Schlagwortarchiv für: Klassenkampf

Wenn vom Klassenkampf die Rede ist, denkt man niemals an seine ganz alltäglichen Formen, an die rücksichtslose gegenseitige Verächtlichmachung, an die Arroganz, an die erdrückenden Prahlereien mit dem »Erfolg« der Kinder, mit den Ferien, mit den Autos oder anderen Prestigeobjekten, an verletzende Gleichgültigkeit, an Beleidigungen usw.: Soziale Verarmung und Vorurteile – letztere sind die traurigsten aller sozialen Leidenschaften – werden in diesen alltäglichen Kämpfen geboren, in denen stets die Würde und die Selbstachtung der beteiligten Menschen auf dem Spiel stehen. Das Leben ändern, das müßte auch heißen, die vielen kleinen Nichtigkeiten zu ändern, die das Leben der Leute ausmachen und die heute gänzlich als Privatangelegenheit angesehen und dem Geschwätz der Moralisten überlassen werden.
Pierre Bourdieu – Politik, Bildung und Sprache, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht

Was »Distinktion« ist, was »Unterschied« ist, läßt sich, so meine Ansicht, immer nur relativ sagen, in Beziehung zu anderem. Im Grunde heißt »distinguiert« sein: »nicht populär« sein – und sonst nichts. Per Definition sind die unteren Klassen nicht distinguiert; sobald sie etwas ihr eigen nennen, verliert es auch schon diesen Charakter. Die herrschende Kultur zeichnet sich immer durch einen Abstand aus. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Skifahren war früher ein eher aristokratisches Vergnügen. Kaum war es populär geworden, kam Skifahren außerhalb der eingefahrenen Pisten auf. Kultur, das ist im Grunde auch immer etwas »außerhalb der Piste«. Kaum bevölkern die breiten Massen die Meeresstrände, flieht die Bourgeoisie aufs Land. Das ist ein simpler Mechanismus, aber er ist wichtig, will man verstehen, warum der Begriff der »populären« oder Volkskunst ein Widerspruch in sich ist. Damit ist keineswegs behauptet, daß die unteren Klassen nichts hätten. Sie haben etwas und sie sind etwas, sie haben ihren Geschmack und ihre Vorlieben – nur läßt sich das häufig nicht zum Ausdruck bringen, und wenn doch einmal, dann wird es sofort objektiv entwertet. Auf dem Bildungsmarkt springt das ins Auge. Sobald die Vertreter der unteren Klassen dort ihre Sprache anbieten, bekommen sie schlechte Noten; da fehlt ihnen die richtige Aussprache, die richtige Syntax usw.
(Pierre Bourdieu – Die feinen Unterschiede, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)

Der [soziale] Raum, das sind hier die Spielregeln, denen sich jeder Spieler beugen muß. Vor sich haben die Spieler verschiedenfarbige Chips aufgestapelt, Ausbeute der vorangegangenen Runden. Die unterschiedlich gefärbten Chips stellen unterschiedliche Arten von Kapital dar: Es gibt Spieler mit viel ökonomischem Kapital, wenig kulturellem und wenig sozialem Kapital. Die sind in meinem Raumschema rechts angesiedelt, auf der herrschenden, ökonomisch herrschenden Seite. Am anderen Ende sitzen welche mit einem hohen Stapel kulturellem Kapital, einem kleinen oder mittleren Stapel ökonomischem Kapital und geringem sozialen Kapital: das sind die Intellektuellen. Und jeder spielt entsprechend der Höhe seiner Chips. Wer einen großen Stapel hat, kann bluffen, kann gewagter spielen, risikoreicher. Mit anderen Worten: Die Spielsituation ändert sich fortwährend, aber das Spiel bleibt bestehen, wie auch die Spielregeln. Die Frage ist nun: Gibt es Leute, die daran Interesse haben, den Tisch umzuwerfen und damit dem Spiel ein Ende zu machen? Das kommt wohl sehr selten vor. Ich frage mich, ob das überhaupt jemals der Fall war. Was stattfindet, das sind Auseinandersetzungen darum, ob ein Chip »ökonomisches Kapital« wirklich drei Chips »kulturelles Kapital« wert ist.
In meinen Augen sind viele Revolutionen ausschließlich Revolutionen innerhalb der herrschenden Klasse, d.h. in jenen Kreisen, die Chips besitzen und die auch mal auf die Barrikaden steigen, damit ihre Chips an Wert gewinnen.
(Pierre Bourdieu – Die feinen Unterschiede, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)

In jeder Hinsicht ist Kultur Ergebnis eines Kampfes. Das versteht sich von selbst, weil mit der Idee der Kultur auch immer die menschliche Würde auf dem Spiel steht. Das bedeutet, daß in einer Klassengesellschaft diejenigen, die von der Kultur ausgeschlossen sind, auch in ihrer Würde und in ihrer menschlichen Existenz getroffen sind und sich getroffen fühlen. Diejenigen wiederum, die die Kultur besitzen oder sich zumindest in ihrem Besitz wähnen (der Glaube ist hier wesentlich) vergessen ständig all die Leiden und Erniedrigungen, die im Namen dieser Kultur geschehen. Die Kultur ist hierarchisch organisiert und sie trägt zur Unter- und Überordnung von Menschen bei, wie etwa ein Möbel- oder ein Kleidungsstück, an denen man sofort erkennen kann, auf welcher Sprosse der sozialen und kulturellen Hierarchie sein Besitzer steht. Im Bereich der Politik, aber nicht allein dort, verurteilen die offiziöse Kultur und der von ihr beanspruchte Respekt diejenigen zum Schweigen, die nicht als Träger dieser Kultur anerkannt sind. Um aber die sozialen Kämpfe und Auseinandersetzungen um die jeweilige Kultur vollständig erkennbar zu machen, muß man immer wieder hinweisen auf jene Illusion, die aus der immer auch sinnlich-materiellen Erscheinungsweise von Kultur resultiert. Der Umstand, daß kulturelle Erscheinungen immer auch als sinnlich faßbare Äußerungen von Personen in Erscheinung treten, erweckt den Eindruck, als sei Kultur die natürlichste und die persönlichste und damit also auch die legitimste Form des Eigentums.
(Pierre Bourdieu – Politik, Bildung und Sprache, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)

Zu meinen, wenn man allen gleiche wirtschaftliche Mittel bereitstelle, gäbe man auch allen, sofern sie die unerläßliche „Begabung“ mitbrächten, gleiche Chancen (…), hieße in der Analyse der Hindernisse auf halbem Wege stehenbleiben und übersehen, daß die an Prüfungskriterien gemessenen Fähigkeiten weit mehr als durch natürliche „Begabung“ (…) durch die mehr oder minder große Affinität zwischen den kulturellen Gewohnheiten einer Klasse und den Anforderungen des Bildungswesens oder dessen Erfolgskriterien bedingt sind. (…) Das kulturelle Erbe ist so ausschlaggebend, daß auch ohne ausdrückliche Diskriminierungsmaßnahmen die Exklusivität garantiert bleibt, da hier nur ausgeschlossen scheint, wer sich selbst ausschließt. (…) Die Mechanismen, die zur Eliminierung der Kinder aus den unteren und mittleren Klassen führen, wären bei einer systematischen Stipendien- und Studienbeihilfepolitik, die alle Gesellschaftsklassen formal gleichstellen würde, fast ebenso (nur diskreter) wirksam; daß die verschiedenen Gesellschaftsklassen auf den verschiedenen Stufen des Bildungswesens ungleich vertreten sind, ließe sich dann mit noch besserem Gewissen auf ungleiche Begabung und ungleichen Bildungseifer zurückführen. Kurz, die Tragweite der sozialen Ungleichheitsfaktoren ist so groß, daß auch eine wirtschaftliche Angleichung nicht viel ändern würde, da das Bildungssystem immer weiter soziales Privileg in Begabung oder individuelles Verdienst umdeuten und die Ungleichheit dadurch legitimieren würde. (…) In der Überzeugung, daß man nur ordentlich zu rechnen brauche, um in der besten aller denkbaren Gesellschaften auch das beste aller Bildungswesen zu schaffen, verfallen die neuen optimistischen Philosophen der Sozialordnung in die alte Sprache aller Soziodizeen, die zu beweisen versuchen, daß die Sozialordnung so ist, wie sie sein soll, weil man ihre scheinbaren Opfer nicht einmal mehr zur Ordnung rufen muß, da sie ohnehin bereitwillig das sind, was sie sein sollen. Diese Bildungsforscher dienen stillschweigend der Funktion der Legitimierung und Bewahrung der Sozialordnung, die das Bildungswesen erfüllt, wenn es die Klassen, die es ausschließt, von der Legitimität ihres Ausschlusses überzeugt, indem es sie hindert, die Prinzipien, aufgrund derer es sie ausschließt, zu erkennen und anzufechten. Die Urteile der Bildungsinstanzen sind deshalb so definitiv, weil sie mit der Verurteilung zugleich Vergessen über die sozialen Implikationen des Urteils verhängen. Damit soziales Schicksal in freie Berufung und persönliches Verdienst umgedeutet werden kann (…), muß das Bildungswesen als „Oberster Priester der Göttin Notwendigkeit“ die Individuen erfolgreich davon überzeugen, daß sie ihr Schicksal, das durch die soziale Notwendigkeit längst über sie verhängt war, selbst gewählt oder verdient haben. Besser als die politischen Religionen, deren konstanteste Funktion (…) darin bestand, die herrschenden Klassen mit einer Theodizee ihres Privilegs auszustatten, besser als die Heilslehren vom Jenseits, die zur Perpetuierung der Sozialordnung durch das Versprechen beitrugen, diese Ordnung werde nach dem Tode umgestürzt, besser als die Doktrin vom Karma, die (…) den sozialen Rang jedes Individuums im Kastensystem aus dem Grad seiner religiösen Vollkommenheit im Kreislauf der Seelenwanderung ableitete, vermag es heute das Bildungswesen mit seiner Ideologie der „natürlichen Begabung“ und der „angeborenen Neigungen“, den Kreislauf der Reproduktion der sozialen Hierarchien und der Bildungshierarchien zu legitimieren.
(Pierre Bourdieu / Jean-Claude Passeron – Die Illusion der Chancengleichheit)