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Ange­sichts der ernüch­tern­den Ergeb­nis­se der unter den gege­be­nen gesell­schaft­li­chen Umstän­den durch­ge­führ­ten Bemü­hun­gen, die sozia­len Chan­cen­un­gleich­hei­ten im Bil­dungs­sys­tem abzu­bau­en, ist der Fra­ge nach­zu­ge­hen, wel­che Funk­ti­on das Schul­sys­tem inner­halb die­ser gesell­schaft­li­chen Umstän­de ein­nimmt und ob die­se Funk­ti­on einen Abbau sozia­ler Ungleich­hei­ten prin­zi­pi­ell über­haupt för­dern kann oder soll.

Zunächst steht der Behaup­tung, Kin­der und Jugend­li­che bedürf­ten einer ein­heit­lich regu­lier­ten Insti­tu­ti­on, um am gesell­schaft­li­chen Leben erfolg­reich teil­zu­neh­men sowie die kul­tu­rel­len Umgangs­for­men und Errun­gen­schaf­ten zu erler­nen oder zu inkor­po­rie­ren, die empi­ri­sche Aus­sa­ge­kraft von knapp ein­hun­dert­tau­send Jah­ren mensch­li­cher Kul­tur­ge­schich­te ent­ge­gen (vgl. Bock, 2008; zur radi­ka­len Schul­kri­tik exem­pla­risch Holt, 1976; Illich, 1995), sodass als ein­zig genui­ne Legi­ti­ma­ti­on des Bestehens einer Insti­tu­ti­on Schu­le nur die Selek­ti­ons­funk­ti­on in Hin­blick auf die Ver­wert­bar­keit ihrer Schü­ler am Arbeits­markt bestehen bleibt[1] – zusätz­lich zur Funk­ti­on der Repro­duk­ti­on sozia­ler Ungleich­heit, die als zu über­win­den­des Defi­zit ver­schlei­ert ist, womit deren sys­tem­im­ma­nen­ter Cha­rak­ter über­spielt wird. Insti­tu­tio­na­li­sier­te, for­ma­li­sier­te, stan­dar­di­sier­te Bil­dung war seit ihrer Ent­ste­hung immer ein Herr­schafts­in­stru­ment, das das Exklu­die­ren und Fest­le­gen von Regeln erlaubt und zu einer kul­tu­rel­len wie Bil­dungs­se­lek­ti­on führt, „die dem eigent­li­chen Ziel von ‚Bil­dung‘, näm­lich für das Leben zu ler­nen, ent­ge­gen­steht“ (Bitt­ling­may­er & Grund­mann, 2006, S. 94):

„Wenn wir auf allen Gebie­ten das Ver­lan­gen nach der Ein­füh­rung von gere­gel­ten Bil­dungs­gän­gen und Fach­prü­fun­gen laut wer­den hören, so ist selbst­ver­ständ­lich nicht ein plötz­lich erwa­chen­der ‚Bil­dungs­drang‘, son­dern das Stre­ben nach Beschrän­kung des Ange­bots für die Stel­lun­gen und deren Mono­po­li­sie­rung zuguns­ten der Besit­zer von Bil­dungs­pa­ten­ten der Grund“ (Weber, 1980, S. 577).

Schu­li­sche Bil­dungs­pro­zes­se legen weni­ger Wert auf Bil­dung an sich, als viel­mehr auf Bil­dungs­zer­ti­fi­ka­te, die „über herr­schafts­ab­hän­gi­ge Zer­ti­fi­zie­rungs­pro­zes­se“ (Sol­ga, 2005, S. 28) erwor­ben wer­den müs­sen. Das Schul­sys­tem bezieht sich folg­lich in ers­ter Linie auf einen sys­tem­funk­tio­na­len Bil­dungs­be­griff und weni­ger auf eine indi­vi­du­ell-lebens­welt­li­che und gesamt­ge­sell­schaft­lich-eman­zi­pa­ti­ve Ebe­ne, fun­giert mit sei­ner „bedarfs­an­ge­mes­se­nen Begren­zung höhe­rer Bil­dung“ (Büch­ner, 2003, S. 9) somit „als Akteur der Pro­duk­ti­on der Pro­du­zen­ten“ (Hepp, 2009, S. 30). Was inner­halb des Schul­sys­tems statt­fin­det, ori­en­tiert sich nur vor­der­grün­dig an den Bedürf­nis­sen der Schü­ler und stellt viel­mehr „dem Aus­bil­dungs- und Arbeits­markt für die Zuord­nung von Per­so­nen zu Posi­tio­nen Qua­li­fi­ka­ti­ons- bzw. Kom­pe­tenz­si­gna­le zur Ver­fü­gung“ (Sol­ga, 2005, S. 27; vgl. Huis­ken, 2005). Die­se sys­tem­funk­tio­na­le, dem Pri­mat des Arbeits­markts unter­wor­fe­ne Per­spek­ti­ve, die die Ver­wert­bar­keit von Bil­dung in den Fokus rückt, nicht die All­tags­re­le­vanz, wird von einem Groß­teil der Erzie­hungs- und Bil­dungs­for­schung über­nom­men, die damit ihrer­seits – bewusst oder unbe­wusst – zur Repro­duk­ti­on sozia­ler (Bildungs-)Ungleichheiten beiträgt:

„In den meis­ten Arbei­ten zur Bil­dungs­un­gleich­heit wird das leis­tungs­fi­xiert hier­ar­chi­sie­ren­de Bil­dungs­sys­tem nicht in Fra­ge gestellt, obwohl es selbst in einem ver­gleichs­wei­se ega­li­tär aus­ge­rich­te­ten sozia­len Gefü­ge not­wen­dig Bil­dungs­hier­ar­chien erzeugt“ (Grund­mann, Dra­ven­au, & Bitt­ling­may­er, 2006, S. 250; vgl. Grund­mann, 2011).

Die Ana­ly­se der Bil­dungs­pro­zes­se und ‑ungleich­hei­ten, selbst die kri­ti­sche, ori­en­tiert sich häu­fig ergo zu sehr an den hege­mo­nia­len nor­ma­ti­ven Grund­an­nah­men und den fak­ti­schen Gege­ben­hei­ten, ohne die­se in Fra­ge zu stel­len, was aber gera­de kri­ti­sche Wis­sen­schaft aus­zeich­nen wür­de[2]. Da Schu­le als sol­che unhin­ter­fragt über­nom­men wird und sich die Bil­dungs­for­schung an ihr ori­en­tiert, „kom­men nur die­je­ni­gen indi­vi­du­el­len Kom­pe­tenz­ent­wick­lun­gen in den Blick, die in gewis­ser Hin­sicht schul­bil­dungs­kon­form sind“ (Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Edel­stein, 2006, S. 16; vgl. Grund­mann, Dra­ven­au, & Bitt­ling­may­er, 2006), d.h. „alle nicht schul­kon­for­men Wis­sens­be­stän­de [wer­den] bil­dungs­so­zio­lo­gisch abge­wer­tet“ (Bitt­ling­may­er, 2006, S. 53). Solan­ge die das Schul­sys­tem rah­men­den gesell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se, die Arbeits­markt­ori­en­tie­rung und die kul­tu­rel­le Hier­ar­chi­sie­rung an sich nicht in Fra­ge gestellt wer­den, „darf auch der Suche nach neu­en, den gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen ange­pass­ten Erzie­hungs­idea­len eine gesun­de Skep­sis ent­ge­gen­ge­bracht wer­den“ (Grund­mann, 2011, S. 82). Gera­de die deut­sche PISA-Dis­kus­si­on belegt die ana­ly­ti­sche Kurz­sich­tig­keit wei­ter Tei­le von Poli­tik und Bil­dungs­for­schung, da – den öko­no­misch-funk­tio­na­lis­ti­schen, defi­zit­ori­en­tier­ten Bil­dungs­be­griff der OECD über­neh­mend, der zuguns­ten eines Bil­dungs­ver­ständ­nis­ses der ‚Qua­li­fi­ka­tio­nen‘ die unter­schied­li­chen sozia­len Bil­dungs­be­din­gun­gen ver­nach­läs­sigt (vgl. Otto & Schröd­ter, 2010; Raidt, 2009) – grö­ße­rer Fokus auf die unter­durch­schnitt­li­che Leis­tung deut­scher Schul­kin­der als auf sozia­le Ungleich­heit gelegt wur­de (vgl. Sol­ga, 2005, S. 30) und in der Fol­ge­zeit eine ver­stärk­te Aus­rich­tung der Schu­le an wirt­schaft­li­chen Maß­stä­ben (vgl. Ball & You­dell, 2008; Roh­lfs, 2011; Raidt, 2009) gefor­dert und auch umge­setzt wur­de. Bil­dung und Bil­dungs­er­folg wer­den in die­sem Kon­text redu­ziert auf eine Stei­ge­rung der Kon­kur­renz­fä­hig­keit, sowohl auf indi­vi­du­el­ler sowie auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne: „Ins­ge­samt wird deut­lich, dass PISA ein nor­ma­ti­ves und funk­tio­na­les Bil­dungs­ver­ständ­nis trans­por­tiert, das auf die effi­zi­en­te Aus­bil­dung von Human­res­sour­cen aus­ge­rich­tet ist“ (Raidt, 2009, S. 205).

Ange­sichts die­ser Funk­ti­on des Schul­sys­tems und der ein­ge­schränk­ten kri­ti­schen Debat­te, die dar­über geführt wird, ist frag­lich, ob eine umfas­sen­de Reform des Bil­dungs­sys­tems zur Redu­zie­rung sozia­ler Bil­dungs­un­gleich­hei­ten unter die­sen Vor­zei­chen über­haupt mög­lich ist – selbst eine ratio­na­le Päd­ago­gik (vgl. Bour­dieu 2001) bei­spiels­wei­se dürf­te mit ihrer an den indi­vi­du­el­len Bil­dungs­be­dürf­nis­sen ori­en­tier­ten Per­spek­ti­ve recht schnell in Wider­spruch zur arbeits­markt­ori­en­tier­ten Per­spek­ti­ve tre­ten, wenn­gleich das Gros bis­he­ri­ger Unter­su­chun­gen zur Bil­dungs­un­gleich­heit doch gezeigt hat, dass weni­ger die von PISA bewer­te­ten ‚Qua­li­fi­ka­tio­nen‘, son­dern viel­mehr mate­ri­el­le Mit­tel, kul­tu­rel­les Kapi­tal und ent­spre­chen­de Habi­tus Vor­aus­set­zun­gen für schu­li­schen Erfolg sind.


[1] Damit sol­len die posi­ti­ven Effek­te der Schu­le nicht igno­riert wer­den, nur sind die­se auch ohne der­ar­ti­ge Insti­tu­ti­on rea­li­sier­bar, wäh­rend die Selek­ti­ons- und Legi­ti­ma­ti­ons­funk­tio­nen dem Schul­we­sen eigen sind.

[2] Die­ser ein­ge­schränk­te sozio­lo­gi­sche Blick ist zum Teil sicher auch dem Umstand geschul­det, im Rah­men des poli­tisch Gewünsch­ten blei­ben zu wol­len, um über­haupt poli­ti­sches Gehör zu finden.


Lite­ra­tur:

  1. Ball, S. J., & You­dell, D. (2008). Hid­den Pri­va­tis­a­ti­on in Public Edu­ca­ti­on. Brüs­sel: Edu­ca­ti­on Inter­na­tio­nal. Online ver­füg­bar unter: http://download.ei-ie.org/docs/IRISDocuments/Research%20Website%20Documents/2009–00034-01‑E.pdf (28.07.2012).
  2. Bitt­ling­may­er, U. H. (2006). Grund­zü­ge einer mehr­di­men­sio­na­len sozi­al­struk­tu­rel­len Sozia­li­sa­ti­ons­for­schung. In M. Grund­mann, D. Dra­ven­au, U. H. Bitt­ling­may­er, & W. Edel­stein, Hand­lungs­be­fä­hi­gung und Milieu. Zur Ana­ly­se milieu­spe­zi­fi­scher All­tags­prak­ti­ken und ihrer Ungleich­heits­re­le­vanz (S. 37–55). Ber­lin: LIT Verlag.
  3. Bitt­ling­may­er, U. H., & Grund­mann, M. (2006). Die Schu­le als (Mit-)Erzeugerin des sozia­len Raums. Zur Eta­blie­rung von Bil­dungs­mi­lieus im Zuge rapi­der Moder­ni­sie­rung. Das Bei­spiel Island. In M. Grund­mann, D. Dra­ven­au, U. H. Bitt­ling­may­er, & W. Edel­stein, Hand­lungs­be­fä­hi­gung und Milieu. Zur Ana­ly­se milieu­spe­zi­fi­scher All­tags­prak­ti­ken und ihrer Ungleich­heits­re­le­vanz (S. 75–95). Ber­lin: LIT Verlag.
  4. Bock, K. (2008). Ein­wür­fe zum Bil­dungs­be­griff. Fra­gen für die Kin­der- und Jugend­hil­fe­for­schung. In H.-U. Otto, & T. Rau­schen­bach (Hrsg.), Die ande­re Sei­te der Bil­dung. Zum Ver­hält­nis von for­mel­len und infor­mel­len Bil­dungs­pro­zes­sen (2. Auf­la­ge) (S. 91–105). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  5. Bour­dieu, P. (2001). Die kon­ser­va­ti­ve Schu­le. In P. Bour­dieu, Wie die Kul­tur zum Bau­ern kommt (S. 25–52). Ham­burg: VSA-Verlag.
  6. Büch­ner, P. (2003). Stich­wort: Bil­dung und sozia­le Ungleich­heit. Zeit­schrift für Erzie­hungs­wis­sen­schaft, 6. Jahrg. (Heft 1/2003), S. 5–24.
  7. Grund­mann, M. (2011). Sozia­li­sa­ti­on – Erzie­hung – Bil­dung: Eine kri­ti­sche Begriffs­be­stim­mung. In R. Becker (Hrsg.), Lehr­buch der Bil­dungs­so­zio­lo­gie (2. Auf­la­ge) (S. 63–85). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  8. Grund­mann, M., Bitt­ling­may­er, U. H., Dra­ven­au, D., & Edel­stein, W. (2006). Bil­dungs­struk­tu­ren und sozi­al­struk­tu­rel­le Sozia­li­sa­ti­on. In M. Grund­mann, U. H. Bitt­ling­may­er, D. Dra­ven­au, & W. Edel­stein, Hand­lungs­be­fä­hi­gung und Milieu. Zur Ana­ly­se milieu­spe­zi­fi­scher All­tags­prak­ti­ken und ihrer Ungleich­heits­re­le­vanz (S. 13–35). Ber­lin: LIT Verlag.
  9. Grund­mann, M., Dra­ven­au, D., & Bitt­ling­may­er, U. H. (2006). Milieu­spe­zi­fi­sche Hand­lungs­be­fä­hi­gung an der Schnitt­stel­le zwi­schen Sozia­li­sa­ti­on, Ungleich­heit und Lebens­füh­rung? In M. Grund­mann, D. Dra­ven­au, U. H. Bitt­ling­may­er, & W. Edel­stein, Hand­lungs­be­fä­hi­gung und Milieu. Zur Ana­ly­se milieu­spe­zi­fi­scher All­tags­prak­ti­ken und ihrer Ungleich­heits­re­le­vanz (S. 237–251). Ber­lin: LIT Verlag.
  10. Hepp, R.-D. (2009). Das Feld der Bil­dung in der Sozio­lo­gie Pierre Bour­dieus: Sys­te­ma­ti­sche Vor­über­le­gun­gen. In B. Frie­berts­häu­ser, M. Rie­ger-Ladich, & L. Wig­ger (Hrsg.), Refle­xi­ve Erzie­hungs­wis­sen­schaft (2. Auf­la­ge) (S. 21–39). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  11. Holt, J. (1976). Ins­tead of Edu­ca­ti­on: Ways to Help Peo­p­le Do Things Bet­ter. New York: Dutton.
  12. Huis­ken, F. (2005). Der »PISA-Schock« und sei­ne Bewäl­ti­gung. Ham­burg: VSA-Verlag.
  13. Illich, I. (1995). Ent­schu­lung der Gesell­schaft. Mün­chen: Beck.
  14. Otto, H.-U., & Schröd­ter, M. (2010). „Kom­pe­ten­zen“ oder „Capa­bi­li­ties“ als Grund­be­griff einer kri­ti­schen Bil­dungs­for­schung und Bil­dungs­po­li­tik? In H.-H. Krü­ger, U. Rabe-Kle­berg, R.-T. Kra­mer, & J. Bud­de (Hrsg.), Bil­dungs­un­gleich­heit revi­si­ted (S. 163–183). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  15. Raidt, T. (2009). Bil­dungs­re­for­men nach PISA. Para­dig­men­wech­sel und Wer­te­wan­del (Diss.). Hein­rich-Hei­ne-Uni­ver­si­tät Düs­sel­dorf. Online ver­füg­bar unter: http://www.pisa-bildung.de/ (28.07.2012).
  16. Roh­lfs, C. (2011). Bil­dungs­ein­stel­lun­gen. Schu­le und for­ma­le Bil­dung aus der Per­spek­ti­ve von Schü­le­rin­nen und Schü­lern. Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  17. Sol­ga, H. (2005). Meri­to­kra­tie – die moder­ne Legi­ti­ma­ti­on unglei­cher Bil­dungs­chan­cen. In P. A. Ber­ger, & H. Kah­lert (Hrsg.), Insti­tu­tio­na­li­sier­te Ungleich­hei­ten. Wie das Bil­dungs­we­sen Chan­cen blo­ckiert (S. 19–38). Wein­heim und Mün­chen: Juventa.
  18. Weber, M. (1980). Wirt­schaft und Gesell­schaft. Tübin­gen: Mohr (Sie­beck).

Mög­lich, der Mann hat recht. Viel­leicht ist er gar nicht so ein Biest. War­um sol­len Men­schen denn Bies­ter sein? Ich glau­be bei­na­he, der Staat ist das Biest. Der Staat, der den Müt­tern die Söh­ne nimmt, um sie den Göt­zen vor­zu­wer­fen. Die­ser Mann ist der Die­ner des Bies­tes, wie der Hen­ker der Die­ner des Bies­tes ist. Alles, was der Mann sag­te, war aus­wen­dig gelernt. Das hat­te er jeden­falls ler­nen müs­sen, als er sei­ne Prü­fung ableg­te, um Kon­sul zu wer­den. Das ging klipp-klapp. Auf jede mei­ner Aus­sa­gen hat­te er eine pas­sen­de Ant­wort, die mir sofort das Maul stopf­te. Als er jedoch frag­te: »Haben Sie Hun­ger? Haben Sie schon geges­sen?«, da wur­de er plötz­lich Mensch und hör­te auf, Biestdie­ner zu sein. Hun­ger haben ist etwas Mensch­li­ches. Papie­re haben ist etwas Unmensch­li­ches, etwas Unna­tür­li­ches. Dar­um der Unter­schied. Und das ist die Ursa­che, war­um Men­schen immer mehr auf­hö­ren, Men­schen zu sein, und anfan­gen, Figu­ren aus Papier­ma­ché zu wer­den. Das Biest kann kei­ne Men­schen brau­chen; die machen zuviel Arbeit, Figu­ren aus Papier­ma­ché las­sen sich bes­ser in Reih und Glied stel­len und uni­for­mie­ren, damit die Die­ner des Bies­tes ein beque­me­res Leben füh­ren können.
B. Tra­ven – Das Totenschiff

Leis­tungs­ge­sell­schaft oder Meri­to­kra­tie bedeu­tet sinn­ge­mäß eine „Herr­schafts­ord­nung nach Maß­ga­be von Bega­bung und Leis­tungs­fä­hig­keit des Ein­zel­nen“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 39), wonach sozia­le Unter­schie­de nicht per se als unge­recht ange­se­hen wer­den, solan­ge sie das Ergeb­nis indi­vi­du­el­ler Leis­tungs­un­ter­schie­de sind (vgl. Hill­mert, 2007). Her­vor­ge­ho­ben wird von einem libe­ra­len Stand­punkt, dass eine meri­to­kra­ti­sche Gesell­schaft fai­rer und frei­heit­li­cher erschei­ne als ein Wohl­fahrts­staat, der „durch geziel­te Ein­grif­fe in die Lebens­um­stän­de von Men­schen indi­vi­du­el­le und kol­lek­ti­ve Chan­cen­gleich­heit her­zu­stel­len“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 38) ver­sucht. Chan­cen­gleich­heit wird nach die­ser Auf­fas­sung ledig­lich als Siche­rung glei­cher Start­chan­cen ver­stan­den, auf deren Basis indi­vi­du­el­le Leis­tung den wei­te­ren Erfolg deter­mi­nie­ren soll, womit der Staat sei­ne gesell­schafts­for­men­den Ansprü­che auf­gibt und ein Modell for­ma­ler Gleich­be­hand­lung zugrun­de legt. Bei­des ist eben­so zutref­fend für das Schul­sys­tem als Ver­tre­ter der staat­li­chen Ord­nung. Ein­kom­mens- und Macht­un­ter­schie­de wie auch Bil­dungs­un­gleich­hei­ten wer­den in die­sem Kon­text zunächst als legi­tim betrach­tet, wenn kei­ne leis­tungs­frem­den Ein­flüs­se die­se Ungleich­hei­ten mit­be­stim­men, denn die „Rege­lung des Zugangs zu begehr­ten und knap­pen sozia­len Posi­tio­nen soll­te in einer demo­kra­ti­schen Gesell­schaft nach Leis­tung, Kön­nen und Anstren­gung, d.h. nach nach­voll­zieh­ba­ren und gesell­schaft­lich akzep­tier­ten bzw. all­ge­mein als gerecht emp­fun­de­nen Kri­te­ri­en, erfol­gen“ (Dit­ton, 2007, S. 244; vgl. Becker & Hadjar, 2011).

Sind die resul­tie­ren­den Leis­tungs­un­ter­schie­de in der Ver­gan­gen­heit haupt­säch­lich mit der unglei­chen Ver­tei­lung von Intel­li­genz und soge­nann­ten Bega­bun­gen und Talen­ten erklärt wor­den, die aller­dings ihrer­seits bereits sozia­le Kon­struk­tio­nen und kei­ne natür­li­chen Eigen­schaf­ten dar­stel­len (vgl. Sol­ga, 2005), so sind der­ar­ti­ge Bio­lo­gis­men heut­zu­ta­ge gegen­über der Vor­stel­lung von Fleiß und Anstren­gung in den Hin­ter­grund getre­ten[1] (vgl. Hill­mert, 2007), was bedeu­tet, wer eine erfolg­rei­che schu­li­sche Aus­bil­dung und viel­leicht ein Stu­di­um absol­viert hat, habe sich gemäß der meri­to­kra­ti­schen Idee für die­se Bil­dungs­zer­ti­fi­ka­te und die mit ihnen ein­her­ge­hen­den Ein­kom­mens- und Lebens­chan­cen folg­lich durch Kom­pe­tenz und Anstren­gung qua­li­fi­ziert. Die­se Erklä­rung ist aller­dings in Fra­ge zu stel­len, da unter­schied­li­che Anstren­gun­gen kaum Beach­tung fin­den – ein Arbei­ter­kind bei­spiels­wei­se hat auf dem Weg zum erfolg­rei­chen Abschluss eines Stu­di­ums weit­aus höhe­re Hür­den zu über­win­den als ein Aka­de­mi­ker­kind, doch fin­det dies in den Bil­dungs­zer­ti­fi­ka­ten kei­ner­lei Wür­di­gung, son­dern wird als Fol­ge der for­ma­len Gleich­heit aller Bil­dungs­teil­neh­mer viel­mehr neu­tra­li­siert (vgl. Sol­ga, 2005, S. 26). Ver­ges­sen wird zudem, dass Leis­tung, Fleiß und Anstren­gung nicht als objek­ti­ve Kate­go­rien vor­aus­ge­setzt wer­den kön­nen (vgl. Becker & Hadjar, 2011, S. 54), da die Defi­ni­ti­on von Leis­tung stets nur aus einer sozia­len Posi­ti­on her­aus und mit bestimm­ten Vor­stel­lun­gen des­sen, was sich hin­ter dem Begriff ver­birgt, defi­niert und durch­ge­setzt wer­den kann, und zwar von jenen Akteu­ren, die die gesell­schaft­li­che (Deutungs-)Macht innehaben.

Gene­rell wird sozia­le Ungleich­heit im Sin­ne der meri­to­kra­ti­schen Ord­nung als ver­meint­lich not­wen­di­ges gesell­schaft­li­ches Anreiz­sys­tem betrach­tet, in dem die Knapp­heit hoher, pres­ti­ge- und ein­kom­mens­träch­ti­ger Posi­tio­nen die gesell­schaft­li­chen Akteu­re zum all­ge­mei­nen – vor­ran­ging über Bil­dung voll­zo­ge­nen – Wett­be­werb moti­vie­ren und so schließ­lich die Leis­tungs­fä­higs­ten offen­ba­ren soll (vgl. Becker & Hadjar, 2011; Sol­ga, 2005). Die­se Annah­me erscheint schon logisch-deduk­tiv frag­wür­dig, da ein sol­cher Anreiz vor allem Akteu­re moti­vie­ren dürf­te, die Inter­es­se an einem hohen Ein­kom­men und Anse­hen haben, ohne aber ver­läss­li­che Aus­sa­gen über (rela­ti­ve) Leis­tungs­fä­hig­keit zuzu­las­sen. Para­dox ist wei­ter­hin der Umstand, dass Meri­to­kra­tie nach den eige­nen Maß­stä­ben prin­zi­pi­ell nur in einer nicht-hier­ar­chi­sier­ten Gesell­schaft über­haupt stö­rungs­frei funk­tio­nie­ren kann, wenn also kei­ne Effek­te sozia­ler Hier­ar­chi­sie­rung wir­ken kön­nen, was das Prin­zip als sol­ches aller­dings ad absur­dum führt, da Meri­to­kra­tie ihrer­seits eine Hier­ar­chi­sie­rung zur Fol­ge hat und die­se legitimiert.

Inner­halb der real exis­tie­ren­den Meri­to­kra­tie hin­ge­gen kön­nen Leis­tungs­merk­ma­le nicht unab­hän­gig von leis­tungs­frem­den Ein­flüs­sen durch die sozia­le Her­kunft betrach­tet wer­den, womit „ent­ge­gen aller (meri­to­kra­ti­schen) Rhe­to­rik die Zer­ti­fi­zie­rung von Bil­dungs­leis­tun­gen sowie insti­tu­tio­nell unter­schied­li­che Bil­dungs­lauf­bah­nen, deren Zugang über die (gezeig­te und bewer­te­te) vor­an­ge­gan­ge­ne Leis­tung gesteu­ert wird, not­wen­di­ger­wei­se (!) mit Her­kunfts­un­ter­schie­den in der Schu­le ver­bun­den sind“ (Sol­ga, 2005, S. 20; vgl. Are­ns, 2007). Das Ergeb­nis der meri­to­kra­ti­schen Logik, die auf for­ma­le Gleich­be­hand­lung aller Akteu­re ohne Berück­sich­ti­gung ihrer sozia­len Her­kunft setzt und die her­kunfts­spe­zi­fi­schen kul­tu­rel­len Unter­schie­de damit voll­stän­dig igno­riert, steht infol­ge­des­sen im Wider­spruch zu deren Ver­hei­ßun­gen: „Gera­de weil Leis­tung zählt und nicht die Her­kunft, ergibt sich, dass schluss­end­lich (…) durch die Anwen­dung des Leis­tungs­prin­zips die Her­kunft dar­über ent­schei­det, wer an den glei­chen Anfor­de­run­gen schei­tert und wer sich im schu­li­schen Leis­tungs­ver­gleich durch­setzt“ (Huis­ken, 2005, S. 37; vgl. Sol­ga, 2005):

„[I]ndem das Schul­sys­tem alle Schü­ler, wie ungleich sie auch in Wirk­lich­keit sein mögen, in ihren Rech­ten wie Pflich­ten gleich behan­delt, sank­tio­niert es fak­tisch die ursprüng­li­che Ungleich­heit gegen­über der Kul­tur“ (Bour­dieu, 2001a, S. 39).

Struk­tu­rel­le Ursa­chen der Bil­dungs­un­gleich­heit wer­den durch die indi­vi­dua­li­sier­te Erklä­rung über Leis­tung in den Hin­ter­grund gedrängt, es fin­det eine ver­meint­li­che „Ablö­sung kate­go­ri­al defi­nier­ter Ungleich­heit nach Status/Klasse/Schicht (sowie auch Geschlecht) durch eine indi­vi­du­ell defi­nier­te Ungleich­heit nach Leis­tung“ (Sol­ga, 2005, S. 28; vgl. Sol­ga & Wag­ner, 2007; Bitt­ling­may­er, 2006) statt, infol­ge derer sich die vom Bil­dungs­sys­tem Beur­teil­ten ihren Erfolg oder Miss­erfolg selbst zuschreiben:

„Die hier glei­cher­ma­ßen erfahr­ba­ren For­men struk­tu­rel­ler und sym­bo­li­scher Gewalt wer­den für die Deklas­sier­ten und Dequa­li­fi­zier­ten umso leid­vol­ler und ent­waff­nen­der, als sie unter den Vor­zei­chen und Ver­hei­ßun­gen einer an indi­vi­du­el­ler Selbst­ver­wirk­li­chung und ‑behaup­tung ori­en­tier­ten ‚Gesell­schaft der Indi­vi­du­en‘ die Schuld für ihr Ver­sa­gen zwangs­läu­fig bei sich selbst suchen und dann wohl auch ent­de­cken wer­den müs­sen“ (Schult­heis, 2009, S. 264).

In Anbe­tracht der bis­he­ri­gen Aus­füh­run­gen und der in Bil­dungs­stu­di­en immer wie­der fest­ge­stell­ten sozia­len Bil­dungs­un­gleich­hei­ten kann Meri­to­kra­tie nicht anders denn als Ideo­lo­gie begrif­fen wer­den, die „die Akzep­tanz der sozia­len Ord­nung und damit die Sta­bi­li­tät der Gesell­schaft“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 50) för­dern soll und als „nor­ma­ti­ve Selbst­de­fi­ni­ti­on moder­ner Gesell­schaf­ten für die Begrün­dung und Legi­ti­ma­ti­on sozia­ler Ungleich­hei­ten“ (Sol­ga, 2005, S. 23) fun­giert, sodass die gesamt­ge­sell­schaft­li­chen sozia­len Ungleich­hei­ten wie auch Bil­dungs­un­gleich­hei­ten als legi­ti­me Ungleich­hei­ten wahr­ge­nom­men wer­den. Sie ist somit unter Ein­nah­me einer sys­tem­funk­tio­na­len Per­spek­ti­ve allen­falls ein ‚neces­sa­ry myth‘, „weil die Akzep­tanz des meri­to­kra­ti­schen Prin­zips in der Gesell­schaft zum einen die Her­an­zie­hung askrip­ti­ver Prin­zi­pi­en bei der Ver­ga­be von Posi­tio­nen und Beloh­nun­gen ver­drängt hat und zum ande­ren das Prin­zip den­noch (sic!) moti­vie­rend wirkt, durch Leis­tung eine pri­vi­le­gier­te Posi­ti­on in der Gesell­schaft zu errei­chen“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 58) – ers­te­res ist aller­dings eine rela­ti­vis­ti­sche Per­spek­ti­ve, die nicht ein­mal zutref­fend ist, da das meri­to­kra­ti­sche Prin­zip die Her­an­zie­hung askrip­ti­ver Merk­ma­le bloß ver­schlei­ert (vgl. Bour­dieu & Pas­se­ron, 1971, S. 225f), nicht ersetzt, wohin­ge­gen letz­te­res schon fast zynisch erscheint, denn „[w]ie weit eine sozia­le Grup­pe im meri­to­kra­ti­schen Wett­be­werb gekom­men ist, hängt dabei ent­schei­dend von ihrem Start­ka­pi­tal an Bil­dung, Besitz und sozia­len Bezie­hun­gen ab“ (Ves­ter, 2004, S. 19).

Hier­ar­chi­sie­rung von Bil­dung & Kultur

„Die Schu­le ist eine gesell­schaft­li­che Insti­tu­ti­on zur Ver­mitt­lung der legi­ti­men Kul­tur“ (Krais, 2004, S. 122).

Das mit der meri­to­kra­ti­schen Ideo­lo­gie ver­bun­de­ne Kon­zept der for­ma­len Gleich­heit, das im Kon­text der Schu­le kul­tu­rel­le und habi­tu­el­le Unter­schie­de der Schü­ler igno­riert, obwohl sie ent­schei­dend zu Erfolg oder Miss­erfolg bei­tra­gen, führt damit zu For­men kul­tu­rel­ler Pas­sung als Pro­dukt einer „sys­te­mi­schen Stan­dar­di­sie­rung, die sozu­sa­gen zwangs­läu­fig sozia­le Erfah­rungs­dif­fe­ren­zen in den Bil­dungs­um­wel­ten außer­halb des insti­tu­tio­na­li­sier­ten Bil­dungs­we­sens unbe­rück­sich­tigt lässt“ (Grund­mann, Groh-Sam­berg, Bitt­ling­may­er, & Bau­er, 2003, S. 36). Die­se Stan­dar­di­sie­rung, die blind gegen­über kul­tu­rel­len Her­kunfts­un­ter­schie­den und milieu­spe­zi­fi­schen Bil­dungs­in­hal­ten ist, führt de fac­to zu einer Hier­ar­chi­sie­rung von Kul­tur und der sie inkor­po­rie­ren­den Habi­tus, da sie die Schü­ler unab­hän­gig von deren Her­kunft anhand ein und der­sel­ben nor­ma­ti­ven Scha­blo­ne bewer­tet, wes­halb schul­bil­dungs­na­he Milieus von die­ser Stan­dar­di­sie­rung pro­fi­tie­ren – sie „muss als Stan­dar­di­sie­rungs­in­stanz des Wis­sens mit offen­si­vem Neu­tra­li­täts­an­spruch ver­stan­den wer­den, die bestimm­te Wis­sens­for­men ver­mit­telt und die beson­de­re kind­li­che und jugend­li­che Hand­lungs­stra­te­gien belohnt oder bestraft“ (Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Edel­stein, 2006, S. 16; vgl. Grund­mann, Dra­ven­au, & Bitt­ling­may­er, 2006).

Einem Schü­ler bleibt nichts ande­res übrig, als die her­kunfts­spe­zi­fi­sche Kul­tur in die Schu­le hin­ein­zu­tra­gen, dort anzu­bie­ten und von die­ser in die kul­tu­rel­le Hier­ar­chie ein­ord­nen zu las­sen, was aller­dings nicht expli­zit geschieht, son­dern unter dem Deck­man­tel der for­ma­len Gleich­be­hand­lung. Unter­schied­li­che Habi­tus und kul­tu­rel­le Pra­xen unter­schei­den sich letzt­lich nur dar­in, „dass sie von unter­schied­li­chen sozia­len Grup­pen unter­schied­lich wert­ge­schätzt wer­den“ (Bitt­ling­may­er, 2006, S. 47), die Schu­le die­se unter­schied­li­che Wert­schät­zung aller­dings abso­lut setzt und ihr zu All­ge­mein­gül­tig­keit ver­hilft – die abs­trak­te Bil­dung bei­spiels­wei­se, die in der Schu­le vor­herr­schend ist, erfährt Wert­schät­zung vor allem in den obe­ren Milieus, wäh­rend sie in unte­ren Milieus den all­täg­li­chen Anfor­de­run­gen wider­spricht, den­noch wird sie qua Schu­le zum all­ge­mei­nen Maß­stab der Bewer­tung und zum Inbe­griff von Bil­dung an sich. Es kommt zu einer Auf­wer­tung bzw. Aner­ken­nung der einen und gleich­zei­ti­gen Abwer­tung der ande­ren All­tags­prak­ti­ken der jewei­li­gen Her­kunfts­mi­lieus, d.h. „die Insti­tu­tio­na­li­sie­rung von Bil­dung ist gleich­be­deu­tend mit der selek­ti­ven Bewer­tung von Bil­dungs­pro­zes­sen und der hier­ar­chi­schen Dif­fe­ren­zie­rung von Bil­dungs­gän­gen und ‑zer­ti­fi­ka­ten“ (Dra­ven­au & Groh-Sam­berg, 2005, S. 117; vgl. Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Groh-Sam­berg, 2004).

Jene kul­tu­rel­le Igno­ranz gegen­über milieu­spe­zi­fi­schen Bil­dungs­pro­zes­sen, All­tags­pra­xen und Habi­tus führt unwei­ger­lich zu einer Defi­zit­lo­gik, die von den schu­li­schen Stan­dards abwei­chen­de Pra­xen als unzu­läng­lich betrach­tet und somit mit dem Ziel der Selek­ti­on aus einer qua­li­ta­ti­ven Dif­fe­renz eine Hier­ar­chie ablei­tet, was der Durch­set­zung einer spe­zi­fi­schen Deu­tung legi­ti­mer Kul­tur und legi­ti­mer Bil­dung mit­tels Aus­übung sym­bo­li­scher Gewalt gleich­kommt: „Gemes­sen wird daher nicht das Kön­nen, son­dern die Abwei­chung des Kön­nens von den poli­tisch gesetz­ten Leis­tungs­stan­dards“ (Grund­mann, 2006, S. 71; vgl. Kalt­hoff, 2004; Lan­ge-Ves­ter, 2009). Die­se legi­ti­me Kul­tur fehlt den unte­ren Milieus in der Regel, „denn die­se Kul­tur und Bil­dung ist im all­ge­mei­nen gegen sie gerich­tet“ (Bour­dieu, 1992a, S. 39), wes­halb die Schu­le kei­ne neu­tra­le Hand­lungs­in­stanz, son­dern stets „ein­ge­bun­den in die Herr­schafts­be­zie­hun­gen und ‑aus­ein­an­der­set­zun­gen in einer Gesell­schaft“ (Krais, 2004, S. 122) ist. Zwar ver­fü­gen auch die­se Milieus über ihre eige­nen For­men von Kul­tur und Bil­dung, nur ist die­se auf dem Markt der schu­li­schen Insti­tu­tio­nen nichts wert:

„Die­se Kin­der ler­nen das Schwei­gen, das Nicht-Kön­nen in der Schu­le, weil ihre Habi­tus­for­men durch die Schu­le stig­ma­ti­siert wer­den. Dem­entspre­chend ler­nen sie auch eine Form der Selbst­ein­schät­zung, die zwar den Stolz auf prak­ti­sche Über­le­bens­fä­hig­kei­ten, aber gleich­zei­tig die Aner­ken­nung der Legi­ti­mi­tät der Über­le­gen­heit der ande­ren und der eige­nen Unter­le­gen­heit ent­hält. Sie über­neh­men das Stig­ma in ihr Selbst­bild; der Repro­duk­ti­ons­kreis­lauf ist wie­der­um geschlos­sen“ (Liebau, 2009, S. 51).

Schein­bar defi­zi­tä­re Hand­lungs­sche­ma­ta und kul­tu­rel­le Prak­ti­ken, wie etwa die Spra­che, bewer­tet anhand insti­tu­tio­nel­ler Erfor­der­nis­se und ent­spre­chen­der Vor­stel­lun­gen, sind also nicht unbe­dingt defi­zi­tär, son­dern ledig­lich adäquat zu den Erfor­der­nis­sen der erfah­re­nen Umwelt, die aber von der Schu­le ent­wer­tet wer­den, wodurch die pro­du­zier­ten Bil­dungs­un­gleich­hei­ten „bis in die Erfah­rungs­welt der Fami­lie hin­ein­wir­ken“ (Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Groh-Sam­berg, 2007, S. 48). Erst die­se schu­li­sche Stan­dar­di­sie­rung und Hier­ar­chi­sie­rung von Kul­tur macht es mög­lich – und aus die­ser Per­spek­ti­ve erfor­der­lich –, von bil­dungs­na­hen und bil­dungs­fer­nen Milieus zu spre­chen (Bitt­ling­may­er, 2006, S. 44), wobei stets Schul­bil­dung gemeint ist und die­se Nähe oder Fer­ne die Anschluss­fä­hig­keit bzw. Pas­sung oder eben Anpas­sung und damit letzt­lich die eige­ne Unter­ord­nung unter die herr­schen­den Vor­stel­lun­gen legi­ti­mer Kul­tur bedeutet.

Schu­le als Legi­ti­ma­ti­ons­in­stanz sozia­ler Ungleichheit

„Die sym­bo­li­sche Macht ist eine Macht, die in dem Maße exis­tiert, wie es ihr gelingt, sich aner­ken­nen zu las­sen, sich Aner­ken­nung zu ver­schaf­fen; d.h. eine (öko­no­mi­sche, poli­ti­sche, kul­tu­rel­le oder ande­re) Macht, die die Macht hat, sich in ihrer Wahr­heit als Macht, als Gewalt, als Will­kür ver­ken­nen zu las­sen“ (Bour­dieu, 1992b, S. 82).

Das Schul­sys­tem kann ange­sichts der meri­to­kra­ti­schen Ideo­lo­gie, die zu einer Hier­ar­chi­sie­rung von Kul­tur und milieu­spe­zi­fi­schen habi­tu­el­len Prak­ti­ken führt, und „gera­de durch die Ent­wick­lung der Schul­bil­dung zu einem alter­na­tiv­lo­sen Pfad des gesell­schaft­li­chen Auf­stiegs“ (Bitt­ling­may­er & Grund­mann, 2006, S. 77) kei­nes­wegs als neu­tra­le Insti­tu­ti­on betrach­tet wer­den, die sozia­le Ungleich­hei­ten ledig­lich repro­du­ziert oder um deren Auf­lö­sung bemüht ist, son­dern ist zudem Ort der Pro­duk­ti­on sozia­ler Ungleich­hei­ten, die sie zugleich legi­ti­miert, womit kul­tu­rel­le und insti­tu­tio­nel­le Dis­kri­mi­nie­rung und Pri­vi­le­gie­rung eng mit­ein­an­der ver­knüpft sind (vgl. Dra­ven­au & Groh-Sam­berg, 2005, S. 114; Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Groh-Sam­berg, 2004). Da Pri­vi­le­gi­en und die sozia­le Stel­lung nicht mehr über Ver­wandt­schaft und Her­kunft legi­ti­mier­bar sind, erfolgt die Repro­duk­ti­on der sozia­len Ord­nung nun über das Bil­dungs­sys­tem (vgl. Bour­dieu & Pas­se­ron, 1971; Sol­ga, 2005), denn die „Unter­schie­de, die inner­halb der Gesell­schaft gesetzt wer­den und sich durch­set­zen kön­nen, sind durch schu­li­sche Dif­fe­ren­zen legi­ti­miert und wer­den durch die Ver­tei­lung sozia­ler Zugangs­mög­lich­kei­ten, die die Schu­le über ihre Zer­ti­fi­ka­te und Zeug­nis­se ver­gibt, ver­ob­jek­ti­viert und sank­tio­niert“ (Hepp, 2009, S. 24).

Die Schu­le legi­ti­miert in letz­ter Instanz ver­mit­tels des kul­tu­rel­len Pas­sungs­ver­hält­nis­ses die Über­tra­gung des kul­tu­rel­len Erbes, das somit – im Gegen­satz zum öko­no­mi­schen Erbe – als Erbe ver­kannt wird. Durch das Prin­zip der for­ma­len Gleich­heit, das von allen for­dert, was nur eini­gen dank Her­kunft zugäng­lich ist (vgl. Bour­dieu, 2001a), und den von staat­li­cher Sei­te recht hohen Ein­satz von Zeit und Geld inner­halb des Schul­sys­tems, das von sich behaup­tet, allen glei­che Chan­cen zu bie­ten, wird hin­ter dem Anschein von Fair­ness und gutem Wil­len die objek­ti­ve Funk­ti­on des Bil­dungs­sys­tems ver­bor­gen[2], „denn, woll­te man bil­li­ger und schnel­ler voll­zie­hen, was das Sys­tem ohne­hin leis­tet, wür­de man eine Funk­ti­on offen­le­gen und damit hin­fäl­lig machen, die nur im ver­bor­ge­nen wir­ken kann“ (Bour­dieu & Pas­se­ron, 1971, S. 226).

Zugleich voll­zieht sich inner­halb des Schul­sys­tems eine „Trans­for­ma­ti­on der Ein­stel­lung zum Sys­tem und sei­nen Sank­tio­nen (…), die uner­läß­lich ist, damit das Sys­tem funk­tio­nie­ren und alle sei­ne Funk­tio­nen erfül­len kann“ (ebd.). Die­se Trans­for­ma­ti­on wird auf­grund der schein­bar kon­se­quen­ten Wei­se, wie Leis­tung und Bil­dungs­zer­ti­fi­ka­te die Sta­tus­zu­wei­sung bestim­men bzw. die­ser Anschein ver­brei­tet wird, selbst­re­dend von den vom Schul­sys­tem Pri­vi­le­gier­ten, aber auch vom Groß­teil der von ihm Dis­kri­mi­nier­ten voll­zo­gen (vgl. Sol­ga, 2005), denn „in dem Maß, wie es eli­mi­niert, gelingt es ihm, die Ver­lie­rer davon zu über­zeu­gen, dass sie selbst für ihre Eli­mi­nie­rung ver­ant­wort­lich sind“ (Bour­dieu, 2001b, S. 21; vgl. Bour­dieu & Pas­se­ron, 1971, S. 225), womit die Auto­ri­tät der Schu­le als Gate­kee­pe­rin, die die wei­te­ren Lebens­chan­cen maß­geb­lich mit­be­stimmt, und als ver­meint­lich objek­ti­ve Bewer­tungs­in­stanz in der Regel unhin­ter­fragt bleibt, da den Akteu­ren „die Ein­sicht in die sozia­le Kon­sti­tu­ti­on die­ser Pro­zes­se (…) sys­te­ma­tisch ver­sperrt“ (Liebau, 2009, S. 52) wird.

Wäh­rend die Ver­lie­rer des Sys­tems meist nach eini­ger Zeit die indi­vi­dua­li­sier­te Erklä­rung für ihren Miss­erfolg, die ihnen immer wie­der vor­ge­hal­ten wird, akzep­tie­ren und sich die­sen Miss­erfolg selbst zuschrei­ben, wird die Ver­klä­rung der Bil­dungs­we­ge als selbst­be­stimm­te, nur von der eige­nen Leis­tung abhän­gi­ge Ergeb­nis­se selbst­ver­ständ­lich auch von den Gewin­nern des Sys­tems mit­ge­tra­gen, jedoch nicht pri­mär, um etwa bewuss­te Distink­ti­on zu betrei­ben oder gezielt die Ver­schleie­rung der Mecha­nis­men zu unter­stüt­zen, son­dern vor allem, um die Illu­si­on von Selbst­be­stim­mung auf­recht­zu­er­hal­ten, die für die Habi­tus schul­bil­dungs­na­her Milieus cha­rak­te­ris­tisch ist – so „ver­su­chen sie sich von der uner­träg­li­chen Idee zu distan­zie­ren, daß eine so wenig selbst­ge­wähl­te Deter­mi­nan­te [die sozia­le Her­kunft; MM] den, der alles dar­an setzt, sich selbst frei zu bestim­men, prä­gen könn­te“ (Bour­dieu & Pas­se­ron, 1971, S. 54).

Gera­de in schul­bil­dungs­fer­nen Milieus steht die in der Schu­le durch­ge­setz­te legi­ti­me Kul­tur der eige­nen, milieu­spe­zi­fi­schen Kul­tur gegen­über und übt sym­bo­li­sche Gewalt aus, wes­halb schu­li­sche Bil­dung als Durch­set­zung kul­tu­rel­ler Hege­mo­nie begrif­fen wer­den kann; der Glau­be an einen über Leis­tung ver­mit­tel­ten, her­kunfts­un­ab­hän­gi­gen Zugang zu Bil­dung erhält folg­lich die sozia­le Ungleich­heit des Bil­dungs­we­sens am Leben und bewirkt, dass die betrof­fe­nen Akteu­re die auf sie ein­wir­ken­de sym­bo­li­sche Gewalt und sym­bo­li­sche Macht als legi­tim aner­ken­nen und damit „die Sicht­wei­sen, die die Herr­schen­den [und das Schul­sys­tem als ver­län­ger­ter Arm der herr­schen­den Ver­hält­nis­se; MM] auf sie haben, als legi­ti­me aner­ken­nen und selbst über­neh­men“ (Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Groh-Sam­berg, 2007, S. 57). Es wer­den also durch insti­tu­tio­nel­le Sank­tio­nen dau­er­haf­te Unter­schie­de pro­du­ziert und legi­ti­miert, die von den Betrof­fe­nen wie­der­um habi­tu­ell ver­in­ner­licht wer­den, was vor allem für von Ver­sa­gens­er­leb­nis­sen gepräg­te Schü­ler mit emo­tio­na­len Stress­sym­pto­men, Prü­fungs­angst, Ver­mei­dungs­ver­hal­ten und ähn­li­chem ver­bun­den sein kann, d.h. die­se „Schü­ler wer­den im Hin­blick auf ihre je eige­ne Leis­tungs­fä­hig­keit und in der Wert­schät­zung ihrer Per­son sys­te­ma­tisch abge­wer­tet, degra­diert und damit zu qua­si-patho­lo­gi­schen Fäl­len“ (Grund­mann, 2006, S. 71).

Zusam­men­fas­send kann das Schul­sys­tem nicht ein­fach als nach dem Leis­tungs­prin­zip ope­rie­ren­der Fak­tor sozia­ler Mobi­li­tät begrif­fen wer­den, da eine sol­che Auf­fas­sung die ihm spe­zi­fi­schen Pro­zes­se und Mecha­nis­men der Repro­duk­ti­on sowie der Pro­duk­ti­on sozia­ler Ungleich­hei­ten bes­ten­falls ver­kennt und schlimms­ten­falls zusätz­lich legi­ti­miert, „[d]eutet doch im Gegen­teil alles dar­auf hin, dass es einer der wirk­sams­ten Fak­to­ren der Auf­recht­erhal­tung der bestehen­den Ord­nung ist, indem es der sozia­len Ungleich­heit den Anschein von Legi­ti­mi­tät ver­leiht und dem kul­tu­rel­len Erbe, dem als natür­li­che Gabe behan­del­ten Ver­mö­gen, sei­ne Sank­ti­on erteilt“ (Bour­dieu, 2001a, S. 25).


[1] Die­se Umdeu­tung soll viel­leicht den imma­nen­ten Wider­spruch auf­lö­sen, der der bio­lo­gis­ti­schen Erklä­rung von Leis­tungs­un­ter­schie­den zugrun­de liegt, denn letzt­lich ist Bil­dung kein erwor­be­nes Merk­mal und folg­lich auch kei­ne Leis­tung, wenn Bil­dungs­er­folg nur von ‚natür­li­cher‘ Aus­stat­tung abhängt (vgl. Sol­ga, 2005).

[2] Leh­rern und ande­ren Ver­ant­wort­li­chen soll damit nicht per se jeder gute Wil­le abge­spro­chen wer­den, der sub­jek­tiv durch­aus vor­lie­gen mag (und teil­wei­se selbst zur Pro­duk­ti­on sozia­ler Ungleich­heit bei­trägt), doch die objek­ti­ve Funk­ti­on des Schul­sys­tems in der Regel nicht beeinträchtigt.


Lite­ra­tur:

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Wäh­rend Bil­dung „im tra­di­tio­nel­len Sin­ne (…) als die erar­bei­ten­de und aneig­nen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit der Welt schlecht­hin und Inbe­griff der Selbst­ver­wirk­li­chung des Mensch­li­chen im Men­schen“ (Büch­ner, 2003, S. 7) ver­stan­den wird, die Selbst­ent­fal­tung und Eman­zi­pa­ti­on ermög­licht, zeigt sich im All­tag und der öffent­li­chen Debat­te dage­gen viel­mehr, dass es vor allem die staat­lich aner­kann­ten Bil­dungs­ab­schlüs­se und ‑titel sind, d.h. insti­tu­tio­na­li­sier­te Bil­dung, die für die beruf­li­chen Chan­cen und damit letzt­lich die sozia­le Sta­tus­zu­wei­sung aus­schlag­ge­bend sind. Die­ses Gewicht insti­tu­tio­na­li­sier­ter Bil­dung ver­lei­tet zur Nut­zung eines ver­kürz­ten Bil­dungs­be­griffs, der Bil­dung auf die Inhal­te und Abschlüs­se eben jener insti­tu­tio­na­li­sier­ten Bil­dungs­gän­ge redu­ziert und damit kur­zer­hand Bil­dungs­pro­zes­se und ‑inhal­te außer­halb schu­li­scher Sphä­ren negiert, womit die in Bil­dungs­er­folg und ‑miss­erfolg sich nie­der­schla­gen­de (In)Kompatibilität zwi­schen her­kunfts­spe­zi­fi­scher, im Habi­tus inkor­po­rier­ter Bil­dung und den insti­tu­tio­na­li­sier­ten Bil­dungs­vor­stel­lun­gen aus dem ana­ly­ti­schen Blick­feld ver­schwin­det: „Die häu­fig anzu­tref­fen­de Gleich­set­zung von Bil­dung und erwor­be­nen Bil­dungs­pa­ten­ten, die auf der Grund­la­ge stan­dar­di­sier­ter Bil­dungs­in­hal­te erwor­ben wer­den, ver­fehlt die­je­ni­gen Momen­te von Bil­dung, die quer zu den in der Schu­le ver­mit­tel­ten Bil­dungs­for­men und ‑inhal­ten lie­gen“ (Grund­mann, Groh-Sam­berg, Bitt­ling­may­er, & Bau­er, 2003, S. 27; vgl. Bitt­ling­may­er, 2006). Um eine der­ar­ti­ge Ver­kür­zung zu ver­mei­den, ist zunächst eine dif­fe­ren­zier­te Betrach­tung und Gegen­über­stel­lung der Begrif­fe Sozia­li­sa­ti­on, Bil­dung und Erzie­hung notwendig.

Sozia­li­sa­ti­on ist als all­um­fas­sen­der Begriff zur Beschrei­bung „der sozia­len Gestal­tung von ver­läss­li­chen Sozi­al­be­zie­hun­gen und der inter­ge­ne­ra­tio­na­len Tra­die­rung sozia­len Hand­lungs­wis­sen“ (Grund­mann, 2011, S. 63) zu ver­ste­hen, auf des­sen Grund­la­ge die Begrif­fe Bil­dung und Erzie­hung auf die kon­kre­te inhalt­li­che Aus­ge­stal­tung die­ses Sozia­li­sa­ti­ons­pro­zes­ses abhe­ben. Sämt­li­che Hand­lun­gen und Pro­zes­se, die dazu bei­tra­gen, einem Akteur die Ein­glie­de­rung in sei­ne sozia­le Umwelt zu ermög­li­chen, an deren gesell­schaft­li­chem Leben teil­zu­neh­men und teil­zu­ha­ben sowie sein Ver­ständ­nis über die­se Pro­zes­se zu erwei­tern, sind als Sozia­li­sa­ti­on zu begrei­fen. Dem­ge­gen­über bezeich­net der Begriff Bil­dung die „Kul­ti­vie­rung von Hand­lungs­wis­sen ein­zel­ner Indi­vi­du­en“ (ebd.), Erzie­hung „die Eta­blie­rung sozi­al erwünsch­ter Eigen­schaf­ten von Per­so­nen durch Bezugs­per­so­nen“ (ebd.); bei­de Begrif­fe die­nen dem­zu­fol­ge zur inhalt­li­chen Kon­kre­ti­sie­rung und Dif­fe­ren­zie­rung von Sozia­li­sa­ti­ons­pro­zes­sen. Bil­dung ist gemäß die­ser abs­trak­ten Defi­ni­ti­on kei­nes­wegs beschränkt auf insti­tu­tio­na­li­sier­te Bil­dungs­pro­zes­se, son­dern umfasst jede Art von Hand­lungs­wis­sen, die einem Akteur nach­hal­tig zur Ein­bin­dung in das sozia­le Leben ver­hilft, wobei die­ses Wis­sen in schu­li­schen Ein­rich­tun­gen, durch Tra­di­tio­nen oder schlicht im all­täg­li­chen Leben wei­ter­ge­ge­ben und erwor­ben wer­den kann (vgl. Suder­land, 2004) – nicht immer wider­spruchs­frei. Wie die­ser Fokus auf Ein­bin­dung in die gesell­schaft­li­che Umwelt bereits nahe­legt, ori­en­tie­ren sich sowohl Bil­dung, zumin­dest jene, die von außen ziel­ge­rich­tet an ein Indi­vi­du­um her­an­ge­tra­gen wird, als auch Erzie­hung an sol­chen Ver­hal­tens­wei­sen und Wis­sens­be­stän­den, die den gegen­wär­ti­gen sozia­len Nor­men und Vor­stel­lun­gen, den Anfor­de­run­gen und Ein­schrän­kun­gen der gesell­schaft­li­chen Welt ent­spre­chen, „indem sie vor allem jene Eigen­schaf­ten und Fähig­kei­ten in den Blick neh­men, die gesell­schaft­lich wert­ge­schätzt wer­den“ (Grund­mann, 2011, S. 64), wodurch die zu Erzie­hen­den und zu Bil­den­den ent­spre­chend geformt und auf das gesell­schaft­li­che Leben vor­be­rei­tet wer­den sol­len. Somit ver­fol­gen Bil­dung und Erzie­hung in der Regel min­des­tens impli­zit sys­tem­funk­tio­na­le Zie­le, die den Rah­men für die For­men und Inhal­te von Bil­dung vor­ge­ben und eine mit die­sem kom­pa­ti­ble Erzie­hung bedin­gen. Unter Berück­sich­ti­gung des Stel­len­werts schu­li­scher Bil­dung ist sel­bi­ge in der gegen­wär­ti­gen Gesell­schaft mit ihrem Fokus auf for­ma­le Bil­dungs­gän­ge und ‑abschlüs­se „einer Funk­tio­na­li­sie­rung durch gesell­schaft­li­che Insti­tu­tio­nen“ (ebd., S. 70) unter­wor­fen, die eine Erzie­hung bedingt, die – soweit ihr das mög­lich ist – ver­sucht, den Anfor­de­run­gen die­ser Funk­tio­na­li­sie­rung durch Anpas­sung inner­fa­mi­liä­rer oder gene­rell all­tags­prak­ti­scher Bil­dungs- und Erzie­hungs­pro­zes­se ent­ge­gen­zu­kom­men, zum Bei­spiel durch geziel­te Vor­be­rei­tung auf schu­li­sche Bil­dungs­in­hal­te. Zu Span­nungs­ver­hält­nis­sen kommt es dabei, wenn die­se Bil­dungs- und Erzie­hungs­pro­zes­se der unmit­tel­ba­ren Lebens­um­welt, d.h. des Bezugs- und Her­kunfts­mi­lieus, jenen Bil­dungs­an­for­de­run­gen wider­spre­chen, die von den gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen gefor­dert und vor­aus­ge­setzt wer­den – sind die Bil­dungs­in­hal­te der Schu­le für das all­täg­li­che Leben eines Schü­lers irrele­vant oder umge­kehrt, passt also der Habi­tus des Schü­lers, der die her­kunfts­spe­zi­fi­schen Bil­dungs­in­hal­te inkor­po­riert hat, nicht zu den insti­tu­tio­nel­len Erfor­der­nis­sen, so ent­ste­hen Inkom­pa­ti­bi­li­tä­ten, die in der Regel zu schu­li­schem Miss­erfolg führen.

Drei Arten von Bildung

Drei Arten der Bil­dung (Kli­cken zum Vergrößern).
Quel­le: Roh­lfs, 2011, S. 41.

Zum Ver­ständ­nis des Zustan­de­kom­mens der­ar­ti­ger Inkom­pa­ti­bi­li­tä­ten zwi­schen indi­vi­du­el­lem Habi­tus und schu­li­schen Anfor­de­run­gen ist eine wei­te­re Dif­fe­ren­zie­rung des Bil­dungs­be­griffs not­wen­dig (vgl. Abbil­dung), die der Ver­kür­zung auf insti­tu­tio­nel­le Bil­dung entgegentritt.

Neben for­ma­ler, staat­lich sank­tio­nier­ter Bil­dung, die das Mono­pol über die Ver­ga­be der in der Regel für die beruf­li­che und sozia­le Posi­ti­on aus­schlag­ge­ben­den Bil­dungs­ti­tel inne­hat und nicht nur struk­tu­riert wie ziel­ge­rich­tet, son­dern fer­ner in eigens dafür geschaf­fe­nen, sym­bo­lisch wie auch juris­tisch legi­ti­mier­ten Insti­tu­tio­nen mit hier­ar­chi­schen Struk­tu­ren, vor­ge­ge­be­nen Regeln, stän­di­ger Leis­tungs­zer­ti­fi­zie­rung und Teil­nah­me­ver­pflich­tung statt­fin­det, kann struk­tu­rier­te und ziel­ge­rich­te­te Bil­dung auch non-for­mal, außer­halb der for­ma­len Bil­dungs- und Berufs­bil­dungs­in­sti­tu­tio­nen von­stat­ten­ge­hen, bei­spiels­wei­se in Ver­ei­nen, Nach­mit­tags­kur­sen, Ver­bän­den oder in Form von Nach­hil­fe­an­ge­bo­ten, wobei nebst ein­ge­schränk­ter Zer­ti­fi­zie­rungs­mög­lich­keit die­ser Art von Bil­dung die frei­wil­li­ge, nicht­ver­pflich­ten­de Teil­nah­me an der­ar­ti­gen Bil­dungs­an­ge­bo­ten das zen­tra­le Cha­rak­te­ris­ti­kum non-for­ma­ler Bil­dung dar­stellt (vgl. Roh­lfs, 2011). Nicht min­der rele­vant ist aller­dings das Ler­nen im infor­mel­len Kon­text, das spon­tan vom indi­vi­du­el­len Akteur aus­geht, sich unge­plant voll­zieht und „indi­rekt und gewöhn­lich anlass­be­zo­gen-spo­ra­disch-zufäl­lig, also situa­tiv an aku­ten Ein­zel­pro­ble­men und deren Lösung ori­en­tiert, unzu­sam­men­hän­gend, vor­der­grün­dig-uti­li­ta­ris­tisch wie unkri­tisch-unre­flek­tiert“ (Roh­lfs, 2011, S. 39) ist. Zwar kann infor­mel­le Bil­dung bis­wei­len zer­ti­fi­ziert wer­den (man den­ke etwa an Kopf­no­ten), doch unter­lie­gen die Bil­dungs­pro­zes­se an sich kei­ner Struk­tur oder Steue­rung und fol­gen kei­nen for­ma­len Vor­ga­ben, die als Grund­la­ge einer Bewer­tung nötig wären, sodass in der Regel kei­ne Zer­ti­fi­zie­rung infor­mel­ler Bil­dung mög­lich ist. Von ent­schei­den­der Bedeu­tung ist zudem, dass infor­mel­le Bil­dung „in der natür­li­chen (sozia­len) Umwelt der Bil­dungs­ak­teu­re“ (ebd.) statt­fin­det und sich dadurch aus­zeich­net, „dass Lern­si­tua­ti­on und prak­ti­scher Ver­wen­dungs­zu­sam­men­hang zusam­men­fal­len“ (Dra­ven­au & Groh-Sam­berg, 2005, S. 118). Was auf der­ar­ti­ge infor­mell-situa­ti­ve Wei­se gelernt wird, weist stets unmit­tel­ba­ren Bezug zur kon­kre­ten Lebens­welt des Akteurs auf (vgl. Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Groh-Sam­berg, 2007), sei es im Kon­text der Lösung eines all­tags­prak­ti­schen Pro­blems oder der Kom­mu­ni­ka­ti­on mit den umge­ben­den Mit­men­schen, wäh­rend for­ma­le Bil­dung einen sol­chen All­tags­be­zug zwar auf­wei­sen kann, die­ser aber nicht selbst­ver­ständ­lich ist, da sich außer bei bil­dungs­na­her Her­kunft die „Lern- und Bil­dungs­pro­zes­se in der Fami­lie deut­lich von jenen unter­schei­den, die in insti­tu­tio­na­li­sier­ten Bil­dungs­ein­rich­tun­gen vor­herr­schen“ (ebd., S. 43) – als Bei­spiel sei hier nur auf das Lesen klas­si­scher Lite­ra­tur ver­wie­sen, das für einen Schü­ler durch­aus mit des­sen All­tags­pra­xis kom­pa­ti­bel sein kann, sofern die­ser in einem ent­spre­chen­den kul­tu­rel­len Umfeld auf­ge­wach­sen ist; es ver­liert jedoch jeg­li­che außer­schu­li­sche Rele­vanz für einen Schü­ler, in des­sen All­tags­pra­xen das Lesen an sich oder die­se kon­kre­te Form der Lite­ra­tur (so gut wie) kei­ne Rol­le spielt. Die­ses her­kunfts­spe­zi­fi­sche kul­tu­rel­le Erbe, das sich für das Pas­sungs­ver­hält­nis mit der Schu­le ver­ant­wort­lich zeich­net, wird, da die Ver­er­bung in Form infor­mel­ler Bil­dung statt­fin­det, „auf osmo­ti­sche Wei­se über­tra­gen, ohne jedes metho­di­sche Bemü­hen und jede mani­fes­te Ein­wir­kung“ (Bitt­ling­may­er & Grund­mann, 2006, S. 76).

Die hier voll­zo­ge­ne Tren­nung[1] in for­ma­le, non-for­ma­le und infor­mel­le Bil­dung soll trotz des gro­ßen Gewichts, das die for­ma­le Bil­dung in Hin­blick auf beruf­li­chen Erfolg und Sta­tus­zu­wei­sung ein­nimmt, nicht zu einer Hier­ar­chi­sie­rung der ver­schie­de­nen Erschei­nungs­for­men von Bil­dung ver­lei­ten, son­dern das oft­mals auf insti­tu­tio­nel­le Bil­dung ver­eng­te Bil­dungs­ver­ständ­nis erwei­tern. Eine sol­che Hier­ar­chi­sie­rung näm­lich wür­de die Tat­sa­che ent­wer­ten und negie­ren – womit nun sei­ner­seits kei­ne umge­kehr­te Hier­ar­chi­sie­rung nahe­ge­legt, son­dern jede Form der Hier­ar­chi­sie­rung an sich in Fra­ge gestellt wer­den soll –, „dass der weit­aus größ­te Teil aller mensch­li­chen Lern­pro­zes­se (…) außer­halb der Bil­dungs­in­sti­tu­tio­nen stattfinde[t]“ (Roh­lfs, 2011, S. 47). Bil­dung beginnt dem­zu­fol­ge nicht erst mit for­ma­len Bil­dungs­for­men, son­dern bereits mit den in den Habi­tus ein­ge­hen­den all­täg­li­chen Lern- und Bil­dungs­pro­zes­sen eines Her­an­wach­sen­den in Fami­lie und gene­rel­ler Lebens­welt, die den Groß­teil der Erfah­run­gen nicht nur, aber beson­ders im Kin­des­al­ter aus­ma­chen; gelernt wird also vor­wie­gend „durch Pra­xis, durch Nach­ma­chen und Mit­tun, durch Aneig­nung von Rou­ti­nen und Gewohn­hei­ten und durch die dem­entspre­chen­de Ent­wick­lung von Denk‑, Wahrnehmungs‑, Urteils- und Hand­lungs­mus­tern, die aus der Her­kunfts­kul­tur stam­men und in ihr Sinn haben“ (Liebau, 2009, S. 47).

Die­se Aus­füh­run­gen machen deut­lich, dass die Aneig­nung von Bil­dung, d.h. das Ler­nen „nicht nur als bewuss­te kogni­ti­ve, son­dern auch als eher unbe­wuss­te psy­chi­sche und gefühls­mä­ßi­ge Ver­ar­bei­tung von Ein­drü­cken, Infor­ma­tio­nen, Erleb­nis­sen etc.“ (Roh­lfs, 2011, S. 36) ver­stan­den wer­den muss, das sich „bewusst wie unbe­wusst, inten­tio­nal wie bei­läu­fig, theo­re­tisch wie prak­tisch“ (ebd.) voll­zieht. Bil­dungs­pro­zes­se, begrif­fen als Inkor­po­rie­rung von Kul­tur, und das mit ihnen ver­bun­de­ne Ler­nen fin­den daher nur sel­ten rein kogni­tiv, son­dern viel­mehr habi­tu­ell statt – wäh­rend for­ma­le Bil­dung eher auf der ratio­na­len Ebe­ne anzu­sie­deln ist, geschieht das grund­le­gen­de, infor­mel­le Ler­nen mehr­heit­lich bei­läu­fig und ohne geziel­te Inten­ti­on, wor­aus wei­te­res Kon­flikt­po­ten­ti­al erwach­sen kann, weil etwa­ige Inkom­pa­ti­bi­li­tä­ten zwi­schen for­ma­len Bil­dungs­an­for­de­run­gen und Habi­tus infol­ge­des­sen nicht allein durch ratio­na­le Inter­ven­ti­on oder Refle­xi­on auf­lös­bar sind.

Die­se wesent­li­chen Unter­schie­de zwi­schen den for­ma­len, in aus­ge­wie­se­nen Bil­dungs­ein­rich­tun­gen statt­fin­den­den und den infor­mel­len, sich in der Fami­lie voll­zie­hen­den Bil­dungs­pro­zes­sen machen deut­lich, welch ana­ly­ti­sche Kurz­sich­tig­keit eine Ver­en­gung des Bil­dungs­be­griffs auf insti­tu­tio­na­li­sier­te Bil­dungs­pro­zes­se zur Fol­ge hat, die nur for­ma­lem Ler­nen einen Wert zumisst und „mit dem infor­mel­len Ler­nen eher «Nicht­bil­dung» [asso­zi­iert], weil Spiel und «tun und las­sen kön­nen, was man will» mit Ver­schwen­dung von Bil­dungs­res­sour­cen gleich­ge­setzt wird“ (Dol­la­se, 2007, S. 6; vgl. Roh­lfs, 2011), womit all jene Bil­dungs­for­men, ‑pro­zes­se und ‑inhal­te jen­seits der insti­tu­tio­nel­len Vor­ga­ben und damit auch die dar­aus resul­tie­ren­den Pas­sungs- oder Kon­flikt­ver­hält­nis­se igno­riert wer­den. Wenn nicht gar expli­zit, so liegt die­sem auch in der empi­ri­schen Bil­dungs­for­schung ver­brei­te­ten hier­ar­chi­schen Bil­dungs­ver­ständ­nis (dazu kri­tisch Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Groh-Sam­berg, 2007; Grund­mann, 2011) doch zumin­dest impli­zit eine Defi­zit­lo­gik zugrun­de, die sämt­li­che her­kunfts­spe­zi­fi­schen Bil­dungs­pro­zes­se abwer­tet und als min­der­wer­tig betrach­tet, solan­ge die­se nicht im schu­li­schen Kon­text anschluss­fä­hig oder ver­wert­bar sind, was gleich­zei­tig die die­ser Hier­ar­chi­sie­rung zugrun­de­lie­gen­de Vor­stel­lung und den Anspruch repro­du­ziert, bei schu­li­scher Bil­dung han­de­le es sich um die (ein­zig) legi­ti­me Form von Kul­tur (vgl. Bock, 2008; Grund­mann, Groh-Sam­berg, Bitt­ling­may­er, & Bau­er, 2003). Wenn­gleich durch Zer­ti­fi­zie­rung, staat­lich aner­kann­te Abschlüs­se, Ori­en­tie­rung an Lehr­plä­nen und weit­ge­hen­de Stan­dar­di­sie­rung von Lern­pro­zes­sen und ‑inhal­ten die schu­li­sche Bil­dung als legi­ti­me Bil­dung aus­ge­wie­sen ist, die für Sta­tus­zu­wei­sung und als Qua­li­fi­ka­ti­ons­nach­weis für beruf­li­chen Ein- oder Auf­stieg her­an­ge­zo­gen wird, so darf doch nicht über­se­hen wer­den, dass außer­schu­li­sche Bil­dungs­pro­zes­se auch dann statt­fin­den, „wenn schu­li­sche Bil­dungs­ver­läu­fe fehl­schla­gen, ver­kürzt oder abge­bro­chen wer­den“ (Grund­mann, Groh-Sam­berg, Bitt­ling­may­er, & Bau­er, 2003, S. 27) – nur wer­den eben die­se ver­meint­lich unnüt­zen Bil­dungs­pro­zes­se und ‑inhal­te selbst dann nicht als legi­ti­me Bil­dung aner­kannt, wenn sie für den kon­kre­ten Akteur zum täg­li­chen Über­le­ben in Milieu und Gesell­schaft von teils exis­ten­ti­el­ler Bedeu­tung sind.

Wie hier­an deut­lich wird, bedingt die For­ma­li­sie­rung von Bil­dung nicht nur eine Hier­ar­chi­sie­rung von Kul­tur, die mit die­ser Insti­tu­tio­na­li­sie­rung und der damit ein­set­zen­den Abwer­tung außer­schu­li­scher Bil­dungs­pro­zes­se ein­her­geht, son­dern formt Bil­dung gene­rell zu einem „öko­no­misch-poli­ti­schen Instru­ment“, das vor­der­grün­dig zwar mit den Ver­spre­chen von Eman­zi­pa­ti­on, Mün­dig­keit und Selbst­ver­wirk­li­chung mas­kiert wird, dabei aller­dings nur „jene Kul­tur­tech­ni­ken ver­mit­telt [und akzep­tiert; MM], die poli­tisch und öko­no­misch gewollt sind“ (Grund­mann, 2011, S. 72). Erzie­hung erschöpft sich in die­sem Sin­ne dar­auf, die Aus­prä­gung eines mög­lichst schul­kon­for­men Habi­tus zu för­dern bzw. sicher­zu­stel­len, der sowohl ‚leis­tungs­fä­hig‘ ist als auch die erwünsch­ten Cha­rak­ter­zü­ge auf­weist – „eine gute Erzie­hung zeich­net sich dem­nach durch opti­ma­le Vor­be­rei­tung auf die Schu­le aus“ (ebd., S. 70), dem­ge­gen­über eine Erzie­hung, die eine sol­che Vor­be­rei­tung nicht leis­ten kann (oder will), auto­ma­tisch als defi­zi­tär betrach­tet wird. Inso­fern kann von einem eman­zi­pa­to­ri­schen Ele­ment über­haupt nur dann die Rede sein, wenn die Bil­dungs­an­for­de­run­gen sich mit den eige­nen Lebens­ent­wür­fen und – unmit­tel­bar rele­van­ter – den Anfor­de­run­gen des täg­li­chen Lebens decken oder die­sen zumin­dest nicht wider­spre­chen; in jedem anders gela­ger­ten Fall fin­det das Gegen­teil von Eman­zi­pa­ti­on statt, näm­lich eine die sozia­le Hier­ar­chie repro­du­zie­ren­de sym­bo­li­sche und struk­tu­rel­le Gewalt, ver­mit­telt über die Abwer­tung her­kunfts­spe­zi­fi­scher kul­tu­rel­ler Prak­ti­ken, indem „Erzie­hung und Bil­dung (…) zur Selek­ti­on und Legi­ti­ma­ti­on unglei­cher Lebens­chan­cen her­an­ge­zo­gen“ (Grund­mann, 2011, S. 64) werden.

Völ­lig unbe­ach­tet blei­ben bei der Ver­kür­zung des Bil­dungs­be­griffs und der damit ver­knüpf­ten Hier­ar­chi­sie­rung von Kul­tur die Per­spek­ti­ven der betrof­fe­nen Akteu­re, die über eine jeweils eige­ne, her­kunfts­spe­zi­fi­sche Kul­tur mit diver­gie­ren­den Bil­dungs­stra­te­gien ver­fü­gen und die­se in das insti­tu­tio­nel­le Bil­dungs­sys­tem hin­ein­tra­gen, wo ihnen auf­grund ihrer Anschluss­fä­hig­keit ent­we­der Akzep­tanz ent­ge­gen­ge­bracht wird und sich ein Gefühl der selbst­ver­ständ­li­chen Zuge­hö­rig­keit ein­stel­len kann, oder infol­ge kul­tu­rel­ler Dif­fe­renz strik­te Abwer­tung ent­ge­gen­schlägt und ein dif­fu­ses Gefühl der Nicht­zu­ge­hö­rig­keit ent­steht, was u.a. das Phä­no­men der Selbst­eli­mi­nie­rung zur Fol­ge hat, also das schein­bar (!) frei­wil­li­ge und selbst­ge­wähl­te ver­früh­te Aus­schei­den aus dem Bil­dungs­sys­tem oder die Beschrän­kung auf objek­tiv wenig ertrag­rei­che, aber sub­jek­tiv als sicher emp­fun­de­ne Bil­dungs­we­ge. Wie deut­lich gewor­den sein soll­te, ist zum Ver­ständ­nis die­ses Pas­sungs­ver­hält­nis­ses der „Bil­dungs­be­griff aus sei­ner insti­tu­tio­nel­len Ver­an­ke­rung zu ent­gren­zen“ (Grund­mann, Groh-Sam­berg, Bitt­ling­may­er, & Bau­er, 2003, S. 27), da nur mit­tels eines sol­chen breit­ge­fass­ten Bil­dungs­be­griffs, der unter Rück­griff auf das Habi­tus­kon­zept die her­kunfts­spe­zi­fi­schen Bil­dungs­stra­te­gien und ‑inhal­te im Kon­text ihrer Lebens­welt beleuch­tet und ernst nimmt, anstatt sie unter der Prä­mis­se einer Defi­zit­lo­gik abzu­wer­ten, „die­je­ni­gen sozia­li­sa­to­ri­schen All­tags­prak­ti­ken, indi­vi­du­el­len Hand­lungs­be­fä­hi­gun­gen und Hand­lungs­stra­te­gien sicht­bar [gemacht wer­den kön­nen], die für die Repro­duk­ti­on der sozi­al unglei­chen Bil­dungs­er­fol­ge sozia­li­sa­to­risch ver­ant­wort­lich sind und die in der Regel außer­halb der schu­li­schen All­tags­pra­xis selbst lie­gen“ (Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Edel­stein, 2006, S. 16; vgl. Bitt­ling­may­er, 2006).

Wird der Bil­dungs­be­griff von sei­ner Fixie­rung auf schu­li­sche Bil­dung gelöst und dif­fe­ren­ziert betrach­tet, so muss auch der dar­auf auf­bau­en­de Begriff des Bil­dungs­er­folgs eine ähn­li­che Dif­fe­ren­zie­rung erfah­ren, um unter ande­rem deut­lich machen zu kön­nen, wie Bil­dungs­er­folg einer Les­art gege­be­nen­falls ande­ren Vor­stel­lun­gen von Bil­dungs­er­folg – ins­be­son­de­re jenen inner­halb des Bil­dungs­sys­tems – zuwi­der­lau­fen kann.

Zunächst kann Bil­dungs­er­folg indi­vi­du­ell-lebens­welt­lich begrif­fen wer­den, als all­ge­mei­ne Hand­lungs­be­fä­hi­gung, um am all­täg­li­chen Leben in der gege­be­nen Bezugs­welt, d.h. dem umge­ben­den Milieu, teil­neh­men und teil­ha­ben zu kön­nen (vgl. Huis­ken, 2005; Bitt­ling­may­er, 2006; Dra­ven­au, 2006; Grund­mann, 2006; Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Groh-Sam­berg, 2007; Bock, 2008; Grund­mann, 2011). Bil­dungs­er­folg in die­sem Sin­ne zeich­net sich dadurch aus, die milieu­spe­zi­fi­schen Hand­lungs- und Umgangs­for­men, die all­täg­li­chen Pra­xen wie auch sprach­li­chen Beson­der­hei­ten (etwa Umgangs­spra­che oder Dia­lekt) zu erler­nen und anwen­den zu kön­nen, was in der Regel in Form von infor­mel­ler Bil­dung geschieht und somit bei den Akteu­ren einen her­kunfts­spe­zi­fi­schen, an die kon­kre­ten Anfor­de­run­gen ange­pass­ten Habi­tus her­aus­bil­det. Als erfolg­reich gilt hier, wer sich auf­grund die­ses Habi­tus in sei­nem Milieu als Zuge­hö­ri­ger und sich zuge­hö­rig Füh­len­der bewe­gen kann.

Wei­ter­hin kann Bil­dungs­er­folg aus einer Per­spek­ti­ve ver­stan­den wer­den, die Bil­dung als Bür­ger­recht (vgl. Dah­ren­dorf, 1966) oder gesamt­ge­sell­schaft­lich-eman­zi­pa­ti­ves Ele­ment betrach­tet, das sowohl den Zugang zu gesell­schaft­li­chen Res­sour­cen ermög­licht als auch Grund­la­ge für die akti­ve poli­ti­sche Teil­nah­me und damit letzt­lich die Gestal­tung der Gesell­schaft ist (vgl. Büch­ner, 2003; Huis­ken, 2005; But­ter­weg­ge, 2010; Quen­zel & Hur­rel­mann, 2010; Grund­mann, 2011). Nach die­sem Ver­ständ­nis ist Bil­dung nicht nur für die Hand­lungs­be­fä­hi­gung im direk­ten Milieu von zen­tra­ler Bedeu­tung, son­dern eben­falls essen­ti­el­ler Bestand­teil der poli­ti­schen Mei­nungs­bil­dung und der Mög­lich­keit zur Ein­fluss­nah­me auf gesell­schaft­li­che Bedin­gun­gen. Wird Zugang zu Bil­dung ver­wehrt oder ist die­ser sozi­al ungleich ver­teilt, hat dies nicht nur Kon­se­quen­zen für die indi­vi­du­el­len Arbeits­markt­chan­cen und sämt­li­che damit ver­knüpf­ten Aus­wir­kun­gen auf die betrof­fe­nen Indi­vi­du­en, son­dern bedeu­tet gleich­zei­tig eine Ein­schrän­kung der poli­ti­schen Mit- oder bloß Selbst­be­stim­mung, d.h. letzt­lich ein Ungleich­ge­wicht demo­kra­ti­scher Par­ti­zi­pa­ti­ons­mög­lich­kei­ten. Schu­li­sche Bil­dung kann mit der­ar­ti­gen Eman­zi­pa­ti­ons­pro­zes­sen wie­der­um in Kon­flikt gera­ten, wenn die­se bei­spiels­wei­se die Regeln und Abläu­fe der schu­li­schen Insti­tu­tio­nen in Fra­ge stellen.

Wie anfangs bereits dar­ge­legt, wird Bil­dungs­er­folg in der Regel aller­dings allein mit dem Erfolg oder Miss­erfolg inner­halb insti­tu­tio­nel­ler Bil­dungs­ein­rich­tun­gen und den von die­sen ver­ge­be­nen Bil­dungs­zer­ti­fi­ka­ten gleich­ge­setzt, was auch von Tei­len der sozio­lo­gi­schen Bil­dungs­for­schung und vor allem den PISA-Stu­di­en über­nom­men wird (vgl. Becker & Hadjar, 2011; exem­pla­risch OECD, 2010). Dies ent­spricht einer sys­tem­funk­tio­na­len Betrach­tung im Kon­text des Bil­dungs­sys­tems und des dar­auf auf­bau­en­den Arbeits­markts; Bil­dungs­un­gleich­hei­ten an sich, wenn auch nicht zwin­gend sozia­le Ungleich­hei­ten, wer­den aus die­ser sys­tem­funk­tio­na­len Per­spek­ti­ve her­aus als not­wen­dig erach­tet und posi­tiv bewer­tet, da unter­schied­li­che beruf­li­che Posi­tio­nen auch unter­schied­li­che schu­li­sche Abschlüs­se vor­aus­set­zen und ein glei­ches Maß an Bil­dung somit Unter- bzw. Über­qua­li­fi­ka­ti­on pro­du­zie­ren wür­de. Weder die Befä­hi­gung zur all­täg­li­chen Lebens­füh­rung und die Anpas­sung an die Erfor­der­nis­se der unmit­tel­ba­ren Lebens­welt noch die gesell­schaft­li­che sowie poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on ste­hen bei die­ser Defi­ni­ti­on von Bil­dungs­er­folg im Vor­der­grund, son­dern die Erlan­gung von Berufs­qua­li­fi­ka­ti­on und eines ent­spre­chen­den Sta­tus, was bedeu­tet, dass Bil­dungs­er­folg anhand der Ver­mitt­lung und Über­prü­fung schu­li­scher Bil­dung in Form von Noten, Zer­ti­fi­ka­ten und dem Zugang zu höhe­rer Bil­dung sowie letzt­lich dem dar­aus resul­tie­ren­den beruf­li­chen Erfolg gemes­sen wird. Hier­bei han­delt es sich um eine Mes­sung anhand objek­ti­ver Kri­te­ri­en, die sowohl die Akteurs­per­spek­ti­ve als auch milieu­spe­zi­fi­sche Dif­fe­ren­zen unbe­rück­sich­tigt lässt.

Bil­dungs­er­folg ist dem­zu­fol­ge nicht gleich Bil­dungs­er­folg, und Bil­dungs­er­folg im einen Sin­ne muss nun nicht mit Bil­dungs­er­folg in einem ande­ren Sin­ne ein­her­ge­hen, viel­mehr eröff­nen sich erheb­li­che Kon­flikt­di­men­sio­nen. Wer durch spe­zi­fi­sche Milieu­be­din­gun­gen geprägt und inner­halb die­ser all­täg­li­chen Lebens­be­din­gun­gen sozia­li­siert wur­de, in die­sem Sin­ne also Bil­dungs­er­fol­ge auf­wei­sen kann, die ihn zur Gestal­tung des täg­li­chen Lebens befä­hi­gen, ist dadurch nicht gleich­sam prä­de­sti­niert für schu­li­sche Bil­dungs­er­fol­ge, weil die jewei­li­gen Defi­ni­tio­nen von Bil­dungs­er­folg sich dia­me­tral wider­spre­chen kön­nen – ist bei­spiels­wei­se im Rah­men der all­täg­li­chen Pra­xen eine Kon­zen­tra­ti­on auf hand­werk­li­che Tätig­kei­ten oder kon­kre­te Pro­blem­lö­sungs­stra­te­gien nötig, negiert die Schu­le kur­zer­hand durch ihren Fokus auf abs­trak­te Bil­dung die­se milieu­spe­zi­fi­schen Bil­dungs­er­fol­ge und stellt ihnen eine ganz eige­ne Defi­ni­ti­on der­sel­ben gegen­über, die mit den Milieu­be­din­gun­gen nicht oder nur bedingt kom­pa­ti­bel ist. Es ste­hen sich in Fol­ge zwei Auf­fas­sun­gen von Bil­dungs­er­folg gegen­über, die nur schwer mit­ein­an­der in Ein­klang zu brin­gen sind, nicht zuletzt, weil sie im außer­schu­li­schen Leben für den jewei­li­gen Akteur ganz unter­schied­li­che Rele­vanz auf­wei­sen kön­nen, bis hin zur völ­li­gen lebens­welt­li­chen Irrele­vanz schu­li­scher Bildungsprozesse.


[1] Bei der hier voll­zo­ge­nen Tren­nung in for­ma­le, non-for­ma­le und infor­mel­le Bil­dung han­delt es sich vor­ran­gig um eine Tren­nung ana­ly­ti­scher Natur, da sich die Bil­dungs­for­men in der all­täg­li­chen Pra­xis durch­aus über­schnei­den und deren Gren­zen ver­schwim­men kön­nen (vgl. Abbil­dung), so z.B. bei Gesprä­chen, beim Spie­len oder ande­ren Hand­lun­gen im schu­li­schen Kon­text, die zwar am Ort for­ma­ler Bil­dung statt­fin­den, aller­dings nicht zu den for­ma­len Lern­in­hal­ten zählen.


Lite­ra­tur:

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  15. Grund­mann, M., Groh-Sam­berg, O., Bitt­ling­may­er, U. H., & Bau­er, U. (2003). Milieu­spe­zi­fi­sche Bil­dungs­stra­te­gien in Fami­lie und Gleich­alt­ri­gen­grup­pe. Zeit­schrift für Erzie­hungs­wis­sen­schaft, 6. Jahrg. (Heft 1/2003), S. 25–45.
  16. Huis­ken, F. (2005). Der »PISA-Schock« und sei­ne Bewäl­ti­gung. Ham­burg: VSA-Verlag.
  17. Liebau, E. (2009). Der Stö­ren­fried. War­um Päd­ago­gen Bour­dieu nicht mögen. In B. Frie­berts­häu­ser, M. Rie­ger-Ladich, & L. Wig­ger (Hrsg.), Refle­xi­ve Erzie­hungs­wis­sen­schaft (2. Auf­la­ge) (S. 41–58). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
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  19. Quen­zel, G., & Hur­rel­mann, K. (2010). Bil­dungs­ver­lie­rer: Neue sozia­le Ungleich­hei­ten in der Wis­sens­ge­sell­schaft. In G. Quen­zel, & K. Hur­rel­mann (Hrsg.), Bil­dungs­ver­lie­rer – Neue Ungleich­hei­ten (S. 11–33). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  20. Roh­lfs, C. (2011). Bil­dungs­ein­stel­lun­gen. Schu­le und for­ma­le Bil­dung aus der Per­spek­ti­ve von Schü­le­rin­nen und Schü­lern. Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  21. Suder­land, M. (2004). Ter­ri­to­ri­en des Selbst. Frankfurt/M: Campus.

Vor etwas mehr als einem hal­ben Jahr habe ich im Bei­trag »Die kom­men­den Tage« die sozia­len Fol­gen der anhal­ten­den Kri­se sowie die auf­kei­men­den Pro­tes­te der Occu­py- als auch ande­rer Bewe­gun­gen skiz­ziert und ver­sucht, deren wei­te­re Ent­wick­lung zu pro­gnos­ti­zie­ren. Genannt wur­den als Kri­sen­phä­no­me­ne der weit­ge­hen­den Abbau des Sozi­al­staats, erstar­ken­der Natio­na­lis­mus, zuneh­men­de Ver­ar­mung, Pre­ka­ri­sie­rung und Ent­so­li­da­ri­sie­rung, Per­so­na­li­sie­rung der Kri­tik, schlei­chen­de Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung sowie die Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Pro­test­be­kämp­fung. Lei­der haben sich sämt­li­che dar­ge­stell­ten Aspek­te in der Zwi­schen­zeit tat­säch­lich wei­ter ver­schärft, eini­ge sogar schnel­ler und gewal­ti­ger, als ich ursprüng­lich gedacht hatte.

Im Fol­gen­den daher eine frag­men­ta­ri­sche Bestands­auf­nah­me, die sich auf den aktu­el­len Zustand Euro­pas kon­zen­triert, ver­bun­den mit zahl­rei­chen exem­pla­ri­schen Links zu Arti­keln und Infor­ma­tio­nen. Sie sol­len als Über­blick und Anhalts­punk­te für wei­ter­ge­hen­de Recher­chen die­nen, damit sich jeder Leser anhand der Berich­te selbst ein Bild machen kann und nicht auf mei­ne Inter­pre­ta­ti­on ange­wie­sen ist.


Abbau des Sozialstaats

Die Spar­maß­nah­men in Grie­chen­land, Ita­li­en, Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, Irland, Spa­ni­en, Por­tu­gal und ande­ren euro­päi­schen Län­dern bedeu­ten nicht zuletzt einen Abbau des Sozi­al­staats. Sie umfas­sen quer durch Euro­pa u.a. Maß­nah­men wie Ren­ten­kür­zun­gen sowie die Anhe­bung des Ren­ten­al­ters, die Locke­rung des Kün­di­gungs­schut­zes, Lohn­kür­zun­gen im öffent­li­chen Dienst, Ein­füh­rung neu­er Gebüh­ren oder Gebüh­ren­er­hö­hun­gen, die Kür­zung von Arbeits­lo­sen­un­ter­stüt­zung, Sozi­al­geld und ähn­li­chen Sozi­al­leis­tun­gen. Die größ­ten Ein­schnit­te fin­den dabei in der Regel in den Berei­chen Gesund­heit und Bil­dung statt, wodurch nicht nur die gegen­wär­ti­ge Ver­sor­gung und Aus­bil­dung der Bevöl­ke­rung beschnit­ten wird, son­dern auch deren indi­vi­du­el­le sowie die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Zukunfts­per­spek­ti­ve. Ent­spre­chend wer­den immer grö­ße­re Tei­le der Bevöl­ke­rung in Armut und Ver­zweif­lung gedrängt, die mit­un­ter zum Sui­zid führt (so ist bei­spiels­wei­se die Sui­zid­ra­te in Grie­chen­land in den letz­ten zwei Jah­ren um mehr als 40 Pro­zent angestiegen).


Rezession

Vor allem die euro­päi­sche Süd­pe­ri­phe­rie, aber auch ande­re euro­päi­sche Staa­ten lei­den unter Rezes­si­on unter­schied­li­chen Aus­ma­ßes, wenn­gleich eini­ge Staa­ten bis­lang davon ver­schont geblie­ben sind. Die strik­ten Maß­nah­men der Austeri­täts­po­li­tik wie­der­um zemen­tie­ren die Abwärts­spi­ra­le der ent­spre­chen­den Län­der in immer tie­fe­re Rezes­si­on, da Lohn­kür­zun­gen, Gebüh­ren- und Steu­er­erhö­hun­gen wie z.B. bei der Mehr­wert­steu­er oder die Ein­füh­rung neu­er Son­der­steu­ern zulas­ten der Unter- und Mit­tel­schicht sich nega­tiv auf den pri­va­ten Kon­sum und damit letzt­lich die Pro­duk­ti­on und das Steu­er­auf­kom­men aus­wir­ken. Auch hier­zu­lan­de wird die Kri­se spür­ba­rer, sodass mit­tel­fris­tig Mel­dun­gen wie die­se kein Ein­zel­fall blei­ben wer­den, zumal wirt­schaft­li­che Abküh­lung auf glo­ba­ler Ebe­ne – mit beson­de­rem Blick auf Chi­na – zu beob­ach­ten ist. Hin­zu kom­men auf­grund immer auf­wen­di­ge­rer För­der­me­tho­den ste­tig stei­gen­de Ener­gie­kos­ten.


Natio­na­lis­mus & zuneh­men­de Entsolidarisierung

Zusätz­lich zur unver­hoh­le­nen und zum Teil auch von poli­ti­scher Sei­te befeu­er­ten Het­ze gegen die ver­meint­li­chen Kri­sen­ver­ur­sa­cher im euro­päi­schen Süden, für deren angeb­li­che Faul­heit und Inkom­pe­tenz man nicht län­ger Zahl­meis­ter sein wol­le, wer­den – allen vor­an durch Deutsch­land – natio­na­le Wirt­schafts­in­ter­es­sen auf Kos­ten von Dritt­staa­ten vor­an­ge­trie­ben. Das Pro­jekt Euro­pa, das die Bevöl­ke­run­gen der euro­päi­schen Staa­ten ein­an­der näher­brin­gen soll­te, ver­kommt zum Gegen­teil. Im Zuge der Kri­se ist nicht nur eine all­ge­mei­ne Spal­tung Euro­pas zu beob­ach­ten, es ist zudem auch ein deut­li­cher Gra­ben zwi­schen den strau­cheln­den euro­päi­schen Staa­ten und Deutsch­land ent­stan­den, letz­te­res sei­ner­seits hege­mo­nia­les Zen­trum der Kri­sen­po­li­tik und gro­ßer Pro­fi­teur des Euros sowie des wirt­schaft­li­chen Ungleich­ge­wichts in Europa.

Selbst noch in der momen­ta­nen Situa­ti­on pro­fi­tiert Deutsch­land zumin­dest kurz­fris­tig aus den Kri­sen­phä­no­me­nen, u.a. durch nied­ri­ge bis nega­ti­ve Zin­sen für Anlei­hen oder etwa den schwa­chen Euro, der deut­sche Expor­te in Län­der außer­halb der Euro­zo­ne ver­bil­ligt. Die­se kurz­fris­ti­gen Vor­tei­le für die deut­sche Wirt­schaft, erkauft auf dem Rücken Euro­pas, soll­ten bei deut­schen Vor­schlä­gen zur Kri­sen­be­kämp­fung stets im Hin­ter­kopf behal­ten wer­den, offen­ba­ren sie doch einen gewich­ti­gen Inter­es­sen­kon­flikt. Erfolgs­mel­dun­gen wie etwa stei­gen­der deut­scher Export sind daher mit Vor­sicht zu genie­ßen, denn mit­tel- bis lang­fris­tig wird der Kelch auch an Deutsch­land nicht vor­über­ge­hen (vgl. Abschnitt Rezes­si­on), gera­de ange­sichts der Export­las­tig­keit der deut­schen Wirtschaft.

Gene­rell wird wei­ter­hin mit­tels natio­na­lis­ti­scher Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en ver­sucht, die von den Kri­sen­ent­wick­lun­gen am stärks­ten Betrof­fe­nen der jewei­li­gen Staa­ten gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len. Natio­na­lis­mus und Ent­so­li­da­ri­sie­rung zei­gen sich exem­pla­risch auch am deut­schen Umgang mit Grie­chen­land, des­sen Bevöl­ke­rung kurz vor den Wah­len mehr oder weni­ger offen ange­droht wur­de, es müs­se unab­hän­gig des Wahl­aus­gangs die an die finan­zi­el­len Hilfs­pa­ke­te geknüpf­ten Bedin­gun­gen erfül­len oder ansons­ten die Kon­se­quen­zen tra­gen. Mit Wolf­gang Schäubles Ambi­tio­nen zur Füh­rung der Euro­grup­pe könn­ten sich deut­sche Vor­machts­an­sprü­che zusätz­lich zemen­tie­ren, die zuletzt mit der Wahl in Frank­reich ins Wan­ken gera­ten waren.

Inner­halb der ein­zel­nen Staa­ten sind ande­re For­men der Ent­so­li­da­ri­sie­rung zu beob­ach­ten, näm­lich ver­stärk­te von oben nach unten gerich­te­te Abgren­zungs­be­mü­hun­gen bis hin zur Abwer­tung schwä­che­rer sozia­ler Grup­pen. Für Deutsch­land fasst der Sozio­lo­ge Wil­helm Heit­mey­er, Her­aus­ge­ber der Stu­die »Deut­sche Zustän­de«, exem­pla­risch zusam­men:

Die lau­fen­den Pro­zes­se der Umver­tei­lung und ihre gesell­schaft­li­che Zer­stö­rungs­kraft neh­men ste­tig zu und füh­ren zu einer immer grö­ßer wer­den­den Spal­tung der Gesell­schaft. Die obe­ren Ein­kom­mens­grup­pen neh­men die­se Spal­tung nur begrenzt wahr, sie sind im Gegen­teil der Mei­nung, dass sie zu wenig vom Wachs­tum pro­fi­tie­ren. Sie sind rasch bereit, die Hil­fe und Soli­da­ri­tät für schwa­che Grup­pen auf­zu­kün­di­gen. Sie wer­ten zuneh­mend stär­ker ab. Die Stu­die macht deut­lich, es exis­tiert eine geball­te Wucht rabia­ter Eli­ten und die Trans­mis­si­on sozia­ler Käl­te durch eine rohe Bür­ger­lich­keit, die sich selbst in der Opfer­rol­le sieht und des­halb immer neue Abwer­tun­gen gegen schwa­che Grup­pen in Sze­ne setzt. Und die Stu­die zeigt, wie stark Men­schen auf­grund von eth­ni­schen, kul­tu­rel­len oder reli­giö­sen Merk­ma­len, der sexu­el­len Ori­en­tie­rung, des Geschlechts, einer kör­per­li­chen Ein­schrän­kung oder aus sozia­len Grün­den mit sol­chen Men­ta­li­tä­ten kon­fron­tiert und ihnen macht­los aus­ge­lie­fert sind. Die Opfer­grup­pen sind mitt­ler­wei­le wehr­los und nicht mobi­li­sie­rungs­fä­hig. Ins­ge­samt ist eine öko­no­mi­sche Durch­drin­gung sozia­ler Ver­hält­nis­se empi­risch beleg­bar. Sie geht Hand in Hand mit einem Anstieg von grup­pen­be­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit. Seit 2008 haben sich die kri­sen­haf­ten Ent­wick­lun­gen zeit­lich mas­siv verdichtet.

Die Wahl­er­geb­nis­se der rech­ten Par­tei­en in Grie­chen­land (zusam­men knapp 17 % für die Par­tei­en Chry­si Avgi und Unab­hän­gi­ge Grie­chen) und Frank­reich (knapp 18 % für die Natio­na­lis­ten unter Mari­ne Le Pen) zei­gen deut­lich, wel­che Rich­tung der­ar­ti­ge Abgren­zungs- und Ent­so­li­da­ri­sie­rungs­ten­den­zen ein­schla­gen kön­nen. Doch nicht nur klei­ne, rechts­ra­di­ka­le Par­tei­en, son­dern auch kon­ser­va­ti­ve Volks­par­tei­en betrie­ben kräf­tig Stim­mungs­ma­che gegen sozi­al Schwa­che und Migran­ten, wie die Wahl­kämp­fe in Frank­reich und Grie­chen­land vor Augen geführt haben. Zudem wird die restrik­ti­ve EU-Migra­ti­ons­po­li­tik in Zei­ten der Kri­se noch schär­fer vor­an­ge­trie­ben, wie etwa mas­si­ve Maß­nah­men zur »Bekämp­fung ille­ga­ler Migra­ti­on« in Grie­chen­land belegen.


Zuneh­men­de Ver­ar­mung und Prekarisierung

Arbeits­lo­sen­zah­len wie zum Bei­spiel die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit in Grie­chen­land (~54 %), Spa­ni­en (~50 %) und Ita­li­en (~30 %) oder Sta­tis­ti­ken der Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung (ers­te­re hier als inter­ak­ti­ve Gra­fik für die USA), der Obdach­lo­sig­keit, der Schul­den­be­las­tung sowie der Armut oder des Armuts­ri­si­kos offen­ba­ren alle­samt anwach­sen­de sozia­le Miss­stän­de (vgl. den Abschnitt zum Abbau des Sozi­al­staats). In vie­len Län­dern ist daher auf­grund der tris­ten Aus­sich­ten bereits von der »ver­lo­re­nen Gene­ra­ti­on« die Rede. Ähn­li­ches gilt für die USA, wo die Illu­si­on einer mode­ra­ten Arbeits­lo­sen­quo­te nur durch sta­tis­ti­sche Spie­le­rei­en auf­recht­erhal­ten wer­den kann.


Entdemokratisierung

Nicht nur wur­den in Grie­chen­land und Ita­li­en Über­gangs­re­gie­run­gen gebil­det, die von unge­wähl­ten Tech­no­kra­ten im Sin­ne der rigi­den Spar­po­li­tik ange­führt wer­den, auch die teils pani­schen Reak­tio­nen in Pres­se, Poli­tik und an den Märk­ten auf den Links­ruck der Wah­len in Frank­reich und Grie­chen­land spre­chen eine deut­li­che, anti­de­mo­kra­ti­sche Spra­che. Poli­ti­sche Pro­zes­se wer­den zuneh­mend an anti­zi­pier­ten Markt­re­ak­tio­nen aus­ge­rich­tet, deren Ver­un­si­che­rung so gut es geht ver­mie­den wird; es fin­det eine Ver­schie­bung der Sou­ve­rä­ni­tät statt, deren Ergeb­nis die »markt­kon­for­me« (Ange­la Mer­kel) Demo­kra­tie ist. Mit dem geplan­ten Fis­kal­pakt wird zudem das Haus­halts­recht der Unter­zeich­ner­staa­ten star­ke Ein­schrän­kun­gen erfah­ren, was einer Schwä­chung par­la­men­ta­ri­scher Kon­trol­le ent­spricht, sowie Ent­schei­dungs­ge­walt u.a. zur EU-Kom­mis­si­on ver­la­gert wer­den, die nicht demo­kra­tisch gewählt ist. Eine Befra­gung der Bevöl­ke­rung mit­tels Refe­ren­dum wird, wie schon bei frü­he­ren Ver­trä­gen auf Ebe­ne der EU, als Bedro­hung betrach­tet oder – wie in Grie­chen­land gesche­hen – gar ver­hin­dert. Immer deut­li­cher tritt der unauf­lös­ba­re Wider­spruch zwi­schen Demo­kra­tie und Kapi­ta­lis­mus zuta­ge. Mit­be­stim­mung und fried­li­cher Pro­test (vgl. den fol­gen­den Abschnitt), so scheint es, wer­den mit Ver­schär­fung der Kri­se mehr und mehr zum Stör­fak­tor für auto­ri­tä­res Kri­sen­ma­nage­ment und Märkte.


Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Protestbekämpfung

Die Pro­test­be­we­gung, ob sie sich nun gegen die aktu­el­le Kri­sen­po­li­tik, Ban­ken­spe­ku­la­tio­nen oder das gegen­wär­ti­ge Sys­tem als Gan­zes rich­tet, hat zwar an Auf­merk­sam­keit von Sei­te der Mas­sen­me­di­en ver­lo­ren, ist jedoch wei­ter­hin sehr aktiv und kann sowohl gro­ße Demons­tra­tio­nen als auch klei­ne­re, all­täg­li­che­re For­men des Pro­tests vor­wei­sen, wie Beset­zun­gen öffent­li­cher Plät­ze, krea­ti­ve Spon­tan­kund­ge­bun­gen, diver­se For­men von Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und ‑ver­sor­gung, zivi­len Unge­hor­sam, wider­stän­di­sche All­tags­pra­xen, Guer­ril­la Gar­dening und direk­te Aktio­nen. In von der Kri­se stark betrof­fe­nen Län­dern wie Grie­chen­land oder Ita­li­en sind in die­sem Kon­text ver­mehrt Aus­schrei­tun­gen zu beobachten.

Auf der ande­ren Sei­te wer­den Pro­test­for­men und deren Teil­neh­mer zuneh­mend kri­mi­na­li­siert, Camps und Demons­tra­tio­nen – teils gewalt­sam – auf­ge­löst und non-kon­for­mes Ver­hal­ten bestraft. Ita­li­en erwägt sogar den Ein­satz des Mili­tärs. Gene­rell scheint die Tole­ranz­schwel­le für Pro­test zu sin­ken, was zuneh­mend die Aus­übung ele­men­ta­rer Frei­heits­rech­te beschnei­den wird, um die Illu­si­on des unge­stör­ten Wei­ter-so auf­recht­zu­er­hal­ten und Eigen­tums­ver­hält­nis­se als auch Geschäfts­be­trieb zu verteidigen.

So weit der aktu­el­le Stand, ohne Anspruch auf Voll­stän­dig­keit – tat­säch­lich exis­tie­ren euro­pa­weit und natür­lich glo­bal auf­grund der anhal­ten­den Kri­se etli­che wei­te­re sozia­le, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Pro­blem­la­gen sowie ent­spre­chen­de Proteste.

Es gibt kei­ne kon­kre­ten Hin­wei­se dar­auf, dass sich die­se Zustän­de in abseh­ba­rer Zukunft ver­bes­sern wer­den. Das Gegen­teil ist der Fall: Wird am bestehen­den Kurs fest­ge­hal­ten, wer­den Arbeits­lo­sig­keit und Sozi­al­ab­bau wei­ter zuneh­men, wor­auf der Lebens­stan­dard der meis­ten Men­schen in den betrof­fe­nen Län­dern absin­ken wird, wäh­rend ver­stärkt auto­ri­tä­re Kri­sen- und Pro­test­be­wäl­ti­gungs­stra­te­gien zu beob­ach­ten sein wer­den. Selbst an jenen, die bis­lang das gegen­wär­ti­ge poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Sys­tem ver­tei­digt oder zumin­dest hin­ge­nom­men haben, weil sie von des­sen gewal­ti­gen Schat­ten­sei­ten nicht direkt betrof­fen waren, dürf­ten die gegen­wär­ti­gen Ent­wick­lun­gen nicht mehr lan­ge unbe­merkt vor­über­ge­hen. Die Ein­schlä­ge kom­men näher. Dies ist das Euro­pa, in dem wir leben.

Lang­fris­tig wer­den die­se Ent­wick­lun­gen wohl vor kei­nem der so genann­ten Durch­schnitts­bür­ger Halt machen, da jeder zusätz­li­che Tag der bestehen­den Ver­hält­nis­se die Zustän­de nur ver­schlim­mert, auch wenn sie man­che spä­ter erfas­sen wer­den als ande­re. Die­ser tris­ten Aus­sicht steht die posi­ti­ve Visi­on gegen­über, die eige­ne Apa­thie und Ohn­macht ange­sichts schein­bar über­mäch­ti­ger Struk­tu­ren zu über­win­den, um aus der Kri­se kon­struk­ti­ve Kraft zu schöp­fen und sich durch Pro­test, alter­na­ti­ve Lebens­wei­sen, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on oder ähn­li­che Maß­nah­men aktiv an der Gestal­tung einer gerech­ten, frei­en, demo­kra­ti­schen und soli­da­ri­schen Gesell­schaft zu betei­li­gen, in der wir ger­ne leben möch­ten. Nie­mand soll­te dar­auf ver­trau­en, von der Poli­tik Lösun­gen zu erhal­ten. Die Poli­tik hat kei­ne Lösun­gen und sie stellt die fal­schen Fra­gen. Es liegt an jedem ein­zel­nen von uns, wie es wei­ter­ge­hen wird.

Sons­ti­ge wei­ter­füh­ren­de Links:

  • Keep Tal­king Greece
    Nach­rich­ten aus Grie­chen­land (Eng­lisch)
  • Grie­chen­land-Blog
    Aus und über Grie­chen­land – News, Mel­dun­gen, Kommentare
  • Ellas
    Infor­ma­tio­nen dar­über, wie das Leben in Grie­chen­land in den Zei­ten der „Kri­se“ wirk­lich aus­sieht – und ein biss­chen mehr.
  • Spa­ni­en­le­ben
    Spa­ni­en: aktu­el­le Neu­ig­kei­ten aus Medi­en, Poli­tik, Wirtschaft
  • Uhu­par­do
    Aktu­el­le Berich­te aus Spa­ni­en und über die Kri­sen­po­li­tik im Allgemeinen

Es ist nur Wider­stand, wenn dir Wider­stand ent­ge­gen­schlägt. Das klingt tri­vi­al und doch scheint es vie­le zu über­for­dern. Sie nen­nen sich Wider­ständ­ler und – das ist das Tra­gi­sche dar­an – sie füh­len sich auch so. Am Wochen­en­de und nach Fei­er­abend neh­men sie an Kund­ge­bun­gen teil, ver­zich­ten dafür immer­hin auf Par­ty, Fern­se­her oder Shop­pen­ge­hen, sie schrei­ben kri­ti­sche Arti­kel, man­che noch Leser­brie­fe, sie besu­chen Kon­gres­se und Dis­kus­si­ons­run­den, kurz­um: Sie sagen ihre Mei­nung. Das hal­ten sie für Wider­stand, für radi­kal, man­che gar für einen Umsturz des Sys­tems, und das Sys­tem lacht sich ins Fäust­chen, weil es weiß, wie alles läuft: Eine Mei­nungs­äu­ße­rung ist kein Wider­stand, kei­ne ernst­zu­neh­men­de Pro­vo­ka­ti­on, viel­mehr selbst­ver­ständ­lich oder wenigs­tens banal, und alles ist so herr­lich rela­tiv, dass jede Mei­nung recht hat, jeder Ein­wand wird umarmt und rasch osmo­tisch ein­ge­saugt, kommt nie mehr raus, noch jeder Blöd­sinn wird als Blöd­sinn aner­kannt. Jeder kri­ti­sche Gedan­ke wird ver­ein­nahmt. Die Welt ist schlecht, sagst du, und die­se Welt sagt: Lass uns gemein­sam dar­an arbei­ten, und schon bist du ein Kollaborateur.

Du kannst sagen, der Staat sei zum Kot­zen, ein Mons­ter und ein Men­schen­feind, und wenn du schlech­te Freun­de hast, dann wer­den sie dich dafür aus­la­chen, und wenn du etwas weni­ger schlech­te Freun­de hast, wer­den sie bloß mit ihren Köp­fen nicken, und dem Staat ist es egal. Auf letz­te­res kommt es an. Die Staats­macht hat kein Inter­es­se an dei­ner per­sön­li­chen Pri­vat­mei­nung, solan­ge du noch höf­lich ihren Regeln folgst, denn dar­auf baut sie auf; sie schert sich nicht um dei­ne Sym­pa­thie, so sicher ist ihr ihre Herr­schaft. Das ist der so genann­te Fort­schritt gegen­über einem Unrechts­staat, dem freie Mei­nung noch als Tücke gilt, weil er den Umstand nicht begrif­fen hat, wie man­che Frei­heit hier und da, groß­mü­tig gewährt, dem eige­nen Bestehen hilft. Je län­ger die Lei­ne, des­to frei­er fühlt sich der Hund und hält sein Herr­chen für den Hei­land. Du kannst dir nun natür­lich ein­bil­den, du wür­dest Tag und Nacht ver­folgt, kannst dich zum Hel­den ver­klä­ren und einen Kämp­fer nen­nen, kannst para­no­id wer­den und dein Tele­fon nicht mehr benut­zen, kannst hin­ter jedem nur noch Staats­macht sehen, weil du glaubst, dei­ne Mei­nung wäre irgend­je­man­dem ein Dorn im Auge, doch die Wahr­heit ist: Sie ist egal, so wie es dei­nen Chef nicht im gerings­ten schert, wie sehr du dei­ne Arbeit auch ver­flu­chen magst, solan­ge du bloß jeden Mor­gen pünkt­lich bist.

Mei­nungs­äu­ße­rung allei­ne ist kein Wider­stand. Du kannst auf Demos gehen und dei­ne Mei­nung kund­tun, du kannst ganz schreck­lich radi­kal ins Inter­net schrei­ben oder Flug­zet­tel ver­tei­len und damit Leu­te über­zeu­gen, die schon längst über­zeugt sind, oder ganz ande­ren Leu­ten dei­ne Tex­te in die Hand drü­cken, die noch nicht über­zeugt sind und die sich den­ken: Ach! Die dann nach Hau­se gehen und ihr Leben wei­ter­le­ben wie bis­her, weil es sie einen Scheiß inter­es­siert, wel­che Fak­ten du ihnen ins Gesicht wirfst, denn sie haben schon ihre Mei­nung und die ist stär­ker als jeder Fakt. Es ist ein bil­dungs­bür­ger­li­ches Mär­chen, man kön­ne ande­re mit Fak­ten über­zeu­gen. Spart euch eure Fly­er, sie sind nur Umwelt­ver­schmut­zung. Es geht nicht um Fak­ten und Argu­men­te und Ratio­na­li­tät. Das ging es nie. Gin­ge es um Fak­ten, hät­ten wir eine ande­re Welt, eine schö­ne­re, für alle; Ras­sis­mus wäre kein Pro­blem, es gäbe kei­ne Into­le­ranz, Krie­ge wür­den sel­ten, Armut wäre abge­schafft, dafür über­all Frie­den, Freu­de, Eierkuchen.

Es geht nicht um Fak­ten, es geht ums Gefühl. Das ist der wah­re Klas­sen­ge­gen­satz bei uns: Auf der einen Sei­te die Klas­se derer, die sich gut füh­len, selbst wenn es ihnen schlecht geht, die posi­ti­ven Den­ker, die Ver­drän­ger, die Igno­ran­ten, die Arsch­lö­cher und Nai­ven, und auf der ande­ren Sei­te jene, die an der Welt ver­zwei­feln, die sich schlecht füh­len, selbst wenn es ihnen gut zu gehen hat. Wer sich gut fühlt, der mei­det jene, die sich schlecht füh­len, weil sie ihn anste­cken könn­ten mit ihrer schlech­ten Lau­ne, mit ihrem Welt­schmerz und ihrer nega­ti­ven Aura, die­se Mies­ma­cher, die alles ändern wol­len, die den neu­en Mit­tel­klas­se­wa­gen nicht als hei­ße Schleu­der, son­dern bloß als Umwelt­schan­de sehen, als lächer­li­ches Sta­tus­sym­bol. Das will doch kei­ner hören! Du kannst dich wohl­füh­len, selbst wenn es allen schei­ße geht, und dar­an krankt die Welt. Dann lebst du lie­ber in dei­ner wun­der­ba­ren Schaum­stoff­um­ge­bung, dei­ner Gum­mi­zel­le mit Voll­pen­si­on, anstatt dich dem Leben aus­zu­set­zen, wie es dort drau­ßen wütet, denn wüten tut es, mehr als du dir denkst. Wen inter­es­sie­ren Fak­ten, wenn du ein gutes Leben füh­ren kannst.

Nein, Mei­nungs­äu­ße­rung allei­ne ist kein Wider­stand. Die effek­tivs­te Art des Wider­stands, die alle Herr­schafts­for­men über­dau­ern wird, ist die Ver­wei­ge­rung, wenn du dich dem ver­wehrst, das Besitz von dir ergrei­fen und dein Den­ken und dein Tun bestim­men will. Schick dei­ne Kin­der nicht zur Schu­le, und man wird sie dir schleu­nigst ent­rei­ßen oder dich wenigs­tens für dei­nen Trotz bestra­fen, bis du Ein­sicht zeigst, so nen­nen sie die Kapi­tu­la­ti­on. Geh nicht arbei­ten, und man wird dich einer Zwangs­ar­beit zuwei­sen, die man flüch­tig rosa anmalt und als gut gemein­te Ein­glie­de­rungs­maß­nah­me tarnt, selbst wenn einer gar nicht ein­ge­glie­dert wer­den will, weil das Böse immer schö­ne Namen trägt und mit guten Absich­ten daher­kommt, oder aber man wird dich trie­zen, bis du zer­brichst und resi­gnierst und dir »frei­wil­lig« eine Arbeit suchst, nur um der Ernied­ri­gung zu ent­ge­hen – das gilt hier heu­te schon als Frei­heit. Geh in den Super­markt und nimm dir, was du brauchst, ohne zu bezah­len, und man wird dich dafür ankla­gen. Dei­ne Mei­nung ist kein Wider­stand, solan­ge du brav bist, unter­wür­fig, füg­sam, treu, solan­ge du arbei­ten gehst, wenn man es von dir ver­langt, solan­ge du zahlst, was die Kas­se anzeigt, solan­ge du folgst, wenn man dir befiehlt. Mei­nungs­äu­ße­rung ist ein Ven­til, das man dir zuge­steht, damit du nicht zum Wider­ständ­ler wirst, denn du darfst ja alles sagen, frei und unbe­schwert, und jeder darf es toll fin­den oder dumm oder lächer­lich oder gemein und es hat alles kei­ne Konsequenz.

Du kannst nicht gegen etwas sein und dich dann doch dar­an betei­li­gen, nicht wenn du ehr­lich mit dir sein willst. Ver­wei­gerst du aber, bist du ein Fall für Mora­lis­ten und Pädagogen­propaganda, Sozialarbeits­kollaborateure oder Therapeuten­gaslighting, Poli­ti­ker und sons­ti­ge Wider­stands­be­kämp­fer. Nur in den sel­tens­ten Fäl­len steht dir ein Poli­zist mit Schild und Schlag­stock gegen­über, die Macht hat viel sub­ti­le­re Metho­den. Du bist gestört, sagt der The­ra­peut, du bist ein Para­sit, sagt der Poli­ti­ker, du han­delst unmo­ra­lisch, sagt der Pre­di­ger, du musst doch an die Zukunft den­ken, sagt dei­ne Erzie­hung, und alle wol­len sie dich wie­der ein­glie­dern in ihre Vor­stel­lung von einem guten Leben und kei­ner begreift, war­um du dich wehrst. Ein­glie­de­rung, das ist der Punkt, und das Wort drückt es schon aus: Sei ein Glied in unse­rer For­ma­ti­on, mar­schie­re mit, sei stän­dig fro­hen Mutes. Da ste­hen sie dann, stu­dier­te und klu­ge Leu­te, und fra­gen sich Beu­len in den Kopf, wie sich einer gegen die­ses tol­le Leben auf­leh­nen kann, die­ses Leben in der Schaum­stoff­welt, in der alles herr­lich bunt ist, weich und wun­der­bar, man stößt nir­gends an, solan­ge man nur brav ist und gehorcht, sie krie­gen das nicht in ihren Schä­del rein. Sie haben stu­diert, um blöd zu wer­den, und dafür hat es sich gelohnt, sie sind kon­form, bestan­den haben sie mit Bestnote.

Rei­ne Mei­nungs­äu­ße­rung ist kein Wider­stand, nie­mand wird für sei­ne Mei­nung an die Wand gestellt, kei­ner gefol­tert, nicht hier, nicht heu­te, nicht wenn jede Mei­nung gleich­gül­tig vor­über­zieht, du bist nicht Hans und Sophie Scholl. Eine Mei­nungs­äu­ße­rung ist bloß bequem, Schaum­stoff um das toben­de Gewis­sen. Äuße­re dei­ne Mei­nung und bewei­se der Welt, vor allem aber bewei­se dir selbst: Ich habe mei­nen Unmut kund­ge­tan, ich war nicht still. Es schläft sich ruhi­ger in der Nacht, nur ändern wird es frei­lich nichts.

4 minu­tes of Occu­py Frankfurt

Wir leben in tur­bu­len­ten Zei­ten. Der Kapi­ta­lis­mus, wie wir ihn heu­te ken­nen, fin­det sein Ende – auf die eine oder auf die ande­re Art. Anstatt die Kri­se aber als Bedro­hung und das Schei­tern des Kapi­ta­lis­mus als Unter­gang der Welt wahr­zu­neh­men, sind viel­mehr die Chan­cen zu erken­nen, die Grund zur Freu­de lie­fern, wenn sie genutzt werden.

Wer mit den immer deut­li­cher auf­tre­ten­den Zer­falls­pro­zes­sen des Kapi­ta­lis­mus das Aus­bre­chen eines glo­ba­len Cha­os her­an­na­hen sieht, arti­ku­liert mit die­sen Bedro­hungs­sze­na­ri­en Ängs­te, die vor allem eines offen­ba­ren: Die öko­no­mi­schen Gesetz­mä­ßig­kei­ten und Anfor­de­run­gen des bestehen­den Wirt­schafts­sys­tems, des­sen Sieg über die Sowjet­uni­on auf­grund des dar­aus resul­tie­ren­den Man­gels an kon­kre­ten Sys­te­mal­ter­na­ti­ven bis­wei­len schon zur Mär vom Ende der Geschich­te ver­lei­tet hat, haben sich bereits so sehr als Denk­sche­ma­ta in den Köp­fen der Men­schen fest­ge­setzt, dass ein Weg­fal­len die­ser Gesetz­mä­ßig­kei­ten als Weg­fall der Ord­nung an sich begrif­fen wird, so als gäbe es kei­ne ande­ren Mög­lich­kei­ten, das mensch­li­che Mit­ein­an­der zu orga­ni­sie­ren, als jene, die zur­zeit bestehen. Die­se schein­bar alter­na­tiv­lo­sen gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren, durch deren Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten wir sozia­li­siert wur­den und die daher in unse­re Habi­tus, in unse­re Hand­lungs- und Denk­struk­tu­ren Ein­zug gefun­den haben, befin­den sich nun in einer Kri­se, die nicht nur öko­no­mi­scher, son­dern auch psy­cho­lo­gi­scher Natur ist, denn die sozia­le Ord­nung hat sich unse­rer bis in die Fan­ta­sie hin­ein bemäch­tigt, wo sie der Vor­stel­lungs­kraft enge Gren­zen setzt, die jenen des wirt­schaft­li­chen Sys­tems ent­spre­chen. Eine grund­le­gen­de Ände­rung die­ses Sys­tems über­steigt selbst in des­sen Kri­se noch die Gren­zen des Vor­stell­ba­ren oder ist nur als Uto­pie denk­bar, als etwas, dem per se kei­ne (zeit­na­he) Rea­li­sie­rungs­chan­ce zuge­spro­chen wird. Die Gedan­ken, habi­tu­ell der­art geprägt und folg­lich ein­ge­schränkt, wir­ken somit als Kom­pli­zen des der­zei­ti­gen Sys­tems fort und so muss die Kri­se der bestehen­den Ord­nung wie eine Kri­se der Ord­nung an sich emp­fun­den wer­den, der Zer­fall des Kapi­ta­lis­mus wie der Zer­fall jeg­li­cher Gesellschaft.

Tat­säch­lich aber ist die der­zei­ti­ge Kri­se eine Chan­ce. Wer trotz aller Fak­ten noch unbe­irrt dar­auf baut, es möge alles so blei­ben, wie es ist, der möch­te eine Gesell­schafts­ord­nung am Leben erhal­ten, in der ein immer klei­ne­rer Teil auf Kos­ten der gro­ßen Mehr­heit lebt. Die sich aus­brei­ten­de Kri­se lie­fert die Mög­lich­keit, die­sen Zustand zu ändern, im Klei­nen wie im Gro­ßen. Genau die­ses Anlie­gen ver­tre­ten die wach­sen­den welt­wei­ten Proteste.

Nicht der Zusam­men­bruch stellt die Bedro­hung dar, son­dern jeder zusätz­li­che Tag, den das bestehen­de Sys­tem künst­lich am Leben erhal­ten wird – zu hor­ren­den öko­no­mi­schen, öko­lo­gi­schen und sozia­len Kos­ten. Wenn alles unge­hemmt wei­ter­läuft wie bis­her, wer­den wir in naher Zukunft unter ande­rem Fol­gen­des erleben:

  • weit­ge­hen­den Abbau des Sozialstaats
    der bereits vor Jah­ren ein­ge­setzt hat und sich stän­dig ver­schärft, man schaue neben Deutsch­land nur auf die dra­ko­ni­schen Spar­maß­nah­men in Grie­chen­land, das jüngst ver­ab­schie­de­te Spar­pa­ket Ita­li­ens, die dras­ti­schen Spar­be­mü­hun­gen in Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, Spa­ni­en und Portugal.
  • erstar­ken­den Nationalismus
    der bereits jetzt schon zu beob­ach­ten ist, hier­zu­lan­de am offen­sicht­lichs­ten in Form der unver­hoh­le­nen und auch von poli­ti­scher Sei­te – im Sin­ne natio­na­ler Inter­es­sen – befeu­er­ten Het­ze gegen den ver­meint­li­chen Kri­sen­ver­ur­sa­cher Grie­chen­land, für des­sen angeb­li­che Faul­heit und Inkom­pe­tenz man nicht län­ger Zahl­meis­ter sein wol­le, genau­so wenig wie für ande­re Schul­den­län­der, wäh­rend im Aus­land teil­wei­se Deutsch­land als Ver­ur­sa­cher der Kri­se aus­ge­macht wird und ent­spre­chend ver­hasst ist; der zudem durch die natio­na­len Wirt­schafts­in­ter­es­sen vor­an­ge­trie­ben wird, die allen vor­an Deutsch­land, aber auch Frank­reich mit der Durch­set­zung der eige­nen Vor­stel­lung von Kri­sen­be­wäl­ti­gung und Haus­halts­po­li­tik auf Kos­ten drit­ter Län­der verfolgt.
  • zuneh­men­de Ver­ar­mung und Prekarisierung
    die schon seit eini­ger Zeit zu ver­zeich­nen ist, man füh­re sich bloß ein­mal Arbeits­lo­sen­zah­len wie zum Bei­spiel die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit in Spa­ni­en (~45 %) und Ita­li­en (~30 %) oder Sta­tis­ti­ken der Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung (ers­te­re hier als inter­ak­ti­ve Gra­fik für die USA), der Obdach­lo­sig­keit, der Schul­den­be­las­tung sowie der Armut oder des Armuts­ri­si­kos zu Gemü­te, die alle­samt anwach­sen­de sozia­le Miss­stän­de offenbaren.
  • gras­sie­ren­den Sozialdarwinismus
    der bereits heu­te vor­zu­fin­den ist, bei­spiels­wei­se in Form der Dis­kri­mi­nie­rung von Arbeits­lo­sen und Migran­ten, die – auch von poli­ti­scher Sei­te – teil­wei­se sub­til, teil­wei­se ganz offen als faul und dumm, als Para­si­ten oder als unfi­nan­zier­ba­re Last des Wirt­schafts­stand­orts dif­fa­miert wer­den; der sich zudem hin­ter der brei­ten Akzep­tanz von in den letz­ten Jah­ren wie­der erstar­ken­den Geis­tes­hal­tun­gen wie „Nur wer arbei­tet, soll auch essen“ mehr schlecht als recht verbirgt.
  • zuneh­men­de Entsolidarisierung
    die bereits in die­sen Tagen exem­pla­risch als ste­ti­ge Pri­va­ti­sie­rung, als ein­sei­ti­ge Gebüh­ren­er­hö­hun­gen und Spar­maß­nah­men zu Las­ten unte­rer Schich­ten, als Abschot­tung der Wohl­ha­ben­den in Gated Com­mu­ni­ties und als das Aus­spie­len von Bevöl­ke­rungs­tei­len gegen ande­re Grup­pen der Bevöl­ke­rung aus­zu­ma­chen ist, so zum Bei­spiel Gering­ver­die­ner gegen Arbeits­lo­se oder „rich­ti­ge Deut­sche“ gegen Migranten.
  • Per­so­na­li­sie­rung der Kritik
    die als aggres­si­ve Sün­den­bock­su­che bereits heu­te deut­lich zu ver­neh­men ist, wenn bei­spiels­wei­se gezielt Ban­ker und Spe­ku­lan­ten als Blut­sauger oder Fremd­kör­per bezeich­net und teil­wei­se sogar bedroht werden.
  • Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung
    die momen­tan schon sehr ein­dring­lich anhand von Grie­chen­land und Ita­li­en zu beob­ach­ten ist, wo nun Tech­no­kra­ten im Sin­ne einer rigi­den Spar­po­li­tik die Über­gangs­re­gie­run­gen lei­ten sol­len, das jewei­li­ge Land also de fac­to gar nicht mehr regiert, son­dern bloß noch zur Abwick­lung gema­na­ged wer­den wird; die außer­dem auf euro­päi­scher Ebe­ne klar zu ver­zeich­nen ist, wo sich Ent­schei­dungs­pro­zes­se unter Aus­schluss euro­päi­scher Insti­tu­tio­nen, die ihrer­seits bereits unter Demo­kra­tie­de­fi­zi­ten lei­den, mehr und mehr auf die deutsch-fran­zö­si­sche Dop­pel­spit­ze kon­zen­trie­ren; die zuletzt jedoch am deut­lichs­ten an den offen demo­kra­tie­feind­li­chen Reak­tio­nen auf die ange­kün­dig­te Volks­ab­stim­mung in Grie­chen­land abzu­le­sen war.
  • Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Protestbekämpfung
    für die die Stra­ßen­schlach­ten in Athen, Rom und in den USA, aber auch die Riots in Lon­don ein Vor­ge­schmack waren.

All dies sind kei­ne düs­te­ren Zukunfts­vi­sio­nen, son­dern aus­nahms­los Pro­zes­se, die bereits ein­ge­setzt haben und sich mit Zuspit­zung der Kri­se pro­por­tio­nal ver­schär­fen wer­den, sofern ihnen nicht ent­ge­gen­ge­wirkt wird. Es ist der ganz nor­ma­le Wahn, den die bestehen­de Kri­se zum Vor­schein bringt.

Die glo­ba­len Pro­tes­te wie­der­um, die zur­zeit statt­fin­den und immer mehr Zulauf erfah­ren, sind in ihrem Kern nicht unbe­dingt pri­mär als For­de­rung zur Abschaf­fung des Kapi­ta­lis­mus zu begrei­fen – dies gelingt ihm aus eige­ner Kraft, wie immer offen­sicht­li­cher wird. Die Fra­ge aber, die sich in der Kri­se und mit dem Zer­fall der bestehen­den Wirt­schafts­ord­nung immer drin­gen­der stellt, lau­tet nun: In wel­che Rich­tung soll es weitergehen?

Folg­lich han­delt es sich bei den Pro­tes­ten – allen vor­an bei jenen der Indi­gna­dos oder der Occu­py-Bewe­gung sowie ihr ver­wand­ter Pro­test­for­men – um die Arti­ku­la­ti­on des Stand­punkts, dass man sich dem Gesche­hen nicht in bes­tem Fata­lis­mus hin­ge­ben möch­te (der oft genug als Opti­mis­mus ver­klei­det wird), son­dern statt­des­sen aktiv am Auf­bau einer gerech­te­ren Gesell­schaft teil­neh­men möch­te oder die­se zumin­dest ein­for­dert. Frank Schirr­ma­cher, dem man als Mit­her­aus­ge­ber der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung kei­ne all­zu gro­ße Links­las­tig­keit vor­wer­fen oder zugu­te­hal­ten kann, hat erst kürz­lich den über­aus befrei­en­den Gedan­ken geäu­ßert, dass wir uns zur­zeit in einer sehr kom­for­ta­blen Posi­ti­on befin­den: Immer hat es gehei­ßen, wir kön­nen uns dies nicht leis­ten oder jenes, weil das dem Wirt­schafts­stand­ort scha­det, weil das nicht finan­zier­bar ist, weil das in die­sem Wirt­schafts­sys­tem nicht funk­tio­niert und so wei­ter. Nun aber sind wir an einem Punkt, an dem offen­sicht­lich wird, dass das Wirt­schafts­sys­tem an sich nicht funk­tio­niert. Das heißt, wir kön­nen zum ers­ten Mal seit lan­ger Zeit unge­hemmt dar­über nach­den­ken, wie wir ger­ne leben wür­den, ohne uns um die öko­no­mi­schen „Sach­zwän­ge“ des Wirt­schafts­sys­tems sche­ren zu müs­sen, weil letz­te­res in sei­ner gegen­wär­ti­gen Form sowie­so nicht funk­tio­niert. Die Kri­se als Chance.

Wie eine ande­re Gesell­schaft aus­se­hen könn­te, zeigt im Klei­nen, qua­si als Sozi­al­ex­pe­ri­ment, die Occu­py-Bewe­gung: Men­schen, denen von Poli­tik und Wirt­schaft immer wie­der weis­ge­macht wird, sie sei­en auf sich allein gestellt im Kampf aller gegen alle, jeder sei nur für sich selbst ver­ant­wort­lich und Soli­da­ri­tät ein nicht finan­zier­ba­rer Luxus, leben in Form die­ser Bewe­gung das Gegen­teil vor, hel­fen sich gegen­sei­tig, ver­sor­gen sich gegen­sei­tig, unter­stüt­zen sich gegen­sei­tig. Sie mögen kei­ne ein­heit­li­chen Zie­le for­mu­lie­ren, kei­ne aus­ge­ar­bei­te­ten Kon­zep­te und Patent­lö­sun­gen anbie­ten, die ein­zu­for­dern sowie­so bloß illu­so­risch ist, doch es eint sie ein Unbe­ha­gen gegen­über den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen; sie leh­nen ab, was die der­zei­ti­ge Gesell­schaft ihnen nahe- oder auf­er­legt, sie sagen zum Bestehen­den: Fuck this shit! Die Occu­py-Bewe­gung wagt den Ver­such einer Gegen­kul­tur und zeigt, dass ein ande­res Leben mög­lich ist, eine ande­re Kul­tur mit ande­ren Wer­ten, Prio­ri­tä­ten und Verhältnissen.

Jener Aspekt der gegen­wär­ti­gen Bewe­gung ist es folg­lich auch, der für die bestehen­de Ord­nung die größ­te Zumu­tung dar­stellt – aus deren Sicht­wei­se gespro­chen. Wäh­rend frag­men­tier­te Pro­tes­te und Demons­tra­tio­nen schon immer vor­zu­fin­den waren und ent­spre­chend mar­gi­na­li­siert wer­den konn­ten, ver­fügt das Eta­blie­ren einer kon­struk­ti­ven Gegen­kul­tur, die welt­weit gro­ße media­le Auf­merk­sam­keit erfährt und die sich inter­na­tio­nal ver­netzt als auch rasch aus­ge­brei­tet hat, über eine gänz­lich ande­re Qua­li­tät, weil deren zugrun­de­lie­gen­de Idee das Poten­ti­al besitzt, mehr und mehr Men­schen zum Über­den­ken des Selbst­ver­ständ­li­chen bewe­gen zu kön­nen, indem sie kon­kre­te Alter­na­ti­ven zum Bestehen­den auf­zeigt, wenn auch bloß als sozia­les Expe­ri­ment. Buck­mins­ter Ful­ler hat es wie folgt aus­ge­drückt: »You never chan­ge things by fight­ing the exis­ting rea­li­ty. To chan­ge some­thing, build a new model that makes the exis­ting model obsolete.«

Letzt­lich gilt es also, die eige­ne Angst vor dem Kol­laps, die eige­ne Igno­ranz, die eige­ne Apa­thie und Ohn­macht ange­sichts schein­bar über­mäch­ti­ger Struk­tu­ren zu über­win­den, um aus der Kri­se kon­struk­ti­ve Kraft zu schöp­fen. Kraft für eine bes­se­re, gerech­te­re, glück­li­che­re Gesell­schaft, in der wir ger­ne leben möch­ten. Nie­mand soll­te dar­auf ver­trau­en, von der Poli­tik Lösun­gen zu erhal­ten. Die Poli­tik hat kei­ne Lösun­gen und sie stellt die fal­schen Fra­gen. Es liegt an jedem ein­zel­nen von uns, wie es wei­ter­ge­hen wird.

Update vom 15.05.2012:
Die kom­men­den Tage (Teil 2) – eine Bestands­auf­nah­me sechs Mona­te nach Ver­öf­fent­li­chung die­ses Artikels.

Der blaue Brief starr­te mich an. Nein, Quatsch, ich starr­te den blau­en Brief an. Der blaue Brief lag ein­fach nur da. Brie­fe konn­ten nicht star­ren. Gegen­stän­de konn­ten über­haupt kei­ne mensch­li­chen Hand­lun­gen voll­zie­hen. Vie­ler­lei dritt­klas­si­ge Schrift­stel­ler ver­such­ten Din­ge zu ver­mensch­li­chen, lie­ßen sie star­ren, füh­len, rufen, stau­nen. Meist han­del­te es sich dabei um Men­schen, die das Schrei­ben als Beruf bezeich­ne­ten. Wer aber das Schrei­ben als Beruf ver­un­glimpf­te, im Schrei­ben folg­lich eine Art von insti­tu­tio­na­li­sier­ter Arbeit sah, die ja in der Regel mit aller­hand nerv­tö­ten­den Ter­mi­nen, stän­di­ger Pla­cke­rei und dem maß­geb­li­chen Ziel der finan­zi­el­len Absi­che­rung ver­bun­den war, der hat­te sei­ne Lie­be zum geschrie­be­nen Wort schon lan­ge hin­ter sich gelas­sen. Um die­sen Umstand zu ver­ber­gen, bedien­te er sich zahl­rei­cher Knif­fe wie jenem der Ver­mensch­li­chung. Der Leser soll­te wis­sen: Hier ist ein Krea­ti­ver am Werk, ein Poet und Genie, das toten Din­gen Leben ein­hau­chen kann. Aber tote Din­ge waren tot. Wären sie leben­dig gewe­sen, hät­te man sie Lebe­we­sen genannt. Gegen­stän­de konn­ten her­um­lie­gen, fal­len, rol­len, bren­nen, stin­ken, also ein­fach nur da sein, ihre Funk­ti­on erfül­len oder Schwer­kraft und ande­ren äuße­ren Ein­flüs­sen gehor­chen. Was sie nicht konn­ten, war star­ren. Wie­so aber hat­te ich das für einen Moment gedacht? Ich ver­trieb die­sen lau­si­gen Gedan­ken aus mei­nem Kopf, mach­te schlech­te Roma­ne für mei­nen Faux­pas ver­ant­wort­lich und starr­te wei­ter auf Brief.
Aus der Küche hol­te ich mir ein Mes­ser, schnitt einen Apfel in mund­ge­rech­te Stü­cke und setz­te mich essend an den Tisch. Als der blaue Brief sich auch nach zwei Minu­ten noch nicht gerührt hat­te, war ich mir sicher, es han­del­te sich dabei um einen Gegen­stand wie jeden ande­ren, soll hei­ßen: einen leb­lo­sen. Es befand sich kei­ne Brief­mar­ke auf dem Umschlag, was bedeu­te­te, jemand hat­te sich die Mühe gemacht, bis zu mir aufs Land hin­aus zu fah­ren, nur um das Ding dann dis­kret im Brief­kas­ten zu ver­sen­ken, anstatt nach all dem Auf­wand ein­fach an der Tür zu klin­geln. Wäre da die Post nicht sinn­vol­ler gewe­sen, frag­te ich mich. Ande­rer­seits erfor­der­te die Brief­be­för­de­rung per Post gewal­ti­ge finan­zi­el­le Mit­tel auf Sei­ten des Absen­ders, wes­halb sich die­ser ver­mut­lich gedacht hat­te, es wäre doch sehr viel klü­ger, flink ins eige­ne Auto zu stei­gen, ein Dut­zend Kilo­me­ter mit einem Brief auf dem Bei­fah­rer­sitz durch die Land­schaft zu gon­deln, schön viel Schei­ße in die Luft zu bla­sen und den Brief ganz ein­fach per­sön­lich bei mir ein­zu­wer­fen, anstatt es Men­schen zu über­las­sen, die das haupt­be­ruf­lich aus­üb­ten, sowohl das Brie­fe­trans­por­tie­ren als auch das Schei­ße-in-die-Luft-Bla­sen. Das kam dabei her­aus, wenn Men­schen das Recht auf Mobi­li­tät mit einem Anspruch auf Umwelt­ver­schmut­zung ver­wech­sel­ten und Frei­heit mit der Pflicht, von einem Ter­min zum nächs­ten zu düsen, zum Bei­spiel von der Arbeit zur Knei­pe und spä­ter ange­trun­ken ins hei­mi­sche Bett.
Vom Stich­wort ›ange­trun­ken‹ inspi­riert, voll­zo­gen mei­ne Gedan­ken einen Sprung zu einer nahe­lie­gen­den Fra­ge: Wie­so war der Brief eigent­lich blau? Ich wuss­te, dass es hieß, Schu­len wür­den blaue Brie­fe ver­schi­cken, zumal ich wäh­rend mei­ner Schul­zeit so man­chen Brief von mei­ner Schu­le erhal­ten hat­te, sogar mit Brief­mar­ken dar­auf, doch blau war kei­ner davon gewe­sen. Was blieb mir ande­res übrig als ihn zu öff­nen, um die Neu­gier zu befrie­di­gen. Im Brief­um­schlag erwar­te­te mich eine unper­sön­li­che Einladung:

Lie­be Freun­din­nen und Freunde,
zehn Jah­re sind ver­gan­gen, seit wir von der Schul­bank ins wah­re Leben gezo­gen sind. Herz­lich laden wir euch zum gemein­sa­men Wie­der­se­hen ein.

Unter­halb des Tex­tes waren Zeit­punkt, Ort und Anfahrts­weg ver­merkt, wäh­rend auf der Rück­sei­te der Ein­la­dung eine lachen­den Schild­krö­te abge­bil­det war, die ein Zeug­nis in der Hand hielt, was mir als Aus­druck schu­li­scher Leis­tung irgend­wie unan­ge­mes­sen schien, aber genau des­we­gen fast schon sym­pa­thisch wirk­te, gera­de­zu sub­ver­siv. Wahr­schein­li­cher jedoch war, dass der Urhe­ber kei­ner­lei sub­ver­si­ve Ambi­tio­nen heg­te, son­dern das Bild­chen ein­fach nur für lus­tig befun­den hat­te. Man­ches änder­te sich eben selbst in zehn Jah­ren nicht, zum Bei­spiel schreck­li­cher Humor.
Es gab vie­les, das Leid und Elend über die Mensch­heit brach­te, wo immer es auf­trat: Krieg, Miss­gunst, Gier, Eifer­sucht, Natur­ka­ta­stro­phen und eben Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen. Bis jetzt war ich von all­dem ver­schont geblie­ben, aber jemand unter­nahm den Ver­such, das zu ändern. Jemand, der mich uni­la­te­ral als einen Freund bezeich­ne­te, was das Kon­zept der Freund­schaft ad absur­dum führ­te bis ver­höhn­te. Jemand, der die dumm­dreis­te Vor­stel­lung kul­ti­vier­te, nach der Schu­le wür­de man ins ›wah­re Leben‹ zie­hen, wäh­rend die meis­ten doch tat­säch­lich bloß in Ehe, Fabrik oder Büro umge­zo­gen waren.
Ein Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen war eine Ver­an­stal­tung, bei der sich die Bana­li­tät des Bösen unbarm­her­zig offen­bar­te. Men­schen kamen zusam­men, die sich seit ihrer gemein­sa­men Inter­nie­rung in einer Lehr­an­stalt nicht mehr gese­hen, geschwei­ge denn mit­ein­an­der gespro­chen hat­ten. Mit eini­gen war man befreun­det geblie­ben, als man den Schul­ab­schluss end­lich in der Tasche gehabt hat­te, doch beim Groß­teil schätz­te man sich froh, ihn end­lich los zu sein. Das Jubi­lä­ums­tref­fen nun war ein erzwun­ge­ner Pro­zess, der dazu führ­te, die­se natür­lich gewach­se­ne Distanz mit einer syn­the­ti­schen Nähe zu über­win­den, um eine Grund­stim­mung des gegen­sei­ti­gen Wett­be­werbs zu pro­vo­zie­ren. Der Ablauf eines sol­chen Zusam­men­tref­fens war sozi­al streng gere­gelt und ähnel­te jenem Kar­ten­spiel, bei dem die Spie­ler bei­spiels­wei­se Hub­raum, Höchst­ge­schwin­dig­keit, Beschleu­ni­gung oder Zylin­der­zahl der Fahr­zeu­ge auf ihren Spiel­kar­ten mit­ein­an­der ver­gli­chen, wobei der bes­te Wert gewann. Gespielt wur­de es bei einem Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen aller­dings nicht mit tech­ni­schen Daten, son­dern mit per­sön­li­chem Erfolg, beruf­li­cher Leis­tung, Schön­heit des Ehe­part­ners, Lage des Hau­ses, Preis des PKW, Zen­su­ren der Kin­der, Exklu­si­vi­tät des Urlaubs­ziels, Aus­übung von Macht und ande­ren erbärm­li­chen Sta­tus­sym­bo­len der jewei­li­gen Mit­spie­ler. Ich war arbeits­los und unver­hei­ra­tet, besaß weder Auto noch Eigen­heim und war dem­zu­fol­ge alles, was man nicht sein woll­te, wenn man zu einem Klas­sen­tref­fen ging.
Trotz mei­ner Abnei­gung gegen die­ses klein­ka­rier­te Spiel und der offen­sicht­li­chen Zumu­tun­gen einer sol­chen Ver­an­stal­tung nahm ich mir vor, der Ein­la­dung zu fol­gen. Wie eine Art Kriegs­be­richt­erstat­ter woll­te ich das ent­setz­li­che Elend begut­ach­ten, aller­dings mit der nicht zu unter­schät­zen­den Dif­fe­renz, dass ich im Gegen­satz zum unbe­tei­lig­ten Beob­ach­ter auch in Nah­kämp­fe ver­wi­ckelt sein wür­de und aktiv ins Kampf­ge­sche­hen ein­grei­fen müss­te. Das jedoch war ich gewohnt.
Noch am Abend des­sel­ben Tages rief ich jene Freun­de an, die ich von der Schul­zeit ins ›wah­re Leben‹ mit­ge­nom­men hat­te. Ich erkun­dig­te mich, ob sie die Ein­la­dung eben­falls erhal­ten hat­ten und was sie von ihr hiel­ten. Anschlie­ßend erzähl­te ich ihnen von mei­nem Vor­ha­ben und frag­te nach, ob sie die Absicht hät­ten, der Ver­an­stal­tung ihrer­seits bei­zu­woh­nen. Sie lach­ten über die­se Fra­ge und wünsch­ten mir Glück bei mei­ner Expe­di­ti­on. Des­we­gen waren sie mei­ne Freunde.
Eini­ge Wochen spä­ter war es so weit, an einem win­di­gen Sams­tag­abend. Die Ver­an­stal­tung fand in einer Vil­la nahe von Ham­burg statt. Wir waren ein Abitur­jahr­gang, daher gehör­te Distink­ti­on anschei­nend zwangs­läu­fig dazu, die Sehn­sucht nach stan­des­ge­mä­ßer Insze­nie­rung, die­se Selbst­ver­herr­li­chung als Eli­te. Als ich die Räum­lich­kei­ten betrat, war das Gesche­hen schon in Gang. Zu mei­ner Erleich­te­rung hat­te man die Ver­an­stal­tung als eine Art offe­ner Par­ty kon­zi­piert, ohne Sitz­ord­nung und irgend­wel­che Anspra­chen. Es gab ein Buf­fet mit Häpp­chen und Haupt­spei­sen sowie eine Bar mit einem leid­lich moti­vier­ten Bar­kee­per, der unter ande­rem Sekt und schlech­te Drinks ser­vier­te, sodass die Anwe­sen­den sich in wech­seln­der Kon­stel­la­ti­on an Tischen nie­der­las­sen oder kol­lek­tiv her­um­ste­hen konn­ten, was sehr viel ange­neh­mer war, als den gesam­ten Abend an einem gro­ßen Tisch gemein­sam ein­ge­pfercht zu sein.
Ein wenig ver­lo­ren blick­te ich mich um, bis ich Chris sah. Eigent­lich hieß er Chris­ti­an. Zu Schul­zei­ten war er ein Punk gewe­sen, ein Rebell und Non­kon­for­mist, der sich Auto­ri­tä­ten und Hier­ar­chien nicht hat­te beu­gen wol­len und in der Schu­le, die sich ihren Häft­lin­gen als Dis­zi­pli­nie­rung par excel­lence auf­dräng­te, folg­lich so sei­ne Pro­ble­me gehabt hat­te. Er war mir immer sym­pa­thisch gewe­sen, genau aus die­sem Grund. Heu­te trug er einen ver­dammt gut sit­zen­den Anzug und etwas, das er frü­her als Spie­ßer­fri­sur bezeich­net hät­te. Inner­lich muss­te ich lachen. Er ist eine Kari­ka­tur, dach­te ich, er kommt hier­her und hält allen den Spie­gel vor, macht sich lus­tig über sie, betreibt Sub­ver­si­on. Das ver­dien­te Respekt, daher ging ich zu ihm ans Buf­fet, wo er gera­de das Ange­bot begutachtete.
»Mensch, Chris! Schi­ckes Out­fit«, grins­te ich und nahm mir einen Teller.
»Dan­ke«, erwi­der­te er mit einem Hauch von Überraschung.
»Nur für den Scheiß hier hast du dir so’n Ding besorgt?«
»Was? Wer bist du eigentlich?«
Zuerst lach­te ich, doch dann wur­de mir klar, dass er mich wirk­lich nicht erkannt hat­te. Ich stell­te mich ihm vor und wir plau­der­ten eine Wei­le über die Schul­zeit, die frü­he­re Leh­rer, unser Leben nach dem Abschluss und schließ­lich die beruf­li­che Kar­rie­re. Ein Wort, für das er frü­her nur Ver­ach­tung übrig gehabt hat­te. Nun war er der­je­ni­ge, der es aus­sprach. Nach dem Abitur hat­te er her­um­ge­lun­gert, stän­dig gekifft, viel gesof­fen, was man halt so mach­te, wenn man alles ande­re zum Kot­zen fand, was den Alko­hol bis­wei­len ein­schloss. Doch irgend­wann sei ihm die Erleuch­tung gekom­men, sag­te er. Man dür­fe ein Leben nicht so ver­schwen­den, man müs­se etwas auf­bau­en, etwas leis­ten. Ein Sozi­al­ar­bei­ter habe ihm gehol­fen, sich aus sei­ner Cli­que zu befrei­en, wie er es aus­drück­te. Er hat­te einen Job bekom­men, wenig spä­ter auch eine eige­ne Woh­nung. Von da an sei es nur noch auf­wärts gegan­gen, er habe unglaub­lich hart gear­bei­tet, gespart, ange­legt und investiert.
»Heu­te fehlt es mir an nichts«, schwärm­te er mit hör­ba­rem Stolz. »Ich krieg die Kri­se, wenn ich einen jam­mern höre, er fin­det kei­nen Job. Wer nicht faul ist, der fin­det auch was. Man muss sich halt zusam­men­rei­ßen. Sieh mich an. Statt­des­sen wird jeder bestraft, der erfolg­reich ist. Steu­ern hoch, Steu­ern hoch, das ist alles, was ich höre. Mit mei­nem Geld wer­den sol­che Faul­pel­ze finanziert.«
»Sag mal, muss das nicht anstren­gend sein?« hak­te ich mit total beein­druck­tem Gesichts­aus­druck nach.
»Die Arbeit? Ja, schon, aber nur durch Leis­tung kommt man nach oben…«
»Neee, nicht die Arbeit. Jeden Tag die Idea­le, die du mal hat­test, kräf­tig in den Arsch zu ficken, nur für ein paar Scheinchen.«
Ich dreh­te mich um und führ­te einen inne­ren Kampf zuguns­ten der äuße­ren Con­ten­an­ce. Am liebs­ten hät­te ich ihn aus­ge­lacht, wäre das nicht der siche­re Ruin für mei­nen Abgang gewesen.
Das sind die Schlimms­ten, dach­te ich und ließ mei­nen Blick durch den Raum schwei­fen, auf der Suche nach einem neu­en Gesprächs­part­ner. Die­se Schlimms­ten, das waren für mich sozia­le Auf­stei­ger, die von ihren Wur­zeln nichts mehr wis­sen woll­ten. Weil sie selbst es ›geschafft‹ hat­ten, weil sie von der Frucht der Macht gekos­tet hat­ten, ver­teu­fel­ten sie alle, die es nicht taten. Ganz arme Würst­chen waren das. Mit klei­nen Würst­chen ver­mut­lich, weil sol­che Typen immer klei­ne Würst­chen hat­ten und die­sen Zustand irgend­wie zu kom­pen­sie­ren trach­te­ten, doch so genau woll­te ich es nicht in Erfah­rung brin­gen. Das Jahr­gangs­tref­fen fing an, mir Spaß zu machen. Ich kam in Fahrt, und das war gera­de erst der Anfang.
Plötz­lich wur­de ich von der Sei­te ange­spro­chen. Es war Tors­ten, der sei­nen Tel­ler so bers­tend mit Spei­sen bela­den hat­te, wie man es sonst nur von deut­schen Tou­ris­ten aus dem Urlaub kann­te, die die Angst umtrieb, bei einem zwei­ten Gang zum Buf­fet von der Zom­bie­apo­ka­lyp­se heim­ge­sucht zu wer­den, wes­halb sie auf ihren Tel­lern gewag­te Tür­me kon­stru­ier­ten, die allen Regeln der Sta­tik zu wider­spre­chen schie­nen. Im Gegen­satz zu Chris hat­te er mich umge­hend erkannt und wir kamen ins Gespräch. Tors­ten war jemand, mit dem ich mich in der Schu­le gut ver­stan­den hat­te, obwohl ich ihn nie­mals als einen Freund betrach­tet hät­te. Er war das, was man klas­sisch einen Schul­ka­me­ra­den nann­te. Nach­dem wir die Ein­gangs­flos­keln hin­ter uns gebracht hat­ten, erzähl­te er mir von sei­nem Job bei einer gro­ßen inter­na­tio­na­len Werbeagentur.
»Das gei­le an dem Job ist, so vie­le unter­schied­li­che Kun­den zu haben. Man hat stän­dig eine neue Her­aus­for­de­rung, dau­ernd eine kom­plett neue Arbeit mit kom­plett neu­en Ideen. Ich kann mich krea­tiv ganz aus­le­ben und ver­die­ne dabei auch noch ordentlich.«
»Hm«, gab ich den nach­denk­lich Inter­es­sier­ten. »Was für Kun­den hast du da so? Gibt’s da auch wel­che, bei denen du sagst: Das mach ich nicht, die mag ich nicht?«
»Klar gibt’s die! Ich arbei­te nicht für Rüs­tungs­kon­zer­ne, da hab ich ganz deut­lich eine Linie gezo­gen.« Mit dem Fin­ger zog er ganz deut­lich eine Linie in die Luft. »Man will ja auch noch mit gutem Gewis­sen ein­schla­fen können.«
Rüs­tungs­kon­zer­ne taten mir Leid. Kein ein­zi­ger Wer­ber die­ser Welt woll­te frei­wil­lig für sie arbei­ten. Alle sag­ten sie: Nein, das kann ich ethisch nicht ver­ant­wor­ten. Das muss­te der ers­te Satz gewe­sen sein, den sie auf der Wer­be­kas­per­schu­le gelernt hat­ten und seit­dem wie ein Man­tra vor sich her­be­te­ten. Zum Glück besa­ßen Rüs­tungs­kon­zer­ne in der Regel Toch­ter­ge­sell­schaf­ten oder eigen­stän­di­ge Divi­sio­nen, die sich mit zivi­ler Res­te­ver­wer­tung der mili­tä­ri­schen For­schung beschäf­tig­ten und bei­spiels­wei­se LKW statt Pan­zern her­stell­ten, sodass man sich als Wer­ber oder über­haupt als Ange­stell­ter gut damit her­aus­re­den konn­te, mit der Pro­duk­ti­on von dedi­zier­ten Tötungs­in­stru­men­ten nichts am Hut zu haben. Das war for­mal zwar zwei­fel­los kor­rekt, aber spitz­fin­dig, doch wenn es dem Selbst­be­trug dien­lich sein konn­te, war frei­lich jedes Mit­tel erlaubt.
»Wow!« bewun­der­te ich sei­ne ethi­sche Stand­fes­tig­keit und erin­ner­te mich an die Arbei­ten sei­ner Lügen­bu­de. »Ich stel­le mir das gera­de vor. Da kommt so ein schmie­ri­ger Rüs­tungs­kon­zern zu dir und sagt: Bit­te erstel­len Sie mir eine tol­le Wer­be­kam­pa­gne – und du, du sagst ganz kon­se­quent: Nein! Am nächs­ten Tag stellt sich dann ein Ener­gie­kon­zern bei dir vor, der zu den größ­ten Umwelt­sün­dern des Lan­des gehört, und du ver­passt ihm ein grü­nes Image. Das ist ethisch echt gleich viel besser.«
»Über die­se Kam­pa­gne gab es intern eine rege Dis­kus­si­on, auch ethisch. Wir haben uns dann am Ende für den Auf­trag ent­schie­den, weil der Kon­zern auch viel in grü­ne Ener­gie inves­tiert und…«
»Und weil das Geld so zahl­reich floss, du schlei­mi­ge Wer­be­hu­re!« unter­brach ich ihn frech und nutz­te sei­ne sicht­li­che Über­for­de­rung, um noch ein wenig nach­zu­le­gen: »Eini­ge Wochen spä­ter kriechst du einer Fir­ma zu Kreuz, die ihre Mit­ar­bei­ter wie den letz­ten Dreck behan­delt. Dei­ne schö­ne Agen­tur aber küm­mert sich dar­um, sie als sozi­al gerech­tes Wohl­tä­tig­keits­pa­ra­dies dar­zu­stel­len. Ich mei­ne, hey, du bist so kon­se­quent mit dei­nen mora­li­schen Grund­sät­zen, das ist echt beein­dru­ckend! Mann, ich bin so froh, dass du nachts gut schla­fen kannst, weil du nichts für Rüs­tungs­kon­zer­ne machst.«
Da stand er und schau­te wie ein Hund beim Kacken, der sich kei­ner Schuld bewusst war. Wenn es einen irdi­schen Zugang zur Höl­le gab, dann lag er unter­halb die­ses Gebäu­des und hat­te sich erst kürz­lich auf­ge­tan, um die hier anwe­sen­den Geschöp­fe aus­zu­spei­en. Er wür­de sie hof­fent­lich auch wie­der zurücknehmen.
Gab es denn kei­ne ver­nünf­ti­gen Men­schen in die­sem Haus? Zwei klei­ne Grup­pen stan­den her­um und waren unter­ein­an­der jeweils in Dis­kus­sio­nen ver­tieft, soweit ich das beur­tei­len konn­te. Ich über­leg­te, ob ich mich zu einem der bei­den Grüpp­chen dazu­ge­sel­len und mit­dis­ku­tie­ren soll­te, war aber an der Umset­zung die­ser Vor­stel­lung nicht ernst­haft inter­es­siert, weil ich seit jeher das Gespräch unter vier Augen bevor­zug­te. Dann sah ich Pia. Sie saß allei­ne an einem Tisch, vor sich ein Glas Sekt, an dem sie hin und wie­der nipp­te. In der Schu­le war sie so etwas wie eine graue Maus und eher am unte­ren Ende der aus­rei­chen­den Noten­ska­la behei­ma­tet gewe­sen, was ich nicht tra­gisch fand, ihre Eltern damals aller­dings umso mehr. Nun jedoch trug sie zwei ansehn­li­che Bil­dungs­ab­schlüs­se vor sich her, die sie für jede Beschäf­ti­gung qua­li­fi­zier­ten. Außer­dem hat­te sie zu viel Make-up auf­ge­tra­gen, doch war dies ein Phä­no­men, das ich an vie­len Frau­en beob­ach­ten konn­te, die allem Anschein nach ver­in­ner­licht hat­ten, was man ihnen fort­wäh­rend weis­ma­chen woll­te. Jede belie­bi­ge Kos­me­tik­wer­bung sug­ge­rier­te, Frau­en sei­en von Natur aus häss­li­che Krea­tu­ren, nicht im Ansatz begeh­rens­wert, wenn sie sich nicht hin­ter Mas­ken ver­ber­gen wür­den, an denen ande­re kräf­tig ver­dien­ten. Lie­ber tru­gen sie zu viel auf als gar nichts, aus Angst vor ihrem eige­nen Gesicht. Ein­mal war ich ver­liebt an mei­ne dama­li­ge Freun­din her­an­ge­tre­ten mit den Wor­ten: ›Du bist am schöns­ten, wenn du unge­schminkt bist‹. Da hat­te sie gelacht und mir kein Wort geglaubt.
Pia sah nicht so aus, als wäre ihr zum Lachen zumu­te. Ner­vös durch­streif­te sie mit ihren Bli­cken den Raum und schien nach jeman­dem zu suchen. Sie war zu Schul­zei­ten immer sehr nett zu mir gewe­sen, viel­leicht auch ein biss­chen ver­knallt, dar­um ließ ich mich an ihrem Tisch nie­der und begrüß­te sie mit eini­gen freund­li­chen Wor­ten. Wir kamen ins Gespräch. Eigent­lich, so erzähl­te sie mir, war sie mit einer Freun­din her­ge­kom­men, mit Kath­rin, die sich jedoch auf der Suche nach einer Toi­let­te im Ober­ge­schoss ver­drückt hat­te, in ver­däch­ti­ger zeit­li­cher Nähe zu Sebas­ti­an, was deren bei­der Abwe­sen­heit durch­aus erklär­te. Sebas­ti­an war ver­hei­ra­tet, hat­te die­sen unglück­li­chen Umstand, wie es schien, gleich­wohl tem­po­rär ver­drängt, so wie man trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen eben häu­fig den Zugang zum Bewusst­sein ver­wehr­te. Das war wis­sen­schaft­lich erwie­sen, daher soll­te nie­mand den Zei­ge­fin­ger erhe­ben und behaup­ten, der Betrug an sei­ner Frau sei Sebas­ti­ans eige­ne Ent­schei­dung, geschwei­ge denn des­sen Schuld gewesen.
Pia und ich jeden­falls mach­ten uns dar­über lus­tig wie gute Läs­ter­schwes­tern. Nach einer Wei­le ver­such­te ich, das Gespräch in span­nen­de­re Gewäs­ser zu navi­gie­ren, weil harm­lo­se Läs­te­rei­en zwar recht auf­lo­ckern­de Gesprächs­in­hal­te dar­stell­ten, mich das gesam­te Kon­zept des Läs­terns aber doch sehr an Gar­ten­zwer­ge und Block­wart­ment­a­li­tät erin­ner­te. Ein The­men­kom­plex, mit dem man jeder­zeit Freun­de gewin­nen konn­te, ob nun im Super­markt an der Kas­se, in der Sau­na oder auf dem Zahn­arzt­stuhl, war das gern kon­fe­rier­te Feld der Poli­tik. Ich sprach die um sich grei­fen­de Finanz­kri­se an, die bereits jetzt das Leben von Mil­lio­nen Men­schen zer­stört hat­te, obwohl sie gera­de erst am Anfang stand. Ich belä­chel­te die anhal­tend her­bei­fan­ta­sier­te Mär vom Auf­schwung, der komi­scher­wei­se bei nie­man­dem so recht ankam. Ich erwähn­te den Jubel um sin­ken­de Arbeits­lo­sen­zah­len, die kei­ner, der noch ganz bei Trost war, für etwas ande­res als Pro­pa­gan­da hal­ten konn­te. Die gan­zen ekel­haf­ten Nach­rich­ten eben, wäh­rend Pia bei allem still nickte.
»Mich kotzt das echt an, so ver­arscht zu wer­den«, rumor­te es aus mir her­aus. »Ver­gleich das mal mit dem Ara­bi­schen Früh­ling. Da gehen Men­schen auf die Stra­ße, weil sie demo­kra­ti­sche Mit­be­stim­mung for­dern. Hier­zu­lan­de schimpft man über die Schwer­fäl­lig­keit demo­kra­ti­scher Ent­schei­dungs­fin­dung und ver­tei­digt allen Erns­tes ein­ge­schränk­te Mit­be­stim­mungs­rech­te, wo immer sie auf­tre­ten, weil Beschlüs­se ja so viel effi­zi­en­ter gefällt wer­den könn­ten, wenn weni­ger Men­schen dar­an betei­ligt wären. Markt­ge­rech­te Demo­kra­tie nen­nen sie das und schie­len mit einem Auge auf Chi­na. Da weiß man doch, was man von so einer Demo­kra­tie zu hal­ten hat, oder?«
»Ach, weißt du, das inter­es­siert mich alles nicht so recht. Man darf im Leben nur das Posi­ti­ve sehen, und das tue ich. Ich schaue kei­ne Nach­rich­ten mehr, weil mich das unglück­lich macht.«
So also sahen Men­schen aus, die Lebens­rat­ge­ber lasen wie: ›Mit Yoga zum Glück‹, ›Lachen für ein gutes Leben‹, ›Dank Posi­ti­vem Den­ken aus der Arbeits­lo­sig­keit‹, ›Grin­sen gegen Krebs‹. Oder schlim­mer noch: die sol­chen Schund schrie­ben, um ande­re aus­zu­neh­men, die den Mist glaub­ten. Die­se Men­schen hat­ten kei­nen ande­ren Lebens­in­halt vor­zu­wei­sen als alles wahn­sin­nig schön zu fin­den. Wenn es eines gab, das mich stär­ker ankotz­te als ver­arscht zu wer­den, dann war es die Kraft der posi­ti­ven Wahr­neh­mung, die Igno­ranz auf Speed, die alle Pro­ble­me der Mensch­heit leicht­fü­ßig lösen soll­te. Hun­ger in der Drit­ten Welt? Man schlürf­te Pro­sec­co. Mord im Namen der Frei­heit? Man sah sich einen lus­ti­gen Film an. Ölplatt­form geplatzt? Man gönn­te sich mal was. Opti­mis­mus statt Ver­nunft, Apa­thie statt Zorn. Die Höl­le, das war sie. Wer vor­über­ge­hend doch ein­mal aus dem Glück­se­lig­keits­fa­schis­mus pur­zel­te, der schlug rasch in der Rat­ge­ber­li­te­ra­tur nach, wie man ange­passt zu leben hat­te, anstatt ein­fach mal in sich hin­ein­zu­hor­chen und auf den Tisch zu hauen.
»Wür­dest du das auch klei­nen Kin­dern ins Gesicht sagen, die vor Hun­ger ver­re­cken? ›Seht das Posi­ti­ve: Ihr müsst zum Abneh­men nicht jog­gen gehen‹? Oder zu Zwangs­ar­bei­tern im KZ? ›Seht das Posi­ti­ve: Jeder hier hat einen Arbeits­platz‹? Men­schen wie du kot­zen mich an, weil sie mit ihrer opti­mis­ti­schen Igno­ranz die gan­ze Schei­ße auf der Welt erst ermöglichen.«
Mit ihrem am Boden hän­gen­den Unter­kie­fer ließ ich sie zurück, bevor sie die Chan­ce hat­te, mir den Sekt ins Gesicht zu schüt­ten. Ich kam mir vor wie eine Mut­ter, die ihrem Balg irgend­was ver­bie­ten oder es zum Auf­es­sen bewe­gen woll­te und zu die­sem Zweck ganz scham­los die afri­ka­ni­sche Bevöl­ke­rung ins Spiel brach­te, als hät­te die es nicht schon schwer genug gehabt, selbst ohne euro­päi­sche Scheiß­müt­ter. Glück­li­cher­wei­se hat­te ich mit mei­nem Nazi­ver­gleich noch auf die seriö­se rhe­to­ri­sche Ebe­ne zurück­ge­fun­den. Einer­seits tat Pia mir leid, weil sie mir vor­mals wirk­lich sym­pa­thisch gewe­sen war; ande­rer­seits dien­te sie ja wirk­lich als Steig­bü­gel­hal­ter für das Böse auf die­sem Pla­ne­ten, zwar nicht sie allein, aber ihre Denk­wei­se. Das soll­te man Men­schen auch klipp und klar mitteilen.
Von einer der her­um­ste­hen­den Grup­pen spal­te­te sich jemand ab und kam gera­de­wegs auf mich zu. Es war Mai­ke. Sie muss­te mei­ne Unter­hal­tung mit Pia gese­hen haben, die zuge­ge­be­ner­ma­ßen etwas aus dem Ruder gelau­fen war. Vor­sorg­lich berei­te­te ich mich auf das Schlimms­te vor. Mai­ke aber kam zu mir her­über, leg­te einen Arm um mei­ne Schul­ter und fing an, sich über Pia lus­tig zu machen.
»Ihr zwei habt euch ganz schön in die Haa­re gekriegt. Was war da los? Haben dir ihre neu­en Tit­ten nicht gefal­len? Ganz schön bil­lig so was. Was für ein Flittchen!«
Mai­ke trug Schu­he mit Keil­ab­sät­zen, die bei jun­gen Frau­en und sol­chen, die sich dafür hiel­ten, schwer ange­sagt waren. Wenn ich ein sol­ches Unge­tüm an einem Frau­en­fuß ent­deck­te, war mein ers­ter Ein­druck jedes Mal, die arme Frau sei behin­dert und dass es sich um eine ortho­pä­di­sche Maß­nah­me han­deln muss­te, die die Län­ge ihrer Bei­ne künst­lich aus­glei­chen soll­te. Da der ande­re Fuß jedoch in der Regel mit einem ent­spre­chen­den Gegen­stück aus­ge­stat­tet war, prä­zi­sier­te ich mei­ne Dia­gno­se gewöhn­lich auf eine geis­ti­ge Behin­de­rung, die sich als so genann­tes Mode­be­wusst­sein aus­gab. Vie­le Frau­en und Män­ner fie­len ihr tag­täg­lich zum Opfer. Aus die­ser Posi­ti­on her­aus über die Ästhe­tik auf­ge­pump­ter Brüs­te zu urtei­len, erschien mir gewagt.
»Ihre Brüs­te sind ihr kleins­tes Pro­blem«, sag­te ich, was sehr viel lus­ti­ger gewe­sen wäre, hät­te sie klei­ne Brüs­te gehabt. Der Alko­hol in Mai­kes Blut­bahn befand es trotz­dem des Kicherns wür­dig. »Du wirst es nicht glau­ben, aber wir sind über Poli­tik ins Strei­ten geraten.«
»Ha! Genau mein Metier. Kein Wun­der, dass du da ver­zwei­felt bist. Mit der kann man sich über so was nicht unter­hal­ten. Die ist dafür halt zu dumm.«
Vol­ler Stolz erklär­te sie mir wort­reich, für ein Nach­rich­ten­ma­ga­zin bei einem gro­ßen Pri­vat­sen­der zu arbei­ten und sich in die­ser Funk­ti­on natür­lich viel mit Poli­tik zu beschäf­ti­gen, zumin­dest unter ande­rem. Das war der Knack­punkt: Unter ande­rem. Ihr Arbeits­platz befand sich in der Redak­ti­on eines die­ser Life­style-Maga­zi­ne, die am frü­hen Abend auf allen Pri­vat­sen­dern aus­ge­strahlt wur­den und das Pro­jekt der Auf­klä­rung mit nega­ti­vem Vor­zei­chen fort­führ­ten. Zu sehen gab es dort groß­ar­ti­ge Ein­spie­ler über stol­pern­de Poli­ti­ker, was Mai­kes Inter­es­se an poli­ti­schen Pro­zes­sen erklärt und auch erschöpft haben dürf­te, inves­ti­ga­ti­ve Repor­ta­gen über neu­es­te Mode­trends aus Hol­ly­wood und wis­sen­schaft­li­che Bei­trä­ge über was­ser­fes­tes Make-up, in denen wil­li­ge Feu­er­wehr­män­ner geschmink­ten Frau­en ins Gesicht spritz­ten, was in den Hir­nen der Redak­ti­ons­chefs für rie­si­ge Stän­der und puber­tä­res Geki­cher gesorgt haben dürf­te. Den­noch gab es Frau­en, die sich dazu ernied­ri­gen lie­ßen, so eine Sen­dung zu mode­rie­ren oder an deren Pro­duk­ti­on will­fäh­rig teil­zu­neh­men, wor­auf sie am Ende auch noch stolz waren. Die Eman­zi­pa­ti­on dreh­te sich im Grab her­um, wenn sie sol­che Sen­dun­gen emp­fing, obwohl Gleich­be­rech­ti­gung ja auch bedeu­te­te, genau­so schei­ße wie manch Mann sein zu dürfen.
»Wow!« sprach ich, wor­auf Mai­ke mich eitel anlä­chel­te. »Du arbei­test also für einen Ver­ein, der sich tage­lang mit den Hös­chen von Lady Gaga beschäf­ti­gen kann, aber für das Welt­ge­sche­hen kei­ne Sen­de­mi­nu­ten übrig hat; der Men­schen unauf­hör­lich Luxus­gü­ter prä­sen­tiert und sie wie Esel mit gol­de­ner Möh­re vorm Maul zum ewi­gen Wei­ter­ackern moti­viert; der sich über Rand­grup­pen lus­tig macht, damit sich noch der letz­te Idi­ot vor dem Fern­se­her so rich­tig gut füh­len kann?«
Zum Abschluss unse­rer Show stell­te ich ihr die Eine-Mil­li­on-Euro-Fra­ge: »Wie kann man denn so weit sinken?«
Sie stieß ein empör­tes ›Pöh!‹ aus, dreh­te sich um und zisch­te mit erho­be­nem Näs­chen davon. Eini­ge Augen­bli­cke spä­ter gesell­te sie sich zu Tors­ten an einen Tisch. Sie tuschel­ten mit­ein­an­der, als sie zu mir her­über­sa­hen. Ich hob mein Glas, zwin­ker­te ihnen fröh­lich zu und stat­te­te mein Gesicht mit einem wohl­wol­len­den Lächeln aus, das sie ver­wirr­te. Bei­de gaben vor, mich nicht gese­hen zu haben, wand­ten mir ihre Rücken zu, schüt­tel­ten die Köp­fe. Lang­sam wur­de es heiß.
Von so viel Ekel erschüt­tert, such­te ich kör­per­li­che Erleich­te­rung. Im gesam­ten Erd­ge­schoss konn­te ich nur ein ein­zi­ges Bade­zim­mer ent­de­cken, was ich für eine Vil­la dann doch recht schä­big fand. Noch schä­bi­ger aber war, dass es von jeman­dem benutzt wur­de. Vor der geschlos­se­nen Tür stand Micha­el, der offen­sicht­lich auch auf Ein­lass in das Hei­lig­tum war­te­te. Sei­nen Kopf schmück­te eine Gel­fri­sur, die irgend­wie mit einer grau gerahm­ten Klug­schei­ßer­bril­le eine Sym­bio­se ein­ge­gan­gen war. Klug­schei­ßer­bril­len unter­schie­den sich von regu­lä­ren Bril­len dadurch, dass dem Trä­ger in ers­ter Linie nicht die funk­tio­na­le Leis­tung am Her­zen lag, also mit sei­nen Glub­schern etwas von der Welt wahr­neh­men zu kön­nen, son­dern die Fremd­wahr­neh­mung als gebil­de­ter Bür­ger, als Mensch mit Durch­blick, nicht phy­sisch, son­dern intel­lek­tu­ell. Die­ser wie­der­um unter­schied sich deut­lich vom hip­pen Mit­läu­fer, der eine Bril­le aus rein ästhe­ti­schen Grün­den trug, bevor­zugt im so genann­ten Vin­ta­ge-Look, und die­sen Schwach­sinn auch noch mit­ge­macht hät­te, wenn es ange­sagt gewe­sen wäre, Hör­ge­rä­te oder Krü­cken zu tragen.
Den gebüh­ren­den Respekt wah­rend, der mit der Benut­zung öffent­li­cher Bedürf­nis­an­stal­ten all­ge­mein ein­her­ging, stand ich untä­tig her­um und begut­ach­te­te schwei­gend das auf­re­gen­de Mus­ter der Rau­fa­ser­ta­pe­te. Micha­el kann­te kei­nen Respekt. Er sprach mich an. Nach kur­zem Weißt-du-noch- und Na-wie-geht’s‑Geplänkel fing auch er an, letz­te­re Fra­ge mit lan­gen Aus­schwei­fun­gen über sei­ne beruf­li­che Tätig­keit zu beant­wor­ten. War­um bloß rede­ten so vie­le Men­schen von ihrer Arbeit, von ihrem Stu­di­um, von ihrem Fit­ness­club oder ihrem liebs­ten Fuß­ball­ver­ein, wenn man sie frag­te, wie es ihnen geht. Hat­ten sie kein eige­nes Leben jen­seits der Fremdbestimmung?
Micha­el jeden­falls erzähl­te mir, schon seit län­ge­rer Zeit für eine sehr bekann­te Musik­zeit­schrift zu arbei­ten, für den unglaub­lich krea­tiv benann­ten ›Laut­spre­cher‹.
»Die Atmo­sphä­re in der Redak­ti­on ist ein­fach toll«, him­mel­te er mir unge­fragt vor. »Alle sind total jung, total locker. Jeder hat ganz viel Frei­heit. Das ist für mich echt ein Traum­job. Die gan­ze Zeit darf ich Musik hören, dar­über schrei­ben, sie bewer­ten, darf mich mit Künst­lern tref­fen und Inter­views füh­ren, in die Sze­ne ein­tau­chen und neue Trends ent­de­cken – oder wel­che set­zen. Natür­lich steckt da auch viel Arbeit drin, aber die ist es wert. Uns geht es ein­fach nur um gute Musik.«
Wer kei­nen Musik­ge­schmack auf­wei­sen konn­te, der las Musik­zeit­schrif­ten, die ihren Lesern die läs­ti­ge Auf­ga­be eige­ner Mei­nungs­bil­dung gegen ein Ent­gelt bereit­wil­lig abnah­men. Ähn­li­che Publi­ka­tio­nen gab es für Lite­ra­tur, Mode, Lyrik, Fil­me, Kat­zen­bil­der, Scheiß­hau­fen und so ziem­lich alles, was Men­schen sonst noch her­vor­brach­ten. Sie stan­den in bes­ter Tra­di­ti­on jenes Men­schen­ty­pus, der sich von Gott oder ande­ren Wahn­vor­stel­lun­gen dazu beru­fen fühl­te, kul­tu­rel­le Aus­drucks­for­men zu bewer­ten und dabei vor­wie­gend ›man‹ statt ›ich‹ zu gebrau­chen, wie etwa: ›das hört man nicht‹, ›das liest man nicht‹, ›das sagt man nicht‹, ›das trägt man nicht‹. Die­se hoheit­li­chen Ver­dik­te fan­den ihre treu­en Abneh­mer unter jenen, die sich durch Anschluss an bestehen­de Trends und Moden Indi­vi­dua­li­tät zu geben ver­such­ten. Das Resul­tat war eine Armee von see­len­lo­sen Zom­bies, die sich bei jedem Lied, bei jedem Film, bei jedem Klei­dungs­stück und jedem Buch erst ein­mal ange­strengt den Kopf dar­über zer­bra­chen, ob sie es denn über­haupt gut fin­den dür­fen, und zur Klä­rung die­ser Fra­ge ihre hei­li­gen Schrif­ten konsultierten.
»Du sagst also ande­ren, was gute Musik ist und was nicht? Woher willst du das denn wis­sen? Bist du die Talent­po­li­zei? Die Geschmacks­ge­sta­po? Ist dir klar, dass es da drau­ßen unglaub­lich vie­le Men­schen gibt, die irgend­wel­che Bands schlecht fin­den, bloß weil du sie schlecht fin­dest? Die dei­ne Tex­te lesen und deren Inhalt dann als eige­ne Mei­nung aus­ge­ben? Macht dich das geil? Raffst du nicht, wie spie­ßig das ist?«
»Bist du…«, woll­te ich wei­ter aus­ho­len, als die Tür des Bade­zim­mers abrupt geöff­net wur­de. Her­aus kam René, wäh­rend sich Micha­el dank­bar dar­in ver­drück­te. René muss­te so sehr auf die Beherr­schung sei­nes bes­ten Stücks fixiert gewe­sen sein, dass er die Unter­hal­tung vor der Bade­zim­mer­tür gar nicht mit­be­kom­men hat­te. Anders konn­te ich mir nicht erklä­ren, wie­so er ste­hen­blieb und mir beschwingt die Hand gab, die er hof­fent­lich gewa­schen hat­te. Wie ich bald dar­auf erfuhr, war er Bank­an­ge­stell­ter und leb­te mit sei­ner Frau und zwei Kin­dern in der Frank­fur­ter Innen­stadt. Stolz zeig­te er mir Fotos der bei­den Töch­ter, gar­niert mit epi­schen Geschich­ten von Hele­nes wun­der­vol­ler Ein­schu­lung und den groß­ar­ti­gen Noten der fünf Jah­re älte­ren Marie-Sophie. Mein Ein­druck war, ich hat­te einen Men­schen vor mir, der ein Leben am Limit führ­te, weil er ohne Kom­pro­mis­se eine kon­se­quent selbst­be­stimm­te Linie fuhr und sei­ne abge­dreh­ten Lebens­träu­me erfüllt hat­te, also Füh­rer­schein, Abitur, dann Wirt­schafts­stu­di­um und Rei­hen­haus­hälf­te. Als er nach einer gefühl­ten Ewig­keit den Vor­rat des fami­lia­len Erfolgs erschöpft hat­te, den es zu erzäh­len lohn­te, war es an mir, den eige­nen Kar­rie­re­pfad gla­mou­rös nachzuzeichnen.
»Und was machst du so? Ich hab gehört, bei dir lief es nicht so toll?«
»Ich bin arbeits­los«, erwi­der­te ich treuherzig.
»Oje. Ist das nicht schrecklich?«
Ich fand, das war eigent­lich eine sehr gute Fra­ge, wenn er sie nur nicht unbe­dingt mir gestellt hätte.
»Ich fin­de, das ist eigent­lich eine sehr gute Fra­ge«, ant­wor­te­te ich der Wahr­heit zulie­be. »Mal sehen. Du stehst jeden Mor­gen auf, damit du etli­che Stun­den hin­ter Pan­zer­glas ver­brin­gen kannst, wo du den Gewinn dei­ner scheiß Bank ver­mehrst, von dem du aber nie etwas zu Gesicht bekom­men wirst. Wenn du Glück hast, kannst du zwei Mal im Jahr in irgend­ei­nen tol­len Pau­schal­ur­laub fah­ren oder Ski­lau­fen gehen, aber sonst ist jeder Tag so lang­wei­lig wie der letz­te. Stän­dig machst du dir die Hosen voll vor Angst, irgend­wann mal dei­nen Job zu ver­lie­ren oder bei einem Über­fall erschos­sen zu wer­den – was auch sein Gutes hät­te, weil dei­ner Fami­lie dann immer­hin noch die Lebens­ver­si­che­rung zukom­men wür­de. Ist das nicht schrecklich?«
Er ließ mich eis­kalt ste­hen. Wenig spä­ter kam Micha­el aus dem Bade­zim­mer und ging wort­los an mir vor­bei. Ich frag­te mich, ob er René und mich belauscht hat­te. Was sonst konn­te ihn so lan­ge dort drin beschäf­tigt haben?
Beim Was­ser­las­sen mal­te ich mir aus, dass drau­ßen Möbel vor die Tür gescho­ben wur­den, um die Par­ty end­lich von einem stö­ren­den Ele­ment zu befrei­en, das zufäl­lig mei­nen Namen trug. Als ich schließ­lich die Tür öff­ne­te, stan­den jedoch kei­ne Möbel davor, son­dern Han­na. Han­na arbei­te­te mitt­ler­wei­le als Pfle­ge­rin in einer Psych­ia­trie, wie ich von Pia erfah­ren hat­te. Sie war Betreue­rin, The­ra­peu­tin, Psy­cho­lo­gin, Psy­cho­the­ra­peu­tin, Psy­cho­psy­cho­lo­gin, Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin, psy­cho­pa­thi­sche The­ra­peu­tin oder was weiß ich, wel­cher Begriff gera­de für Mecha­ni­ker des Innen­le­bens en vogue war, die sich in sol­chen Anstal­ten der emo­ti­ons­lo­sen Behand­lung emo­tio­na­ler The­men ver­schrie­ben hat­ten, der Behe­bung mensch­li­cher Defek­te, not­falls mit­hil­fe der Che­mie, damit der Motor wei­ter­hin brumm­te. Um allen Kli­schees gerecht zu wer­den, trug sie eine rote Bril­le. Viel­leicht ist sie beauf­tragt wor­den, mich nach den bis­he­ri­gen Zusam­men­stö­ßen mit dem Jahr­gang in ihre Arbeits­stät­te ein­zu­wei­sen, mut­maß­te ich.
Nichts der­glei­chen geschah. Sie nick­te mir zu und sag­te Hal­lo. Den bis­he­ri­gen Ver­lauf des Abends noch ein­mal Revue pas­sie­ren las­send, beschloss ich, das übli­cher­wei­se von mei­nen Gesprächs­part­nern bevor­zug­te The­ma dies­mal ein­fach vorwegzunehmen.
»Du bist jetzt in einer Psych­ia­trie, hab ich gehört.«
»Ja, schon.« Han­na lach­te. »Aber als Ärz­tin, nicht als Patientin.«
Das war den Wach­mann­schaf­ten sol­cher Ein­rich­tun­gen wich­tig. Kla­re Rol­len­gren­zen muss­ten gezo­gen, ein­deu­ti­ge Hier­ar­chien und eine unver­rück­ba­re Nor­ma­li­tät als Bezugs­rah­men kon­stru­iert wer­den. Wider­sprach der Pati­ent, war er ver­rückt. Gehorch­te er, gestand er sei­ne Ver­rückt­heit. Hin­ein kamen Men­schen mit einem Knacks, her­aus kamen sie mit schwe­ren Schä­den. Wer dort arbei­te­te, war der eigent­li­che Irre, wur­de aber nicht so genannt, denn er war es auf eine mit dem als ›nor­mal‹ ver­kann­ten Wahn­sinn sehr kon­form gehen­de Art und Weise.
»Ach, das ist ja ver­rückt«, kalau­er­te ich und luchs­te ihr ein Schmun­zeln ab. »Was machst du da so?«
»Viel Ver­rück­tes!« Zwei glei­che Wort­wit­ze waren einer zu viel. »Aber im Ernst: Das ist echt super wich­ti­ge Arbeit. Mit was für Men­schen man da zu tun hat, das ist der Wahnsinn.«
Sie hat­te ihre Aus­fahrt von der Wort­spiel­au­to­bahn ver­passt. Gequält ver­renk­te ich mei­ne Mund­win­kel, um mög­lichst lebens­nah ein Lächeln zu simulieren.
»Letz­ten Monat«, erzähl­te sie mir, »kam ein Mäd­chen zu uns, das wir vor dem Sui­zid geret­tet haben. Die woll­te sich umbrin­gen, weil sie in der Schu­le nicht mehr mit­kam. Ihre Ver­set­zung war gefähr­det, dann hät­te sie ein Jahr wie­der­ho­len müs­sen. Die gan­zen Freun­de in der Klas­se hät­te sie natür­lich auch ver­lo­ren und gegen­über ihren Eltern schäm­te sie sich. Ihr war das alles zu viel. Ihre Eltern fan­den sie in ihrem Zim­mer. Tabletten.«
»Krass!« flüs­ter­te ich nur.
»Das kannst du laut sagen. Na ja, aber die Hil­fe kam ja noch recht­zei­tig. Wir haben ihr dann gehol­fen, da durch­zu­kom­men. Sie hat­te sich über­for­dert, woll­te sich nicht ein­ge­ste­hen, dass sie die Stu­fe nicht schaf­fen wür­de, also konn­te sie nur wei­ter­ma­chen, bis alles an die Wand fuhr. Ich hab dann mit ihr gespro­chen, hab ihr klar­ge­macht, dass es bes­ser für sie ist, auf eine leich­te­re Schu­le zu wech­seln, um den Druck ein wenig zu redu­zie­ren. Da wür­de sie zwar auch ihre Freun­de ver­lie­ren, aber eben nicht die Lust am Leben. Gott sei Dank hat sie das ein­ge­se­hen. Am Ende war sie rich­tig glück­lich, dass alles noch mal gut aus­ge­gan­gen ist. Das sind so Momen­te, in denen ich weiß, das Rich­ti­ge zu tun. Men­schen zu helfen.«
Die Unter­hal­tung mit René schwirr­te mir noch im Hin­ter­kopf her­um und so rief sie mir ins Bewusst­sein, was ich Wich­ti­ges von ihm gelernt hatte.
»Fin­dest du das nicht schreck­lich?« frag­te ich sie mit treu­doo­fem Blick.
»Natür­lich ist das schreck­lich!« ant­wor­te­te sie mit dem geho­be­nen Selbst­be­wusst­sein der­je­ni­gen, die sich auf der guten Sei­te wähn­ten. »Aber zum Glück ging es gut aus. Wir haben ja noch mal die Kur­ve gekriegt.«
»Neeee. Ich mein­te, ob du nicht schreck­lich fin­dest, was du da machst.«
Sie stutzte.
»Da kommt ein Mäd­chen zu dir, das sich umbrin­gen möch­te, weil sei­ne Schu­le ihm den Ein­druck ver­mit­telt, doof und unfä­hig zu sein, und anstel­le dar­aus den ein­zi­gen empa­thi­schen Schluss zu zie­hen, dass das ein ver­dammt beschis­se­nes Sys­tem sein muss, wenn es Kin­dern eine sol­che Ernied­ri­gung zumu­tet, über­zeugst du das arme Mäd­chen davon, auf eine leich­te­re Schu­le zu wech­seln. Damit sagst du ihm doch ins Gesicht, dass es wirk­lich doof und unfä­hig ist! Du machst dich zum Hand­lan­ger von Struk­tu­ren, wegen der sie sich hat umbrin­gen wol­len – und du fühlst dich auch noch gut dabei! Fin­dest du das nicht men­schen­ver­ach­tend? Was zum Teu­fel machst du an ande­ren Tagen? Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fern erklä­ren, sie wären doch selbst schuld, wenn sie sich wie Schlam­pen anziehen?«
Sicher­lich kann­te Han­na unzäh­li­ge Begrif­fe, die sie mir ger­ne um die Ohren gehau­en hät­te. ›Anti­so­zia­le Per­sön­lich­keits­stö­rung‹ bei­spiels­wei­se, weil ich es wag­te, ihre patho­lo­gi­sche Nor­ma­li­tät in Fra­ge zu stel­len. Schu­le schwän­zen galt eben­falls als anti­so­zia­les Ver­hal­ten. Wenn aber einer begriff, so wie Chris das frü­her getan hat­te, dass Schu­le und Gefäng­nis zahl­rei­che Par­al­le­len auf­wie­sen und es nicht ums Ler­nen, son­dern um die Ein­tei­lung in Hier­ar­chie­stu­fen ging, um Unter­ord­nung und die Anpas­sung an ein bür­ger­li­ches Leben mit Aus­bil­dung, Arbeit und Ren­te, dass daher nie das Wohl der Kin­der im Vor­der­grund stand, son­dern die öko­no­mi­sche Ver­wert­bar­keit mensch­li­cher Res­sour­cen, dann war es in mei­nen Augen sehr gesund, sowohl geis­tig wie auch sozi­al, sich die­ser Schei­ße zu wider­set­zen, weil die­se Struk­tu­ren das eigent­li­che Anti­so­zia­le dar­stell­ten. Lei­der hat­te ich das erst am Ende mei­ner Schul­zeit geschnallt.
Anstatt mit Fach­ter­mi­no­lo­gie um sich zu schmei­ßen, ver­pass­te Han­na mir eine Ohr­fei­ge und knall­te ihr Sekt­glas auf den Boden, bevor sie in ihren Sti­let­to-Stie­feln davon­k­la­cker­te. Von hin­ten gefiel sie mir.
Ich brau­che schleu­nigst einen Drink, dach­te ich, nach­dem sie außer Hör­wei­te gestö­ckelt war. Unschuld vor­täu­schend schlurf­te ich zur Bar, an der sich bereits Andre­as häus­lich ein­ge­rich­tet hatte.
»Was für ein lang­wei­li­ger Hau­fen.« Er pros­te­te mir zu. »Ich find’s toll, dass du hier ein wenig Stim­mung reinbringst.«
»Einer muss es ja tun.«
Frü­her war Andre­as ein typi­sches Kel­ler­kind gewe­sen, Leis­tungs­kur­se Mathe und Infor­ma­tik, mit dem selbst noch auf die­ser Par­ty kei­ner so rich­tig zu tun haben woll­te. Da er den ers­ten ver­nünf­ti­gen Satz des Abends von sich gege­ben hat­te, hielt ich ihn umge­hend für einen net­ten Men­schen. Vor­ur­tei­le waren dazu da, sie zu über­win­den. Wir tausch­ten unse­re Ein­drü­cke über die anwe­sen­de Lang­wei­ler­trup­pe aus, deren Dün­kel­haf­tig­keit und ihre Sta­tus­sym­bo­le. Mit spür­ba­rem Ekel trug ich mei­nen vor­läu­fi­gen Expe­di­ti­ons­be­richt vor; leg­te Andre­as die strik­te Lebens­pla­nung dar, die jeder der Mus­ter­men­schen hier offen­bart hat­te, mit dem ich ins Gespräch gekom­men war. Andre­as hat­te dafür bloß einen ein­zi­gen Satz übrig: ›Je plan­mä­ßi­ger das eige­ne Leben funk­tio­niert, des­to weni­ger ist es ein eige­nes Leben‹.
Mir fiel Dio­ge­nes ein, die­ser grie­chi­sche Phi­lo­soph, der angeb­lich in einer Ton­ne gehaust haben soll. Andre­as ver­kör­per­te die moder­ni­sier­te Ver­si­on die­ser Geschich­te und hat­te die Ton­ne gegen sei­nen Kel­ler aus­ge­tauscht. Viel­leicht wäre die Welt eine bes­se­re gewe­sen, hät­te sie auf ihre Kel­ler­kin­der gehört.
Eine ange­se­he­ne Kar­rie­re war Andre­as im Gegen­satz zu den vie­len Leis­tungs­mons­tern auf die­ser Par­ty nicht son­der­lich wich­tig. Tags­über arbei­te­te er als Soft­ware­ent­wick­ler für einen gro­ßen deut­schen Ver­si­che­rungs­kon­zern, betrieb in sei­ner Frei­zeit aber eine gesell­schafts- und kapi­ta­lis­mus­kri­ti­sche Web­site, wie er mir eupho­risch mit­teil­te. Er fand das alles schei­ße, wie es lief, die gan­ze Gesell­schafts­ord­nung war ihm ein Dorn im Auge.
»Stän­dig wird man ver­arscht«, seufz­te er und rann­te offe­ne Türen bei mir ein. »Seit zehn Jah­ren sind wir im Krieg, nur kei­ner spricht das Wort offen aus. Oder die Finanz­kri­se! Unse­re lach­haf­te Eli­te spielt sich als gro­ßer Euro­pa-Ret­ter auf. Dabei ist es doch Deutsch­land gewe­sen, das durch Lohn­dum­ping zum ach so tol­len Export­welt­meis­ter gewor­den ist und dadurch die Schul­den der ande­ren Län­der über­haupt erst nach oben getrie­ben hat. Nun wun­dert man sich hier, dass man im Aus­land nicht als Held gefei­ert wird. Als ob dich auf der Stra­ße einer zusam­men­schlägt, dein gan­zes Erspar­tes von dir for­dert, damit er dir den Ret­tungs­wa­gen ruft, und für die­se Wohl­tat dann auch noch gelobt wer­den möchte.«
Andre­as schüt­tel­te den Kopf und leer­te sein Bier.
»Man soll här­ter arbei­ten, heißt es, län­ger, bes­ser, bil­li­ger«, fuhr er fort. »Man soll wäh­len gehen, obwohl sich ja doch nichts ändert. Man soll mit weni­ger Lohn, mit weni­ger Ren­te, mit weni­ger Urlaub zufrie­den sein. Die Löh­ne sei­en gestie­gen, schrei­ben die Zei­tun­gen, dabei sind sie wäh­rend der letz­ten Jah­re um eini­ges gesun­ken, wenn man mal nach­rech­net. Man soll schuf­ten bis zum Umfal­len und sich ein Leben lang wei­ter­bil­den. Man soll die Fres­se hal­ten, weil man sonst ent­las­sen oder nie­der­ge­knüp­pelt wird. Man soll schön dan­ke sagen für jede Zumu­tung, die einem auf­er­legt wird. Und die Scha­fe glau­ben den gan­zen Mist.«
»Weil man sowie­so nichts ändern kann«, ver­voll­stän­dig­te ich ironisch.
»Genau! Genau das sagen sie dann: Da kann man nichts tun. Das ist halt so. Das ist schon immer so gewe­sen. Das wird auch immer so sein.«
»Weil sie zu blöd sind, Markt­ge­set­ze von Natur­ge­set­zen zu unterscheiden.«
»Eben. Und weil sie immer noch glau­ben, die Ord­nung käme von Gott. Heu­te sagen vie­le viel­leicht nicht mehr ›Gott‹ dazu, aber was sie glau­ben, läuft auf das glei­che hin­aus: Das ist halt so. Wie klei­ne Kin­der. Obwohl, stimmt gar nicht – klei­ne Kin­der stel­len wesent­lich mehr kri­ti­sche Fra­gen als die meis­ten Erwach­se­nen. Wenn man ehr­lich ist, muss man doch zuge­ben, die Auf­klä­rung hat ver­sagt. ›Habe Mut, dich dei­nes eige­nen Geld­beu­tels zu bedie­nen‹, das ist alles, was davon übrig geblie­ben ist.«
Ich fühl­te mich wie ein Schatz­su­cher. Unter all dem cha­rak­ter­lo­sen Geröll, das in Abend­gar­de­ro­be durch die Räum­lich­kei­ten kul­ler­te, hat­te ich einen Edel­stein entdeckt.
»Heu­te Mit­tag hab ich einen Arti­kel über kam­bo­dscha­ni­sche Arbeits­ver­hält­nis­se geschrie­ben. Unter der Woche lässt mir der Job lei­der kaum Zeit.«
»War­um Kam­bo­dscha?« Ich konn­te dem The­men­sprung nicht folgen.
»Weil unse­re tol­len Kla­mot­ten­lä­den dort so ger­ne pro­du­zie­ren las­sen. Kaufst du da manch­mal ein? Bei die­sen Ket­ten? Soll­test du nicht. Die Men­schen in den Fabri­ken dort bre­chen scha­ren­wei­se zusam­men und bekom­men nur einen Hun­ger­lohn dafür. Wer sich beschwert, wird rausgeschmissen.«
Davon hat­te ich gelesen.
»Und das ist noch harm­los im Ver­gleich zur Elek­tronik­bran­che«, setz­te er nach. »Hast du das mit­be­kom­men von den Wer­ken in Chi­na? Wo sich zahl­rei­che Mit­ar­bei­ter aus Pro­test vom Dach gestürzt haben? Jetzt hat die Fir­ma dort über­all Fang­net­ze instal­liert, um sol­che auf­se­hen­er­re­gen­den Selbst­mord­ver­su­che zu unter­bin­den. Das sind doch Pro­blem­lö­sungs­stra­te­gien nach der Logik von Psy­cho­pa­then! Nur weil hier jeder unbe­dingt ein Smart­phone in der Hand hal­ten möch­te…« Er schlug mit der Hand auf den Tre­sen. »Wenn ich sol­che Zustän­de sehe, werd ich echt wütend!«
»Ich auch.« Wir schwie­gen uns für eini­ge Sekun­den an. »Aber weißt du, was mich am wütends­ten macht? Dass ich mit mei­ner Wut fast allei­ne bin. Bis vor eini­ger Zeit hat mich das echt oft an den Rand der Ver­zweif­lung gebracht. Alle sagen sie zu mir: Reg dich nicht auf, so ist es halt.«
»Wie die Schafe.«
»Wie die Scha­fe«, pflich­te­te ich ihm bei.
»Mensch, das ist doch alles zum Kot­zen«, fass­te er das Welt­ge­sche­hen aus­sa­ge­kräf­tig zusammen.
Er hat­te zwar Recht mit sei­nen Aus­füh­run­gen und sei­ne Ableh­nung der Zustän­de war mora­lisch durch­aus lobens­wert, doch allein mit mora­li­scher Ent­rüs­tung war kein Blu­men­topf zu gewinnen.
»Und den­noch machst du mit«, stell­te ich bei­läu­fig fest.
»Wie­so?«
»Na, dein Job…«
»Na ja, was soll man tun. Man muss ja irgendwie.«
»Nein. Wenn man kon­se­quent ist, muss man das nicht.«
»Du hast gut reden. Du bist ja arbeitslos.«
Eines muss­te man die­ser Spie­ßer­ban­de las­sen, der Infor­ma­ti­ons­fluss funk­tio­nier­te per­fekt. Mein Stig­ma des arbeits­lo­sen Unter­men­schen­tums hat­te sich bereits her­um­ge­spro­chen. Ich konn­te das ›nur‹, das nicht gesagt wur­de, förm­lich sehen, als wäre es mit Leucht­buch­sta­ben in die Luft gesetzt.
»Ganz recht«, ent­geg­ne­te ich, »und wenn du Eier in der Hose hät­test, dann wür­dest du dei­nen beschis­se­nen Job genau­so an den Nagel hängen.«
Aus mir sprach Wut, zu einem Teil aber auch per­sön­li­che Ent­täu­schung, weil er hin­ter sei­ner Fas­sa­de genau­so strom­li­ni­en­för­mig war wie alle ande­ren. Wäre er Dio­ge­nes gewe­sen, ich hät­te mit aller Wucht gegen sei­ne alber­ne Ton­ne getreten.
»Wenn du alles so schei­ße fin­dest, war­um machst du dann noch mit? Wenn einer dich beim Pokern ver­arscht, dann schmeißt du doch die Kar­ten hin und gehst, oder nicht? Statt­des­sen machst du einen auf kri­tisch und reflek­tiert, bist aber auch nur eines von die­sen Scha­fen, das sich nach Strich und Faden ver­ar­schen lässt. Du bist der größ­te von allen Blen­dern hier. Du bist ein Feig­ling und ein Heuch­ler, weil Kri­tik ohne per­sön­li­che Kon­se­quenz nichts ande­res als Heu­che­lei ist.«
»Ach ja? Und du bist ein Arsch­loch«, kon­ter­te er und ver­ließ kur­zer­hand die Party.
Nach die­sem anre­gen­den Dia­log fand ich nie­man­den mehr, der mit mir reden woll­te, was mich nicht beson­ders trau­rig stimm­te, weil ich mich nun mit Leib und See­le dem Buf­fet wid­men konn­te. Totes Tier war ein ange­neh­me­rer Gesprächs­part­ner, hat­te es vor sei­nem Tod doch immer­hin ein Rück­grat beses­sen, was man vom Rest der Anwe­sen­den nur sehr ein­ge­schränkt behaup­ten konnte.
Das war das bes­te Klas­sen­tref­fen mei­nes Lebens und ver­mut­lich auch das letz­te. Sie wür­den sich hüten, mich noch ein­mal ein­zu­la­den. Allei­ne dafür hat­te es sich schon gelohnt.

Die [gesell­schaft­lich] glei­cher­ma­ßen erfahr­ba­ren For­men struk­tu­rel­ler und sym­bo­li­scher Gewalt wer­den für die Deklas­sier­ten und Dequa­li­fi­zier­ten umso leid­vol­ler und ent­waff­nen­der, als sie unter den Vor­zei­chen und Ver­hei­ßun­gen einer an indi­vi­du­el­ler Selbst­ver­wirk­li­chung und ‑behaup­tung ori­en­tier­ten ‚Gesell­schaft der Indi­vi­du­en‘ die Schuld für ihr Ver­sa­gen zwangs­läu­fig bei sich selbst suchen und dann wohl auch ent­de­cken wer­den müs­sen. Sym­bo­li­sche Gewalt als die sub­tils­te Form der Herr­schaft beruht nun ein­mal auf einem Mecha­nis­mus, bei dem die Herr­schafts­un­ter­wor­fe­nen nicht umhin zu kom­men schei­nen, anzu­er­ken­nen, dass alles mit rech­ten Din­gen zugeht und jeder nach den ihm gege­be­nen Mög­lich­kei­ten und Gren­zen sei­nes eige­nen Glü­ckes (oder Unglü­ckes) Schmied ist.
(Franz Schult­heis – Repro­duk­ti­on in der Kri­se: Fall­stu­di­en zur sym­bo­li­schen Gewalt; in: Bar­ba­ra Frie­berts­häu­ser, Mar­kus Rie­ger-Ladich & Lothar Wig­ger – Refle­xi­ve Erziehungswissenschaft)

„Als Ver­mitt­lungs­glied zwi­schen der Posi­ti­on oder Stel­lung inner­halb des sozia­len Rau­mes und spe­zi­fi­schen Prak­ti­ken, Vor­lie­ben, usw. fun­giert das, was ich »Habi­tus« nen­ne, das ist eine all­ge­mei­ne Grund­hal­tung, eine Dis­po­si­ti­on gegen­über der Welt, die zu sys­te­ma­ti­schen Stel­lung­nah­men führt“ (Bour­dieu, 1992b, S. 31).

Der Begriff »Habi­tus« fin­det nicht nur in der sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen For­schung, son­dern auch im all­täg­li­chen Sprach­ge­brauch rege Ver­wen­dung. Doch was genau ist eigent­lich dar­un­ter zu ver­ste­hen? Wie hän­gen Hand­lun­gen, Sprach- und Klei­dungs­stil, Ges­tik und Gedan­ken von der Stel­lung im sozia­len Gefü­ge ab und war­um? Wie funk­tio­niert Gesell­schaft und ist der Ein­zel­ne Opfer der äuße­ren Umstän­de oder deren Erzeu­ger? Mög­li­che Ant­wor­ten auf die­se und ähn­li­che Fra­gen lie­fert Pierre Bour­dieus Habi­tus­kon­zept, das den zuvor schon gebräuch­li­chen »Habitus«-Begriff auf­ge­grif­fen, die­sen folg­lich nicht erfun­den, aber zu einer eige­nen Theo­rie ent­wi­ckelt hat (zur Ent­ste­hungs­ge­schich­te vgl. bei­spiels­wei­se Bour­dieu 2000 oder Krais/Gebauer 2002).

Das von Bour­dieu aus­ge­ar­bei­te­te Habi­tus­kon­zept beschreibt ein Sys­tem von Gren­zen und Mög­lich­kei­ten im Ver­hal­ten von Men­schen, das ein Sys­tem von Wahr­neh­mungs- und Urteils­sche­ma­ta und dabei „gleich­zei­tig ein Sys­tem von Sche­ma­ta der Pro­duk­ti­on von Prak­ti­ken und ein Sys­tem von Sche­ma­ta der Wahr­neh­mung und Bewer­tung der Prak­ti­ken“ (Bour­dieu 1992a, S. 144) ist. Als sol­ches Sys­tem der Gren­zen und Mög­lich­kei­ten im Ver­hal­ten bringt der Habi­tus bestimm­te For­men des Geschmacks – der durch­aus auch kör­per­lich zu ver­ste­hen ist – sowie des Lebens­stils her­vor: „wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, wel­che Bekann­te und Freun­de er hat usw. – all das ist eng mit­ein­an­der ver­knüpft“ (Bour­dieu 1992b, S. 32). Die­ser indi­vi­du­el­le Geschmack, die­se Vor­lie­ben und Hand­lungs- sowie Denk­sche­ma­ta, also die gesam­ten Habi­tus­struk­tu­ren eines Akteurs, sind dabei abhän­gig von der jewei­li­gen sozia­len Situa­ti­on, in der sich ein Akteur wie­der­fin­det, d.h. von des­sen Posi­ti­on im sozia­len Raum und der Aus­stat­tung mit öko­no­mi­schem wie kul­tu­rel­lem Kapi­tal. Wer in einer Arbei­ter­fa­mi­lie auf­ge­wach­sen ist, wird sich in der Regel anders ver­hal­ten als ein Kind aus einer Mana­ger- oder Künst­ler­fa­mi­lie, um nur eini­ge recht gegen­sätz­li­che Posi­tio­nen des sozia­len Spek­trums her­an­zu­zie­hen. Auf­grund des jewei­li­gen Sozia­li­sa­ti­ons­mi­lieus wird der Mensch einen ande­ren Geschmack ent­wi­ckeln, sowohl in Hin­blick auf Klei­dung, Spei­sen, Ästhe­tik und all­ge­mei­ne Lebens­füh­rung, er wird ande­re Frei­zeit­be­schäf­ti­gun­gen bevor­zu­gen, eine ande­re Spra­che gebrau­chen, einen ande­ren Ein­druck der Welt auf­wei­sen, ande­re Zukunfts­wün­sche hegen und einen ande­ren Freun­des­kreis ent­wi­ckeln, der ihm als sozia­les Kapi­tal die­nen kann. Über die eng mit der sozia­len Lage ver­knüpf­ten Erfah­run­gen, vor allem jene der selbst­ver­ständ­li­chen Ver­füg­bar­keit ver­schie­de­ner Kapi­tal­ar­ten oder im Gegen­teil deren Man­gel, begrün­det sich folg­lich der indi­vi­du­el­le Habi­tus, der dabei zugleich auch eine Ablei­tung eines gene­ra­li­sier­ten Habi­tus einer bestimm­ten sozia­len Lage ist, weil Akteu­re unter ähn­li­chen sozia­len Bedin­gun­gen in der Regel auch ähn­li­che Habi­tus aus­bil­den, da sie kol­lek­ti­ve Erfah­run­gen gemein haben: „Wer in der Wohl­ha­ben­heit, in öko­no­mi­schem und kul­tu­rel­lem Reich­tum, in der damit gege­be­nen Sicher­heit und Frei­heit auf­ge­wach­sen ist, ent­wi­ckelt nicht nur einen ande­ren Geschmack, son­dern auch ein ande­res Ver­hält­nis zur Welt als jemand, der von frü­hes­ter Kind­heit an mit Not und Not­wen­dig­keit (…) kon­fron­tiert war“ (Krais/Gebauer 2002, S. 43). Die mit der indi­vi­du­el­len sozia­len Lage ver­bun­de­nen unglei­chen Sozia­li­sa­ti­ons­er­fah­run­gen füh­ren dabei zu unter­schied­li­chen Denk­sche­ma­ta des jewei­li­gen Akteurs, zu „Gren­zen sei­nes Hirns, die er nicht über­schrei­ten kann“, wes­we­gen „für ihn bestimm­te Din­ge ein­fach undenk­bar“ (Bour­dieu 1992b, S. 33) sind, sodass der ein­zel­ne Akteur „eher abhän­gig von Bedin­gun­gen und Zufäl­len als von eige­nen Ent­schei­dun­gen und Plä­nen [ist] – bzw. genau­er: sich auch in sei­nen Ent­schei­dun­gen und Plä­nen an den ihm je zugäng­li­chen Mög­lich­keits­räu­men“ (Liebau 2009, S. 49) orientiert.

Das Habi­tus­kon­zept erklärt das Zustan­de­kom­men mensch­li­cher Dis­po­si­tio­nen, Ver­hal­tens­wei­sen und Geschmä­cker mit einer dop­pel­ten Geschicht­lich­keit, die im jewei­li­gen indi­vi­du­el­len Habi­tus inkor­po­riert, also ein­ver­leibt wird. Dies ist zum einen die per­sön­li­che Geschich­te, auch Erfah­rung genannt, und zum ande­ren die Geschich­te der gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit, ver­mit­telt über die per­sön­li­che Geschich­te, was bedeu­tet, dass „Lern­pro­zes­se nicht anders denn als Erfah­run­gen in der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Welt begrif­fen wer­den“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61) kön­nen. Die­se Inkor­po­rie­rung der dop­pel­ten Geschicht­lich­keit – die tat­säch­lich auch im wört­li­chen Sin­ne kör­per­lich statt­fin­det, sich also bei­spiels­wei­se in Hal­tung, Sprech­wei­se, Geschmack und Ges­tik mani­fes­tiert – erzeugt inner­halb der­je­ni­gen sozia­len Ver­hält­nis­se, die die­sen Habi­tus (aus)bilden, das Gefühl von Selbst­ver­ständ­lich­keit und gegen­sei­ti­gem Ver­ste­hen beim Han­deln, da die im Habi­tus inkor­po­rier­te sozia­le Wirk­lich­keit mit der umge­ben­den sozia­len Wirk­lich­keit über­ein­stimmt, denn „[d]ie sozia­le Rea­li­tät exis­tiert sozu­sa­gen zwei­mal, in den Sachen und in den Köp­fen, in den Fel­dern und in den Habi­tus, inner­halb und außer­halb der Akteu­re“ (Bour­dieu & Wac­quant 1996, S. 161). Eine gesell­schaft­li­che Klas­se bei­spiels­wei­se als kon­kre­te Form ähn­li­cher sozia­ler Ver­hält­nis­se ist „untrenn­bar zugleich eine Klas­se von bio­lo­gi­schen Indi­vi­du­en mit dem­sel­ben Habi­tus als einem Sys­tem von Dis­po­si­tio­nen, das alle mit­ein­an­der gemein haben, die die­sel­ben Kon­di­tio­nie­run­gen durch­ge­macht haben“ (Bour­dieu 1987a, S. 112). Der indi­vi­du­el­le Habi­tus stellt dabei eine Vari­an­te, eine Teil­men­ge eines sol­chen Klas­sen­ha­bi­tus dar, „das heißt, das Indi­vi­du­um hat wesent­li­che Ele­men­te sei­nes Habi­tus mit dem sei­ner Klas­sen­ge­nos­sen gemein­sam“ (Krais/Gebauer 2002, S. 37; vgl. Liebau 2009), da sie durch ähn­li­che Exis­tenz­be­din­gun­gen geprägt wur­den und wei­ter­hin geprägt wer­den (vgl. Bour­dieu 2011b), wobei der indi­vi­du­el­le Habi­tus die grund­le­gen­den Struk­tu­ren und Dis­po­si­tio­nen des Klas­sen­ha­bi­tus beinhal­tet, aber auf­grund der Viel­fäl­tig­keit mög­li­cher Lebens­er­fah­run­gen und sozia­ler Stel­lun­gen sowie der damit ein­her­ge­hen­den Beson­der­heit der spe­zi­fi­schen per­sön­li­chen Lebens­läu­fe indi­vi­du­ell ver­schie­den ist: „[J]edes Sys­tem indi­vi­du­el­ler Dis­po­si­tio­nen ist eine struk­tu­ra­le Vari­an­te der ande­ren Sys­te­me, in der die Ein­zig­ar­tig­keit der Stel­lung inner­halb der Klas­se und des Lebens­laufs zum Aus­druck kommt“ (Bour­dieu 1987a, S. 113). Die­ses Prin­zip der struk­tu­ra­len Vari­an­te eines grund­le­gen­den Grup­pen­ha­bi­tus kann ana­log für das ana­ly­ti­sche Kon­strukt objek­ti­ver sozia­ler Milieus her­an­ge­zo­gen wer­den, sofern deren Akteu­re jeweils unter ähn­li­chen Exis­tenz­be­din­gun­gen leben und ent­spre­chen­de Erfah­run­gen durch­lau­fen haben.

Ent­spre­chend las­sen sich sche­ma­tisch drei grund­le­gen­de Habi­tus­struk­tu­ren iden­ti­fi­zie­ren, die unter­schied­li­chen Posi­tio­nen im sozia­len Raum zuge­ord­net wer­den kön­nen, näm­lich zum einen der Habi­tus der Distink­ti­on, der Habi­tus des Stre­bens sowie der Habi­tus der Not(wendigkeit) (vgl. Hart­mann 2004, S. 90; Bour­dieu 1992b).

In den unte­ren Milieus lässt sich auf­grund feh­len­der öko­no­mi­scher Res­sour­cen und einer ent­spre­chend ein­ge­schränk­ten Zukunfts­si­cher­heit vor allem der Habi­tus der Not vor­fin­den, auch als ‚prak­ti­scher Mate­ria­lis­mus‘ bezeich­net, der aus der Not gebo­ren, infol­ge­des­sen dar­an ange­passt und auf das Hier und Jetzt aus­rich­tet ist, auf das „Gegen­wär­tig­sein im Gegen­wär­ti­gen“ (Bour­dieu 1982, S. 297; vgl. Krais/Gebauer 2002): „Aus der Not her­aus ent­steht ein Not-Geschmack, der eine Art Anpas­sung an den Man­gel ein­schließt und damit ein Sich-in-das-Not­wen­di­ge-fügen, ein Resi­gnie­ren vorm Unaus­weich­li­chen“ (Bour­dieu 1982, S. 585).

Dem­ge­gen­über ist in den klein­bür­ger­li­chen Milieus der Mit­te der Habi­tus des Stre­bens vor­herr­schend. Er ist auf Auf­stieg fokus­siert und daher in Kon­trast zum Habi­tus der Not nicht auf den Augen­blick, son­dern viel­mehr auf die Zukunft aus­ge­rich­tet, was gegen­wär­ti­gen Ver­zicht bis hin zur Aske­se zuguns­ten zukünf­ti­ger Erträ­ge und Befrie­di­gun­gen im Sin­ne der Rea­li­sie­rung der Auf­stiegs­aspi­ra­tio­nen ein­schließt. Der im Ver­gleich mit den obe­ren Milieus rela­ti­ve Man­gel an Res­sour­cen wird durch Habi­tus­dis­po­si­tio­nen wie Ehr­geiz zu kom­pen­sie­ren ver­sucht: „[V]erhältnismäßig arm an öko­no­mi­schem, kul­tu­rel­lem und sozia­lem Kapi­tal, kann sie [die klein­bür­ger­li­che Mit­tel­schicht; MM] ihre ›Ansprü­che‹ nur ›nach­wei­sen‹ und sich damit Aus­sich­ten auf deren Rea­li­sie­rung eröff­nen, wenn sie bereit ist, dafür durch Opfer, Ver­zicht, Ent­sa­gung, Eifer, Dank­bar­keit — kurz: durch Tugend zu zah­len“ (Bour­dieu 1982, S. 528). Dies führt sowohl zu oft­mals sehr bemüh­ten und daher unsi­che­ren Anknüp­fungs­ver­su­chen an die Pra­xen obe­rer Milieus als auch zu Abgren­zungs­be­stre­bun­gen gegen­über unte­ren sozia­len Lagen.

Der Habi­tus der Distink­ti­on wie­der­um ist in der Regel den Milieus der Ober­schicht vor­be­hal­ten. Er ist geprägt durch und prägt sei­ner­seits die herr­schen­de Kul­tur, was sich in strik­ter Abgren­zung und ent­spre­chen­dem Abstand nach unten mani­fes­tiert (vgl. Bour­dieu 1992b, S. 39). Im Gegen­satz zu den Anknüp­fungs­be­mü­hun­gen der mitt­le­ren Milieus, die gera­de durch ihr Stre­ben nach Zuge­hö­rig­keit zur herr­schen­den Kul­tur ihre Nicht­zu­ge­hö­rig­keit offen­ba­ren, zeich­nen sich die Habi­tus der obe­ren Milieus durch eine Selbst­ver­ständ­lich­keit und Selbst­si­cher­heit im Umgang mit Hoch- bzw. legi­ti­mer Kul­tur aus: „Die­se Sou­ve­rä­ni­tät, die den spie­le­ri­schen Umgang mit den gül­ti­gen Regeln beinhal­tet, macht die ent­schei­den­de Dif­fe­renz aus zwi­schen denen, die dazu gehö­ren, und denen, die nur dazu­ge­hö­ren möch­ten“ (Hart­mann 2004, S. 142). Distink­ti­on ent­steht hier nicht durch Distink­ti­ons­be­mü­hen, son­dern – in Anleh­nung an die sozia­le Magie der sym­bo­li­schen Wirk­sam­keit die­ses selbst­ver­ständ­li­chen Ver­hal­tens – ‚auto­ma­gisch‘ durch den Umstand, dass „man nicht auf Distink­ti­on, auf Sich-unter­schei­den-wol­len aus ist: die ›wirk­lich distin­gu­ier­ten‹ Leu­te sind die, die sich nicht dar­um küm­mern, es zu sein“ (Bour­dieu 1989, S. 18), da ihr Habi­tus milieu­spe­zi­fisch-selbst­ver­ständ­li­che Pra­xen her­vor­bringt, die ohne bewuss­tes Abgren­zungs­be­mü­hen des Akteurs Distink­ti­on bewirken.

Ein Akteur han­delt folg­lich inner­halb jener sozia­len Ver­hält­nis­se, die sei­nem Habi­tus ent­spre­chen und des­sen Struk­tu­ren strukturier(t)en, inner­halb sei­nes Milieus oder sei­ner Klas­se voll­kom­men intui­tiv und gene­ra­tiv krea­tiv gemäß der ent­spre­chen­den Logik der gesell­schaft­li­chen Pra­xis und kann sich ohne bewuss­ten Rück­griff auf bestimm­te Regeln oder Nor­men „wie ein Fisch im Was­ser“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 161) in die­ser Umge­bung bewe­gen, auf die er objek­tiv abge­stimmt ist, ohne dass jedoch eine expli­zi­te Abspra­che oder direk­te Inter­ak­ti­on zwi­schen den Akteu­ren (vgl. Bour­dieu 1987a, S. 109) noch eine sub­jek­ti­ve Zweck­aus­rich­tung statt­fän­de: „Dies kann in dem Gefühl zum Aus­druck kom­men, genau »am rich­ti­gen Platz« zu sein, genau das zu tun, was man zu tun hat, und es auf glück­li­che Wei­se – im objek­ti­ven wie im sub­jek­ti­ven Sin­ne – zu tun oder in der resi­gnier­ten Über­zeu­gung, nichts ande­res tun zu kön­nen, auch eine frei­lich weni­ger glück­li­che Wei­se, sich für das, was man tut, geschaf­fen zu füh­len“ (Bour­dieu 2011a, S. 31f). Der jewei­li­ge Akteur als Inha­ber eines bestimm­ten Habi­tus fühlt sich dem­zu­fol­ge gemäß einer Art „sen­se of one’s place“ (Goff­man zitiert nach Bour­dieu 1992a, S. 141) in einer Umwelt am bes­ten auf­ge­ho­ben und zuge­hö­rig, die in ihrem kol­lek­ti­ven Habi­tus am ehes­ten sei­nem indi­vi­du­el­len Habi­tus ent­spricht, d.h. der Habi­tus „bewirkt, daß man hat, was man mag, weil man mag, was man hat“ (Bour­dieu 1982, S. 286) — „einen Umstand, den Bour­dieu auch als »amor fati« bezeich­net, als Wahl oder Anneh­men des Schick­sals“ (Krais/Gebauer 2002, 43). Durch die­ses Gespür für den »rich­ti­gen« Platz, die damit ver­bun­de­ne Akzep­tanz des eige­nen »Schick­sals« und die unbe­wuss­te »Wahl« einer dem per­sön­li­chen Habi­tus ent­spre­chen­den Umwelt „schützt sich der Habi­tus vor Kri­sen und kri­ti­scher Befra­gung, indem er sich ein Milieu schafft, an das er so weit wie mög­lich vor­an­ge­paßt ist, also eine rela­tiv kon­stan­te Welt von Situa­tio­nen, die geeig­net sind, sei­ne Dis­po­si­tio­nen dadurch zu ver­stär­ken, daß sie sei­nen Erzeug­nis­sen den auf­nah­me­be­rei­tes­ten Markt bie­ten“ (Bour­dieu 1987a, S. 114). Es wird dadurch ein sozia­ler Zusam­men­hang her­ge­stellt, der unbe­wusst ver­bin­det, d.h. „[d]er sozia­le Zusam­men­halt wird immer wie­der gestif­tet durch die Wahl­ver­wandt­schaf­ten, die sich aus einem gemein­sa­men Habi­tus und Geschmack erge­ben und die sich in (…) Hand­lungs­ge­mein­schaf­ten ver­kör­pern“ (Ves­ter et al. 2001, S. 169).

Das Habi­tus­kon­zept und dar­auf auf­bau­en­de Kon­zep­te begrei­fen „die Indi­vi­du­en weder als blo­ße Objek­te vor­ge­ge­be­ner objek­ti­ver Struk­tu­ren noch als völ­lig freie Sub­jek­te, son­dern in der Wech­sel­wir­kung ihrer Bezie­hun­gen, in denen sie bei­des sind“ (Ves­ter et al. 2001, S. 150). Gleich­zei­tig wird das Indi­vi­du­um als ein von Geburt an ver­ge­sell­schaf­te­ter Akteur betrach­tet, womit das Habi­tus­kon­zept die künst­li­che Ent­ge­gen­set­zung von Indi­vi­du­um und Gesell­schaft über­win­det: „Man wird nicht Mit­glied einer Gesell­schaft, son­dern ist es von Geburt an (…) und von Geburt an befin­det man sich in einer akti­ven Aus­ein­an­der­set­zung mit der Welt“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61). Auf die­se Wei­se wird eine Brü­cke zwi­schen Indi­vi­du­um und Gesell­schaft, zwi­schen Struk­tu­ra­lis­mus und Kon­struk­ti­vis­mus geschla­gen, die eine gegen­sei­ti­ge Beein­flus­sung bedingt sowie die unbe­wuss­te und objek­tiv auf­ein­an­der abge­stimmt erschei­nen­de Ver­hal­tens­grund­la­ge für das völ­lig selbst­ver­ständ­li­che und ange­pass­te Inter­agie­ren zwi­schen Akteu­ren mit mehr oder weni­ger homo­ge­nen Habi­tus erlaubt, die auf eben­so mehr oder weni­ger homo­ge­nen Exis­tenz­be­din­gun­gen basie­ren. Der Habi­tus ist dem­zu­fol­ge struk­tu­rier­te und struk­tu­rie­ren­de Struk­tur zugleich, die „kon­stant auf prak­ti­sche Funk­tio­nen aus­ge­rich­tet ist“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 154), denn „[m]it dem Habi­tus sind wir in der Welt und haben die Welt in uns“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61) — wäh­rend »die Welt in uns«, ver­stan­den als weit­ge­hend selbst­ver­ständ­li­che Inkor­po­rie­rung der dop­pel­ten Geschicht­lich­keit, die Struk­tu­ren des Habi­tus struk­tu­riert, mit dem wir in der Welt sind, also „zur Aus­bil­dung einer situa­ti­ons­an­ge­pass­ten Ratio­na­li­tät, eines prak­ti­schen Sinns [führt], der ‚weiß‘, was in wel­cher Situa­ti­on zu tun und was zu las­sen ist“ (Liebau 2009, S. 47), struk­tu­riert der Habi­tus wie­der­um auf die­ser Grund­la­ge das Han­deln und damit letzt­lich die gesell­schaft­li­che Welt. Mit­tels der struk­tu­rier­ten und struk­tu­rie­ren­den Struk­tur des Habi­tus erklärt sich, wie Gesell­schaft über­haupt zustan­de kommt, ohne dass sämt­li­che betei­lig­te Akteu­re bewusst oder ziel­ge­rich­tet auf das Her­stel­len einer gesell­schaft­li­chen Ord­nung oder das gesell­schaft­li­che Funk­tio­nie­ren an sich hin­ar­bei­ten, wie Gesell­schaft dem­nach ganz bei­läu­fig ent­steht, indem die Akteu­re ihren all­täg­li­chen Hand­lun­gen nach­ge­hen und damit „unun­ter­bro­chen dazu bei[tragen], die sozia­le Struk­tur zu repro­du­zie­ren“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 174), denn der Habi­tus stellt

„struk­tu­rier­te Struk­tu­ren [dar], die wie geschaf­fen sind, als struk­tu­rie­ren­de Struk­tu­ren zu fun­gie­ren, d.h. als Erzeu­gungs- und Ord­nungs­grund­la­gen für Prak­ti­ken und Vor­stel­lun­gen, die objek­tiv an ihr Ziel ange­paßt sein kön­nen, ohne jedoch bewuß­tes Anstre­ben von Zwe­cken (…) vor­aus­zu­set­zen, die objek­tiv »gere­gelt« und »regel­mä­ßig« sind, ohne irgend­wie das Ergeb­nis der Ein­hal­tung von Regeln zu sein, und genau des­we­gen kol­lek­tiv auf­ein­an­der abge­stimmt sind, ohne aus dem ord­nen­den Han­deln eines Diri­gen­ten her­vor­ge­gan­gen zu sein“ (Bour­dieu 1987a, S. 98).

Der Habi­tus wird all­ge­mein durch die gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen und im Spe­zi­el­len durch eine bestimm­te, indi­vi­du­el­le Kom­po­si­ti­on objek­tiv-rea­ler Exis­tenz­be­din­gun­gen sowie ent­spre­chen­der Sozia­li­sa­ti­ons­er­fah­run­gen geformt und formt sei­ner­seits wie­der­um die Gesell­schaft, wobei er „jener Ver­ket­tung von »Zügen« zugrun­de [liegt], die objek­tiv wie Stra­te­gien orga­ni­siert sind, ohne das Ergeb­nis einer ech­ten stra­te­gi­schen Absicht zu sein“ (ebd., S. 116).

Die vom Habi­tus her­vor­ge­brach­ten Hand­lun­gen sind dem­zu­fol­ge nicht „intel­lek­tu­ello­zen­trisch“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 153) als rein ratio­na­le Stra­te­gien zu ver­ste­hen, denen eine exak­te Bewer­tung von Erfolgs­chan­cen zugrun­de liegt, son­dern funk­tio­nie­ren „nach einer dem leben­den Orga­nis­mus eige­nen, das heißt nach einer sys­te­ma­ti­schen, fle­xi­blen, nicht mecha­nis­ti­schen Logik“ (Krais/Gebauer 2002, S. 34), die auf­grund der Prä­gung des Akteurs die objek­tiv unwahr­schein­lichs­ten Prak­ti­ken als undenk­ba­re aus­sor­tiert (vgl. Bour­dieu 1987a, S. 100), womit der schar­fen Tren­nung zwi­schen Kör­per und Geist sowie der Vor­stel­lung vom Kör­per als ledig­lich pas­si­vem Spei­cher der Erfah­run­gen wider­spro­chen wird, da der Kör­per viel­mehr „als akti­ves [und sozia­les; MM] ›Ding‹ bei der Erzeu­gung jener spon­ta­nen, immer wie­der vari­ier­ten und krea­tiv neu erfun­de­nen Akte der Indi­vi­du­en“ (Krais/Gebauer 2002, S. 34; vgl. Kalt­hoff 2004) auf­tritt: „Weil die Han­deln­den nie ganz genau wis­sen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie sel­ber wis­sen“ (Bour­dieu 1987b, S. 127).

In den Habi­tus gehen die Denk- und Sicht­wei­sen, die Wahr­neh­mung, Welt­an­schau­ung etc. einer Gesell­schaft bzw. einer gesell­schaft­li­chen Lage ein, wer­den somit zur zwei­ten Natur des Akteurs, der nun auf­grund die­ser Inkor­po­rie­rung der sozia­len Ver­hält­nis­se voll­kom­men selbst­ver­ständ­lich gemäß die­sen han­delt und dadurch die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se, die sei­nen Habi­tus her­vor­ge­bracht haben, wie­der­um repro­du­ziert. Sowohl die per­sön­li­che als auch die gesell­schaft­li­che Ver­gan­gen­heit wir­ken in ihm in der Gegen­wart fort und bestim­men sein Ver­hal­ten, aller­dings „um den Preis des Ver­ges­sens“ (Krais 2004, S. 91) sei­ner Ent­ste­hung aus bestimm­ten sozia­len Ver­hält­nis­sen. Das Äuße­re der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se wird dem­entspre­chend inkor­po­riert und zum Inne­ren, zum Kör­per gewor­de­nen Sozia­len (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 161), und repro­du­ziert auf die Wei­se des Ver­äu­ßer­li­chens die­ses Inne­ren wie­der­um objek­ti­ve gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren. In einer sozia­len Umwelt, die mit dem per­sön­li­chen Habi­tus der Akteu­re über­ein­stimmt, wer­den die­se auf­grund der in ihrem Habi­tus inkor­po­rier­ten Erfah­rung rein intui­tiv han­deln und müs­sen in einer für sie neu­en Situa­ti­on nicht erst bewusst dar­über nach­den­ken, was nun zu tun sei.

Je nach sozia­ler Lage bie­ten sich den ein­zel­nen Akteu­ren unzäh­li­ge Zukunfts­mög­lich­kei­ten, aller­dings mit unter­schied­li­cher Ein­tritts- oder Rea­li­sie­rungs­wahr­schein­lich­keit, d.h. „die Viel­zahl mög­li­cher Wel­ten [ist] zu jedem Zeit­punkt durch die jeweils wirk­li­che Welt, durch die gege­be­nen sozia­len Ver­hält­nis­se begrenzt“ (Krais/Gebauer 2002, S. 46), so wie es für man­che sozia­le Grup­pen wahr­schein­li­cher ist als für ande­re, bei­spiels­wei­se sozi­al auf­zu­stei­gen oder eine Stu­di­en­lauf­bahn ein­zu­schla­gen. Über den Habi­tus und die dar­in inkor­po­rier­ten Erfah­run­gen, die die sozia­len Wahr­schein­lich­kei­ten und damit auch die eige­ne wahr­schein­li­che Zukunft mit­ein­schlie­ßen, rich­ten die Akteu­re schließ­lich ihre Hand­lun­gen auf die­je­ni­ge Zukunft aus, die objek­tiv am wahr­schein­lichs­ten ist, und las­sen sie dadurch in einer Art „Kau­sa­li­tät des Wahr­schein­li­chen“ (ebd.) Wirk­lich­keit wer­den, denn „[a]uch wenn [die sozia­len Deter­mi­nan­ten] nicht bewußt wahr­ge­nom­men wer­den, zwin­gen sie den ein­zel­nen, sich nach ihnen, das heißt nach der objek­ti­ven Zukunft der betref­fen­den gesell­schaft­li­chen Klas­se aus­zu­rich­ten“ (Bourdieu/Passeron 1971, S. 44). Der indi­vi­du­el­le Habi­tus leis­tet also inner­halb homo­lo­ger gesell­schaft­li­cher Ver­hält­nis­se auch die Vor­weg­nah­me und gleich­zei­ti­ge Her­bei­füh­rung einer wahr­schein­li­chen Zukunft, da die Hand­lun­gen und unbe­wuss­ten Stra­te­gien des Habi­tus „stets die objek­ti­ven Struk­tu­ren zu repro­du­zie­ren trach­ten, aus denen sie her­vor­ge­gan­gen sind“ (Bour­dieu 1987a, S. 114). Die wahr­schein­li­che Zukunft kann über den Habi­tus aus Erfah­rung, „d.h. durch die bereits ein­ge­tre­te­ne Zukunft frü­he­rer Prak­ti­ken“ (ebd.), als eben sol­che anti­zi­piert wer­den, weil die im Habi­tus inkor­po­rier­te Geschicht­lich­keit oder Erfah­rung mit den Bedin­gun­gen und der Geschicht­lich­keit der sozia­len Ver­hält­nis­se über­ein­stimmt, wor­aus sich eine Selbst­ver­ständ­lich­keit des Han­delns ergibt.

Die­se Selbst­ver­ständ­lich­keit des Han­delns geht jedoch ver­lo­ren, sobald die sozia­len Ver­hält­nis­se nicht län­ger dem Habi­tus eines Akteurs ent­spre­chen, sprich wenn die in den sozia­len Insti­tu­tio­nen objek­ti­vier­te Geschicht­lich­keit nicht län­ger mit der inkor­po­rier­ten Geschicht­lich­keit über­ein­stimmt, denn die bestehen­de Struk­tu­rie­rung des Habi­tus „schließt aus, dass er alles ver­ar­bei­tet, was in der Welt ist“, also „nur Din­ge auf­neh­men und ein­bau­en kann, für die er bereits eine Art ›Ankopp­lungs­stel­le‹ hat“ (Krais/Gebauer 2002, S. 64). Fin­det sich ein Akteur in einem sozia­len Umfeld mit hoch­gra­dig abwei­chen­den sozia­len Bedin­gun­gen vor, ent­spricht sei­ne ein­ver­leib­te Geschich­te oder Erfah­rung nicht län­ger der insti­tu­tio­na­li­sier­ten Geschich­te sei­ner Umge­bung, sein per­sön­li­cher Habi­tus ent­spricht also nicht län­ger den sozia­len Ver­hält­nis­sen und zeich­net sich durch eine Träg­heit aus, da er für die Gege­ben­hei­ten der neu­en sozia­len Umwelt kaum Ankopp­lungs­stel­len auf­weist. Da der Habi­tus zwar durch­aus ver­än­der­bar ist und die ihm zugrun­de lie­gen­de Inkor­po­rie­rung ein Leben lang statt­fin­det (vgl. Krais/Gebauer 2002), er aber stets von sei­ner ursprüng­li­chen Struk­tu­rie­rung durch die Pri­mär­so­zia­li­sa­ti­on in einer Art anhaf­ten­dem »Stall­ge­ruch« geprägt blei­ben wird, tritt auf, was Bour­dieu als hys­te­re­sis-Effekt bezeich­net (vgl. Bour­dieu 1982, S. 238f), näm­lich eine Träg­heit des Habi­tus, der nun in einer völ­lig neu­en Situa­ti­on unter ande­ren sozia­len Bedin­gun­gen nicht mehr ange­mes­sen ist, infol­ge­des­sen der Akteur sich nicht län­ger ange­mes­sen ver­hal­ten kann: „Sei­nen Habi­tus, der ja die per­sön­li­che und sozia­le Iden­ti­tät eines Indi­vi­du­ums aus­macht, kann man nun, wenn sich die indi­vi­du­el­len Lebens­ver­hält­nis­se ver­än­dern, nicht ein­fach wech­seln wie ein Kleid“ (Krais/Gebauer 2002, S. 46). Über län­ge­re Zeit wird sich der Habi­tus des Akteurs den neu­en sozia­len Ver­hält­nis­sen zwar annä­hern, sei­nen »Stall­ge­ruch« der Pri­mär­so­zia­li­sa­ti­on durch das vor­her­ge­hen­de Milieu aller­dings nicht voll­stän­dig able­gen kön­nen (vgl. Bour­dieu 2000; Hart­mann 2004, S. 92f; Krais 2004, S. 99f).

Zen­tral ist für Bour­dieu die selbst­ver­ständ­li­che Kom­pli­zen­schaft zwi­schen Indi­vi­du­um und sozia­len Ver­hält­nis­sen oder Insti­tu­tio­nen, die auch gesell­schaft­li­che Zwän­ge dar­stel­len kön­nen und in der Regel sol­che sind: „Wir sind über die­sen Habi­tus (…) immer ver­sucht, Kom­pli­zen der Zwän­ge zu sein, die auf uns wir­ken, mit unse­rer eige­nen Beherr­schung zu kol­la­bo­rie­ren“ (Bour­dieu 2001a, S. 166). Die­se Kom­pli­zen­schaft zwi­schen Akteur und den ihn umge­ben­den Struk­tu­ren wird durch eine ent­spre­chen­de Sozia­li­sa­ti­on inner­halb die­ser Struk­tu­ren, also durch den jewei­li­gen Habi­tus her­ge­stellt, der es den Akteu­ren erlaubt, gesell­schaft­li­che „Insti­tu­tio­nen zu bewoh­nen (habi­ter)“ (Bour­dieu 1987a, S.107). Dies bedeu­tet, dass jene objek­ti­ven Struk­tu­ren nur Bestand haben kön­nen, indem sie in den Akteu­ren wir­ken und von die­sen ver­in­ner­licht, bewohnt, ange­eig­net wer­den, die sie dadurch wie­der­um repro­du­zie­ren; folg­lich wird die „objek­ti­vier­te, insti­tu­ier­te Geschich­te nur dann geschicht­li­che Akti­on, d.h. akti­vier­te, akti­ve Geschich­te, wenn sie von Akteu­ren auf­ge­nom­men wird, die ihre eige­ne Geschich­te dazu prä­dis­po­niert, sie auf sich zu neh­men“ (Bour­dieu 2011a, S. 27). So kön­nen gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren wie z.B. Staat oder Schu­le nur funk­tio­nie­ren, indem die Akteu­re in gewis­ser Wei­se an sie glau­ben (vgl. prak­ti­scher Glau­be und prak­ti­scher Sinn in Bour­dieu 1987b), durch Sozia­li­sa­ti­on in die­sen Struk­tu­ren deren Funk­ti­ons­wei­se inkor­po­rie­ren und über Habi­tus und prak­ti­schen Sinn mit ihnen in Kom­pli­zen­schaft tre­ten. Alle betref­fen­den Akteu­re tei­len daher den ihnen habi­tu­ell inkor­po­rier­ten Glau­ben an die insti­tu­tio­nel­len Struk­tu­ren, was sich in der Aner­ken­nung die­ser Struk­tu­ren und der ent­spre­chen­den Teil­nah­me mani­fes­tiert, wobei sich die­ses Teil­neh­men aller­dings nicht bewusst mit einer struk­tur­funk­tio­na­lis­ti­schen Absicht voll­zieht, son­dern auf­grund der ent­spre­chen­den Habi­tus völ­lig selbst­ver­ständ­lich, intui­tiv und größ­ten­teils unbe­wusst, so wie man bei­spiels­wei­se sei­ne Kin­der ganz selbst­ver­ständ­lich auf die Schu­le schickt. Auf die­se Wei­se wer­den Prak­ti­ken und Regel­mä­ßig­kei­ten der gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen und Struk­tu­ren im Habi­tus der Indi­vi­du­en ver­an­kert, was ihnen das Bewoh­nen die­ser gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren ermög­licht, aber auf­grund der selbst­ver­ständ­li­chen habi­tu­el­len Ver­in­ner­li­chung der sozia­len Ord­nung auch Macht- und Herr­schafts­ver­hält­nis­se repro­du­ziert. Durch die­se Beto­nung der habi­tu­el­len Kom­pli­zen­schaft wird zudem deut­lich, dass per se kei­ne ant­ago­nis­ti­sche Gegen­über­stel­lung zwi­schen Indi­vi­du­um und Gesell­schaft besteht und nicht Gesell­schaft an sich als Zwang gegen­über den Indi­vi­du­en auf­tritt, son­dern bestimm­te Prak­ti­ken, Ord­nun­gen, Struk­tu­ren, Insti­tu­tio­nen und letzt­lich der eige­ne, vor­wie­gend unbe­wuss­te Glau­be dar­an: „Nicht Gesell­schaft als sol­che ist eine ›Zumu­tung‹, pro­ble­ma­tisch ist viel­mehr Herr­schaft. Und Herr­schaft tritt nicht ein­fach von außen an das Indi­vi­du­um her­an, sie ist, über den Habi­tus, immer auch in das Indi­vi­du­um selbst ein­ge­la­gert“ (Krais/Gebauer 2002, S. 79).

Eine Absa­ge etwa an gesell­schaft­li­che Zwän­ge kann sich also nicht auf die objek­tiv erkenn­ba­ren Struk­tu­ren beschrän­ken, son­dern muss beim Sub­jekt begin­nen, das die­se objek­ti­ven Struk­tu­ren durch sei­nen Habi­tus, durch sei­ne sub­jek­ti­ven Struk­tu­ren, repro­du­ziert. Dies erfor­dert zunächst das Erken­nen der Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der auf­grund der Inkor­po­rie­rung der dop­pel­ten Geschicht­lich­keit und – dar­in ent­hal­ten – der gesell­schaft­li­chen Denk- und Sicht­wei­sen gehan­delt wird, und damit das Erken­nen der Gren­zen des eige­nen Habi­tus. Bour­dieu leis­tet genau dies, indem er den „Mecha­nis­mus der kul­tu­rel­len Repro­duk­ti­on“ offen nach­zeich­net und in Ent­geg­nung auf den Vor­wurf des Deter­mi­nis­mus erklärt, „daß die Inten­ti­on der Auf­de­ckung gesell­schaft­li­cher Zwän­ge eman­zi­pa­to­risch ist. Das heißt nichts ande­res, als daß man – getreu der alten Regel – auf die Welt nur ein­zu­wir­ken ver­mag, wenn man sie kennt: Jeder neue Bestim­mungs­fak­tor, der erkannt wird, eröff­net einen wei­te­ren Frei­heits­spiel­raum“ (Bour­dieu 1992b, S. 46).

Ein sol­cher Frei­heits­spiel­raum gegen­über den gesell­schaft­li­chen Zwän­gen, die als unhin­ter­frag­te Not­wen­dig­kei­ten in den sozia­len Gebil­den und Denk­sche­ma­ta wir­ken, kann dem­zu­fol­ge nur durch ihr Erken­nen her­ge­stellt wer­den (das nicht mit Aner­ken­nung gleich­zu­set­zen ist), denn „[d]ie wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis der Not­wen­dig­keit schließt die Mög­lich­keit einer Akti­on ein, die dar­auf abzielt, sie zu neu­tra­li­sie­ren, und mit­hin eine mög­li­che Frei­heit, wäh­rend das Nicht­er­ken­nen der Not­wen­dig­keit deren Aner­ken­nung in unein­ge­schränk­ter Form impli­ziert: Solan­ge das Gesetz uner­kannt ist, erscheint das Resul­tat des lais­ser-fai­re, des Kom­pli­zen des Wahr­schein­li­chen [somit das, was gemäß die­ses uner­kann­ten Geset­zes schein­bar »ein­fach so« pas­siert, was nicht hin­ter­fragt und was als selbst­ver­ständ­lich erach­tet wird; MM], als Schick­sal, sobald es erkannt ist, als Gewalt“ (Bour­dieu 2011a, S. 53f).


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