spä­ter wie­der.« Wenn der Arbei­ter aber ein­mal sagt: »Ich habe jetzt kei­ne Zeit oder kei­ne Lust, für Sie zu arbei­ten«, dann ist es Revo­lu­ti­on, Streik, Rüt­te­lung an den Fun­da­men­ten des Gemein­wohls, und die Poli­zei kommt, und gan­ze Regi­men­ter von Miliz rücken an und stel­len Maschi­nen­ge­weh­re auf. Für­wahr, es ist manch­mal weni­ger beschä­mend, um Brot zu bet­teln, als um Arbeit zu fra­gen. Aber kann der Skip­per sei­nen Eimer allein fah­ren, ohne den Arbei­ter? Kann der Inge­nieur sei­ne Loko­mo­ti­ven allein bau­en, ohne den Arbei­ter? Aber der Arbei­ter hat mit dem Hute in der Hand um Arbeit zu bet­teln, muß daste­hen wie ein Hund, der geprü­gelt wer­den soll, muß zu dem blö­den Witz, den der Arbeit­ver­ge­ben­de macht, lachen, obgleich ihm gar nicht zum Lachen zumu­te ist, nur um den Skip­per oder den Inge­nieur oder den Meis­ter oder den Vor­ar­bei­ter oder wer immer das Macht­wort ›Sie wer­den ein­ge­stellt!‹ zu sagen die Befug­nis hat, bei guter Lau­ne zu halten.
Wenn ich so unter­tä­nig um Arbeit bet­teln muß, um sie zu erhal­ten, kann ich auch um übrig­ge­blie­be­nes Mit­tag­essen in einem Gast­hof bet­teln. Der Hotel­koch behan­delt mich nicht so weg­wer­fend, wie mich schon Leu­te behan­delt haben, bei denen ich um Arbeit nachfragte.
B. Tra­ven – Das Totenschiff

Es ist nur Wider­stand, wenn dir Wider­stand ent­ge­gen­schlägt. Das klingt tri­vi­al und doch scheint es vie­le zu über­for­dern. Sie nen­nen sich Wider­ständ­ler und – das ist das Tra­gi­sche dar­an – sie füh­len sich auch so. Am Wochen­en­de und nach Fei­er­abend neh­men sie an Kund­ge­bun­gen teil, ver­zich­ten dafür immer­hin auf Par­ty, Fern­se­her oder Shop­pen­ge­hen, sie schrei­ben kri­ti­sche Arti­kel, man­che noch Leser­brie­fe, sie besu­chen Kon­gres­se und Dis­kus­si­ons­run­den, kurz­um: Sie sagen ihre Mei­nung. Das hal­ten sie für Wider­stand, für radi­kal, man­che gar für einen Umsturz des Sys­tems, und das Sys­tem lacht sich ins Fäust­chen, weil es weiß, wie alles läuft: Eine Mei­nungs­äu­ße­rung ist kein Wider­stand, kei­ne ernst­zu­neh­men­de Pro­vo­ka­ti­on, viel­mehr selbst­ver­ständ­lich oder wenigs­tens banal, und alles ist so herr­lich rela­tiv, dass jede Mei­nung recht hat, jeder Ein­wand wird umarmt und rasch osmo­tisch ein­ge­saugt, kommt nie mehr raus, noch jeder Blöd­sinn wird als Blöd­sinn aner­kannt. Jeder kri­ti­sche Gedan­ke wird ver­ein­nahmt. Die Welt ist schlecht, sagst du, und die­se Welt sagt: Lass uns gemein­sam dar­an arbei­ten, und schon bist du ein Kollaborateur.

Du kannst sagen, der Staat sei zum Kot­zen, ein Mons­ter und ein Men­schen­feind, und wenn du schlech­te Freun­de hast, dann wer­den sie dich dafür aus­la­chen, und wenn du etwas weni­ger schlech­te Freun­de hast, wer­den sie bloß mit ihren Köp­fen nicken, und dem Staat ist es egal. Auf letz­te­res kommt es an. Die Staats­macht hat kein Inter­es­se an dei­ner per­sön­li­chen Pri­vat­mei­nung, solan­ge du noch höf­lich ihren Regeln folgst, denn dar­auf baut sie auf; sie schert sich nicht um dei­ne Sym­pa­thie, so sicher ist ihr ihre Herr­schaft. Das ist der so genann­te Fort­schritt gegen­über einem Unrechts­staat, dem freie Mei­nung noch als Tücke gilt, weil er den Umstand nicht begrif­fen hat, wie man­che Frei­heit hier und da, groß­mü­tig gewährt, dem eige­nen Bestehen hilft. Je län­ger die Lei­ne, des­to frei­er fühlt sich der Hund und hält sein Herr­chen für den Hei­land. Du kannst dir nun natür­lich ein­bil­den, du wür­dest Tag und Nacht ver­folgt, kannst dich zum Hel­den ver­klä­ren und einen Kämp­fer nen­nen, kannst para­no­id wer­den und dein Tele­fon nicht mehr benut­zen, kannst hin­ter jedem nur noch Staats­macht sehen, weil du glaubst, dei­ne Mei­nung wäre irgend­je­man­dem ein Dorn im Auge, doch die Wahr­heit ist: Sie ist egal, so wie es dei­nen Chef nicht im gerings­ten schert, wie sehr du dei­ne Arbeit auch ver­flu­chen magst, solan­ge du bloß jeden Mor­gen pünkt­lich bist.

Mei­nungs­äu­ße­rung allei­ne ist kein Wider­stand. Du kannst auf Demos gehen und dei­ne Mei­nung kund­tun, du kannst ganz schreck­lich radi­kal ins Inter­net schrei­ben oder Flug­zet­tel ver­tei­len und damit Leu­te über­zeu­gen, die schon längst über­zeugt sind, oder ganz ande­ren Leu­ten dei­ne Tex­te in die Hand drü­cken, die noch nicht über­zeugt sind und die sich den­ken: Ach! Die dann nach Hau­se gehen und ihr Leben wei­ter­le­ben wie bis­her, weil es sie einen Scheiß inter­es­siert, wel­che Fak­ten du ihnen ins Gesicht wirfst, denn sie haben schon ihre Mei­nung und die ist stär­ker als jeder Fakt. Es ist ein bil­dungs­bür­ger­li­ches Mär­chen, man kön­ne ande­re mit Fak­ten über­zeu­gen. Spart euch eure Fly­er, sie sind nur Umwelt­ver­schmut­zung. Es geht nicht um Fak­ten und Argu­men­te und Ratio­na­li­tät. Das ging es nie. Gin­ge es um Fak­ten, hät­ten wir eine ande­re Welt, eine schö­ne­re, für alle; Ras­sis­mus wäre kein Pro­blem, es gäbe kei­ne Into­le­ranz, Krie­ge wür­den sel­ten, Armut wäre abge­schafft, dafür über­all Frie­den, Freu­de, Eierkuchen.

Es geht nicht um Fak­ten, es geht ums Gefühl. Das ist der wah­re Klas­sen­ge­gen­satz bei uns: Auf der einen Sei­te die Klas­se derer, die sich gut füh­len, selbst wenn es ihnen schlecht geht, die posi­ti­ven Den­ker, die Ver­drän­ger, die Igno­ran­ten, die Arsch­lö­cher und Nai­ven, und auf der ande­ren Sei­te jene, die an der Welt ver­zwei­feln, die sich schlecht füh­len, selbst wenn es ihnen gut zu gehen hat. Wer sich gut fühlt, der mei­det jene, die sich schlecht füh­len, weil sie ihn anste­cken könn­ten mit ihrer schlech­ten Lau­ne, mit ihrem Welt­schmerz und ihrer nega­ti­ven Aura, die­se Mies­ma­cher, die alles ändern wol­len, die den neu­en Mit­tel­klas­se­wa­gen nicht als hei­ße Schleu­der, son­dern bloß als Umwelt­schan­de sehen, als lächer­li­ches Sta­tus­sym­bol. Das will doch kei­ner hören! Du kannst dich wohl­füh­len, selbst wenn es allen schei­ße geht, und dar­an krankt die Welt. Dann lebst du lie­ber in dei­ner wun­der­ba­ren Schaum­stoff­um­ge­bung, dei­ner Gum­mi­zel­le mit Voll­pen­si­on, anstatt dich dem Leben aus­zu­set­zen, wie es dort drau­ßen wütet, denn wüten tut es, mehr als du dir denkst. Wen inter­es­sie­ren Fak­ten, wenn du ein gutes Leben füh­ren kannst.

Nein, Mei­nungs­äu­ße­rung allei­ne ist kein Wider­stand. Die effek­tivs­te Art des Wider­stands, die alle Herr­schafts­for­men über­dau­ern wird, ist die Ver­wei­ge­rung, wenn du dich dem ver­wehrst, das Besitz von dir ergrei­fen und dein Den­ken und dein Tun bestim­men will. Schick dei­ne Kin­der nicht zur Schu­le, und man wird sie dir schleu­nigst ent­rei­ßen oder dich wenigs­tens für dei­nen Trotz bestra­fen, bis du Ein­sicht zeigst, so nen­nen sie die Kapi­tu­la­ti­on. Geh nicht arbei­ten, und man wird dich einer Zwangs­ar­beit zuwei­sen, die man flüch­tig rosa anmalt und als gut gemein­te Ein­glie­de­rungs­maß­nah­me tarnt, selbst wenn einer gar nicht ein­ge­glie­dert wer­den will, weil das Böse immer schö­ne Namen trägt und mit guten Absich­ten daher­kommt, oder aber man wird dich trie­zen, bis du zer­brichst und resi­gnierst und dir »frei­wil­lig« eine Arbeit suchst, nur um der Ernied­ri­gung zu ent­ge­hen – das gilt hier heu­te schon als Frei­heit. Geh in den Super­markt und nimm dir, was du brauchst, ohne zu bezah­len, und man wird dich dafür ankla­gen. Dei­ne Mei­nung ist kein Wider­stand, solan­ge du brav bist, unter­wür­fig, füg­sam, treu, solan­ge du arbei­ten gehst, wenn man es von dir ver­langt, solan­ge du zahlst, was die Kas­se anzeigt, solan­ge du folgst, wenn man dir befiehlt. Mei­nungs­äu­ße­rung ist ein Ven­til, das man dir zuge­steht, damit du nicht zum Wider­ständ­ler wirst, denn du darfst ja alles sagen, frei und unbe­schwert, und jeder darf es toll fin­den oder dumm oder lächer­lich oder gemein und es hat alles kei­ne Konsequenz.

Du kannst nicht gegen etwas sein und dich dann doch dar­an betei­li­gen, nicht wenn du ehr­lich mit dir sein willst. Ver­wei­gerst du aber, bist du ein Fall für Mora­lis­ten und Pädagogen­propaganda, Sozialarbeits­kollaborateure oder Therapeuten­gaslighting, Poli­ti­ker und sons­ti­ge Wider­stands­be­kämp­fer. Nur in den sel­tens­ten Fäl­len steht dir ein Poli­zist mit Schild und Schlag­stock gegen­über, die Macht hat viel sub­ti­le­re Metho­den. Du bist gestört, sagt der The­ra­peut, du bist ein Para­sit, sagt der Poli­ti­ker, du han­delst unmo­ra­lisch, sagt der Pre­di­ger, du musst doch an die Zukunft den­ken, sagt dei­ne Erzie­hung, und alle wol­len sie dich wie­der ein­glie­dern in ihre Vor­stel­lung von einem guten Leben und kei­ner begreift, war­um du dich wehrst. Ein­glie­de­rung, das ist der Punkt, und das Wort drückt es schon aus: Sei ein Glied in unse­rer For­ma­ti­on, mar­schie­re mit, sei stän­dig fro­hen Mutes. Da ste­hen sie dann, stu­dier­te und klu­ge Leu­te, und fra­gen sich Beu­len in den Kopf, wie sich einer gegen die­ses tol­le Leben auf­leh­nen kann, die­ses Leben in der Schaum­stoff­welt, in der alles herr­lich bunt ist, weich und wun­der­bar, man stößt nir­gends an, solan­ge man nur brav ist und gehorcht, sie krie­gen das nicht in ihren Schä­del rein. Sie haben stu­diert, um blöd zu wer­den, und dafür hat es sich gelohnt, sie sind kon­form, bestan­den haben sie mit Bestnote.

Rei­ne Mei­nungs­äu­ße­rung ist kein Wider­stand, nie­mand wird für sei­ne Mei­nung an die Wand gestellt, kei­ner gefol­tert, nicht hier, nicht heu­te, nicht wenn jede Mei­nung gleich­gül­tig vor­über­zieht, du bist nicht Hans und Sophie Scholl. Eine Mei­nungs­äu­ße­rung ist bloß bequem, Schaum­stoff um das toben­de Gewis­sen. Äuße­re dei­ne Mei­nung und bewei­se der Welt, vor allem aber bewei­se dir selbst: Ich habe mei­nen Unmut kund­ge­tan, ich war nicht still. Es schläft sich ruhi­ger in der Nacht, nur ändern wird es frei­lich nichts.

4 minu­tes of Occu­py Frankfurt

Wir leben in tur­bu­len­ten Zei­ten. Der Kapi­ta­lis­mus, wie wir ihn heu­te ken­nen, fin­det sein Ende – auf die eine oder auf die ande­re Art. Anstatt die Kri­se aber als Bedro­hung und das Schei­tern des Kapi­ta­lis­mus als Unter­gang der Welt wahr­zu­neh­men, sind viel­mehr die Chan­cen zu erken­nen, die Grund zur Freu­de lie­fern, wenn sie genutzt werden.

Wer mit den immer deut­li­cher auf­tre­ten­den Zer­falls­pro­zes­sen des Kapi­ta­lis­mus das Aus­bre­chen eines glo­ba­len Cha­os her­an­na­hen sieht, arti­ku­liert mit die­sen Bedro­hungs­sze­na­ri­en Ängs­te, die vor allem eines offen­ba­ren: Die öko­no­mi­schen Gesetz­mä­ßig­kei­ten und Anfor­de­run­gen des bestehen­den Wirt­schafts­sys­tems, des­sen Sieg über die Sowjet­uni­on auf­grund des dar­aus resul­tie­ren­den Man­gels an kon­kre­ten Sys­te­mal­ter­na­ti­ven bis­wei­len schon zur Mär vom Ende der Geschich­te ver­lei­tet hat, haben sich bereits so sehr als Denk­sche­ma­ta in den Köp­fen der Men­schen fest­ge­setzt, dass ein Weg­fal­len die­ser Gesetz­mä­ßig­kei­ten als Weg­fall der Ord­nung an sich begrif­fen wird, so als gäbe es kei­ne ande­ren Mög­lich­kei­ten, das mensch­li­che Mit­ein­an­der zu orga­ni­sie­ren, als jene, die zur­zeit bestehen. Die­se schein­bar alter­na­tiv­lo­sen gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren, durch deren Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten wir sozia­li­siert wur­den und die daher in unse­re Habi­tus, in unse­re Hand­lungs- und Denk­struk­tu­ren Ein­zug gefun­den haben, befin­den sich nun in einer Kri­se, die nicht nur öko­no­mi­scher, son­dern auch psy­cho­lo­gi­scher Natur ist, denn die sozia­le Ord­nung hat sich unse­rer bis in die Fan­ta­sie hin­ein bemäch­tigt, wo sie der Vor­stel­lungs­kraft enge Gren­zen setzt, die jenen des wirt­schaft­li­chen Sys­tems ent­spre­chen. Eine grund­le­gen­de Ände­rung die­ses Sys­tems über­steigt selbst in des­sen Kri­se noch die Gren­zen des Vor­stell­ba­ren oder ist nur als Uto­pie denk­bar, als etwas, dem per se kei­ne (zeit­na­he) Rea­li­sie­rungs­chan­ce zuge­spro­chen wird. Die Gedan­ken, habi­tu­ell der­art geprägt und folg­lich ein­ge­schränkt, wir­ken somit als Kom­pli­zen des der­zei­ti­gen Sys­tems fort und so muss die Kri­se der bestehen­den Ord­nung wie eine Kri­se der Ord­nung an sich emp­fun­den wer­den, der Zer­fall des Kapi­ta­lis­mus wie der Zer­fall jeg­li­cher Gesellschaft.

Tat­säch­lich aber ist die der­zei­ti­ge Kri­se eine Chan­ce. Wer trotz aller Fak­ten noch unbe­irrt dar­auf baut, es möge alles so blei­ben, wie es ist, der möch­te eine Gesell­schafts­ord­nung am Leben erhal­ten, in der ein immer klei­ne­rer Teil auf Kos­ten der gro­ßen Mehr­heit lebt. Die sich aus­brei­ten­de Kri­se lie­fert die Mög­lich­keit, die­sen Zustand zu ändern, im Klei­nen wie im Gro­ßen. Genau die­ses Anlie­gen ver­tre­ten die wach­sen­den welt­wei­ten Proteste.

Nicht der Zusam­men­bruch stellt die Bedro­hung dar, son­dern jeder zusätz­li­che Tag, den das bestehen­de Sys­tem künst­lich am Leben erhal­ten wird – zu hor­ren­den öko­no­mi­schen, öko­lo­gi­schen und sozia­len Kos­ten. Wenn alles unge­hemmt wei­ter­läuft wie bis­her, wer­den wir in naher Zukunft unter ande­rem Fol­gen­des erleben:

  • weit­ge­hen­den Abbau des Sozialstaats
    der bereits vor Jah­ren ein­ge­setzt hat und sich stän­dig ver­schärft, man schaue neben Deutsch­land nur auf die dra­ko­ni­schen Spar­maß­nah­men in Grie­chen­land, das jüngst ver­ab­schie­de­te Spar­pa­ket Ita­li­ens, die dras­ti­schen Spar­be­mü­hun­gen in Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, Spa­ni­en und Portugal.
  • erstar­ken­den Nationalismus
    der bereits jetzt schon zu beob­ach­ten ist, hier­zu­lan­de am offen­sicht­lichs­ten in Form der unver­hoh­le­nen und auch von poli­ti­scher Sei­te – im Sin­ne natio­na­ler Inter­es­sen – befeu­er­ten Het­ze gegen den ver­meint­li­chen Kri­sen­ver­ur­sa­cher Grie­chen­land, für des­sen angeb­li­che Faul­heit und Inkom­pe­tenz man nicht län­ger Zahl­meis­ter sein wol­le, genau­so wenig wie für ande­re Schul­den­län­der, wäh­rend im Aus­land teil­wei­se Deutsch­land als Ver­ur­sa­cher der Kri­se aus­ge­macht wird und ent­spre­chend ver­hasst ist; der zudem durch die natio­na­len Wirt­schafts­in­ter­es­sen vor­an­ge­trie­ben wird, die allen vor­an Deutsch­land, aber auch Frank­reich mit der Durch­set­zung der eige­nen Vor­stel­lung von Kri­sen­be­wäl­ti­gung und Haus­halts­po­li­tik auf Kos­ten drit­ter Län­der verfolgt.
  • zuneh­men­de Ver­ar­mung und Prekarisierung
    die schon seit eini­ger Zeit zu ver­zeich­nen ist, man füh­re sich bloß ein­mal Arbeits­lo­sen­zah­len wie zum Bei­spiel die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit in Spa­ni­en (~45 %) und Ita­li­en (~30 %) oder Sta­tis­ti­ken der Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung (ers­te­re hier als inter­ak­ti­ve Gra­fik für die USA), der Obdach­lo­sig­keit, der Schul­den­be­las­tung sowie der Armut oder des Armuts­ri­si­kos zu Gemü­te, die alle­samt anwach­sen­de sozia­le Miss­stän­de offenbaren.
  • gras­sie­ren­den Sozialdarwinismus
    der bereits heu­te vor­zu­fin­den ist, bei­spiels­wei­se in Form der Dis­kri­mi­nie­rung von Arbeits­lo­sen und Migran­ten, die – auch von poli­ti­scher Sei­te – teil­wei­se sub­til, teil­wei­se ganz offen als faul und dumm, als Para­si­ten oder als unfi­nan­zier­ba­re Last des Wirt­schafts­stand­orts dif­fa­miert wer­den; der sich zudem hin­ter der brei­ten Akzep­tanz von in den letz­ten Jah­ren wie­der erstar­ken­den Geis­tes­hal­tun­gen wie „Nur wer arbei­tet, soll auch essen“ mehr schlecht als recht verbirgt.
  • zuneh­men­de Entsolidarisierung
    die bereits in die­sen Tagen exem­pla­risch als ste­ti­ge Pri­va­ti­sie­rung, als ein­sei­ti­ge Gebüh­ren­er­hö­hun­gen und Spar­maß­nah­men zu Las­ten unte­rer Schich­ten, als Abschot­tung der Wohl­ha­ben­den in Gated Com­mu­ni­ties und als das Aus­spie­len von Bevöl­ke­rungs­tei­len gegen ande­re Grup­pen der Bevöl­ke­rung aus­zu­ma­chen ist, so zum Bei­spiel Gering­ver­die­ner gegen Arbeits­lo­se oder „rich­ti­ge Deut­sche“ gegen Migranten.
  • Per­so­na­li­sie­rung der Kritik
    die als aggres­si­ve Sün­den­bock­su­che bereits heu­te deut­lich zu ver­neh­men ist, wenn bei­spiels­wei­se gezielt Ban­ker und Spe­ku­lan­ten als Blut­sauger oder Fremd­kör­per bezeich­net und teil­wei­se sogar bedroht werden.
  • Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung
    die momen­tan schon sehr ein­dring­lich anhand von Grie­chen­land und Ita­li­en zu beob­ach­ten ist, wo nun Tech­no­kra­ten im Sin­ne einer rigi­den Spar­po­li­tik die Über­gangs­re­gie­run­gen lei­ten sol­len, das jewei­li­ge Land also de fac­to gar nicht mehr regiert, son­dern bloß noch zur Abwick­lung gema­na­ged wer­den wird; die außer­dem auf euro­päi­scher Ebe­ne klar zu ver­zeich­nen ist, wo sich Ent­schei­dungs­pro­zes­se unter Aus­schluss euro­päi­scher Insti­tu­tio­nen, die ihrer­seits bereits unter Demo­kra­tie­de­fi­zi­ten lei­den, mehr und mehr auf die deutsch-fran­zö­si­sche Dop­pel­spit­ze kon­zen­trie­ren; die zuletzt jedoch am deut­lichs­ten an den offen demo­kra­tie­feind­li­chen Reak­tio­nen auf die ange­kün­dig­te Volks­ab­stim­mung in Grie­chen­land abzu­le­sen war.
  • Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Protestbekämpfung
    für die die Stra­ßen­schlach­ten in Athen, Rom und in den USA, aber auch die Riots in Lon­don ein Vor­ge­schmack waren.

All dies sind kei­ne düs­te­ren Zukunfts­vi­sio­nen, son­dern aus­nahms­los Pro­zes­se, die bereits ein­ge­setzt haben und sich mit Zuspit­zung der Kri­se pro­por­tio­nal ver­schär­fen wer­den, sofern ihnen nicht ent­ge­gen­ge­wirkt wird. Es ist der ganz nor­ma­le Wahn, den die bestehen­de Kri­se zum Vor­schein bringt.

Die glo­ba­len Pro­tes­te wie­der­um, die zur­zeit statt­fin­den und immer mehr Zulauf erfah­ren, sind in ihrem Kern nicht unbe­dingt pri­mär als For­de­rung zur Abschaf­fung des Kapi­ta­lis­mus zu begrei­fen – dies gelingt ihm aus eige­ner Kraft, wie immer offen­sicht­li­cher wird. Die Fra­ge aber, die sich in der Kri­se und mit dem Zer­fall der bestehen­den Wirt­schafts­ord­nung immer drin­gen­der stellt, lau­tet nun: In wel­che Rich­tung soll es weitergehen?

Folg­lich han­delt es sich bei den Pro­tes­ten – allen vor­an bei jenen der Indi­gna­dos oder der Occu­py-Bewe­gung sowie ihr ver­wand­ter Pro­test­for­men – um die Arti­ku­la­ti­on des Stand­punkts, dass man sich dem Gesche­hen nicht in bes­tem Fata­lis­mus hin­ge­ben möch­te (der oft genug als Opti­mis­mus ver­klei­det wird), son­dern statt­des­sen aktiv am Auf­bau einer gerech­te­ren Gesell­schaft teil­neh­men möch­te oder die­se zumin­dest ein­for­dert. Frank Schirr­ma­cher, dem man als Mit­her­aus­ge­ber der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung kei­ne all­zu gro­ße Links­las­tig­keit vor­wer­fen oder zugu­te­hal­ten kann, hat erst kürz­lich den über­aus befrei­en­den Gedan­ken geäu­ßert, dass wir uns zur­zeit in einer sehr kom­for­ta­blen Posi­ti­on befin­den: Immer hat es gehei­ßen, wir kön­nen uns dies nicht leis­ten oder jenes, weil das dem Wirt­schafts­stand­ort scha­det, weil das nicht finan­zier­bar ist, weil das in die­sem Wirt­schafts­sys­tem nicht funk­tio­niert und so wei­ter. Nun aber sind wir an einem Punkt, an dem offen­sicht­lich wird, dass das Wirt­schafts­sys­tem an sich nicht funk­tio­niert. Das heißt, wir kön­nen zum ers­ten Mal seit lan­ger Zeit unge­hemmt dar­über nach­den­ken, wie wir ger­ne leben wür­den, ohne uns um die öko­no­mi­schen „Sach­zwän­ge“ des Wirt­schafts­sys­tems sche­ren zu müs­sen, weil letz­te­res in sei­ner gegen­wär­ti­gen Form sowie­so nicht funk­tio­niert. Die Kri­se als Chance.

Wie eine ande­re Gesell­schaft aus­se­hen könn­te, zeigt im Klei­nen, qua­si als Sozi­al­ex­pe­ri­ment, die Occu­py-Bewe­gung: Men­schen, denen von Poli­tik und Wirt­schaft immer wie­der weis­ge­macht wird, sie sei­en auf sich allein gestellt im Kampf aller gegen alle, jeder sei nur für sich selbst ver­ant­wort­lich und Soli­da­ri­tät ein nicht finan­zier­ba­rer Luxus, leben in Form die­ser Bewe­gung das Gegen­teil vor, hel­fen sich gegen­sei­tig, ver­sor­gen sich gegen­sei­tig, unter­stüt­zen sich gegen­sei­tig. Sie mögen kei­ne ein­heit­li­chen Zie­le for­mu­lie­ren, kei­ne aus­ge­ar­bei­te­ten Kon­zep­te und Patent­lö­sun­gen anbie­ten, die ein­zu­for­dern sowie­so bloß illu­so­risch ist, doch es eint sie ein Unbe­ha­gen gegen­über den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen; sie leh­nen ab, was die der­zei­ti­ge Gesell­schaft ihnen nahe- oder auf­er­legt, sie sagen zum Bestehen­den: Fuck this shit! Die Occu­py-Bewe­gung wagt den Ver­such einer Gegen­kul­tur und zeigt, dass ein ande­res Leben mög­lich ist, eine ande­re Kul­tur mit ande­ren Wer­ten, Prio­ri­tä­ten und Verhältnissen.

Jener Aspekt der gegen­wär­ti­gen Bewe­gung ist es folg­lich auch, der für die bestehen­de Ord­nung die größ­te Zumu­tung dar­stellt – aus deren Sicht­wei­se gespro­chen. Wäh­rend frag­men­tier­te Pro­tes­te und Demons­tra­tio­nen schon immer vor­zu­fin­den waren und ent­spre­chend mar­gi­na­li­siert wer­den konn­ten, ver­fügt das Eta­blie­ren einer kon­struk­ti­ven Gegen­kul­tur, die welt­weit gro­ße media­le Auf­merk­sam­keit erfährt und die sich inter­na­tio­nal ver­netzt als auch rasch aus­ge­brei­tet hat, über eine gänz­lich ande­re Qua­li­tät, weil deren zugrun­de­lie­gen­de Idee das Poten­ti­al besitzt, mehr und mehr Men­schen zum Über­den­ken des Selbst­ver­ständ­li­chen bewe­gen zu kön­nen, indem sie kon­kre­te Alter­na­ti­ven zum Bestehen­den auf­zeigt, wenn auch bloß als sozia­les Expe­ri­ment. Buck­mins­ter Ful­ler hat es wie folgt aus­ge­drückt: »You never chan­ge things by fight­ing the exis­ting rea­li­ty. To chan­ge some­thing, build a new model that makes the exis­ting model obsolete.«

Letzt­lich gilt es also, die eige­ne Angst vor dem Kol­laps, die eige­ne Igno­ranz, die eige­ne Apa­thie und Ohn­macht ange­sichts schein­bar über­mäch­ti­ger Struk­tu­ren zu über­win­den, um aus der Kri­se kon­struk­ti­ve Kraft zu schöp­fen. Kraft für eine bes­se­re, gerech­te­re, glück­li­che­re Gesell­schaft, in der wir ger­ne leben möch­ten. Nie­mand soll­te dar­auf ver­trau­en, von der Poli­tik Lösun­gen zu erhal­ten. Die Poli­tik hat kei­ne Lösun­gen und sie stellt die fal­schen Fra­gen. Es liegt an jedem ein­zel­nen von uns, wie es wei­ter­ge­hen wird.

Update vom 15.05.2012:
Die kom­men­den Tage (Teil 2) – eine Bestands­auf­nah­me sechs Mona­te nach Ver­öf­fent­li­chung die­ses Artikels.

Die Zeit bis zum Schul­jah­res-Ende ver­geht. Ich bil­de mir ein, ich leis­te in die­ser Zeit etwas. Aber mit Leis­tung kann einer dies und der ande­re das mei­nen. Ich bin der Mei­nung, ich leis­te etwas, was die Leh­rer für Leis­tung hal­ten. Für mei­nen Vater sind Leis­tun­gen die Arbei­ten, die ich im Haus und auf den Fel­dern ver­rich­te (…) Für die Dorf­bur­schen besteht mei­ne Leis­tung in der Kum­pe­lei mit ihnen. Für sie bin ich in jener Zeit wenig leis­tungs­fä­hig. (…) Es gab nie eine Zeit, in der ich gern in die Schu­le ging. Ich habe Mus­ter­men­schen stets mit etwas Skep­sis bestaunt, zum Bei­spiel die­sen Noat­nick, der zwei Schul­klas­sen über­sprang, und von dem behaup­tet wird, er habe zwei Lebens­jah­re ein­ge­spart. Ich weiß nicht, ob der lie­be Gott bei der Erschaf­fung des Men­schen an die Schu­le dach­te, aber die­ser Noat­nick ist, als ob ihn Gott bear­bei­tet hät­te, damit er in die Schu­le passt. Ich hin­ge­gen bin neu­gie­rig auf alles, was sich außer­halb der Schu­le zuträgt, aber das trägt mir kei­ne hoch­en Zen­su­ren ein.
(Erwin Stritt­mat­ter – Der Laden, Band 2)

Der blaue Brief starr­te mich an. Nein, Quatsch, ich starr­te den blau­en Brief an. Der blaue Brief lag ein­fach nur da. Brie­fe konn­ten nicht star­ren. Gegen­stän­de konn­ten über­haupt kei­ne mensch­li­chen Hand­lun­gen voll­zie­hen. Vie­ler­lei dritt­klas­si­ge Schrift­stel­ler ver­such­ten Din­ge zu ver­mensch­li­chen, lie­ßen sie star­ren, füh­len, rufen, stau­nen. Meist han­del­te es sich dabei um Men­schen, die das Schrei­ben als Beruf bezeich­ne­ten. Wer aber das Schrei­ben als Beruf ver­un­glimpf­te, im Schrei­ben folg­lich eine Art von insti­tu­tio­na­li­sier­ter Arbeit sah, die ja in der Regel mit aller­hand nerv­tö­ten­den Ter­mi­nen, stän­di­ger Pla­cke­rei und dem maß­geb­li­chen Ziel der finan­zi­el­len Absi­che­rung ver­bun­den war, der hat­te sei­ne Lie­be zum geschrie­be­nen Wort schon lan­ge hin­ter sich gelas­sen. Um die­sen Umstand zu ver­ber­gen, bedien­te er sich zahl­rei­cher Knif­fe wie jenem der Ver­mensch­li­chung. Der Leser soll­te wis­sen: Hier ist ein Krea­ti­ver am Werk, ein Poet und Genie, das toten Din­gen Leben ein­hau­chen kann. Aber tote Din­ge waren tot. Wären sie leben­dig gewe­sen, hät­te man sie Lebe­we­sen genannt. Gegen­stän­de konn­ten her­um­lie­gen, fal­len, rol­len, bren­nen, stin­ken, also ein­fach nur da sein, ihre Funk­ti­on erfül­len oder Schwer­kraft und ande­ren äuße­ren Ein­flüs­sen gehor­chen. Was sie nicht konn­ten, war star­ren. Wie­so aber hat­te ich das für einen Moment gedacht? Ich ver­trieb die­sen lau­si­gen Gedan­ken aus mei­nem Kopf, mach­te schlech­te Roma­ne für mei­nen Faux­pas ver­ant­wort­lich und starr­te wei­ter auf Brief.
Aus der Küche hol­te ich mir ein Mes­ser, schnitt einen Apfel in mund­ge­rech­te Stü­cke und setz­te mich essend an den Tisch. Als der blaue Brief sich auch nach zwei Minu­ten noch nicht gerührt hat­te, war ich mir sicher, es han­del­te sich dabei um einen Gegen­stand wie jeden ande­ren, soll hei­ßen: einen leb­lo­sen. Es befand sich kei­ne Brief­mar­ke auf dem Umschlag, was bedeu­te­te, jemand hat­te sich die Mühe gemacht, bis zu mir aufs Land hin­aus zu fah­ren, nur um das Ding dann dis­kret im Brief­kas­ten zu ver­sen­ken, anstatt nach all dem Auf­wand ein­fach an der Tür zu klin­geln. Wäre da die Post nicht sinn­vol­ler gewe­sen, frag­te ich mich. Ande­rer­seits erfor­der­te die Brief­be­för­de­rung per Post gewal­ti­ge finan­zi­el­le Mit­tel auf Sei­ten des Absen­ders, wes­halb sich die­ser ver­mut­lich gedacht hat­te, es wäre doch sehr viel klü­ger, flink ins eige­ne Auto zu stei­gen, ein Dut­zend Kilo­me­ter mit einem Brief auf dem Bei­fah­rer­sitz durch die Land­schaft zu gon­deln, schön viel Schei­ße in die Luft zu bla­sen und den Brief ganz ein­fach per­sön­lich bei mir ein­zu­wer­fen, anstatt es Men­schen zu über­las­sen, die das haupt­be­ruf­lich aus­üb­ten, sowohl das Brie­fe­trans­por­tie­ren als auch das Schei­ße-in-die-Luft-Bla­sen. Das kam dabei her­aus, wenn Men­schen das Recht auf Mobi­li­tät mit einem Anspruch auf Umwelt­ver­schmut­zung ver­wech­sel­ten und Frei­heit mit der Pflicht, von einem Ter­min zum nächs­ten zu düsen, zum Bei­spiel von der Arbeit zur Knei­pe und spä­ter ange­trun­ken ins hei­mi­sche Bett.
Vom Stich­wort ›ange­trun­ken‹ inspi­riert, voll­zo­gen mei­ne Gedan­ken einen Sprung zu einer nahe­lie­gen­den Fra­ge: Wie­so war der Brief eigent­lich blau? Ich wuss­te, dass es hieß, Schu­len wür­den blaue Brie­fe ver­schi­cken, zumal ich wäh­rend mei­ner Schul­zeit so man­chen Brief von mei­ner Schu­le erhal­ten hat­te, sogar mit Brief­mar­ken dar­auf, doch blau war kei­ner davon gewe­sen. Was blieb mir ande­res übrig als ihn zu öff­nen, um die Neu­gier zu befrie­di­gen. Im Brief­um­schlag erwar­te­te mich eine unper­sön­li­che Einladung:

Lie­be Freun­din­nen und Freunde,
zehn Jah­re sind ver­gan­gen, seit wir von der Schul­bank ins wah­re Leben gezo­gen sind. Herz­lich laden wir euch zum gemein­sa­men Wie­der­se­hen ein.

Unter­halb des Tex­tes waren Zeit­punkt, Ort und Anfahrts­weg ver­merkt, wäh­rend auf der Rück­sei­te der Ein­la­dung eine lachen­den Schild­krö­te abge­bil­det war, die ein Zeug­nis in der Hand hielt, was mir als Aus­druck schu­li­scher Leis­tung irgend­wie unan­ge­mes­sen schien, aber genau des­we­gen fast schon sym­pa­thisch wirk­te, gera­de­zu sub­ver­siv. Wahr­schein­li­cher jedoch war, dass der Urhe­ber kei­ner­lei sub­ver­si­ve Ambi­tio­nen heg­te, son­dern das Bild­chen ein­fach nur für lus­tig befun­den hat­te. Man­ches änder­te sich eben selbst in zehn Jah­ren nicht, zum Bei­spiel schreck­li­cher Humor.
Es gab vie­les, das Leid und Elend über die Mensch­heit brach­te, wo immer es auf­trat: Krieg, Miss­gunst, Gier, Eifer­sucht, Natur­ka­ta­stro­phen und eben Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen. Bis jetzt war ich von all­dem ver­schont geblie­ben, aber jemand unter­nahm den Ver­such, das zu ändern. Jemand, der mich uni­la­te­ral als einen Freund bezeich­ne­te, was das Kon­zept der Freund­schaft ad absur­dum führ­te bis ver­höhn­te. Jemand, der die dumm­dreis­te Vor­stel­lung kul­ti­vier­te, nach der Schu­le wür­de man ins ›wah­re Leben‹ zie­hen, wäh­rend die meis­ten doch tat­säch­lich bloß in Ehe, Fabrik oder Büro umge­zo­gen waren.
Ein Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen war eine Ver­an­stal­tung, bei der sich die Bana­li­tät des Bösen unbarm­her­zig offen­bar­te. Men­schen kamen zusam­men, die sich seit ihrer gemein­sa­men Inter­nie­rung in einer Lehr­an­stalt nicht mehr gese­hen, geschwei­ge denn mit­ein­an­der gespro­chen hat­ten. Mit eini­gen war man befreun­det geblie­ben, als man den Schul­ab­schluss end­lich in der Tasche gehabt hat­te, doch beim Groß­teil schätz­te man sich froh, ihn end­lich los zu sein. Das Jubi­lä­ums­tref­fen nun war ein erzwun­ge­ner Pro­zess, der dazu führ­te, die­se natür­lich gewach­se­ne Distanz mit einer syn­the­ti­schen Nähe zu über­win­den, um eine Grund­stim­mung des gegen­sei­ti­gen Wett­be­werbs zu pro­vo­zie­ren. Der Ablauf eines sol­chen Zusam­men­tref­fens war sozi­al streng gere­gelt und ähnel­te jenem Kar­ten­spiel, bei dem die Spie­ler bei­spiels­wei­se Hub­raum, Höchst­ge­schwin­dig­keit, Beschleu­ni­gung oder Zylin­der­zahl der Fahr­zeu­ge auf ihren Spiel­kar­ten mit­ein­an­der ver­gli­chen, wobei der bes­te Wert gewann. Gespielt wur­de es bei einem Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen aller­dings nicht mit tech­ni­schen Daten, son­dern mit per­sön­li­chem Erfolg, beruf­li­cher Leis­tung, Schön­heit des Ehe­part­ners, Lage des Hau­ses, Preis des PKW, Zen­su­ren der Kin­der, Exklu­si­vi­tät des Urlaubs­ziels, Aus­übung von Macht und ande­ren erbärm­li­chen Sta­tus­sym­bo­len der jewei­li­gen Mit­spie­ler. Ich war arbeits­los und unver­hei­ra­tet, besaß weder Auto noch Eigen­heim und war dem­zu­fol­ge alles, was man nicht sein woll­te, wenn man zu einem Klas­sen­tref­fen ging.
Trotz mei­ner Abnei­gung gegen die­ses klein­ka­rier­te Spiel und der offen­sicht­li­chen Zumu­tun­gen einer sol­chen Ver­an­stal­tung nahm ich mir vor, der Ein­la­dung zu fol­gen. Wie eine Art Kriegs­be­richt­erstat­ter woll­te ich das ent­setz­li­che Elend begut­ach­ten, aller­dings mit der nicht zu unter­schät­zen­den Dif­fe­renz, dass ich im Gegen­satz zum unbe­tei­lig­ten Beob­ach­ter auch in Nah­kämp­fe ver­wi­ckelt sein wür­de und aktiv ins Kampf­ge­sche­hen ein­grei­fen müss­te. Das jedoch war ich gewohnt.
Noch am Abend des­sel­ben Tages rief ich jene Freun­de an, die ich von der Schul­zeit ins ›wah­re Leben‹ mit­ge­nom­men hat­te. Ich erkun­dig­te mich, ob sie die Ein­la­dung eben­falls erhal­ten hat­ten und was sie von ihr hiel­ten. Anschlie­ßend erzähl­te ich ihnen von mei­nem Vor­ha­ben und frag­te nach, ob sie die Absicht hät­ten, der Ver­an­stal­tung ihrer­seits bei­zu­woh­nen. Sie lach­ten über die­se Fra­ge und wünsch­ten mir Glück bei mei­ner Expe­di­ti­on. Des­we­gen waren sie mei­ne Freunde.
Eini­ge Wochen spä­ter war es so weit, an einem win­di­gen Sams­tag­abend. Die Ver­an­stal­tung fand in einer Vil­la nahe von Ham­burg statt. Wir waren ein Abitur­jahr­gang, daher gehör­te Distink­ti­on anschei­nend zwangs­läu­fig dazu, die Sehn­sucht nach stan­des­ge­mä­ßer Insze­nie­rung, die­se Selbst­ver­herr­li­chung als Eli­te. Als ich die Räum­lich­kei­ten betrat, war das Gesche­hen schon in Gang. Zu mei­ner Erleich­te­rung hat­te man die Ver­an­stal­tung als eine Art offe­ner Par­ty kon­zi­piert, ohne Sitz­ord­nung und irgend­wel­che Anspra­chen. Es gab ein Buf­fet mit Häpp­chen und Haupt­spei­sen sowie eine Bar mit einem leid­lich moti­vier­ten Bar­kee­per, der unter ande­rem Sekt und schlech­te Drinks ser­vier­te, sodass die Anwe­sen­den sich in wech­seln­der Kon­stel­la­ti­on an Tischen nie­der­las­sen oder kol­lek­tiv her­um­ste­hen konn­ten, was sehr viel ange­neh­mer war, als den gesam­ten Abend an einem gro­ßen Tisch gemein­sam ein­ge­pfercht zu sein.
Ein wenig ver­lo­ren blick­te ich mich um, bis ich Chris sah. Eigent­lich hieß er Chris­ti­an. Zu Schul­zei­ten war er ein Punk gewe­sen, ein Rebell und Non­kon­for­mist, der sich Auto­ri­tä­ten und Hier­ar­chien nicht hat­te beu­gen wol­len und in der Schu­le, die sich ihren Häft­lin­gen als Dis­zi­pli­nie­rung par excel­lence auf­dräng­te, folg­lich so sei­ne Pro­ble­me gehabt hat­te. Er war mir immer sym­pa­thisch gewe­sen, genau aus die­sem Grund. Heu­te trug er einen ver­dammt gut sit­zen­den Anzug und etwas, das er frü­her als Spie­ßer­fri­sur bezeich­net hät­te. Inner­lich muss­te ich lachen. Er ist eine Kari­ka­tur, dach­te ich, er kommt hier­her und hält allen den Spie­gel vor, macht sich lus­tig über sie, betreibt Sub­ver­si­on. Das ver­dien­te Respekt, daher ging ich zu ihm ans Buf­fet, wo er gera­de das Ange­bot begutachtete.
»Mensch, Chris! Schi­ckes Out­fit«, grins­te ich und nahm mir einen Teller.
»Dan­ke«, erwi­der­te er mit einem Hauch von Überraschung.
»Nur für den Scheiß hier hast du dir so’n Ding besorgt?«
»Was? Wer bist du eigentlich?«
Zuerst lach­te ich, doch dann wur­de mir klar, dass er mich wirk­lich nicht erkannt hat­te. Ich stell­te mich ihm vor und wir plau­der­ten eine Wei­le über die Schul­zeit, die frü­he­re Leh­rer, unser Leben nach dem Abschluss und schließ­lich die beruf­li­che Kar­rie­re. Ein Wort, für das er frü­her nur Ver­ach­tung übrig gehabt hat­te. Nun war er der­je­ni­ge, der es aus­sprach. Nach dem Abitur hat­te er her­um­ge­lun­gert, stän­dig gekifft, viel gesof­fen, was man halt so mach­te, wenn man alles ande­re zum Kot­zen fand, was den Alko­hol bis­wei­len ein­schloss. Doch irgend­wann sei ihm die Erleuch­tung gekom­men, sag­te er. Man dür­fe ein Leben nicht so ver­schwen­den, man müs­se etwas auf­bau­en, etwas leis­ten. Ein Sozi­al­ar­bei­ter habe ihm gehol­fen, sich aus sei­ner Cli­que zu befrei­en, wie er es aus­drück­te. Er hat­te einen Job bekom­men, wenig spä­ter auch eine eige­ne Woh­nung. Von da an sei es nur noch auf­wärts gegan­gen, er habe unglaub­lich hart gear­bei­tet, gespart, ange­legt und investiert.
»Heu­te fehlt es mir an nichts«, schwärm­te er mit hör­ba­rem Stolz. »Ich krieg die Kri­se, wenn ich einen jam­mern höre, er fin­det kei­nen Job. Wer nicht faul ist, der fin­det auch was. Man muss sich halt zusam­men­rei­ßen. Sieh mich an. Statt­des­sen wird jeder bestraft, der erfolg­reich ist. Steu­ern hoch, Steu­ern hoch, das ist alles, was ich höre. Mit mei­nem Geld wer­den sol­che Faul­pel­ze finanziert.«
»Sag mal, muss das nicht anstren­gend sein?« hak­te ich mit total beein­druck­tem Gesichts­aus­druck nach.
»Die Arbeit? Ja, schon, aber nur durch Leis­tung kommt man nach oben…«
»Neee, nicht die Arbeit. Jeden Tag die Idea­le, die du mal hat­test, kräf­tig in den Arsch zu ficken, nur für ein paar Scheinchen.«
Ich dreh­te mich um und führ­te einen inne­ren Kampf zuguns­ten der äuße­ren Con­ten­an­ce. Am liebs­ten hät­te ich ihn aus­ge­lacht, wäre das nicht der siche­re Ruin für mei­nen Abgang gewesen.
Das sind die Schlimms­ten, dach­te ich und ließ mei­nen Blick durch den Raum schwei­fen, auf der Suche nach einem neu­en Gesprächs­part­ner. Die­se Schlimms­ten, das waren für mich sozia­le Auf­stei­ger, die von ihren Wur­zeln nichts mehr wis­sen woll­ten. Weil sie selbst es ›geschafft‹ hat­ten, weil sie von der Frucht der Macht gekos­tet hat­ten, ver­teu­fel­ten sie alle, die es nicht taten. Ganz arme Würst­chen waren das. Mit klei­nen Würst­chen ver­mut­lich, weil sol­che Typen immer klei­ne Würst­chen hat­ten und die­sen Zustand irgend­wie zu kom­pen­sie­ren trach­te­ten, doch so genau woll­te ich es nicht in Erfah­rung brin­gen. Das Jahr­gangs­tref­fen fing an, mir Spaß zu machen. Ich kam in Fahrt, und das war gera­de erst der Anfang.
Plötz­lich wur­de ich von der Sei­te ange­spro­chen. Es war Tors­ten, der sei­nen Tel­ler so bers­tend mit Spei­sen bela­den hat­te, wie man es sonst nur von deut­schen Tou­ris­ten aus dem Urlaub kann­te, die die Angst umtrieb, bei einem zwei­ten Gang zum Buf­fet von der Zom­bie­apo­ka­lyp­se heim­ge­sucht zu wer­den, wes­halb sie auf ihren Tel­lern gewag­te Tür­me kon­stru­ier­ten, die allen Regeln der Sta­tik zu wider­spre­chen schie­nen. Im Gegen­satz zu Chris hat­te er mich umge­hend erkannt und wir kamen ins Gespräch. Tors­ten war jemand, mit dem ich mich in der Schu­le gut ver­stan­den hat­te, obwohl ich ihn nie­mals als einen Freund betrach­tet hät­te. Er war das, was man klas­sisch einen Schul­ka­me­ra­den nann­te. Nach­dem wir die Ein­gangs­flos­keln hin­ter uns gebracht hat­ten, erzähl­te er mir von sei­nem Job bei einer gro­ßen inter­na­tio­na­len Werbeagentur.
»Das gei­le an dem Job ist, so vie­le unter­schied­li­che Kun­den zu haben. Man hat stän­dig eine neue Her­aus­for­de­rung, dau­ernd eine kom­plett neue Arbeit mit kom­plett neu­en Ideen. Ich kann mich krea­tiv ganz aus­le­ben und ver­die­ne dabei auch noch ordentlich.«
»Hm«, gab ich den nach­denk­lich Inter­es­sier­ten. »Was für Kun­den hast du da so? Gibt’s da auch wel­che, bei denen du sagst: Das mach ich nicht, die mag ich nicht?«
»Klar gibt’s die! Ich arbei­te nicht für Rüs­tungs­kon­zer­ne, da hab ich ganz deut­lich eine Linie gezo­gen.« Mit dem Fin­ger zog er ganz deut­lich eine Linie in die Luft. »Man will ja auch noch mit gutem Gewis­sen ein­schla­fen können.«
Rüs­tungs­kon­zer­ne taten mir Leid. Kein ein­zi­ger Wer­ber die­ser Welt woll­te frei­wil­lig für sie arbei­ten. Alle sag­ten sie: Nein, das kann ich ethisch nicht ver­ant­wor­ten. Das muss­te der ers­te Satz gewe­sen sein, den sie auf der Wer­be­kas­per­schu­le gelernt hat­ten und seit­dem wie ein Man­tra vor sich her­be­te­ten. Zum Glück besa­ßen Rüs­tungs­kon­zer­ne in der Regel Toch­ter­ge­sell­schaf­ten oder eigen­stän­di­ge Divi­sio­nen, die sich mit zivi­ler Res­te­ver­wer­tung der mili­tä­ri­schen For­schung beschäf­tig­ten und bei­spiels­wei­se LKW statt Pan­zern her­stell­ten, sodass man sich als Wer­ber oder über­haupt als Ange­stell­ter gut damit her­aus­re­den konn­te, mit der Pro­duk­ti­on von dedi­zier­ten Tötungs­in­stru­men­ten nichts am Hut zu haben. Das war for­mal zwar zwei­fel­los kor­rekt, aber spitz­fin­dig, doch wenn es dem Selbst­be­trug dien­lich sein konn­te, war frei­lich jedes Mit­tel erlaubt.
»Wow!« bewun­der­te ich sei­ne ethi­sche Stand­fes­tig­keit und erin­ner­te mich an die Arbei­ten sei­ner Lügen­bu­de. »Ich stel­le mir das gera­de vor. Da kommt so ein schmie­ri­ger Rüs­tungs­kon­zern zu dir und sagt: Bit­te erstel­len Sie mir eine tol­le Wer­be­kam­pa­gne – und du, du sagst ganz kon­se­quent: Nein! Am nächs­ten Tag stellt sich dann ein Ener­gie­kon­zern bei dir vor, der zu den größ­ten Umwelt­sün­dern des Lan­des gehört, und du ver­passt ihm ein grü­nes Image. Das ist ethisch echt gleich viel besser.«
»Über die­se Kam­pa­gne gab es intern eine rege Dis­kus­si­on, auch ethisch. Wir haben uns dann am Ende für den Auf­trag ent­schie­den, weil der Kon­zern auch viel in grü­ne Ener­gie inves­tiert und…«
»Und weil das Geld so zahl­reich floss, du schlei­mi­ge Wer­be­hu­re!« unter­brach ich ihn frech und nutz­te sei­ne sicht­li­che Über­for­de­rung, um noch ein wenig nach­zu­le­gen: »Eini­ge Wochen spä­ter kriechst du einer Fir­ma zu Kreuz, die ihre Mit­ar­bei­ter wie den letz­ten Dreck behan­delt. Dei­ne schö­ne Agen­tur aber küm­mert sich dar­um, sie als sozi­al gerech­tes Wohl­tä­tig­keits­pa­ra­dies dar­zu­stel­len. Ich mei­ne, hey, du bist so kon­se­quent mit dei­nen mora­li­schen Grund­sät­zen, das ist echt beein­dru­ckend! Mann, ich bin so froh, dass du nachts gut schla­fen kannst, weil du nichts für Rüs­tungs­kon­zer­ne machst.«
Da stand er und schau­te wie ein Hund beim Kacken, der sich kei­ner Schuld bewusst war. Wenn es einen irdi­schen Zugang zur Höl­le gab, dann lag er unter­halb die­ses Gebäu­des und hat­te sich erst kürz­lich auf­ge­tan, um die hier anwe­sen­den Geschöp­fe aus­zu­spei­en. Er wür­de sie hof­fent­lich auch wie­der zurücknehmen.
Gab es denn kei­ne ver­nünf­ti­gen Men­schen in die­sem Haus? Zwei klei­ne Grup­pen stan­den her­um und waren unter­ein­an­der jeweils in Dis­kus­sio­nen ver­tieft, soweit ich das beur­tei­len konn­te. Ich über­leg­te, ob ich mich zu einem der bei­den Grüpp­chen dazu­ge­sel­len und mit­dis­ku­tie­ren soll­te, war aber an der Umset­zung die­ser Vor­stel­lung nicht ernst­haft inter­es­siert, weil ich seit jeher das Gespräch unter vier Augen bevor­zug­te. Dann sah ich Pia. Sie saß allei­ne an einem Tisch, vor sich ein Glas Sekt, an dem sie hin und wie­der nipp­te. In der Schu­le war sie so etwas wie eine graue Maus und eher am unte­ren Ende der aus­rei­chen­den Noten­ska­la behei­ma­tet gewe­sen, was ich nicht tra­gisch fand, ihre Eltern damals aller­dings umso mehr. Nun jedoch trug sie zwei ansehn­li­che Bil­dungs­ab­schlüs­se vor sich her, die sie für jede Beschäf­ti­gung qua­li­fi­zier­ten. Außer­dem hat­te sie zu viel Make-up auf­ge­tra­gen, doch war dies ein Phä­no­men, das ich an vie­len Frau­en beob­ach­ten konn­te, die allem Anschein nach ver­in­ner­licht hat­ten, was man ihnen fort­wäh­rend weis­ma­chen woll­te. Jede belie­bi­ge Kos­me­tik­wer­bung sug­ge­rier­te, Frau­en sei­en von Natur aus häss­li­che Krea­tu­ren, nicht im Ansatz begeh­rens­wert, wenn sie sich nicht hin­ter Mas­ken ver­ber­gen wür­den, an denen ande­re kräf­tig ver­dien­ten. Lie­ber tru­gen sie zu viel auf als gar nichts, aus Angst vor ihrem eige­nen Gesicht. Ein­mal war ich ver­liebt an mei­ne dama­li­ge Freun­din her­an­ge­tre­ten mit den Wor­ten: ›Du bist am schöns­ten, wenn du unge­schminkt bist‹. Da hat­te sie gelacht und mir kein Wort geglaubt.
Pia sah nicht so aus, als wäre ihr zum Lachen zumu­te. Ner­vös durch­streif­te sie mit ihren Bli­cken den Raum und schien nach jeman­dem zu suchen. Sie war zu Schul­zei­ten immer sehr nett zu mir gewe­sen, viel­leicht auch ein biss­chen ver­knallt, dar­um ließ ich mich an ihrem Tisch nie­der und begrüß­te sie mit eini­gen freund­li­chen Wor­ten. Wir kamen ins Gespräch. Eigent­lich, so erzähl­te sie mir, war sie mit einer Freun­din her­ge­kom­men, mit Kath­rin, die sich jedoch auf der Suche nach einer Toi­let­te im Ober­ge­schoss ver­drückt hat­te, in ver­däch­ti­ger zeit­li­cher Nähe zu Sebas­ti­an, was deren bei­der Abwe­sen­heit durch­aus erklär­te. Sebas­ti­an war ver­hei­ra­tet, hat­te die­sen unglück­li­chen Umstand, wie es schien, gleich­wohl tem­po­rär ver­drängt, so wie man trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen eben häu­fig den Zugang zum Bewusst­sein ver­wehr­te. Das war wis­sen­schaft­lich erwie­sen, daher soll­te nie­mand den Zei­ge­fin­ger erhe­ben und behaup­ten, der Betrug an sei­ner Frau sei Sebas­ti­ans eige­ne Ent­schei­dung, geschwei­ge denn des­sen Schuld gewesen.
Pia und ich jeden­falls mach­ten uns dar­über lus­tig wie gute Läs­ter­schwes­tern. Nach einer Wei­le ver­such­te ich, das Gespräch in span­nen­de­re Gewäs­ser zu navi­gie­ren, weil harm­lo­se Läs­te­rei­en zwar recht auf­lo­ckern­de Gesprächs­in­hal­te dar­stell­ten, mich das gesam­te Kon­zept des Läs­terns aber doch sehr an Gar­ten­zwer­ge und Block­wart­ment­a­li­tät erin­ner­te. Ein The­men­kom­plex, mit dem man jeder­zeit Freun­de gewin­nen konn­te, ob nun im Super­markt an der Kas­se, in der Sau­na oder auf dem Zahn­arzt­stuhl, war das gern kon­fe­rier­te Feld der Poli­tik. Ich sprach die um sich grei­fen­de Finanz­kri­se an, die bereits jetzt das Leben von Mil­lio­nen Men­schen zer­stört hat­te, obwohl sie gera­de erst am Anfang stand. Ich belä­chel­te die anhal­tend her­bei­fan­ta­sier­te Mär vom Auf­schwung, der komi­scher­wei­se bei nie­man­dem so recht ankam. Ich erwähn­te den Jubel um sin­ken­de Arbeits­lo­sen­zah­len, die kei­ner, der noch ganz bei Trost war, für etwas ande­res als Pro­pa­gan­da hal­ten konn­te. Die gan­zen ekel­haf­ten Nach­rich­ten eben, wäh­rend Pia bei allem still nickte.
»Mich kotzt das echt an, so ver­arscht zu wer­den«, rumor­te es aus mir her­aus. »Ver­gleich das mal mit dem Ara­bi­schen Früh­ling. Da gehen Men­schen auf die Stra­ße, weil sie demo­kra­ti­sche Mit­be­stim­mung for­dern. Hier­zu­lan­de schimpft man über die Schwer­fäl­lig­keit demo­kra­ti­scher Ent­schei­dungs­fin­dung und ver­tei­digt allen Erns­tes ein­ge­schränk­te Mit­be­stim­mungs­rech­te, wo immer sie auf­tre­ten, weil Beschlüs­se ja so viel effi­zi­en­ter gefällt wer­den könn­ten, wenn weni­ger Men­schen dar­an betei­ligt wären. Markt­ge­rech­te Demo­kra­tie nen­nen sie das und schie­len mit einem Auge auf Chi­na. Da weiß man doch, was man von so einer Demo­kra­tie zu hal­ten hat, oder?«
»Ach, weißt du, das inter­es­siert mich alles nicht so recht. Man darf im Leben nur das Posi­ti­ve sehen, und das tue ich. Ich schaue kei­ne Nach­rich­ten mehr, weil mich das unglück­lich macht.«
So also sahen Men­schen aus, die Lebens­rat­ge­ber lasen wie: ›Mit Yoga zum Glück‹, ›Lachen für ein gutes Leben‹, ›Dank Posi­ti­vem Den­ken aus der Arbeits­lo­sig­keit‹, ›Grin­sen gegen Krebs‹. Oder schlim­mer noch: die sol­chen Schund schrie­ben, um ande­re aus­zu­neh­men, die den Mist glaub­ten. Die­se Men­schen hat­ten kei­nen ande­ren Lebens­in­halt vor­zu­wei­sen als alles wahn­sin­nig schön zu fin­den. Wenn es eines gab, das mich stär­ker ankotz­te als ver­arscht zu wer­den, dann war es die Kraft der posi­ti­ven Wahr­neh­mung, die Igno­ranz auf Speed, die alle Pro­ble­me der Mensch­heit leicht­fü­ßig lösen soll­te. Hun­ger in der Drit­ten Welt? Man schlürf­te Pro­sec­co. Mord im Namen der Frei­heit? Man sah sich einen lus­ti­gen Film an. Ölplatt­form geplatzt? Man gönn­te sich mal was. Opti­mis­mus statt Ver­nunft, Apa­thie statt Zorn. Die Höl­le, das war sie. Wer vor­über­ge­hend doch ein­mal aus dem Glück­se­lig­keits­fa­schis­mus pur­zel­te, der schlug rasch in der Rat­ge­ber­li­te­ra­tur nach, wie man ange­passt zu leben hat­te, anstatt ein­fach mal in sich hin­ein­zu­hor­chen und auf den Tisch zu hauen.
»Wür­dest du das auch klei­nen Kin­dern ins Gesicht sagen, die vor Hun­ger ver­re­cken? ›Seht das Posi­ti­ve: Ihr müsst zum Abneh­men nicht jog­gen gehen‹? Oder zu Zwangs­ar­bei­tern im KZ? ›Seht das Posi­ti­ve: Jeder hier hat einen Arbeits­platz‹? Men­schen wie du kot­zen mich an, weil sie mit ihrer opti­mis­ti­schen Igno­ranz die gan­ze Schei­ße auf der Welt erst ermöglichen.«
Mit ihrem am Boden hän­gen­den Unter­kie­fer ließ ich sie zurück, bevor sie die Chan­ce hat­te, mir den Sekt ins Gesicht zu schüt­ten. Ich kam mir vor wie eine Mut­ter, die ihrem Balg irgend­was ver­bie­ten oder es zum Auf­es­sen bewe­gen woll­te und zu die­sem Zweck ganz scham­los die afri­ka­ni­sche Bevöl­ke­rung ins Spiel brach­te, als hät­te die es nicht schon schwer genug gehabt, selbst ohne euro­päi­sche Scheiß­müt­ter. Glück­li­cher­wei­se hat­te ich mit mei­nem Nazi­ver­gleich noch auf die seriö­se rhe­to­ri­sche Ebe­ne zurück­ge­fun­den. Einer­seits tat Pia mir leid, weil sie mir vor­mals wirk­lich sym­pa­thisch gewe­sen war; ande­rer­seits dien­te sie ja wirk­lich als Steig­bü­gel­hal­ter für das Böse auf die­sem Pla­ne­ten, zwar nicht sie allein, aber ihre Denk­wei­se. Das soll­te man Men­schen auch klipp und klar mitteilen.
Von einer der her­um­ste­hen­den Grup­pen spal­te­te sich jemand ab und kam gera­de­wegs auf mich zu. Es war Mai­ke. Sie muss­te mei­ne Unter­hal­tung mit Pia gese­hen haben, die zuge­ge­be­ner­ma­ßen etwas aus dem Ruder gelau­fen war. Vor­sorg­lich berei­te­te ich mich auf das Schlimms­te vor. Mai­ke aber kam zu mir her­über, leg­te einen Arm um mei­ne Schul­ter und fing an, sich über Pia lus­tig zu machen.
»Ihr zwei habt euch ganz schön in die Haa­re gekriegt. Was war da los? Haben dir ihre neu­en Tit­ten nicht gefal­len? Ganz schön bil­lig so was. Was für ein Flittchen!«
Mai­ke trug Schu­he mit Keil­ab­sät­zen, die bei jun­gen Frau­en und sol­chen, die sich dafür hiel­ten, schwer ange­sagt waren. Wenn ich ein sol­ches Unge­tüm an einem Frau­en­fuß ent­deck­te, war mein ers­ter Ein­druck jedes Mal, die arme Frau sei behin­dert und dass es sich um eine ortho­pä­di­sche Maß­nah­me han­deln muss­te, die die Län­ge ihrer Bei­ne künst­lich aus­glei­chen soll­te. Da der ande­re Fuß jedoch in der Regel mit einem ent­spre­chen­den Gegen­stück aus­ge­stat­tet war, prä­zi­sier­te ich mei­ne Dia­gno­se gewöhn­lich auf eine geis­ti­ge Behin­de­rung, die sich als so genann­tes Mode­be­wusst­sein aus­gab. Vie­le Frau­en und Män­ner fie­len ihr tag­täg­lich zum Opfer. Aus die­ser Posi­ti­on her­aus über die Ästhe­tik auf­ge­pump­ter Brüs­te zu urtei­len, erschien mir gewagt.
»Ihre Brüs­te sind ihr kleins­tes Pro­blem«, sag­te ich, was sehr viel lus­ti­ger gewe­sen wäre, hät­te sie klei­ne Brüs­te gehabt. Der Alko­hol in Mai­kes Blut­bahn befand es trotz­dem des Kicherns wür­dig. »Du wirst es nicht glau­ben, aber wir sind über Poli­tik ins Strei­ten geraten.«
»Ha! Genau mein Metier. Kein Wun­der, dass du da ver­zwei­felt bist. Mit der kann man sich über so was nicht unter­hal­ten. Die ist dafür halt zu dumm.«
Vol­ler Stolz erklär­te sie mir wort­reich, für ein Nach­rich­ten­ma­ga­zin bei einem gro­ßen Pri­vat­sen­der zu arbei­ten und sich in die­ser Funk­ti­on natür­lich viel mit Poli­tik zu beschäf­ti­gen, zumin­dest unter ande­rem. Das war der Knack­punkt: Unter ande­rem. Ihr Arbeits­platz befand sich in der Redak­ti­on eines die­ser Life­style-Maga­zi­ne, die am frü­hen Abend auf allen Pri­vat­sen­dern aus­ge­strahlt wur­den und das Pro­jekt der Auf­klä­rung mit nega­ti­vem Vor­zei­chen fort­führ­ten. Zu sehen gab es dort groß­ar­ti­ge Ein­spie­ler über stol­pern­de Poli­ti­ker, was Mai­kes Inter­es­se an poli­ti­schen Pro­zes­sen erklärt und auch erschöpft haben dürf­te, inves­ti­ga­ti­ve Repor­ta­gen über neu­es­te Mode­trends aus Hol­ly­wood und wis­sen­schaft­li­che Bei­trä­ge über was­ser­fes­tes Make-up, in denen wil­li­ge Feu­er­wehr­män­ner geschmink­ten Frau­en ins Gesicht spritz­ten, was in den Hir­nen der Redak­ti­ons­chefs für rie­si­ge Stän­der und puber­tä­res Geki­cher gesorgt haben dürf­te. Den­noch gab es Frau­en, die sich dazu ernied­ri­gen lie­ßen, so eine Sen­dung zu mode­rie­ren oder an deren Pro­duk­ti­on will­fäh­rig teil­zu­neh­men, wor­auf sie am Ende auch noch stolz waren. Die Eman­zi­pa­ti­on dreh­te sich im Grab her­um, wenn sie sol­che Sen­dun­gen emp­fing, obwohl Gleich­be­rech­ti­gung ja auch bedeu­te­te, genau­so schei­ße wie manch Mann sein zu dürfen.
»Wow!« sprach ich, wor­auf Mai­ke mich eitel anlä­chel­te. »Du arbei­test also für einen Ver­ein, der sich tage­lang mit den Hös­chen von Lady Gaga beschäf­ti­gen kann, aber für das Welt­ge­sche­hen kei­ne Sen­de­mi­nu­ten übrig hat; der Men­schen unauf­hör­lich Luxus­gü­ter prä­sen­tiert und sie wie Esel mit gol­de­ner Möh­re vorm Maul zum ewi­gen Wei­ter­ackern moti­viert; der sich über Rand­grup­pen lus­tig macht, damit sich noch der letz­te Idi­ot vor dem Fern­se­her so rich­tig gut füh­len kann?«
Zum Abschluss unse­rer Show stell­te ich ihr die Eine-Mil­li­on-Euro-Fra­ge: »Wie kann man denn so weit sinken?«
Sie stieß ein empör­tes ›Pöh!‹ aus, dreh­te sich um und zisch­te mit erho­be­nem Näs­chen davon. Eini­ge Augen­bli­cke spä­ter gesell­te sie sich zu Tors­ten an einen Tisch. Sie tuschel­ten mit­ein­an­der, als sie zu mir her­über­sa­hen. Ich hob mein Glas, zwin­ker­te ihnen fröh­lich zu und stat­te­te mein Gesicht mit einem wohl­wol­len­den Lächeln aus, das sie ver­wirr­te. Bei­de gaben vor, mich nicht gese­hen zu haben, wand­ten mir ihre Rücken zu, schüt­tel­ten die Köp­fe. Lang­sam wur­de es heiß.
Von so viel Ekel erschüt­tert, such­te ich kör­per­li­che Erleich­te­rung. Im gesam­ten Erd­ge­schoss konn­te ich nur ein ein­zi­ges Bade­zim­mer ent­de­cken, was ich für eine Vil­la dann doch recht schä­big fand. Noch schä­bi­ger aber war, dass es von jeman­dem benutzt wur­de. Vor der geschlos­se­nen Tür stand Micha­el, der offen­sicht­lich auch auf Ein­lass in das Hei­lig­tum war­te­te. Sei­nen Kopf schmück­te eine Gel­fri­sur, die irgend­wie mit einer grau gerahm­ten Klug­schei­ßer­bril­le eine Sym­bio­se ein­ge­gan­gen war. Klug­schei­ßer­bril­len unter­schie­den sich von regu­lä­ren Bril­len dadurch, dass dem Trä­ger in ers­ter Linie nicht die funk­tio­na­le Leis­tung am Her­zen lag, also mit sei­nen Glub­schern etwas von der Welt wahr­neh­men zu kön­nen, son­dern die Fremd­wahr­neh­mung als gebil­de­ter Bür­ger, als Mensch mit Durch­blick, nicht phy­sisch, son­dern intel­lek­tu­ell. Die­ser wie­der­um unter­schied sich deut­lich vom hip­pen Mit­läu­fer, der eine Bril­le aus rein ästhe­ti­schen Grün­den trug, bevor­zugt im so genann­ten Vin­ta­ge-Look, und die­sen Schwach­sinn auch noch mit­ge­macht hät­te, wenn es ange­sagt gewe­sen wäre, Hör­ge­rä­te oder Krü­cken zu tragen.
Den gebüh­ren­den Respekt wah­rend, der mit der Benut­zung öffent­li­cher Bedürf­nis­an­stal­ten all­ge­mein ein­her­ging, stand ich untä­tig her­um und begut­ach­te­te schwei­gend das auf­re­gen­de Mus­ter der Rau­fa­ser­ta­pe­te. Micha­el kann­te kei­nen Respekt. Er sprach mich an. Nach kur­zem Weißt-du-noch- und Na-wie-geht’s‑Geplänkel fing auch er an, letz­te­re Fra­ge mit lan­gen Aus­schwei­fun­gen über sei­ne beruf­li­che Tätig­keit zu beant­wor­ten. War­um bloß rede­ten so vie­le Men­schen von ihrer Arbeit, von ihrem Stu­di­um, von ihrem Fit­ness­club oder ihrem liebs­ten Fuß­ball­ver­ein, wenn man sie frag­te, wie es ihnen geht. Hat­ten sie kein eige­nes Leben jen­seits der Fremdbestimmung?
Micha­el jeden­falls erzähl­te mir, schon seit län­ge­rer Zeit für eine sehr bekann­te Musik­zeit­schrift zu arbei­ten, für den unglaub­lich krea­tiv benann­ten ›Laut­spre­cher‹.
»Die Atmo­sphä­re in der Redak­ti­on ist ein­fach toll«, him­mel­te er mir unge­fragt vor. »Alle sind total jung, total locker. Jeder hat ganz viel Frei­heit. Das ist für mich echt ein Traum­job. Die gan­ze Zeit darf ich Musik hören, dar­über schrei­ben, sie bewer­ten, darf mich mit Künst­lern tref­fen und Inter­views füh­ren, in die Sze­ne ein­tau­chen und neue Trends ent­de­cken – oder wel­che set­zen. Natür­lich steckt da auch viel Arbeit drin, aber die ist es wert. Uns geht es ein­fach nur um gute Musik.«
Wer kei­nen Musik­ge­schmack auf­wei­sen konn­te, der las Musik­zeit­schrif­ten, die ihren Lesern die läs­ti­ge Auf­ga­be eige­ner Mei­nungs­bil­dung gegen ein Ent­gelt bereit­wil­lig abnah­men. Ähn­li­che Publi­ka­tio­nen gab es für Lite­ra­tur, Mode, Lyrik, Fil­me, Kat­zen­bil­der, Scheiß­hau­fen und so ziem­lich alles, was Men­schen sonst noch her­vor­brach­ten. Sie stan­den in bes­ter Tra­di­ti­on jenes Men­schen­ty­pus, der sich von Gott oder ande­ren Wahn­vor­stel­lun­gen dazu beru­fen fühl­te, kul­tu­rel­le Aus­drucks­for­men zu bewer­ten und dabei vor­wie­gend ›man‹ statt ›ich‹ zu gebrau­chen, wie etwa: ›das hört man nicht‹, ›das liest man nicht‹, ›das sagt man nicht‹, ›das trägt man nicht‹. Die­se hoheit­li­chen Ver­dik­te fan­den ihre treu­en Abneh­mer unter jenen, die sich durch Anschluss an bestehen­de Trends und Moden Indi­vi­dua­li­tät zu geben ver­such­ten. Das Resul­tat war eine Armee von see­len­lo­sen Zom­bies, die sich bei jedem Lied, bei jedem Film, bei jedem Klei­dungs­stück und jedem Buch erst ein­mal ange­strengt den Kopf dar­über zer­bra­chen, ob sie es denn über­haupt gut fin­den dür­fen, und zur Klä­rung die­ser Fra­ge ihre hei­li­gen Schrif­ten konsultierten.
»Du sagst also ande­ren, was gute Musik ist und was nicht? Woher willst du das denn wis­sen? Bist du die Talent­po­li­zei? Die Geschmacks­ge­sta­po? Ist dir klar, dass es da drau­ßen unglaub­lich vie­le Men­schen gibt, die irgend­wel­che Bands schlecht fin­den, bloß weil du sie schlecht fin­dest? Die dei­ne Tex­te lesen und deren Inhalt dann als eige­ne Mei­nung aus­ge­ben? Macht dich das geil? Raffst du nicht, wie spie­ßig das ist?«
»Bist du…«, woll­te ich wei­ter aus­ho­len, als die Tür des Bade­zim­mers abrupt geöff­net wur­de. Her­aus kam René, wäh­rend sich Micha­el dank­bar dar­in ver­drück­te. René muss­te so sehr auf die Beherr­schung sei­nes bes­ten Stücks fixiert gewe­sen sein, dass er die Unter­hal­tung vor der Bade­zim­mer­tür gar nicht mit­be­kom­men hat­te. Anders konn­te ich mir nicht erklä­ren, wie­so er ste­hen­blieb und mir beschwingt die Hand gab, die er hof­fent­lich gewa­schen hat­te. Wie ich bald dar­auf erfuhr, war er Bank­an­ge­stell­ter und leb­te mit sei­ner Frau und zwei Kin­dern in der Frank­fur­ter Innen­stadt. Stolz zeig­te er mir Fotos der bei­den Töch­ter, gar­niert mit epi­schen Geschich­ten von Hele­nes wun­der­vol­ler Ein­schu­lung und den groß­ar­ti­gen Noten der fünf Jah­re älte­ren Marie-Sophie. Mein Ein­druck war, ich hat­te einen Men­schen vor mir, der ein Leben am Limit führ­te, weil er ohne Kom­pro­mis­se eine kon­se­quent selbst­be­stimm­te Linie fuhr und sei­ne abge­dreh­ten Lebens­träu­me erfüllt hat­te, also Füh­rer­schein, Abitur, dann Wirt­schafts­stu­di­um und Rei­hen­haus­hälf­te. Als er nach einer gefühl­ten Ewig­keit den Vor­rat des fami­lia­len Erfolgs erschöpft hat­te, den es zu erzäh­len lohn­te, war es an mir, den eige­nen Kar­rie­re­pfad gla­mou­rös nachzuzeichnen.
»Und was machst du so? Ich hab gehört, bei dir lief es nicht so toll?«
»Ich bin arbeits­los«, erwi­der­te ich treuherzig.
»Oje. Ist das nicht schrecklich?«
Ich fand, das war eigent­lich eine sehr gute Fra­ge, wenn er sie nur nicht unbe­dingt mir gestellt hätte.
»Ich fin­de, das ist eigent­lich eine sehr gute Fra­ge«, ant­wor­te­te ich der Wahr­heit zulie­be. »Mal sehen. Du stehst jeden Mor­gen auf, damit du etli­che Stun­den hin­ter Pan­zer­glas ver­brin­gen kannst, wo du den Gewinn dei­ner scheiß Bank ver­mehrst, von dem du aber nie etwas zu Gesicht bekom­men wirst. Wenn du Glück hast, kannst du zwei Mal im Jahr in irgend­ei­nen tol­len Pau­schal­ur­laub fah­ren oder Ski­lau­fen gehen, aber sonst ist jeder Tag so lang­wei­lig wie der letz­te. Stän­dig machst du dir die Hosen voll vor Angst, irgend­wann mal dei­nen Job zu ver­lie­ren oder bei einem Über­fall erschos­sen zu wer­den – was auch sein Gutes hät­te, weil dei­ner Fami­lie dann immer­hin noch die Lebens­ver­si­che­rung zukom­men wür­de. Ist das nicht schrecklich?«
Er ließ mich eis­kalt ste­hen. Wenig spä­ter kam Micha­el aus dem Bade­zim­mer und ging wort­los an mir vor­bei. Ich frag­te mich, ob er René und mich belauscht hat­te. Was sonst konn­te ihn so lan­ge dort drin beschäf­tigt haben?
Beim Was­ser­las­sen mal­te ich mir aus, dass drau­ßen Möbel vor die Tür gescho­ben wur­den, um die Par­ty end­lich von einem stö­ren­den Ele­ment zu befrei­en, das zufäl­lig mei­nen Namen trug. Als ich schließ­lich die Tür öff­ne­te, stan­den jedoch kei­ne Möbel davor, son­dern Han­na. Han­na arbei­te­te mitt­ler­wei­le als Pfle­ge­rin in einer Psych­ia­trie, wie ich von Pia erfah­ren hat­te. Sie war Betreue­rin, The­ra­peu­tin, Psy­cho­lo­gin, Psy­cho­the­ra­peu­tin, Psy­cho­psy­cho­lo­gin, Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin, psy­cho­pa­thi­sche The­ra­peu­tin oder was weiß ich, wel­cher Begriff gera­de für Mecha­ni­ker des Innen­le­bens en vogue war, die sich in sol­chen Anstal­ten der emo­ti­ons­lo­sen Behand­lung emo­tio­na­ler The­men ver­schrie­ben hat­ten, der Behe­bung mensch­li­cher Defek­te, not­falls mit­hil­fe der Che­mie, damit der Motor wei­ter­hin brumm­te. Um allen Kli­schees gerecht zu wer­den, trug sie eine rote Bril­le. Viel­leicht ist sie beauf­tragt wor­den, mich nach den bis­he­ri­gen Zusam­men­stö­ßen mit dem Jahr­gang in ihre Arbeits­stät­te ein­zu­wei­sen, mut­maß­te ich.
Nichts der­glei­chen geschah. Sie nick­te mir zu und sag­te Hal­lo. Den bis­he­ri­gen Ver­lauf des Abends noch ein­mal Revue pas­sie­ren las­send, beschloss ich, das übli­cher­wei­se von mei­nen Gesprächs­part­nern bevor­zug­te The­ma dies­mal ein­fach vorwegzunehmen.
»Du bist jetzt in einer Psych­ia­trie, hab ich gehört.«
»Ja, schon.« Han­na lach­te. »Aber als Ärz­tin, nicht als Patientin.«
Das war den Wach­mann­schaf­ten sol­cher Ein­rich­tun­gen wich­tig. Kla­re Rol­len­gren­zen muss­ten gezo­gen, ein­deu­ti­ge Hier­ar­chien und eine unver­rück­ba­re Nor­ma­li­tät als Bezugs­rah­men kon­stru­iert wer­den. Wider­sprach der Pati­ent, war er ver­rückt. Gehorch­te er, gestand er sei­ne Ver­rückt­heit. Hin­ein kamen Men­schen mit einem Knacks, her­aus kamen sie mit schwe­ren Schä­den. Wer dort arbei­te­te, war der eigent­li­che Irre, wur­de aber nicht so genannt, denn er war es auf eine mit dem als ›nor­mal‹ ver­kann­ten Wahn­sinn sehr kon­form gehen­de Art und Weise.
»Ach, das ist ja ver­rückt«, kalau­er­te ich und luchs­te ihr ein Schmun­zeln ab. »Was machst du da so?«
»Viel Ver­rück­tes!« Zwei glei­che Wort­wit­ze waren einer zu viel. »Aber im Ernst: Das ist echt super wich­ti­ge Arbeit. Mit was für Men­schen man da zu tun hat, das ist der Wahnsinn.«
Sie hat­te ihre Aus­fahrt von der Wort­spiel­au­to­bahn ver­passt. Gequält ver­renk­te ich mei­ne Mund­win­kel, um mög­lichst lebens­nah ein Lächeln zu simulieren.
»Letz­ten Monat«, erzähl­te sie mir, »kam ein Mäd­chen zu uns, das wir vor dem Sui­zid geret­tet haben. Die woll­te sich umbrin­gen, weil sie in der Schu­le nicht mehr mit­kam. Ihre Ver­set­zung war gefähr­det, dann hät­te sie ein Jahr wie­der­ho­len müs­sen. Die gan­zen Freun­de in der Klas­se hät­te sie natür­lich auch ver­lo­ren und gegen­über ihren Eltern schäm­te sie sich. Ihr war das alles zu viel. Ihre Eltern fan­den sie in ihrem Zim­mer. Tabletten.«
»Krass!« flüs­ter­te ich nur.
»Das kannst du laut sagen. Na ja, aber die Hil­fe kam ja noch recht­zei­tig. Wir haben ihr dann gehol­fen, da durch­zu­kom­men. Sie hat­te sich über­for­dert, woll­te sich nicht ein­ge­ste­hen, dass sie die Stu­fe nicht schaf­fen wür­de, also konn­te sie nur wei­ter­ma­chen, bis alles an die Wand fuhr. Ich hab dann mit ihr gespro­chen, hab ihr klar­ge­macht, dass es bes­ser für sie ist, auf eine leich­te­re Schu­le zu wech­seln, um den Druck ein wenig zu redu­zie­ren. Da wür­de sie zwar auch ihre Freun­de ver­lie­ren, aber eben nicht die Lust am Leben. Gott sei Dank hat sie das ein­ge­se­hen. Am Ende war sie rich­tig glück­lich, dass alles noch mal gut aus­ge­gan­gen ist. Das sind so Momen­te, in denen ich weiß, das Rich­ti­ge zu tun. Men­schen zu helfen.«
Die Unter­hal­tung mit René schwirr­te mir noch im Hin­ter­kopf her­um und so rief sie mir ins Bewusst­sein, was ich Wich­ti­ges von ihm gelernt hatte.
»Fin­dest du das nicht schreck­lich?« frag­te ich sie mit treu­doo­fem Blick.
»Natür­lich ist das schreck­lich!« ant­wor­te­te sie mit dem geho­be­nen Selbst­be­wusst­sein der­je­ni­gen, die sich auf der guten Sei­te wähn­ten. »Aber zum Glück ging es gut aus. Wir haben ja noch mal die Kur­ve gekriegt.«
»Neeee. Ich mein­te, ob du nicht schreck­lich fin­dest, was du da machst.«
Sie stutzte.
»Da kommt ein Mäd­chen zu dir, das sich umbrin­gen möch­te, weil sei­ne Schu­le ihm den Ein­druck ver­mit­telt, doof und unfä­hig zu sein, und anstel­le dar­aus den ein­zi­gen empa­thi­schen Schluss zu zie­hen, dass das ein ver­dammt beschis­se­nes Sys­tem sein muss, wenn es Kin­dern eine sol­che Ernied­ri­gung zumu­tet, über­zeugst du das arme Mäd­chen davon, auf eine leich­te­re Schu­le zu wech­seln. Damit sagst du ihm doch ins Gesicht, dass es wirk­lich doof und unfä­hig ist! Du machst dich zum Hand­lan­ger von Struk­tu­ren, wegen der sie sich hat umbrin­gen wol­len – und du fühlst dich auch noch gut dabei! Fin­dest du das nicht men­schen­ver­ach­tend? Was zum Teu­fel machst du an ande­ren Tagen? Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fern erklä­ren, sie wären doch selbst schuld, wenn sie sich wie Schlam­pen anziehen?«
Sicher­lich kann­te Han­na unzäh­li­ge Begrif­fe, die sie mir ger­ne um die Ohren gehau­en hät­te. ›Anti­so­zia­le Per­sön­lich­keits­stö­rung‹ bei­spiels­wei­se, weil ich es wag­te, ihre patho­lo­gi­sche Nor­ma­li­tät in Fra­ge zu stel­len. Schu­le schwän­zen galt eben­falls als anti­so­zia­les Ver­hal­ten. Wenn aber einer begriff, so wie Chris das frü­her getan hat­te, dass Schu­le und Gefäng­nis zahl­rei­che Par­al­le­len auf­wie­sen und es nicht ums Ler­nen, son­dern um die Ein­tei­lung in Hier­ar­chie­stu­fen ging, um Unter­ord­nung und die Anpas­sung an ein bür­ger­li­ches Leben mit Aus­bil­dung, Arbeit und Ren­te, dass daher nie das Wohl der Kin­der im Vor­der­grund stand, son­dern die öko­no­mi­sche Ver­wert­bar­keit mensch­li­cher Res­sour­cen, dann war es in mei­nen Augen sehr gesund, sowohl geis­tig wie auch sozi­al, sich die­ser Schei­ße zu wider­set­zen, weil die­se Struk­tu­ren das eigent­li­che Anti­so­zia­le dar­stell­ten. Lei­der hat­te ich das erst am Ende mei­ner Schul­zeit geschnallt.
Anstatt mit Fach­ter­mi­no­lo­gie um sich zu schmei­ßen, ver­pass­te Han­na mir eine Ohr­fei­ge und knall­te ihr Sekt­glas auf den Boden, bevor sie in ihren Sti­let­to-Stie­feln davon­k­la­cker­te. Von hin­ten gefiel sie mir.
Ich brau­che schleu­nigst einen Drink, dach­te ich, nach­dem sie außer Hör­wei­te gestö­ckelt war. Unschuld vor­täu­schend schlurf­te ich zur Bar, an der sich bereits Andre­as häus­lich ein­ge­rich­tet hatte.
»Was für ein lang­wei­li­ger Hau­fen.« Er pros­te­te mir zu. »Ich find’s toll, dass du hier ein wenig Stim­mung reinbringst.«
»Einer muss es ja tun.«
Frü­her war Andre­as ein typi­sches Kel­ler­kind gewe­sen, Leis­tungs­kur­se Mathe und Infor­ma­tik, mit dem selbst noch auf die­ser Par­ty kei­ner so rich­tig zu tun haben woll­te. Da er den ers­ten ver­nünf­ti­gen Satz des Abends von sich gege­ben hat­te, hielt ich ihn umge­hend für einen net­ten Men­schen. Vor­ur­tei­le waren dazu da, sie zu über­win­den. Wir tausch­ten unse­re Ein­drü­cke über die anwe­sen­de Lang­wei­ler­trup­pe aus, deren Dün­kel­haf­tig­keit und ihre Sta­tus­sym­bo­le. Mit spür­ba­rem Ekel trug ich mei­nen vor­läu­fi­gen Expe­di­ti­ons­be­richt vor; leg­te Andre­as die strik­te Lebens­pla­nung dar, die jeder der Mus­ter­men­schen hier offen­bart hat­te, mit dem ich ins Gespräch gekom­men war. Andre­as hat­te dafür bloß einen ein­zi­gen Satz übrig: ›Je plan­mä­ßi­ger das eige­ne Leben funk­tio­niert, des­to weni­ger ist es ein eige­nes Leben‹.
Mir fiel Dio­ge­nes ein, die­ser grie­chi­sche Phi­lo­soph, der angeb­lich in einer Ton­ne gehaust haben soll. Andre­as ver­kör­per­te die moder­ni­sier­te Ver­si­on die­ser Geschich­te und hat­te die Ton­ne gegen sei­nen Kel­ler aus­ge­tauscht. Viel­leicht wäre die Welt eine bes­se­re gewe­sen, hät­te sie auf ihre Kel­ler­kin­der gehört.
Eine ange­se­he­ne Kar­rie­re war Andre­as im Gegen­satz zu den vie­len Leis­tungs­mons­tern auf die­ser Par­ty nicht son­der­lich wich­tig. Tags­über arbei­te­te er als Soft­ware­ent­wick­ler für einen gro­ßen deut­schen Ver­si­che­rungs­kon­zern, betrieb in sei­ner Frei­zeit aber eine gesell­schafts- und kapi­ta­lis­mus­kri­ti­sche Web­site, wie er mir eupho­risch mit­teil­te. Er fand das alles schei­ße, wie es lief, die gan­ze Gesell­schafts­ord­nung war ihm ein Dorn im Auge.
»Stän­dig wird man ver­arscht«, seufz­te er und rann­te offe­ne Türen bei mir ein. »Seit zehn Jah­ren sind wir im Krieg, nur kei­ner spricht das Wort offen aus. Oder die Finanz­kri­se! Unse­re lach­haf­te Eli­te spielt sich als gro­ßer Euro­pa-Ret­ter auf. Dabei ist es doch Deutsch­land gewe­sen, das durch Lohn­dum­ping zum ach so tol­len Export­welt­meis­ter gewor­den ist und dadurch die Schul­den der ande­ren Län­der über­haupt erst nach oben getrie­ben hat. Nun wun­dert man sich hier, dass man im Aus­land nicht als Held gefei­ert wird. Als ob dich auf der Stra­ße einer zusam­men­schlägt, dein gan­zes Erspar­tes von dir for­dert, damit er dir den Ret­tungs­wa­gen ruft, und für die­se Wohl­tat dann auch noch gelobt wer­den möchte.«
Andre­as schüt­tel­te den Kopf und leer­te sein Bier.
»Man soll här­ter arbei­ten, heißt es, län­ger, bes­ser, bil­li­ger«, fuhr er fort. »Man soll wäh­len gehen, obwohl sich ja doch nichts ändert. Man soll mit weni­ger Lohn, mit weni­ger Ren­te, mit weni­ger Urlaub zufrie­den sein. Die Löh­ne sei­en gestie­gen, schrei­ben die Zei­tun­gen, dabei sind sie wäh­rend der letz­ten Jah­re um eini­ges gesun­ken, wenn man mal nach­rech­net. Man soll schuf­ten bis zum Umfal­len und sich ein Leben lang wei­ter­bil­den. Man soll die Fres­se hal­ten, weil man sonst ent­las­sen oder nie­der­ge­knüp­pelt wird. Man soll schön dan­ke sagen für jede Zumu­tung, die einem auf­er­legt wird. Und die Scha­fe glau­ben den gan­zen Mist.«
»Weil man sowie­so nichts ändern kann«, ver­voll­stän­dig­te ich ironisch.
»Genau! Genau das sagen sie dann: Da kann man nichts tun. Das ist halt so. Das ist schon immer so gewe­sen. Das wird auch immer so sein.«
»Weil sie zu blöd sind, Markt­ge­set­ze von Natur­ge­set­zen zu unterscheiden.«
»Eben. Und weil sie immer noch glau­ben, die Ord­nung käme von Gott. Heu­te sagen vie­le viel­leicht nicht mehr ›Gott‹ dazu, aber was sie glau­ben, läuft auf das glei­che hin­aus: Das ist halt so. Wie klei­ne Kin­der. Obwohl, stimmt gar nicht – klei­ne Kin­der stel­len wesent­lich mehr kri­ti­sche Fra­gen als die meis­ten Erwach­se­nen. Wenn man ehr­lich ist, muss man doch zuge­ben, die Auf­klä­rung hat ver­sagt. ›Habe Mut, dich dei­nes eige­nen Geld­beu­tels zu bedie­nen‹, das ist alles, was davon übrig geblie­ben ist.«
Ich fühl­te mich wie ein Schatz­su­cher. Unter all dem cha­rak­ter­lo­sen Geröll, das in Abend­gar­de­ro­be durch die Räum­lich­kei­ten kul­ler­te, hat­te ich einen Edel­stein entdeckt.
»Heu­te Mit­tag hab ich einen Arti­kel über kam­bo­dscha­ni­sche Arbeits­ver­hält­nis­se geschrie­ben. Unter der Woche lässt mir der Job lei­der kaum Zeit.«
»War­um Kam­bo­dscha?« Ich konn­te dem The­men­sprung nicht folgen.
»Weil unse­re tol­len Kla­mot­ten­lä­den dort so ger­ne pro­du­zie­ren las­sen. Kaufst du da manch­mal ein? Bei die­sen Ket­ten? Soll­test du nicht. Die Men­schen in den Fabri­ken dort bre­chen scha­ren­wei­se zusam­men und bekom­men nur einen Hun­ger­lohn dafür. Wer sich beschwert, wird rausgeschmissen.«
Davon hat­te ich gelesen.
»Und das ist noch harm­los im Ver­gleich zur Elek­tronik­bran­che«, setz­te er nach. »Hast du das mit­be­kom­men von den Wer­ken in Chi­na? Wo sich zahl­rei­che Mit­ar­bei­ter aus Pro­test vom Dach gestürzt haben? Jetzt hat die Fir­ma dort über­all Fang­net­ze instal­liert, um sol­che auf­se­hen­er­re­gen­den Selbst­mord­ver­su­che zu unter­bin­den. Das sind doch Pro­blem­lö­sungs­stra­te­gien nach der Logik von Psy­cho­pa­then! Nur weil hier jeder unbe­dingt ein Smart­phone in der Hand hal­ten möch­te…« Er schlug mit der Hand auf den Tre­sen. »Wenn ich sol­che Zustän­de sehe, werd ich echt wütend!«
»Ich auch.« Wir schwie­gen uns für eini­ge Sekun­den an. »Aber weißt du, was mich am wütends­ten macht? Dass ich mit mei­ner Wut fast allei­ne bin. Bis vor eini­ger Zeit hat mich das echt oft an den Rand der Ver­zweif­lung gebracht. Alle sagen sie zu mir: Reg dich nicht auf, so ist es halt.«
»Wie die Schafe.«
»Wie die Scha­fe«, pflich­te­te ich ihm bei.
»Mensch, das ist doch alles zum Kot­zen«, fass­te er das Welt­ge­sche­hen aus­sa­ge­kräf­tig zusammen.
Er hat­te zwar Recht mit sei­nen Aus­füh­run­gen und sei­ne Ableh­nung der Zustän­de war mora­lisch durch­aus lobens­wert, doch allein mit mora­li­scher Ent­rüs­tung war kein Blu­men­topf zu gewinnen.
»Und den­noch machst du mit«, stell­te ich bei­läu­fig fest.
»Wie­so?«
»Na, dein Job…«
»Na ja, was soll man tun. Man muss ja irgendwie.«
»Nein. Wenn man kon­se­quent ist, muss man das nicht.«
»Du hast gut reden. Du bist ja arbeitslos.«
Eines muss­te man die­ser Spie­ßer­ban­de las­sen, der Infor­ma­ti­ons­fluss funk­tio­nier­te per­fekt. Mein Stig­ma des arbeits­lo­sen Unter­men­schen­tums hat­te sich bereits her­um­ge­spro­chen. Ich konn­te das ›nur‹, das nicht gesagt wur­de, förm­lich sehen, als wäre es mit Leucht­buch­sta­ben in die Luft gesetzt.
»Ganz recht«, ent­geg­ne­te ich, »und wenn du Eier in der Hose hät­test, dann wür­dest du dei­nen beschis­se­nen Job genau­so an den Nagel hängen.«
Aus mir sprach Wut, zu einem Teil aber auch per­sön­li­che Ent­täu­schung, weil er hin­ter sei­ner Fas­sa­de genau­so strom­li­ni­en­för­mig war wie alle ande­ren. Wäre er Dio­ge­nes gewe­sen, ich hät­te mit aller Wucht gegen sei­ne alber­ne Ton­ne getreten.
»Wenn du alles so schei­ße fin­dest, war­um machst du dann noch mit? Wenn einer dich beim Pokern ver­arscht, dann schmeißt du doch die Kar­ten hin und gehst, oder nicht? Statt­des­sen machst du einen auf kri­tisch und reflek­tiert, bist aber auch nur eines von die­sen Scha­fen, das sich nach Strich und Faden ver­ar­schen lässt. Du bist der größ­te von allen Blen­dern hier. Du bist ein Feig­ling und ein Heuch­ler, weil Kri­tik ohne per­sön­li­che Kon­se­quenz nichts ande­res als Heu­che­lei ist.«
»Ach ja? Und du bist ein Arsch­loch«, kon­ter­te er und ver­ließ kur­zer­hand die Party.
Nach die­sem anre­gen­den Dia­log fand ich nie­man­den mehr, der mit mir reden woll­te, was mich nicht beson­ders trau­rig stimm­te, weil ich mich nun mit Leib und See­le dem Buf­fet wid­men konn­te. Totes Tier war ein ange­neh­me­rer Gesprächs­part­ner, hat­te es vor sei­nem Tod doch immer­hin ein Rück­grat beses­sen, was man vom Rest der Anwe­sen­den nur sehr ein­ge­schränkt behaup­ten konnte.
Das war das bes­te Klas­sen­tref­fen mei­nes Lebens und ver­mut­lich auch das letz­te. Sie wür­den sich hüten, mich noch ein­mal ein­zu­la­den. Allei­ne dafür hat­te es sich schon gelohnt.

Arbeit ver­höhnt die Frei­heit. Offi­zi­ell kön­nen wir uns glück­lich schät­zen, von Rechts­staat und Demo­kra­tie umge­ben zu sein. Ande­re arme Unglück­li­che, die nicht so frei sind wie wir, müs­sen in Poli­zei­staa­ten leben. Die­se Opfer fol­gen Befeh­len, egal wie will­kür­lich sie sind. Die Behör­den hal­ten sie unter dau­ern­der Auf­sicht. Staats­be­am­te kon­trol­lie­ren sogar kleins­te Details ihres All­tags­le­bens. Die Büro­kra­ten, die sie her­um­schub­sen, müs­sen sich nur nach oben ver­ant­wor­ten, in öffent­li­chen wie in Pri­vat-Ange­le­gen­hei­ten. So und so wer­den Abwei­chung und Auf­leh­nung bestraft. Regel­mä­ßig lei­ten Infor­man­ten Berich­te an die Behör­den wei­ter. Das alles gilt als sehr schlecht.
Und das ist es auch, obwohl es nichts wei­ter dar­stellt als eine Beschrei­bung eines moder­nen Arbeits­plat­zes. Die Libe­ra­len und Kon­ser­va­ti­ven und Frei­heit­li­chen, die sich über Tota­li­ta­ris­mus beschwe­ren, sind Schwind­ler und Heuch­ler. (…) In einem Büro oder einer Fabrik herrscht die­sel­be Art von Hier­ar­chie und Dis­zi­plin wie in einem Klos­ter oder einem Gefäng­nis. Tat­säch­lich haben Fou­cault und ande­re gezeigt, daß Gefäng­nis­se und Fabri­ken etwa zur glei­chen Zeit auf­ka­men, und ihre Betrei­ber ent­lie­hen sich bewußt Kon­troll­tech­ni­ken von­ein­an­der. Ein Arbei­ter ist ein Teil­zeit­skla­ve. Der Chef sagt, wann es los­geht, wann gegan­gen wer­den kann und was in der Zwi­schen­zeit getan wird. Er schreibt vor, wie­viel Arbeit zu erle­di­gen ist und mit wel­chem Tem­po. Es steht ihm frei, sei­ne Kon­trol­le bis in demü­ti­gen­de Extre­me aus­zu­wei­ten, indem er fest­legt (wenn ihm danach ist), wel­che Klei­dung vor­ge­schrie­ben wird und wie oft die Toi­let­te auf­ge­sucht wer­den darf. Mit weni­gen Aus­nah­men kann er jeden aus jedem Grund feu­ern, oder auch ohne Grund. Er läßt bespit­zeln und nach­schnüf­feln, er legt Akten über jeden Ange­stell­ten an. Wider­spre­chen heißt „Unbot­mä­ßig­sein“, als wäre der Arbei­ter ein unge­zo­ge­nes Kind, und es sorgt nicht nur für sofor­ti­ge Ent­las­sung, es ver­rin­gert auch die Chan­cen auf Arbeits­lo­sen­un­ter­stüt­zung. Ohne es unbe­dingt gut­zu­hei­ßen, ist es wich­tig anzu­mer­ken, daß Kin­der zu Hau­se und in der Schu­le die glei­che Behand­lung erfah­ren, bei ihnen durch die ange­nom­me­ne Unrei­fe gerecht­fer­tigt. Was sagt uns das über ihre Eltern und Leh­rer, die arbeiten?
(Bob Black – Die Abschaf­fung der Arbeit; im Ori­gi­nal: The Aboli­ti­on of Work)

Zen­tral für das Kon­zept des sozia­len Raums und der sozia­len Fel­der ist das Begrei­fen der sozia­len Wirk­lich­keit als einer rela­tio­na­len. Jeder Akteur inner­halb der sozia­len Wirk­lich­keit fin­det sich an einem Punkt die­ses sozia­len Rau­mes wie­der, wobei sei­ne Posi­ti­on dabei stets im Ver­hält­nis zur Posi­ti­on der ande­ren Akteu­re steht bezie­hungs­wei­se in Hin­sicht auf die Distanz zu ande­ren Akteu­ren defi­niert wird, was durch die Unter­schie­de im Lebens­stil oder – all­ge­mei­ner – im Habi­tus zur Gel­tung kommt. Der sozia­le Raum ist somit auch ein Raum der sozia­len Unter­schie­de und beinhal­tet durch sein rela­tio­na­les Kon­zept die Bezie­hun­gen der ein­zel­nen Akteu­re zuein­an­der. Die Gesell­schaft kon­sti­tu­iert sich unter stän­di­ger Ver­än­de­rung aus den sym­bo­li­schen Kämp­fen um Macht inner­halb des sozia­len Rau­mes. Ein Akteur sieht dabei die Welt oder bes­ser gesagt den sozia­len Raum stets aus Sicht sei­ner Posi­ti­on, so wie eine Per­son im phy­si­schen Raum ihre geo­gra­phi­sche Umge­bung stets nur gemäß ihrer Posi­ti­on wahrnimmt.

Bour­dieu kon­stru­iert den sozia­len Raum als Drei­ebe­nen­kon­zept, umfas­send die Ebe­ne der sozia­len Posi­tio­nen oder Lagen, die Ebe­ne der Lebens­sti­le sowie die Ebe­ne des Habitus.

Die ers­te Ebe­ne der sozia­len Posi­tio­nen lässt sich als drei­di­men­sio­na­les Gebil­de erklä­ren. Zunächst ent­schei­det das per­sön­li­che Kapi­tal­vo­lu­men, also sowohl kul­tu­rel­les als auch öko­no­mi­sches Kapi­tal, über die ver­ti­ka­le Posi­ti­on im sozia­len Raum; das Kapi­tal­vo­lu­men stellt folg­lich die Y‑Achse eines Ach­sen­kreu­zes dar. Wer über ein hohes Kapi­tal­vo­lu­men ver­fügt, fin­det sich in den obe­ren Berei­chen des sozia­len Rau­mes wie­der. Die zwei­te Ach­se stellt die Kapi­tal­struk­tur des Kapi­tals dar, über das ein Akteur ver­fügt. Ihre Pole sind das kul­tu­rel­le sowie das öko­no­mi­sche Kapi­tal. Ein Akteur, der über viel öko­no­mi­sches Kapi­tal ver­fügt, befin­det sich somit an einer ande­ren Posi­ti­on in den obe­ren Berei­chen des sozia­len Rau­mes als eine Per­son, die über viel kul­tu­rel­les Kapi­tal ver­fügt. Kapi­tal­vo­lu­men und Kapi­tal­zu­sam­men­set­zung sind glei­cher­ma­ßen bedeu­tend. Als drit­te Dimen­si­on spielt schließ­lich neben der aktu­el­len Posi­ti­on auch die Ent­wick­lung im sozia­len Raum eine Rol­le. Ver­gan­gen­heit und Zukunft sind hier als Zeit­fak­to­ren von Bedeu­tung, da die Ent­wick­lung Auf­schluss dar­über gibt, ob es sich bei einem Akteur um einen sozia­len Auf- oder Abstei­ger handelt.

Die zwei­te Ebe­ne der Lebens­sti­le kann als über­la­ger­te Ebe­ne auf dem Raum der sozia­len Posi­tio­nen begrif­fen wer­den. Hier zei­gen sich die Unter­schie­de im Kon­sum­ver­hal­ten, in der Nut­zung von Unter­hal­tungs­an­ge­bo­ten, im Sport oder all­ge­mein in der Frei­zeit­ak­ti­vi­tät der sozia­len Akteu­re, die zwar Posi­tio­nen auf der ers­ten Ebe­ne ent­spre­chen, aber nicht zwangs­wei­se dar­aus abge­lei­tet wer­den kön­nen und daher auch sepa­rat unter­sucht werden.

Wie schon auf der zwei­ten Ebe­ne der Lebens­sti­le zei­gen sich auch auf der drit­ten Ebe­ne der Habi­tus die in der ers­ten Ebe­ne ver­deut­lich­ten Unter­schie­de in der Ver­füg­bar­keit über Kapi­tal und die zuge­hö­ri­gen Posi­tio­nen, die für die Akteu­re nicht unmit­tel­bar erkenn­bar sind, in wirk­li­chen, für die Akteu­re sicht­ba­ren Unter­schie­den. Es sind unter­schied­li­che Lebens­sti­le und Ver­hal­tens­wei­sen, die in die­sen bei­den Ebe­nen die unter­schied­li­chen mate­ri­el­len Bedin­gun­gen als unmit­tel­bar erleb­ba­re sozia­le Unter­schie­de zum Aus­druck brin­gen. Der Habi­tus die­ser drit­ten Ebe­ne, ent­stan­den durch die sozia­len Umstän­de, durch die er geprägt wur­de, zeich­net sich für die Umwand­lung ver­ant­wort­lich, die aus ähn­li­chen mate­ri­el­len Bedin­gun­gen ähn­li­che Ver­hal­tens­mus­ter, Geschmä­cker und Lebens­sti­le formt, die schluss­end­lich die sozia­len Dif­fe­ren­zen repro­du­zie­ren. Jene Ver­hal­tens­mus­ter, Lebens­sti­le und Geschmä­cker, gebil­det danach, in wel­cher öko­no­mi­schen und kul­tu­rel­len Situa­ti­on ein Akteur auf­ge­wach­sen ist, wer­den zu Kenn­zei­chen der sozia­len Posi­ti­on und die­nen damit einer­seits als Zuord­nungs- und gleich­zei­tig als Abgren­zungs­merk­mal. Wer auf­stei­gen will, muss gewis­se Hür­den über­win­den und wird auf Grund sei­nes inkor­po­rier­ten Habi­tus nie voll­kom­men ‚dazu­ge­hö­ren’, fühlt sich also mit­un­ter am fal­schen Ort, genau­so wie legi­ti­me oder distin­gu­ier­te Kul­tur als Kul­tur der obe­ren Posi­tio­nen im Sozi­al­raum als Abgren­zungs­merk­mal benutzt wird, die als unin­ter­es­sant und undis­tin­gu­iert gilt, sobald sie popu­lär gewor­den ist und damit auch brei­te­re Mas­sen aus ande­ren, nied­ri­ge­ren sozia­len Posi­tio­nen über sie verfügen.

Bour­dieu kri­ti­siert mit sei­nem Drei­ebe­nen­kon­zept Marx bzw. Tei­le der dar­auf beru­hen­den Mar­xis­ten, die theo­re­ti­sche sozia­le Klas­sen, die sich durch unter­schied­li­ches Kapi­tal­ver­mö­gen aus­zeich­nen, als wirk­li­che Klas­sen begrif­fen haben. Eine wirk­li­che Klas­sen­la­ge bezie­hungs­wei­se viel­mehr sozia­le Nähe oder sozia­le Distanz ent­steht dem­ge­mäß laut Bour­dieu nur in der sozia­len Pra­xis durch die Akteu­re selbst, die sich durch Unter­schie­de in Habi­tus und Lebens­sti­len abgren­zen und somit selbst gewis­se Gren­zen defi­nie­ren, wel­che aller­dings nicht so klar ver­lau­fen müs­sen wie in der Vor­stel­lung Marx­scher Klas­sen, bei der die kon­stru­ier­ten Klas­sen strikt von­ein­an­der getrennt existieren.

Mit der Vor­stel­lung des Rau­mes geht Bour­dieu den Weg, sozia­le Nähe oder Distanz zu beschrei­ben, wie es vom geo­gra­phi­schen Raum ableit­bar ist. Tat­säch­lich las­sen sich Wech­sel­be­zie­hun­gen zwi­schen sozia­lem Raum und dem geo­gra­phi­schen oder phy­si­schen Raum beob­ach­ten, des­sen Struk­tur Bour­dieu auch als ver­ding­lich­ten Sozi­al­raum bezeich­net. Wie im phy­si­schen Raum hat im sozia­len Raum jeder Akteur eine bestimm­te Posi­ti­on, die er ein­nimmt. Wo Nähen oder Distan­zen im Sozi­al­raum bestehen, bestehen sie meist auch im phy­si­schen Raum, was sich durch phy­sisch vor­han­de­ne Abgren­zung in letz­te­rem äußert: Uner­wünsch­te Per­so­nen wer­den durch Archi­tek­tur, recht­li­che Beschrän­kun­gen, Kon­trol­len etc. auf Distanz gehal­ten. Ein Obdach­lo­ser bei­spiels­wei­se, der im sozia­len Raum über nahe­zu kei­ne Exis­tenz ver­fügt, besitzt auch im phy­si­schen Raum kei­ne wirk­li­che Posi­ti­on oder Aus­brei­tung. Die­se phy­si­sche Ver­wirk­li­chung sozia­ler Abgren­zung ist laut Bour­dieu zudem „ein Teil der Behar­rungs­kraft der Struk­tu­ren des Sozi­al­raums“ (Bour­dieu, 1997, S. 161), weil eine phy­si­sche Rea­li­sie­rung oder schein­ba­re Natu­ra­li­sie­rung sozia­ler Unter­schie­de nur sehr schwie­rig wie­der auf­zu­he­ben ist. Räum­li­che Distan­zen tra­gen somit ihren – sicher­lich gro­ßen – Teil zur Ein­ver­lei­bung der sozia­len Distan­zen bei, die sich damit in den Denk­struk­tu­ren mani­fes­tie­ren: „Genau­er gesagt voll­zieht sich die unmerk­li­che Ein­ver­lei­bung der Struk­tu­ren der Gesell­schafts­ord­nung zwei­fel­los zu einem guten Teil ver­mit­telt durch andau­ern­de und unzäh­li­ge Male wie­der­hol­te Erfah­run­gen räum­li­cher Distanz“ (Bour­dieu, 1997, S. 162).

Sozia­le Felder

Das Kon­zept der sozia­len Fel­der trägt der Tat­sa­che Rech­nung, dass sich inner­halb des sozia­len Raums ihrer­seits wei­te­re sozia­le Räu­me vor­fin­den las­sen. Die­se Räu­me oder Uni­ver­sen inner­halb des sozia­len Raums, bezeich­net als Fel­der, ver­fü­gen jeweils über eine feld­spe­zi­fi­sche Form von Kapi­tal, die inner­halb die­ser Fel­der im sym­bo­li­schen Kampf um Macht und sozia­le Posi­ti­on als cha­rak­te­ris­ti­sche sym­bo­li­sche Waf­fe ein­ge­setzt wird. Um sie geht es inner­halb des Fel­des. Im Feld der Lite­ra­tur bei­spiels­wei­se stellt eine Form des kul­tu­rel­len Kapi­tals die feld­spe­zi­fi­sche Kapi­tal­art dar, mit der sym­bo­lisch dar­um gekämpft wird, was als legi­ti­me Kul­tur Aner­ken­nung fin­det und was als popu­lä­re Kul­tur undis­tin­gu­iert ist und damit an Bedeu­tung ver­liert. Im Feld der Wis­sen­schaft hin­ge­gen wird mit der Kapi­tal­art ‚For­schung’ dar­um gekämpft, wes­sen Theo­rie, For­schung oder Erfin­dung am inno­va­tivs­ten oder am exklu­sivs­ten ist und damit die Vor­rang­stel­lung über­nimmt, um sich inner­halb des Fel­des gut zu posi­tio­nie­ren, wäh­rend im Feld der Öko­no­mie das öko­no­mi­sche Kapi­tal dar­über ent­schei­det, wer inner­halb des Fel­des Macht­po­si­tio­nen ein­neh­men kann, wohin­ge­gen im Feld der Reli­gi­on wie­der­um eine ganz ande­re Kapi­tal­art von zen­tra­ler Bedeu­tung ist, usw.

Inner­halb jedes die­ser Fel­der im sozia­len Raum fin­den somit sym­bo­li­sche Kämp­fe um die Posi­tio­nie­rung und die sozia­le Exis­tenz mit dem Ziel der Vor­macht­stel­lung im jewei­li­gen Feld statt, die den Kämp­fen auf gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Ebe­ne ähneln und mit­un­ter auch fälsch­li­cher­wei­se als sol­che wahr­ge­nom­men wer­den, aber feld­spe­zi­fi­sche sym­bo­li­sche Kämp­fe beschrei­ben. Die Fel­der ihrer­seits befin­den sich an Posi­tio­nen des sozia­len Rau­mes und stel­len dadurch folg­lich auch die Posi­tio­nen der im Feld befind­li­chen Akteu­re dar.

Wich­tig für das Kon­zept der sozia­len Fel­der ist die Dyna­mik eben die­ser. Sozia­le Fel­der sind kei­ne star­ren Gebil­de, in die ein Akteur wie in ein Getrie­be ein­ge­bun­den wird, son­dern stel­len hoch­dy­na­mi­sche sozia­le Ver­bin­dun­gen dar, die sich ver­än­dern, wenn sich die ‚Beset­zung’ ändert, also ein Akteur hin­zu­kommt oder das Feld ver­lässt. Bour­dieu ver­wen­det hier wie schon beim Habi­tus, der von zen­tra­ler Bedeu­tung für das Kon­zept der sozia­len Fel­der und des sozia­len Rau­mes ist, die Meta­pher des Spiels: Jedes sozia­le Feld ist wie ein Spiel, das mit einer eige­nen, feld­spe­zi­fi­schen Dyna­mik und eige­nen Logik aus­ge­stat­tet ist, und sobald ein neu­er Spie­ler in das Spiel auf­ge­nom­men wird, ver­än­dert sich die­ses Spiel und wird von den Akteu­ren nun auf eine abge­wan­del­te Art gespielt. Erneut fällt auf, dass ent­ge­gen den sys­tem­theo­re­ti­schen Vor­stel­lun­gen die Akteu­re nicht in ihre Rol­len oder Posi­tio­nen gedrängt wer­den, son­dern dass das Sub­jekt als sol­ches selbst das Spiel, also den sym­bo­li­schen Kampf, inner­halb der Fel­der bestimmt. Der Habi­tus als struk­tu­rier­te und struk­tu­rie­ren­de Struk­tur wird unter den gege­be­nen ‚Spiel­re­geln’ des Fel­des, die hier kei­nes­wegs als star­re Regeln miss­ver­stan­den wer­den soll­ten, und durch die Geschich­te des Fel­des beein­flusst bezie­hungs­wei­se geprägt, aber gleich­zei­tig bestimmt der Akteur, der eine Posi­ti­on inner­halb eines Fel­des ein­nimmt, wel­che wie­der­um rela­tiv zu den Posi­tio­nen der ande­ren Akteu­re im Feld ist, des­sen ‚Spiel­re­geln’. Die sozia­len Posi­tio­nen sowie die sym­bo­li­schen Kämp­fe inner­halb der sozia­len Fel­der sind folg­lich sozia­le Kon­struk­te ihrer Akteu­re, die die jewei­li­gen Fel­der mit ihren cha­rak­te­ris­ti­schen ‚Spiel­re­geln’ und sym­bo­li­schen Kämp­fen reproduzieren.

Das Aner­ken­nen der ‚Spiel­re­geln’ eines Fel­des ist somit eine der Bedin­gung oder der ‚Ein­tritts­preis’, um eine Posi­ti­on in die­sem ein­neh­men zu kön­nen; eine wei­te­re Bedin­gung ist ein spe­zi­fi­scher Habi­tus, aus dem und auf den ein Feld besteht, und ohne den der Zugang zu einem Feld meist sehr schwer fällt oder gar ver­wehrt wird. Wei­ter­hin muss der Akteur selbst­ver­ständ­lich über das cha­rak­te­ris­ti­sche Kapi­tal ver­fü­gen, das inner­halb des Fel­des als spe­zi­fi­sches Kapi­tal von Bedeu­tung ist, da er ansons­ten in eben die­sem Feld sozi­al nicht exis­tent ist.

Die sozia­len Fel­der sind infol­ge­des­sen sozu­sa­gen die ‚Orte des Lebens’, wo tat­säch­lich agiert wird und der Habi­tus der Akteu­re nicht bloß zur Gel­tung kommt, son­dern von immenser Wich­tig­keit für die Zuge­hö­rig­keit zu und die Posi­tio­nie­rung in Fel­dern ist, wohin­ge­gen der sozia­le Raum eher ein abs­trak­tes Gebil­de dar­stellt und sämt­li­che sozia­len Fel­der umfasst.

Bour­dieu lie­fert zur Ana­ly­se von sozia­len Fel­dern, deren Gren­zen nur empi­risch bestimmt wer­den kön­nen, drei Unter­su­chungs­kri­te­ri­en: Zum ers­ten die Posi­ti­on des Fel­des im Ver­hält­nis zur Macht, also wo sich das Feld inner­halb des sozia­len Rau­mes befin­det, zwei­tens die Posi­tio­nen der Akteu­re inner­halb des Fel­des sowie des­sen Insti­tu­tio­nen, und drit­tens die Habi­tus der Akteure.

Wenn sozia­le Fel­der Räu­me im Raum sind, las­sen sich auch für sozia­le Fel­der gut die Zusam­men­hän­ge mit dem phy­si­schen Raum dar­stel­len oder ver­deut­li­chen. Das Muse­um bei­spiels­wei­se als Ort des phy­sisch objek­ti­vier­ten sozia­len Fel­des der Kunst setzt beim Besu­cher einen bestimm­ten Habi­tus und einen dadurch gebil­de­ten Geschmack als auch ein bestimm­tes Ver­hal­ten und einen bestimm­ten Lebens­stil vor­aus. Der Besu­cher oder Akteur muss also, wenn er in die­sen Raum ‚ein­dringt’, die „still­schwei­gend vor­aus­ge­setz­ten Bedin­gun­gen erfül­len“ (Bour­dieu, 1997, S. 165). Uner­wünsch­te Per­so­nen sind nicht ger­ne gese­hen, was ihnen beim Auf­ent­halt auch aktiv (Kon­trol­len oder Aus­schluss) oder pas­siv (sym­bo­lisch) ent­geg­net wird oder wes­we­gen sie von Anfang an gar kei­nen Zugang bekom­men oder sich den Zugang selbst ver­weh­ren, weil sie nicht über das nöti­ge öko­no­mi­sche, kul­tu­rel­le und/oder sozia­le Kapi­tal ver­fü­gen. Wie im sozia­len Raum kön­nen sich auch im phy­si­schen Raum ver­schie­de­ne Fel­der über­la­gern, wenn sich zum Bei­spiel in Stra­ßen, Vier­teln, Orten etc. die posi­ti­ven oder nega­ti­ven Pole ver­schie­dens­ter Fel­der kon­zen­trie­ren und exklu­si­ve Orte hohen Kapi­tal­vo­lu­mens wie Nobel­ein­kaufs­mei­len oder Clubs sowie Orte nied­ri­gen Kapi­tal­vo­lu­mens wie Ghet­tos entstehen.

Lite­ra­tur

  1. Bour­dieu, Pierre. 1981. „Klas­sen­schick­sal, indi­vi­du­el­les Han­deln und das Gesetz der Wahr­schein­lich­keit“. In: Pierre Bourdieu/Luc Boltanski/Monique de Saint Martin/Pascale Mal­di­dier: Titel und Stel­le. Über die Repro­duk­ti­on sozia­ler Macht. Frankfurt/M.: Euro­päi­sche Ver­lags­an­stalt, S. 169–226
  2. Bour­dieu, Pierre. 1992. „Die fei­nen Unter­schie­de“. In: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht. Ham­burg: VSA-Ver­lag, S. 31–47
  3. Bour­dieu, Pierre. 1997. „Orts­ef­fek­te“. In: ­Das Elend der Welt. Kon­stanz. S. 159–167
  4. Bour­dieu, Pierre. 2001b. „Habi­tus und Ein­ver­lei­bung“. In: Medi­ta­tio­nen. Zur Kri­tik der scho­las­ti­schen Ver­nunft. Frankfurt/M.: Suhr­kamp, S. 177–188
  5. Krais, Bea­te. 2004. „Habi­tus und sozia­le Pra­xis“. In: Stein­rü­cke, Mar­ga­re­ta (Hrsg.) (2004): Pierre Bour­dieu. Poli­ti­sches For­schen, Den­ken und Ein­grei­fen. Ham­burg: VSA-Ver­lag, S. 91–106