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Jedes Mal, wenn sich ein Jahr seinem Ende entgegenneigt, machen sich unzählige Menschen gut gemeinte Gedanken zum Ablauf des bald darauf anbrechenden Jahres und nennen ihre Pläne, die daraus hervorgehen, gute Vorsätze. Raucher wollen Nichtraucher werden, Sportmuffel zu Freizeitathleten, Faulenzer zu Arbeitstieren. Diese guten Vorsätze sind in der Regel noch vor Februar wieder vergessen.

Wenn es etwas gab, das sie in dieser Zeit des Jahres am meisten hasste, dann waren es die guten Vorsätze anderer Menschen und deren aufdringliche Art, diese Vorsätze jedem Interessierten und Desinteressierten gleichermaßen unter die Nase zu reiben. Auch sie hatte sich Gedanken zum Ablauf des kommenden Jahres gemacht, war dabei allerdings auf eine andere Idee gekommen, die ihr wesentlich sympathischer erschien. Sie hatte sich vorgenommen, ab Neujahr täglich in einem kleinen schwarzen Büchlein zu notieren, was ihr an jedem einzelnen Tag Schönes widerfahren würde. Es musste nichts Großes sein, nichts Überwältigendes, einfach etwas Schönes, etwas Gutes, etwas Positives, das ihr den Tag und damit auch das Leben ein wenig aufgeheitert oder erhellt, das ihr vielleicht sogar einen Blick auf dieses so genannte Glück ermöglicht hatte.

Das alles begann vor einem Jahr. Nun, dreihundertzweiundsechzig Tage später, saß sie bei Nacht in ihrem Zimmer und blätterte durch das Notizbuch, das sie mit ihren Erlebnissen gefüttert hatte, um sich so kurz vor Silvester die vergangenen zwölf Monate noch einmal Tag für Tag durch den Kopf gehen zu lassen, die angenehmen wie die bedrückenden Zeiten. Sie hatte ein gutes Gefühl dabei, denn das letzte Jahr war schnell vergangen, fast schon zu schnell, und wenn etwas schnell vergeht, ja zu schnell gar, dann ist das in der Regel doch ein Zeichen dafür, dass man eine gute Zeit verbracht hatte. Die guten Zeiten vergehen immer wie im Flug, das ist das Traurige an ihnen und der Grund, weshalb sie so selten das Gewicht der schweren Zeiten aufwiegen können, die sich ihrerseits wie Fußketten an das Leben binden, sodass man sich fühlt, als würde man durch ein Moor waten und nicht vorankommen. Zwar waren in diesem Jahr nicht alle ihre Wünsche in Erfüllung gegangen, aber wer konnte das schon von sich behaupten.

Als sie anfing, die ersten Seiten durchzublättern und dabei die täglichen Einträge zu studieren, musste sie schmunzeln. Sie ging in die Küche, öffnete sich eine Flasche Wein und widmete sich der weiteren Lektüre. Was sie las, stimmte sie zufrieden. Es waren Kleinigkeiten, aber es waren teils süße, teils herzerwärmende, teils völlig in Vergessenheit geratene Geschehnisse, die sie dort sah, und es waren Dinge, die sie auch heute noch fröhlich gemacht hätten, würden sie ihr erneut passieren. Sie las die Einträge des gesamten Januars und dann die Notizen des folgenden Februars. Ihr fiel auf, dass sich einige Erlebnisse bereits wiederholten, doch das störte sie nicht weiter. Ganz im Gegenteil, entwickelte sich beim Lesen eine gewisse Spannung, denn da Januar und Februar recht ruhig verlaufen waren, fieberte sie innerlich dem ersten außergewöhnlichen, dem ersten auffälligen, dem ersten bedeutenden Eintrag entgegen, was nun wiederum nicht hieß, dass die bisherigen Einträge für sie unbedeutend gewesen wären, nur waren es Banalitäten, alltägliche Geschehnisse, die sicherlich jedem zuteilwurden und sich jederzeit wieder ereignen könnten, wenn sie einfach nur einen völlig normalen Tag verbringen oder durch die Fußgängerzone schlendern würde.

Sie setzte ihre Hoffnungen in den März, denn endlich, ja endlich musste doch etwas Aufregendes geschehen sein. Beim Lesen offenbarte sich ihr dann allerdings das gewohnte Bild, das Januar und Februar ihr bereits zur Genüge präsentiert hatten. Langsam wurde sie ungeduldig. Vielleicht ist es doch eine blöde Idee gewesen, dieses Büchlein zu führen, dachte sie sich und blätterte nun ganz zufällig durch die Seiten, bis sie einen Tag im Juni aufschlug, immer noch auf der Suche nach spannenden, irgendwie berührenden Ereignissen. „Fünf Euro auf dem Weg zur Arbeit gefunden“ las sie da und lachte. Nein, das war nun wirklich weder spannend noch berührend. Der folgende Tag war demgegenüber schon etwas besser, denn dort hatte sie notiert: „Im Regen spazieren gegangen“. Sie liebte es, im Regen durch die Straßen der Stadt spazieren zu gehen, insofern war dies nun für sie zwar ein irgendwie berührender, aber kein sonderlich hervorstechender, kein außergewöhnlicher, kein befriedigender Eintrag. Sie blätterte weiterhin wahllos im Juni herum, las „Von einem Kollegen ein Stück Kuchen bekommen“ oder „Jemandem den Weg erklärt“, fand „Eine Frau hat mir lächelnd die Tür der Straßenbahn aufgehalten“ und „Himmlisch geschlafen“, aber rein gar nichts, von dem sie sagen konnte, es sei etwas Besonderes gewesen, das ihr ein Stück vom Glück dargeboten hätte. Das müssen ziemlich schlechte Tage gewesen sein, dachte sie und blätterte weiter, doch was sie auf den Seiten der darauffolgenden Wochen lesen konnte, kam ihr noch banaler, noch unwichtiger, jedenfalls keineswegs erfüllend oder einfach bloß gut vor, sondern irgendwie leer. Sie fühlte sich wie jemand, der in der Lotterie gewinnt und dann aber feststellen muss, dass alle anderen ebenfalls gewonnen haben. Nun, dann sind es eben keine schlechten Tage gewesen, schlechte Wochen müssen es gewesen sein. Sie suchte weiter. Es waren keine schlechten Tage gewesen, musste sie feststellen, auch keine schlechten Wochen, es waren die besten Tage im ganzen Monat gewesen, sogar in zwei Monaten, und der Rest des Jahres war, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht viel besser.

Konnte das wirklich die Wahrheit sein? Sie hatte für jeden Tag des Jahres jeweils nur das eine, das allerbeste Erlebnis notiert, das ihr widerfahren war, die beste Handlung, die sie vollbracht, oder das schönste Gefühl, das sie an diesem Tag empfunden hatte – und diese Dinge, die sie da lesen musste, diese Banalitäten, diese Nichtigkeiten, diese lieblosen leeren Worte, die sie kaum zu lesen wagte, die waren genau das, alles erschöpfte sich in diesen Belanglosigkeiten? Diese Einträge voller unbedeutender Alltäglichkeiten waren alles, was ihr Leben in diesem einen Jahr ausgemacht hatte? Das war das Beste, was die Welt ihr in diesen Wochen und Monaten geboten hatte? Mehr war da nicht?

Was sie außerdem beunruhigte, waren Einträge wie der folgende: „Netter Kassierer hat mir zugezwinkert“. Das ganze letzte Jahr hatte sie allein verbracht, genau wie auch das Jahr zuvor. Sie fand viele weitere Einträge, die Ähnliches festgehalten hatten, ob es sich dabei nun um Kassierer, Jogger, U-Bahn-Fahrgäste oder irgendwelche Callcenter-Mitarbeiter gehandelt hatte. Sie las diese Einträge und sah darin den Unterton, mit dem sie sie wahrscheinlich auch geschrieben hatte: Jemand findet mich gut, jemand mag mich, ich bin etwas wert. War sie so verzweifelt nach menschlicher Nähe, nach dem Gefühl, jemandem – irgendjemandem – zu gefallen? Ihre Zufriedenheit begann zu bröckeln.

Sie nannte es ein Leben, was sie da geführt hatte, nun aber fragte sie sich, ob es denn wirklich mehr war als eine unbedeutende Existenz. Verzweifelt suchte sie nach einem Eintrag, der herausstach, der besonders war, der es wert war, das Beste eines Tages, eines Monats, eines Jahres zu sein. Sie fand absolut nichts, was sie überzeugt, was sie beeindruckt oder was ihr das Gefühl gegeben hätte, ein gutes Jahr hinter sich zu haben. Sie vermisste das große Glück.

Eines Tages blickt man in den Spiegel und begreift, dass man niemals mehr sein wird als das, was man dort sieht. Mit dieser Erkenntnis kann man weiterleben und sie akzeptieren, man kann sich umbringen, um allem zu entgehen, oder man blickt nie wieder in einen Spiegel.

Es war wenige Tage vor Silvester, als sie zum letzten Mal eine leere Seite in ihrem schwarzen Büchlein aufschlug und mit zittrigen Fingern lediglich das Wort „Ende“ hineinschrieb.

Der Mensch will nur,
dass man versteht,
was in ihm drin
so vor sich geht.
Er will das freilich
ohne Mühe,
mag nicht reden,
sich erklären,
will nicht
aus dem Häuschen kommen,
zu viel Welt
macht ihn beklommen;
öffnet keinem
seine Pforte,
zäunt sich ein,
verliert kaum Worte;
und klopft doch mal einer an,
verschließt er sich,
so gut er kann,
dann brüllt er:
Keiner soll es wagen,
durch ein Fenster reinzuspähn! –
und jammert stets
tagein, tagaus:
Ach, wenn es da nur jemand‘ gäbe,
der versucht‘,
mich zu verstehn.

(2010)

Er erwachte völlig entkräftet in einem Krankenhausbett und konnte sich weder daran erinnern wie noch warum er hierhergekommen war. Hatte er einen Unfall gehabt, war er einfach bloß umgekippt oder hatte er vielleicht einen Schlaganfall erlitten? Seine Arme und seine Beine schmerzten ihn, und als er versuchte, sie mehr als ein paar Zentimeter zu bewegen, gab er nach kurzer Zeit erschöpft auf. Seine Augen vernahmen eine menschliche Silhouette neben dem Bett, doch noch erkannte er darin kein Gesicht. Verwirrt und ohne diesen Schatten direkt anzusprechen, stammelte er bloß: „Wo… wo bin ich hier? Was ist mit mir passiert?“
„Pssst“, flüsterte eine Frauenstimme zärtlich. „Sei unbesorgt, mein Schatz, alles wird wieder gut. Hab keine Angst. Du bist hier in den besten Händen. “
Er erkannte diese Stimme sofort. Sie gehörte seiner Freundin, genaugenommen seiner ehemaligen Freundin, dieser Frau aus vergangenen Zeiten, die ihn, wie er es ausdrücken würde, vor drei elend langen Jahren aus Gründen verlassen hat, die er nie verstehen wird, nachdem sie beide für fünf gute Jahre eine Beziehung miteinander geführt hatten. Als es zum Ende kam, ging sie fort und warf nie einen Blick zurück, doch er kam niemals über sie hinweg. Er dachte immer noch an sie und er vermisste sie an jedem Morgen, wenn er aufwachte, an jedem Abend, wenn er einschlief, in jedem Bett, in dem er lag. Am Anfang glaubte er, das ginge bald vorbei, er würde das Vermissen hinter dem Alltag leicht verbergen können, und wäre erst etwas Zeit vergangen, dann würde er sie irgendwann vergessen, doch es verstrich erst ein Jahr, dann zwei Jahre und schließlich drei, ohne dass es ihm gelang, sie aus seinen Gedanken und vor allem aus seinen Gefühlen zu verbannen. Mehrmals hatte er in dieser Zeit versucht, eine Beziehung mit einer anderen Frau aufzubauen, also weiterzumachen, die Wunden der Vergangenheit wenn schon nicht zu heilen, dann doch wenigstens zu verbinden, aber keinem dieser Versuche war letzten Endes ein langer Bestand gegönnt. Er musste sich irgendwann eingestehen, dass keine dieser Beziehungen einen Wert für sich hatte, sondern sie in Wahrheit nur ein unbewusster und verzweifelter Versuch waren, seine ehemalige Freundin zu ersetzen, die für ihn so unersetzbar war. Keine dieser Ersatzbeziehungen konnte er für allzu lange Zeit aufrechterhalten, keine dieser Frauen konnte ihn verzaubern, denn jede von ihnen verglich er mit ihr und keine war für ihn so gut wie sie, keine genügte seinem Vergleich, keine war ein Duplikat seiner einzigen großen Liebe.
„Du? Wieso bist du hier? Und… du nennst mich Schatz? Warum? Wir sind… schon so lange nicht mehr zusammen.“
„Ich dachte, es würde dir gefallen. Ich weiß, wie sehr du mich vermisst.“
„Was weißt du schon“, seufzte er.
„Ich kann es dir nicht verübeln“, ergänzte sie kokett, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte in sein Ohr: „Ich war das Beste, das dir je passiert ist, und ich werde es für immer sein.“
„Warum bist du hier?“ wiederholte er seine Frage.
„Freust du dich denn nicht? Ich weiß, dass du bis heute ständig an mich denkst, selbst nach all den Jahren. Ich weiß, wie sehr du mich brauchst, jetzt noch mehr denn je, und dass du mich nicht loslassen kannst, selbst wenn du wolltest. Du vermisst mich, du hast dich in deiner Sehnsucht eingemauert und du kommst dort nicht heraus. Kann es einen größeren Liebesbeweis geben als jenen, welchen du mit dir herumträgst? Ich bin hier, weil ich das weiß, und weil ich schätzen gelernt habe, wie sehr du wirklich an mir hängst.“
Unter großer Anstrengung drehte er sich in seinem Bett von ihr weg und verbarg sein Gesicht, damit sie darin nicht sehen konnte, wie sehr sie ihn mit diesen Worten erwischt hatte.
„Entschuldige, mein Schatz, ich lass dich erst einmal allein. Du bist noch sehr schwach und sicher auch sehr müde. Wir reden später. Nimm die hier, die helfen dir“, sagte sie und zeigte auf zwei Pillen und ein Glas mit Wasser, das direkt daneben stand. Dann ging sie zur Tür, drehte sich noch einmal um, pustete ihm einen Luftkuss zu und verließ den Raum.
In den darauffolgenden Tagen verbesserte sich sein Zustand ein wenig, doch fiel es ihm noch immer schwer, Arme und Beine zu bewegen, sodass an Aufstehen noch lange nicht zu denken war. Das Zimmer, in dem er sich befand, war relativ klein, er sah zwei Schränke, ein Fenster und einen bescheidenen Tisch mit einem Stuhl. Jeden Tag besuchte ihn seine ehemalige Freundin und umsorgte ihn liebevoll. Sie brachte ihm Bücher, Zeitschriften und Mahlzeiten, sie unterhielt sich mit ihm über die alten, gemeinsamen Zeiten, erzählte ihm von den neuesten Ereignissen und versorgte ihn mit neuen Medikamenten. Er fühlte sich in ihren Händen geborgen und konnte bei weitem nicht verhehlen, sich über ihre Anwesenheit mehr als nur zu freuen. Die Zeit verging jedoch, ohne dass sich sein Zustand wesentlich verbessert hätte, doch was ihn viel mehr verwunderte, war die merkwürdige Tatsache, dass er während seines Aufenthalts bislang kein Pflegepersonal oder einen Arzt zu Gesicht bekommen hatte. Selbst als er den kleinen Knopf drückte, um jemanden an sein Bett zu rufen, kam niemand, es geschah nichts. Einzig seine Ex-Freundin erschien mit einer gewissen Regelmäßigkeit, also sprach er sie darauf an:
„Ich habe hier noch nie eine Schwester gesehen, geschweige denn einen Arzt.“
„Sei unbesorgt, mein Schatz, man kümmert sich sehr gut um dich. Ich habe dem Personal klargemacht, dass ich mich, soweit es geht, alleine um dich kümmern werde und man dein Zimmer wirklich nur im Notfall zu betreten hat. Ich will keine Leute hier um dich herum, die dich ständig stören oder mit irgendwas belästigen, wenn du dich doch schonen musst.“
„Aber nicht einmal ein Arzt war hier…“
„Doch, doch“, beruhigte sie ihn, „der Arzt war gestern Abend bei dir, als du schon tief und fest geschlafen hast. Ich war dabei. Du hast geschlafen wie ein Stein, aber deinen Schlaf hast du auch bitter nötig. Der Arzt wollte dich aufwecken, aber ich hab ihn angefaucht, er soll dich bloß in Ruhe lassen, solange es kein Notfall ist. Da ist er gegangen.“ Sie fing an zu lachen. „Du weißt, ich kann sehr überzeugend sein.“
Als sie nach ein wenig Plauderei schließlich ging, nahm er sich vor, an diesem Abend einfach so lange es ihm möglich sein würde wach zu bleiben, sollte der Arzt erneut nach seinem Zustand sehen wollen. Er rang mit der Müdigkeit, aber er ließ sich von ihr nicht übermannen, und so wartete er bis in die frühen Morgenstunden. Es erschien weder ein Arzt noch sonst irgendjemand. Schließlich schlief er ein und wurde einige Stunden später von seiner einzigen, treuen Besucherin geweckt, die ihm sein Frühstück ans Bett servierte.
An diesem Morgen jedoch war er aufgrund des wenigen Schlafs völlig ausgelaugt, und als er die Pillen zu sich nehmen wollte, die schon seit dem ersten Tag jede seiner Mahlzeiten begleiteten, verlor er sie aus den Fingern. Sie schienen unter sein Bett zu rollen, aber so genau konnte er das nicht beobachten. Seine ehemalige Freundin stand währenddessen am Fenster und bekam von alledem nichts mit, also beließ er es dabei. In den folgenden Stunden bemerkte er, dass das Gefühl in seinen Armen und Beinen mehr und mehr zurückkehrte und es ihm zunehmend leichter fiel, sie zu bewegen. Er wusste nicht, ob er das als Zufall abtun oder auf das Auslassen der Medikamente zurückführen sollte, also sprach er diese Frage am Abend an:
„Was sind das eigentlich für Pillen, die du mir jedes Mal mitbringst?“
„Die sind für deine Schmerzen, mein Schatz“, entgegnete sie mit einem Lächeln auf den Lippen, in das er sich damals sofort verliebt hatte, „die sollen dich beruhigen.“
Unter Schmerzen jedoch litt er nur, wenn er diese Mittel zu sich nahm, doch dass er zu dieser Erkenntnis gekommen war, wollte er ihr nicht mitteilen. Er entschloss sich dazu, die Pillen in Zukunft heimlich zu meiden. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte er bei sich, erst sah er weit und breit kein Personal und nun dieser… Zufall.
Am nächsten Morgen fühlte er sich wesentlich besser, sehr zu seiner Verwunderung. Arme und Beine konnte er nun frei bewegen, so als sei niemals irgendwas geschehen. War denn je irgendwas geschehen? Er richtete sich zunächst im Bett auf, schwang dann die Beine heraus und stand schließlich auf, ohne jene Gliederschmerzen zu verspüren, die ihn seit seinem Aufwachen ans Bett gefesselt hatten. Nach kurzem Zögern ging er zur Tür, doch als er die Klinke herunterdrückte, geschah gar nichts. Sie ließ sich nicht öffnen. Und da verstand er. Die Pillen sollten ihm nicht helfen, sie sollten ihn im Bett halten. Sie wollte ihn nicht gehen lassen.
Sein Blick fiel auf das Fenster, das der einzige Ausweg zu sein schien. Er zog den Vorhang zur Seite, öffnete es und musste feststellen, dass er sich hier wohl im vierten oder fünften Stock befand. Ein Sprung würde wahrscheinlich tödlich enden, und irgendetwas, an dem er sich hätte festhalten, an dem er nach unten hätte klettern können, konnte er nicht sehen. Er war gefangen. Plötzlich hörte er ein Geräusch an der Tür, und bevor er sich zurück ins Bett legen konnte, stand sie schon im Raum und warf ihm einen überraschten Blick zu.
„Dein Zustand hat sich endlich gebessert“, sagte sie und versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. „Ich bin so glücklich, ich dachte schon, du würdest für immer dort liegen bleiben.“
„Die Tür war abgesperrt“, bemerkte er knapp. „Warum?“
„Ach, mein Schatz, das ist nur zu deinem Besten.“
„Erklär mir das! Wie zum Teufel soll das denn zu meinem Besten sein?“
„Vertraust du mir nicht mehr?“
„Es fällt mir zunehmend schwer, jemandem zu vertrauen, der mich einsperrt und mit irgendwelchem Zeug vollpumpt, das mir jede Handlung unmöglich macht.“
„Reg dich bitte nicht auf.“
„Bring mir einen Arzt!“
„Es gibt hier keine Ärzte. Ich kümmere mich um dich, nur ich.“
„Du bist verrückt!“
„Leg dich wieder hin, mach es dir gemütlich und lass dich einfach von mir versorgen. Ich habe dich in den letzten drei Jahren im Stich gelassen, das tut mir leid, aber alles kann wieder so werden, wie du es dir wünschst. Wir bleiben zusammen, nur wir beide. Du brauchst sonst niemanden. Niemanden!“
Er sah sie an und blickte dann zum Fenster, das immer noch geöffnet war. Ihr überraschtes Gesicht wich einem Ausdruck der Verzweiflung, dann purer Wut. Als sie einige Schritte auf ihn zuging, stieg er in das Fenster, hielt sich am Rahmen fest und sprach zu ihr, sie solle zurückbleiben, sie solle ihn nicht anrühren, sonst würde er springen. Sie blieb stehen und setzte wieder ihr berauschendes Lächeln auf.
„Ich weiß, du vermisst mich an jedem einzelnen Tag, seitdem ich dich verlassen habe.“ Ihre Stimme war süß und gleichzeitig voller Erotik, so als wolle sie ihn verführen. „Ich weiß, du liebst mich heute noch genau wie vor drei Jahren, und ich weiß, dass du auch immer noch die Hoffnung hegst, mit mir dein ganzes Leben zu verbringen. Wir könnten zusammen noch einmal anfangen, das hast du dir doch all die Jahre gewünscht. Nur du und ich, für immer. Bleib bei mir, mein Schatz. Willst du dein Leben denn einfach wegschmeißen, wenn du loslässt und springst?“
„Du bist nicht mein Leben!“, schrie er sie an, blickte in ihre Augen, löste die Finger vom Rahmen und ließ sich aus dem Fenster fallen. „Du warst es viel zu lang.“
Völlig benommen wachte er in einem Krankenhausbett auf und konnte sich weder daran erinnern wie noch warum er hierhergekommen war. Neben dem Bett erkannte er eine menschliche Silhouette, die irgendetwas zu irgendjemandem sagte, den er nicht sehen konnte. Plötzlich erschien eine zweite Gestalt, die sich ihm als Arzt vorstellte und ihm erklärte, es habe lange Zeit nicht gut für ihn ausgesehen: „Sie waren für einige Zeit im Koma, aber nun haben Sie ja doch noch den Sprung zurück ins Leben geschafft.“

Die Ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit gebracht: alles wird sich irgendwann so wiederholen, wie man es schon einmal erlebt hat, und auch diese Wiederholung wird sich unendlich wiederholen!
(…)
Wenn sich jede Sekunde unseres Lebens unendliche Male wiederholt, sind wir an die Ewigkeit genagelt wie Jesus Christus ans Kreuz. Eine schreckliche Vorstellung. In der Welt der Ewigen Wiederkehr lastet auf jeder Geste die Schwere einer unerträglichen Verantwortung. Aus diesem Grund hat Nietzsche den Gedanken der Ewigen Wiederkehr »das schwerste Gewicht« genannt.
Wenn die Ewige Wiederkehr das schwerste Gewicht ist, kann unser Leben vor diesem Hintergrund in seiner ganzen herrlichen Leichtheit erscheinen.
Ist aber das Schwere wirklich schrecklich und das Leichte herrlich?
Das schwerste Gewicht beugt uns nieder, erdrückt uns, preßt uns zu Boden. In der Liebeslyrik aller Zeiten aber sehnt sich die Frau nach der Schwere des männlichen Körpers. Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig ein Bild intensivster Lebenserfüllung. Je schwerer das Gewicht, desto näher ist unser Leben der Erde, desto wirklicher und wahrer ist es.
Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, daß der Mensch leichter wird als Luft, daß er emporschwebt und sich von der Erde, vom irdischen Sein entfernt, daß er nur noch zur Hälfte wirklich ist und seine Bewegungen ebenso frei wie bedeutungslos sind.
Was also soll man wählen? Das Schwere oder das Leichte?
(Milan Kundera – Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins)

Schon Dostojewski machte darauf aufmerksam, daß das Bibelwort »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« wahrscheinlich andersrum zu verstehen ist – nämlich in dem Sinne, daß man den Nächsten nur dann lieben kann, wenn man sich selbst liebt.

Weniger elegant, dafür um so prägnanter, drückte Marx (Groucho, nicht Karl) dieselbe Idee Jahrzehnte später aus: »Es würde mir nicht im Traum einfallen, einem Klub beizutreten, der bereit wäre, jemanden wie mich als Mitglied aufzunehmen.« Wenn Sie sich die Mühe nehmen, die Tiefe dieses Witzes zu ergründen, sind Sie bereits gut auf das nun Folgende vorbereitet.

Geliebt zu werden ist auf jeden Fall mysteriös. Nachzufragen, um Klarheit zu schaffen, empfiehlt sich nicht. Bestenfalls kann es der andere Ihnen überhaupt nicht sagen; schlimmstenfalls stellt sich sein Grund als etwas heraus, das Sie selbst bisher nicht für Ihre charmanteste Eigenschaft hielten; zum Beispiel das Muttermal auf Ihrer linken Schulter. Schweigen ist da wieder einmal ganz eindeutig Gold.

Was wir daraus für unser Thema lernen können, zeichnet sich nun schon klarer ab. Nehmen Sie nicht einfach dankbar hin, was Ihnen das Leben durch Ihren (offensichtlich selbst liebenswerten) Partner bietet. Grübeln Sie. Fragen Sie sich, aber nicht ihn, warum. Denn er muß ja irgendeinen Hintergedanken haben. Und den enthüllt er Ihnen bestimmt nicht.

(…)

[F]ür den Unglücklichkeitsbedarf des Anfängers mag das eben Gesagte ausreichen. Der Fortgeschrittene aber gibt sich damit nicht zufrieden. Aus diesen Zusammenhängen läßt sich nämlich weiteres Kapital schlagen, das allerdings nur den Groucho Marxens unter uns zugänglich ist. Es setzt eben voraus, daß man sich selbst für liebensunwürdig hält. Damit ist jeder, der einen liebt, prompt diskreditiert. Denn wer einen liebt, der keine Liebe verdient, mit dessen Innenleben stimmt etwas nicht. Ein Charakterdefekt wie Masochismus, eine neurotische Bindung an eine kastrierende Mutter, eine morbide Faszination durch das Minderwertige – von dieser Art sind die Gründe, die sich als Erklärung für die Liebe des oder der Betreffenden anbieten und sie unerträglich machen. (Zur Auswahl der befriedigendsten Diagnose ist eine gewisse Kenntnis der Psychologie oder wenigstens die Teilnahme an Selbsterfahrungsgruppen von großem Wert.)

Und damit ist nicht nur das geliebte Wesen, sondern auch der Liebende selbst und die Liebe als solche in ihrer Schäbigkeit enthüllt. Was kann man schon mehr wünschen?

(…)

Nur auf den ersten Blick erscheint das absurd, denn die Komplikationen, die mit dieser Auffassung einhergehen, liegen doch so klar auf der Hand. Dies dürfte aber noch niemanden abgehalten haben, oder, wie Shakespeare es in einem seiner Sonette sagt: »Dies weiß jedweder, doch nicht wie man flieht den Himmel, der zu dieser Hölle zieht.« Praktisch verliebe man sich also in hoffnungsloser Weise: in einen verheirateten Partner, einen Priester, einen Filmstar oder eine Opernsängerin. Auf diese Weise reist man hoffnungsfroh, ohne anzukommen, und zweitens bleibt einem die Ernüchterung erspart, feststellen zu müssen, daß der andere gegebenenfalls durchaus bereit ist, in eine Beziehung einzutreten – womit er sofort unattraktiv wird.
(Paul Watzlawick – Anleitung zum Unglücklichsein)

Es dauerte zwei ganze Tage, bis mir so langsam klar wurde, was er wirklich zu mir gesagt hatte. Er wolle nicht den Teufel an die Wand malen, doch es sähe nicht gut aus, hatte der Arzt mit einem kurzen Kopfschütteln gemeint, jedoch gleich noch hinzugefügt, wahrscheinlich um der Aussage etwas von ihrer Bedrohlichkeit zu nehmen, ein endgültiges Ergebnis könne er mir erst in einigen Tagen mitteilen. Wie schlimm denn „nicht gut“ sei, hatte ich gefragt, und er antwortete bloß knapp, im schlimmsten Fall stünden die Chancen nicht sehr gut, dass ich das Ende des Jahres noch erleben würde, sollte die genaue Untersuchung seine Vermutung denn bestätigen. Vielleicht war er etwas vorschnell, doch ich schätzte seine Aufrichtigkeit, denn die meisten Ärzte hätten sich davor gedrückt, solch eine Vermutung offen auszusprechen, solange sie nicht über eine definitive Diagnose verfügten, um, wie sie sagen würden, ihre Patienten nicht unnötig zu verängstigen. Zwei Tage später saß ich in einem Bus, es war Nachmittag, und erst da begriff ich plötzlich, wie meine Perspektiven sich verändert hatten. Ich würde vielleicht sterben, und zwar sehr bald.
Ich sprach mit niemandem darüber, außer mit meinen Eltern. Wieso auch? Noch stand das Ergebnis gar nicht fest und ich wollte niemanden unnötig beunruhigen, also verhielt ich mich wie jene Ärzte, die ihre Patienten erst einmal im Dunkeln lassen. Ich hätte es nicht ertragen, von Freunden oder denjenigen Menschen, die sich dafür hielten, mitleidige Blicke und wohlmeinenden Zuspruch zu erhalten, der bestenfalls gut gemeint und im schlimmsten Fall einfach nur lächerlich ist. Nein, ich behielt es für mich, denn es handelte sich ja um eine höchst private Angelegenheit, die zuallererst bloß mich etwas anging. Und wie sie mich etwas anging!
Was in mir geschah, nachdem ich erst einmal begriffen hatte, wie meine Chancen standen und dass ich vielleicht bald sterben würde, kann ich gar nicht so genau beschreiben. Es war jedoch nicht wirklich schlecht, was in mir vorging, so wie man es vielleicht von jemandem erwarten würde, der dem Tod ins Auge blickt, denn genau das tat ich ja, mehr oder weniger. Ich verfiel nicht in tiefe Depression, ich wurde weder apathisch und hoffnungslos, noch begann ich plötzlich, mich für Extremsport zu interessieren, um auf die letzten Tage noch möglichst viele Kicks zu bekommen. Ich blieb, wenn man das so sagen kann, oberflächlich betrachtet ziemlich normal.
Unter der Oberfläche jedoch vollzog sich ein Wandel, der zwar nicht besonders spektakulär erschien, aber meinem Leben eine gewisse neue Richtung geben sollte. Bislang hatte ich ein Leben geführt, das sich in der Regel daran orientierte, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und möglichst wenig aufzufallen, weil Auffallen in der Regel bedeutete, ziemlich schnell in Situationen zu geraten, die sich zu Problemen entwickeln könnten. Ich war der Mann, der immer da, aber nie dabei sein wollte, der immer anwesend, aber nie beteiligt war. Das sollte sich ändern.
Es gab da eine Frau. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ich in sie verliebt gewesen sei. Ein wenig vielleicht. Mehr wollte ich mir nicht erlauben, weil es zu Problemen hätte führen können. Wir gingen einige Male aus, ja, aber nur unter Vorwänden, nur mit Begleitung, und nie fiel das Wort Date, geschweige denn ein Kuss. An schlechten Tage fühlte ich mich feige und hasste mich dafür, nicht den Mut aufzubringen, sie einfach zu küssen, doch an guten Tagen klopfte ich mir auf die Schulter, die Sache nicht noch weiter zu vertiefen, würde sie doch sowieso in einer Katastrophe oder auf eine andere peinliche Art enden, aber jedenfalls enden. Es gab Menschen in meinem Leben, zu denen ich freundlich war, obwohl ich sie nicht ausstehen konnte. Mein Chef zum Beispiel, um ein Klischee zu erfüllen, denn wer mag schon seinen Chef, aber auch Leute in meinem Freundeskreis, Freunde von Freunden, irgendwelche Bekannte sowie natürlich diejenigen, von denen man sich erhofft, für die gespielte Freundlichkeit irgendwann einmal etwas zurückzubekommen. Ich war ordentlich und brav, könnte man sagen, denn ich erfüllte Aufgaben, die mir zugetragen wurden, in der Regel ohne zu murren, befolgte die Regeln, auch wenn sie mir noch so unsinnig erschienen, wagte nichts und ordnete mich unter, wo es nur ging, weil alles andere nur wieder zu Problemen geführt hätte. Es war kein unangenehmes Leben, doch es war ein Leben, das mich auch nicht wirklich befriedigte. Ich ließ mich treiben.
Nach den Worten des Arztes jedoch war alles anders. Meine Perspektive, meine Rolle in der Welt und auch meine Selbstbetrachtung hatten sich verändert. Ich würde vielleicht bald sterben. Haben wir nicht alle diesen Gedanken in uns, schlicht und einfach das zu tun, was uns wirklich glücklich macht, wenn wir nur noch einen Tag zu leben hätten. Wenn es für mich auch nicht ein einzelner sein sollte, so schienen meine Tage doch gezählt. Wie lange hätte ich noch gehabt? Sechs Monate? Ein Jahr? Was ist in einem solchen Fall schon der Unterschied zwischen einem Tag und einem Jahr? Oder anders gefragt: Was ist der Unterschied zwischen einem Tag und einem Leben? Wieso tragen wir diese Vorstellung mit uns herum, wir würden plötzlich alles ganz anders leben und erleben, wenn wir wüssten, es wäre unser letzter Tag? Wenn ich morgen ganz unspektakulär in der Dusche ausrutschen sollte, wäre mein letzter Tag dann nicht der heutige, also beliebig? Immer und nie zugleich? Warum ändern so viele Menschen ihr Leben, wenn sie ein mehr oder weniger vages Datum für ihren Tod erfahren? Verbringen wir unsere Leben vielleicht so unglücklich, so unbefriedigend, so leer, weil wir glauben, wir lebten für immer, wir könnten alles noch irgendwann nachholen, was wir versäumen – und erst das baldige Ende, dieser Gedanke an Endlichkeit bringt uns dazu, unser Leben wahrhaft zu genießen, wenn es dafür schon fast zu spät ist? Ich weiß es nicht.
Was ich jedoch wusste, war, mein Leben sollte anders werden. Ich wollte die wenige Zeit, die mir vielleicht noch blieb, sinnvoll nutzen, sinnvoller als bisher. In meinem Kopf malte ich mir aus, wie mein Leben in Zukunft aussehen sollte. Zuallererst würde ich sie anrufen und um ein Date bitten, ein klares, eindeutiges Date, um dem vorsichtigen Antasten endlich ein Ende zu bereiten. Es wäre riskant, natürlich, so wie jede Liebeserklärung, aber ich hatte nichts mehr zu verlieren. Vor meinem Chef würde ich nicht länger kriechen, wenn er mich für seine eigene Inkompetenz bestraft. Anstatt zu heucheln, würde ich immer meine ehrliche Meinung zum Ausdruck bringen, auch wenn sie einigen Menschen vielleicht nicht gefallen mag. Ich würde diejenigen meiden, die mir nicht guttun, und würde mir Zeit für Menschen und Dinge nehmen, die mir besonders am Herzen liegen. Ich würde ein besserer Freund sein, ein besserer Sohn, ein besserer Liebhaber, ein besserer Mensch. Das war es, was ich mir vorstellte, was in mir brannte. Ich würde, wenigstens auf meine letzten Tage, endlich das Leben führen, das ich schon die ganze Zeit hätte führen sollen.
Drei Tage später erhielt ich die Ergebnisse. Der Arzt sagte zu mir, ich hätte riesiges Glück, und was er damit meinte, war wohl, ich bekäme mein ewiges, undatiertes Leben zurück. Ich ging nach Hause, setzte mich auf meine Couch und verarbeitete, was eben geschehen war. Ich dachte an die Frau, mit der ich schon seit langer Zeit so gerne ausgehen würde, und verteufelte mich dafür, sie noch immer nicht angerufen zu haben. Dann endlich nahm ich das Telefon in die Hand, wählte die Nummer meiner Eltern, erzählte ihnen die gute Nachricht, und führte mein Leben weiterhin wie zuvor.

When we look at someone (an angel) from a position of unrequited love and imagine the pleasures that being in heaven with them might bring us, we are prone to overlook a significant danger: how soon their attractions might pale if they began to love us back. We fall in love because we long to escape from ourselves with someone as ideal as we are corrupt. But what if such a being were one day to turn around and love us back? We can only be shocked. How could they be as divine as we had hoped when they have the bad taste to approve of someone like us? If in order to love we must believe that the beloved surpasses us in some way, does not a cruel paradox emerge when we witness this love returned? „If s/he really is so wonderful, how could s/he love someone like me?“
(Alain de Botton – On Love)

Das Auge war von jeher weitsichtiger als alle anderen Sinne, und es erzählte von den Wundern der Welt. Aber die andern Organe nahmen das Auge nicht ernst, weil es von fernen Landschaften schwärmte, die das Ohr nicht hörte, die Nase nicht roch, die Zunge nicht schmeckte, Hand und Fuß auch nicht fühlten.
Doch eines Tages sagte das Auge: »Vorsicht, hier ist eine Grube!«
»Fängst du schon wieder an«, höhnten einstimmig Hand und Fuß. »Wir fühlen keine Grube!«
»Ich rieche sie auch nicht!« sagte großmäulig die Nase.
»Eine Grube? Schmecke ich nicht!« widersprach auch der Mund.
»Ehrlich gesagt, ich höre sie ebenfalls nicht!« meldete sich zuletzt noch, wiewohl etwas höflicher als die andern, das Ohr zu Wort.
Es dauerte nicht lange, da stürzte der Fuß und riß Hand und Mund, Nase und Ohr und auch das Auge mit sich hinab. Der Sturz sorgte bei allen für Schmerzen. Und das Auge litt wie die andern und weinte. An diesem Tag waren die anderen Sinne bereit, die Bedeutung der Weitsicht zu akzeptieren.
(Rafik Schami – Loblied und andere Olivenkerne)

Ihr seid die lieblosesten Menschen, die ich kenne. Ihr schaut euch Sendungen an, in denen Andere, die in ihrem Leben noch nie eine ernsthafte Partnerschaft erlebt haben, einmal von der Liebe sprechen, von dem, was das nun für sie ist, und ihr, ihr macht euch lustig über sie, weil sie in euren Augen so unglaublich peinlich sind. Sie mögen peinlich sein, doch noch viel peinlicher seid letztlich ihr, die ihr euch hämisch über das kleine und große Glück anderer Menschen amüsiert, auf sie herabblickt, um ihre Vorstellung von Liebe und Geborgenheit mit zynischer Aufgeblasenheit in den Dreck zu ziehen und das bisschen Glück, das ein Mensch für sich findet, erst auf den Boden zu werfen und dann mit Füßen zu treten, bis jeder Ansatz von Zufriedenheit verstirbt.

Ihr wendet euch angeekelt ab, wenn sich zwei Menschen liebevoll küssen und ihr das unmittelbar beobachten müsst. Ihr verabscheut jegliches Verhalten, das anderen zeigt, dass man ein Pärchen ist. Ihr würdet sie am liebsten allesamt trennen, wollt ihrem Glück so schnell es geht ein Ende bereiten, denn für euch ist das kein Glück, was ihr da seht, also kann es das für andere doch auch nicht sein. Ihr seid Gefühlsspießer – wenn ihr nicht könnt, sollen alle anderen auch nicht dürfen.

Ihr wollt sie nicht, die Liebe, sagt ihr dann und wiederholt das wie ein Mantra. Wen wollt ihr damit überzeugen, den Rest der Welt oder am Ende bloß euch selbst? Anstatt sie als Geschenk anzunehmen, wollt ihr die Quittung sehen oder blockt sie ab, zerredet sie und macht sie klein. Wer immer euch mal liebt, den stoßt ihr eiskalt weg. Das Übel, sagt ihr, wollt ihr an der Wurzel ausradieren. Hört ihr euch eigentlich manchmal selbst beim Reden zu?

Ihr verschanzt euch hinter beißendem Zynismus, der bequem ist, hinter Traumgebilden, die naiv sind, oder hinter dem, was ihr Vernunft nennt, was doch in Wahrheit dann bloß Angst in listiger Verkleidung ist. Ihr findet so viele gute Gründe, euch nicht auf jemanden einzulassen, so viele schlaue Rationalisierungen, die ihr euch zurechtbiegt, aber nicht einen einzigen Grund dafür. Ihr begreift nicht, dass ihr umsonst sucht, denn es gibt gar keinen Grund dafür, weil das Dafür doch eines Grundes nicht bedarf: „Ich liebe dich, weil…“, das sagt kein Mensch, der wahrhaft liebt. Auf der anderen Seite verstecken sich Millionen Gründe dagegen und ihr, ihr findet sie alle. Ihr wollt sie unbedingt finden, ihr wollt Vorwände, Ausflüchte, Notausgänge. Dann wägt ihr ab: Kein Grund dafür, so viele dagegen, ihr zieht Bilanz und rechnet aus, als ob es um den Einkauf geht. Und ihr, die ihr so lieblos sprecht, ihr wagt es dann, ganz lauthals über jene herzuziehen, die glücklich in Gefühlen baden?

Wenn es nicht Liebe auf den ersten Blick ist, die euch umhaut, die von euch Besitz ergreift, dann wollt ihr sie nicht haben. Seid ehrlich zu euch selbst: Wie oft habt ihr das schon erlebt? Für euch verhält sich Liebe wie die magische Bohne, aus der ganz plötzlich eine Ranke bis zum Himmel wächst. Dass es auch anders geht, dass Liebe auch als zartes Pflänzchen reifen kann, das reichlich Zeit zum Wachsen braucht, das kommt euch gar nicht in den Sinn, denn wenn dann doch mal etwas keimt, stürmt ihr gleich mit der Sichel an.

Ihr seid so abgebrüht. Ihr wollt Pärchen im Park vergiften und amüsiert euch übers Glück der anderen. Wie kann man da Respekt vor euch haben? Ihr seid umgeben von Liebe, sie klopft sogar von Zeit zu Zeit an eure Tür, und alles, was ihr dafür übrig habt, ist Hohn aus eurer Burg. Wenn unerwartet Liebe zu euch kommt, dann schlagt und tretet ihr sie, bis sie stirbt, weil ihr doch lieber weiterhin in eurer kalten Festung wohnt. Ist es da ein Wunder, wenn die Liebe euch nichts gibt?

Ihr informiert euch über bio-chemische Prozesse, ihr theoretisiert und analysiert das Gefühl, doch Theorie wird euch nicht küssen, nie umarmen oder Wärme spenden können. Ihr phantasiert so gern von riesigen Gefühlen, jagt Schimären hinterher, die ihr aus Liebesfilmen kennt, ihr lest in Büchern über sie, von denen ihr in Wahrheit keine Ahnung habt, weil ihr noch nicht einmal die kleinen schätzt. Ihr lehnt sie ab, ihr macht sie schlecht, stets wollt ihr sie zerstören, ihr untergrabt und ihr verschandelt sie, wo immer ihr sie seht, ihr gönnt den anderen kein Glück.

Sind eure Abgebrühtheit, euer Hass, die zynische Verbitterung, die ihr mit eisgekühlter Brust dem Rest der Welt entgegenstellt, die ganze Missgunst und das kalte Herz denn nicht bloß Ausdruck eigener Enttäuschung? Wie wollt ihr jemals glücklich sein, wenn ihr den Schmerz so konserviert?

What if you had one day perfectly healthy, I asked? What would you do?
„Twenty-four hours?“
Twenty-four hours.
„Let’s see… I’d get up in the morning, do my exercises, have a lovely breakfast of sweet rolls and tea, go for a swim, then have my friends come over for a nice lunch. I’d have them come one or two at a time so we could talk about their families, their issues, talk about how much we mean to each other.
„Then I’d like to go for a walk, in a garden with some trees, watch their colors, watch the birds, take in the nature that I haven’t seen in so long now.
„In the evening, we’d all go together to a restaurant with some great pasta, maybe some duck – I love duck – and then we’d dance the rest of the night. I’d dance with all the wonderful dance partners out there, until I was exhausted. And then I’d go home and have a deep, wonderful sleep.“
That’s it?
„That’s it.“
It was so simple. So average. I was actually a little disappointed. I figured he’d fly to Italy or have lunch with the President or romp on the seashore or try every exotic thing he could think of. After all these months, lying there, unable to move a leg or a foot – how could he find perfection in such an average day?
Then I realized this was the whole point.
(Mitch Albom – Tuesdays with Morrie)