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Denken heißt zerstören. Der Denkvorgang opfert den Gedanken, denn Denken heißt auseinandernehmen. Könnten die Menschen das Geheimnis des Lebens sinnend erfahren, könnten sie die tausend Verstrickungen erahnen, die der Seele bei der geringsten Regung drohen, sie würden nicht einen Finger rühren, geschweigedenn leben. Sie würden vor Schreck vergehen, wie all jene, die Selbstmord begehen, um nicht anderentags unter der Guillotine zu enden.
(Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe)

Man kann jahrelang in nervöser Hast in der Stadt leben, es ruiniert zwar die Nerven, aber man kann es lange Zeit durchhalten. Doch kein Mensch kann länger als ein paar Monate in nervöser Hast bergsteigen, Erdäpfel einlegen, holzhacken oder mähen. Das erste Jahr, in dem ich mich noch nicht angepaßt hatte, war weit über meine Kräfte gegangen, und ich werde mich von diesen Arbeitsexzessen nie ganz erholen. Unsinnigerweise hatte ich mir auf jeden derartigen Rekord auch noch etwas eingebildet. Heute gehe ich sogar vom Haus zum Stall in einem geruhsamen Wäldlertrab. Der Körper bleibt entspannt, und die Augen haben Zeit zu schauen. Einer, der rennt, kann nicht schauen. In meinem früheren Leben führte mich mein Weg jahrelang an einem Platz vorbei, auf dem eine alte Frau die Tauben fütterte. Ich mochte Tiere immer gern, und jenen, heute längst versteinerten Tauben gehörte mein ganzes Wohlwollen, und doch kann ich nicht eine von ihnen beschreiben. Ich weiß nicht einmal, welche Farbe ihre Augen und ihre Schnäbel hatten. Ich weiß es einfach nicht, und ich glaube, das sagt genug darüber aus, wie ich mich durch die Stadt zu bewegen pflegte. Seit ich langsamer geworden bin, ist der Wald um mich erst lebendig geworden. Ich möchte nicht sagen, daß dies die einzige Art zu leben ist, für mich ist sie aber gewiß die angemessene. Und was mußte alles geschehen, ehe ich zu ihr finden konnte. Früher war ich immer irgendwohin unterwegs, immer in großer Eile und erfüllt von einer rasenden Ungeduld, denn überall, wo ich anlangte, mußte ich erst einmal lange warten. Ich hätte ebensogut den ganzen Weg dahinschleichen können. Manchmal erkannte ich meinen Zustand und den Zustand unserer Welt ganz klar, aber ich war nicht fähig, aus diesem unguten Leben auszubrechen. Die Langeweile, unter der ich oft litt, war die Langeweile eines biederen Rosenzüchters auf einem Kongreß der Autofabrikanten. Fast mein ganzes Leben lang befand ich mich auf einem derartigen Kongreß, und es wundert mich, daß ich nicht eines Tages vor Überdruß tot umgefallen bin.
Hier, im Wald, bin ich eigentlich auf dem mir angemessenen Platz. Ich trage den Autofabrikanten nichts nach, sie sind ja längst nicht mehr interessant. Aber wie sie mich alle gequält haben mit Dingen, die mir zuwider waren. Ich hatte nur dieses eine kleine Leben, und sie ließen es mich nicht in Frieden leben.
Marlen Haushofer – Die Wand

»Ich würde sagen, die Menge an Langeweile, falls Langeweile meßbar ist, ist heute viel größer als früher. Weil die damaligen Berufe, jedenfalls zu einem großen Teil, nicht ohne eine leidenschaftliche Neigung denkbar waren: die Bauern, die ihr Land liebten; mein Großvater, der schöne Tische zauberte; die Schuster, die die Füße aller Dorfbewohner auswendig kannten; die Förster; die Gärtner; ich vermute, sogar die Soldaten töteten damals mit Leidenschaft. Der Sinn des Lebens stand nicht in Frage, er begleitete sie, in ihren Werkstätten, auf ihren Feldern. Jeder Beruf hatte seine eigene Mentalität, seine eigene Seinsweise geschaffen. Ein Arzt dachte anders als ein Bauer, ein Soldat verhielt sich anders als ein Lehrer. Heute sind wir alle gleich, alle durch die gemeinsame Gleichgültigkeit für unsere Arbeit geeint. Diese Gleichgültigkeit ist eine Leidenschaft geworden. Die einzige große kollektive Leidenschaft unserer Zeit.«
Chantal sagte: »Aber sag mir doch: du selbst, als du Skilehrer warst, als du in Zeitschriften über Innenarchitektur geschrieben hast oder später über Medizin, oder als du als Zeichner in einer Tischlerei gearbeitet hast …«
»… ja, das habe ich am liebsten gemacht, aber es ist nicht gelaufen …«
»… oder als du arbeitslos warst und gar nichts getan hast, da hättest du dich doch auch langweilen müssen!«
»Alles hat sich verändert, als ich dich kennengelernt habe. Nicht, weil meine kleinen Arbeiten spannender geworden sind. Sondern weil ich alles, was um mich herum geschieht, in Stoff für unsere Gespräche verwandle.«
»Wir könnten von etwas anderem sprechen!«
»Zwei Menschen, die sich lieben, allein, von der Welt abgeschieden, das ist sehr schön. Aber womit würden sie ihr Tête-à-Tête ausfüllen? So verächtlich die Welt auch sein mag, sie brauchen sie, um miteinander reden zu können.«
Milan Kundera – Die Identität

»Am Ende meines Besuchs im Krankenhaus hat er angefangen, Erinnerungen zu erzählen. Er hat mir ins Gedächtnis gerufen, was ich mit sechzehn gesagt haben muß. In dem Moment habe ich den einzigen Sinn von Freundschaft, wie sie heute praktiziert wird, begriffen. Der Mensch ist auf sie angewiesen, damit sein Gedächtnis funktioniert. Sich an seine Vergangenheit zu erinnern, sie immer bei sich zu haben ist vielleicht die notwendige Voraussetzung dafür, die Integrität seines Ichs zu wahren, wie man so sagt. Damit das Ich nicht schrumpft, damit es sein Volumen behält, müssen die Erinnerungen begossen werden wie Topfblumen, und dieses Gießen erfordert den regelmäßigen Kontakt mit Zeugen der Vergangenheit. Sie sind unser Spiegel; unser Gedächtnis; man verlangt nichts von ihnen, außer daß sie von Zeit zu Zeit diesen Spiegel polieren, damit man sich darin anschauen kann. Aber mich interessiert nicht im geringsten, was ich auf dem Gymnasium gemacht habe! Was ich mir seit meiner frühen Jugend, vielleicht seit meiner Kindheit immer gewünscht habe, war etwas ganz anderes: die Freundschaft als oberster Wert. Ich sage oft: vor die Wahl zwischen der Wahrheit und dem Freund gestellt, wähle ich immer den Freund. Ich sagte es, um zu provozieren, aber ich meinte es ernst. Heute weiß ich, daß diese Maxime archaisch ist. Sie mochte für Achill gelten, den Freund des Patroklos, für Alexandre Dumas’  Musketiere, sogar für Sancho, der trotz all ihrer Zwistigkeiten ein echter Freund seines Herrn war. Aber sie gilt nicht für uns. Ich gehe in meinem Pessimismus so weit, daß ich heute bereit bin, die Wahrheit der Freundschaft vorzuziehen. (…) Die Freundschaft war für mich der Beweis, daß es etwas Stärkeres gibt als die Ideologie, als die Religion, als die Nation. In Dumas’ Roman befinden sich die Freunde oft in gegnerischen Lagern, so daß sie gezwungen sind, gegeneinander zu kämpfen. Aber das ändert nichts an ihrer Freundschaft. Sie helfen einander trotzdem heimlich, listig und setzen sich über die Wahrheit ihres jeweiligen Lagers hinweg. Sie haben die Freundschaft über die Wahrheit, die Sache, die Befehle von oben gestellt, über den König, über die Königin, über alles.«
Milan Kundera – Die Identität

Deinem Leben fehlt die Würze,
es geschmacklich abzurunden,
mäkeln sie und streun dir darum
reichlich Salz in deine Wunden.

(2010/2014)

Als ich die Worte zum ersten Mal aus seinem Mund vernahm, fand ich sie furchtbar flach: »Wir alle brauchen manchmal einen Lotsen«.

Dieser nichtssagende Satz, diese inhaltsleere Belanglosigkeit war einer seiner Lieblingssprüche, sein Mantra, seine Lösung für alles und seine Lösung für jeden. Nun, für fast jeden, muss ich ergänzen. Er selbst, der große Kapitän, schien keinen Lotsen nötig zu haben, auf keiner Reise seines Lebens, nein, im Gegenteil, stets bot er sich anderen als Beistand an, weil er wohl glaubte, er sei der einzige, der verstanden habe, wo im Leben die Untiefen liegen und welche unsicheren Gewässer es zu meiden gilt.

Es war ein Satz wie einer dieser unerträglich optimistischen Kalendersprüche, die Unzufriedenen das Leben etwas freundlicher gestalten sollen und in ihrer Botschaft so belanglos, so stupide sind, dass niemand je etwas Vernünftiges dagegen einzuwenden vermag. Was hätte jemand auch gegen diesen Satz einwenden sollen? Er war ja richtig. Das war es, was mich daran zur Weißglut brachte. Ausgerechnet er musste es sein, der mir diesen bedeutungslosen Satz mit einer Ernsthaftigkeit vorpredigte, so als wüsste er genau, worum es im Leben gehe und wie man es sich einzurichten habe. Er wähnte sich nicht nur als stolzer Kapitän seines eigenen, windschnittigen Lebens und Lotse der Leben aller anderen, sondern gleich als Kartograf für Leben überhaupt. In meinen Augen war er ein arroganter, chauvinistischer Idiot.

Mit der Zeit fing ich an, diesen Satz zu hassen, und dadurch letztlich auch dessen Urheber. Er machte mich rasend, zumindest innerlich, und ich musste mich schier beherrschen, ihm nicht offen ins Gesicht zu fauchen. Mit einer gelassenen Regelmäßigkeit wagte er es hin und wieder, diese Plattitüde in Diskussionen einzustreuen, die er mit mir führte, oder den Satz zu variieren, ihm ein Trojanisches Pferd als Vehikel zu konstruieren und ihn einer Metapher unterzuschieben, damit die Worte nachts hervorkommen und in meinem Kopf ihre Wirkung entfalten konnten. Wenn er sich mit anderen unterhielt oder wenn wir in einer Gruppe unterwegs waren und er jemandem diesen Tipp, diese Nichtigkeit zuteilwerden ließ, blickte er mit einem süffisanten Lächeln in meine Richtung, so als wollte er ganz sicherstellen, dass ich den Satz auch zweifellos vernommen hätte.

Warum war es ihm so wichtig, mir diesen Satz immer und immer wieder unter die Nase zu reiben? Es kotzte mich ehrlich gesagt an. Ich war doch Kapitän meines eigenen Lebens und ich brauchte keinen Lotsen. Schon gar nicht ihn!

Was also wollte er mir mit diesem dümmlichen Satz sagen, was passte ihm nicht an mir? Ich verstand es nicht und ich wusste nicht, ob ich es überhaupt verstehen wollte.

In den folgenden Monaten hatten wir selten miteinander zu tun, wir trafen uns nur dann und wann rein zufällig, so auch an Silvester. Wir plauderten ganz oberflächlich über dieses und jenes, denn auch ihm musste aufgefallen sein, dass unser Kontakt sich verringert hatte. Bei einem Bier erzählte ich ihm kurz von jenen Dingen, die mich zu dieser Zeit bewegten, belasteten, ganz normaler Alltagskram, und er sprach bloß leicht angetrunken von einem Schiff, das auf Grund laufen würde, wenn ihm ein Lotse fehlte, denn schließlich bräuchte selbst der beste Kapitän manchmal einen Lotsen und so weiter. Er spulte sein Programm ab.

Mir war klar, dass er mich meinte. Ich würde mit meinen Problemen auf Grund laufen, wenn nicht er, der große, allwissende Lotse mich retten würde. Arschloch! Er kam sich in diesem Moment sicher unglaublich lustig und überlegen vor, und es war wieder einmal typisch für ihn, der glaubte, ich hätte nur auf seine, gerade seine rettende Hilfe gewartet. Sah ich so aus, als hätte ich das nötig? Nein! Er konnte mich mal.

Als er mir von seiner neuen Wohnung vorzuschwärmen begann, hörte ich ihm schon nicht mehr richtig zu. Völlig unverbindlich ließ ich mir das Versprechen abringen, ihn irgendwann einmal besuchen zu kommen, und verschwand sofort darauf im anonymen Trubel der Silvesterfeiernden. Ich sah noch, wie er mir nachwinkte. Er schien mit dieser Antwort glücklich zu sein, aber ich hatte nicht vor, ihn tatsächlich zu besuchen.

Ein Jahr verging, in dem ich ihn kaum sah. Jedes Mal, wenn es doch geschah, lebte in mir die Erinnerung an jenen Satz auf. Ich vermied es schließlich vollends, ihm zu begegnen, und ging ihm aus dem Weg. Es war keine bewusste Entscheidung, die mich dazu gebracht hatte, sondern dieses auf eine vage Art verunsichernde Gefühl, das mich überkam, wenn ich durch ihn an seinen Satz erinnert wurde. Ich ertappte mich dabei und fand es albern, konnte mich allerdings nie überwinden, ihn einfach anzurufen oder ein Treffen mit ihm zu vereinbaren. Mir fiel wieder ein, dass er in der Stadt eine neue Wohnung gefunden hatte und ich nun weder seine neue Anschrift noch seine Telefonnummer besaß. Das beruhigte mich, denn selbst wenn ich ihn hätte erreichen wollen, so hätte ich es nicht gekonnt. Es lag nicht in meiner Macht.

Er wiederum machte ebenso wenige Anstalten, sich bei mir zu melden, und so vergaß ich ihn fast, bis ich eines Tages im Supermarkt auf jemanden traf, den er mir einst als einen Freund vorgestellt hatte. Unschlüssig, ob ich diesen Freund einfach ansprechen sollte, blieb ich zwischen den Regalen stehen und dachte nach, bis mir die Entscheidung abgenommen wurde und er seinerseits auf mich zukam. Von der Situation überrumpelt, entfuhr mir ein »Hallo!«, er aber griff bloß nach einer Packung Cornflakes. Ich stand genau davor. Das war alles. Wortlos musterte er mich, bis ich ihn schließlich unbeholfen fragte, ob er sich an mich erinnere, wir hätten einen gemeinsamen Freund, und wo dieser gemeinsame Freund denn hingezogen sei. Sein Gesicht verriet mir, dass er mich erkannte. Zunächst erstaunt, dann bedrückt sah er mich an, bejahte, sah sich um, als seien seine Worte für diesen Ort ungeeignet, und sprach in gedämpftem Ton:

„Du weißt es noch gar nicht, hm? Man fand ihn vor, ja, knapp anderthalb Monaten in seiner Wohnung. Tabletten oder so. Er hatte sogar einen Abschiedsbrief geschrieben, na ja, mehr eine Abschiedsnotiz: »Ohne dich laufe ich auf Grund«. Seltsam, was? Niemand weiß, wen oder was er damit gemeint hat.“

Und da verstand ich seinen Satz.

Ich habe letzte Nacht von dir geträumt, von uns, von den Wegen, die wir gemeinsam hätten gehen, den Geheimnisse, die wir alle hätten teilen können, von dem, was wir einst waren, und von dem, was wir noch alles hätten sein können. Die Träume sind der letzte Ort, an dem ich dir noch nah sein kann. Es ist vorbei, habe ich gedacht, und ich käme damit klar. Nun aber verbringe ich meine Tage im Bett, manchmal achtzehn Stunden und mehr, weil doch mit dir der letzte Grund zum Aufstehen schwand. Schlafen jedoch kann ich kaum, und ob ich wach bin oder nicht, meine Gedanken drehen sich um dich, um das, was von dir noch immer in mir übrig ist. Du bist in mir eingezogen, damals, als wir uns kennenlernten, und als du gegangen bist, hast du deine Sachen einfach in mir zurückgelassen. Sie stehen in meinen Räumen herum und erinnern mich an dich, sie belegen so viel Platz in meinen Kammern, dass mir zum Leben keiner bleibt. Mein Appetit hat mir den Rücken zugekehrt, genau wie du, doch ohne Nahrung kann ich überleben, bloß ohne dich fällt mir das reichlich schwer.

Mit Tränen gehe ich in jede Nacht und meine Augen sind am nächsten Tag so schwer wie rot. Morgens treibt mich nur die Hoffnung an, du könntest dich heute bei mir melden. Abends bange ich dann vor dem Schlafengehen, vielleicht ja meldest du dich morgen. Was zwischen diesen Punkten liegt, ist jene Zeit, in welcher ich ein Leben simuliere, frech und selbstbewusst, das sorglose Mädchen; diese Zeit, in der ich hoffnungslos versuchen muss, mit Kopf und Herz nicht jeden Augenblick bei dir zu sein. Ohne ein Zeichen von dir sind meine Tage leer.

Wann immer ich in letzter Zeit durch diese Stadt schlenderte, in der dein Leben das meine zum ersten Mal betrat, fühlte ich die Aura deiner Anwesenheit. Hier lebst du, arbeitest du, verbringst du deine Tage. Hier lachten wir, sprachen wir, teilten wir ein Dasein miteinander. Es ist deine Stadt, das war sie schon, als wir uns kennenlernten, und sie liegt vor mir wie ein Mahnmal, wie ein Tor zu einer besseren Zeit. Hinter jeder Ecke könntest du hervorkommen, auf jeder Straße könntest du spazieren, und tatsächlich wartest du auf mich an jedem Ort. Nicht du, nicht als Person, aber als Erinnerung, als Gespenst meiner Vergangenheit, unserer Vergangenheit, das mich auf Schritt und Tritt verfolgt. Du hast die Stadt für mich unbenutzbar gemacht, denn über allem liegt der Schleier deines Wesens. Keinen Meter kann ich gehen, ohne dass du mir erscheinst. So wie du mich im Schlaf in jeder Nacht verfolgst, verfolgst du mich bei jedem Schritt.

Du weißt, es beschränkt sich nicht auf eine leere Metapher, wenn ich dir sage, dass du für mich die Welt gewesen bist. Alles hier erinnert mich an dich. Die Stadt, sie schmeckt nach dir, sie riecht nach dir, der Wind verbreitet deinen Duft, die Häuser erzählen Geschichten über dich, die Brunnen speien dein Wasser. Straßen, Gebäude und Menschen erschöpfen sich in ihrer Relation zu dir, ich nehme sie wahr als Kulissen und Komparsen unseres vergangenen, gemeinsamen Lebens. Ich bewegte mich wie auf Schienen mit dir, war durch dich Zug geworden, der seine Gleise immer mit sich führt, was links und rechts von uns geschah, war mir egal, denn Augen hatte ich doch bloß für dich. Mit dir war alles schön, schon weil du da warst. Heute aber sind die Weichen umgestellt, die alten Trassen am Verrotten.

Mit bebendem Herzen kreuze ich in diesen Tagen dann und wann den weiten Platz, auf dem der kleine Brunnen steht, an dem wir uns so viele Nächte um die Ohren schlugen, bis das Morgenlicht uns unterbrach. Fast jeden Tag betrete ich den menschenleeren Bahnsteig, an dessen Ende du so oft auf mich gewartet hast. Wenn ich irgendwo bloß einen Zug vorüberrauschen sehe, fahre ich im Traum zu dir. Mit mattem Blick verfolge ich die Straßenbahn, die auch zu deiner Straße führt. An jeder Haltestelle suche ich nach dir. Manchmal schlendere ich durch den Park, in dem wir auf der Wiese saßen, um uns die Sterne anzusehen, doch wenn ich heute in den Himmel blicke, zeigt jedes Sternenbild bloß dein Gesicht. Wie Splitter der Vergangenheit sind all die Kneipen, Clubs und Restaurants, in denen wir zusammen saßen, tanzten und lachten, lose über diese Stadt verstreut. Wenn ich dort heute etwas trinken gehe, trinke ich dabei auf dich, und wenn ich hier und da ein wenig Nahrung zu mir nehme, hungere ich dabei nach dir.

Wie gern wir beide im Theater waren, wie oft wir Lesungen besuchten, das hat sich eingebrannt in meinen Kopf und geht dort niemals wieder raus. Bei jeder Vorstellung, bei jedem Wort, bei jedem Kunstwerk und bei jedem Exponat bist du im Geist noch immer neben mir und darum meide ich das alles nun fast ganz, aus Furcht, du könntest in der Menge sein. Manchmal lese ich in deinen Briefen, die du mir geschrieben hast, und wenn ich heute Post empfange, hoffe ich, sie ist von dir. All die Bands, die du so mochtest, sind mir keine Freude mehr, und in den Büchern, über die ich mit dir sprach, wohnst du auf ewig zwischen allen Zeilen. Alles Schöne, das ich neu für mich entdecke, jedes Buch, in dem ich mich verlieren kann, jeden Film, der mich begeistert, alles will ich weiterhin so gerne mit dir teilen – und dann denke ich mit tiefem Seufzen: ja, das würde dir gefallen.

Selbst meine Wohnung ist nicht länger mein Zuhause, die Dinge sprechen alle nur von dir. Ich bin hier niemals mehr allein. Jedes Klingeln führt mich hoffnungsfroh an meine Tür, doch hat sie mich noch allemal enttäuscht. Ich warte auf E-Mails, die nicht kommen, starre auf Telefone, die nicht klingeln. In meiner Küche stand ich nicht, seit wir gemeinsam dort zugange waren, und liege ich in meinem Bett, erdrückt mich deine Abwesenheit. Es fühlt sich leer an, denn du fehlst, nicht nur in meinem Bett, vor allem in meinem Leben.

Ich werde diese Stadt nicht länger ertragen können. An jeder Ecke treffe ich auf dich, ohne dich je berühren zu können; allerorts erscheinst du mir, an jeder Wand, in jeder Spiegelung auf einer Scheibe, auf dem Asphalt und in der Luft, ohne wirklich bei mir zu sein. Überall verstecken sich Gespenster. Bei jedem Menschen, der dir ähnelt, beginnt es schnell in mir zu pochen, bis die Hoffnung still verwelkt. Wie Fata Morganas schreiten deine Erscheinungen durch diese Stadt und blenden mich, doch keine davon stillt den Durst.

Nicht bloß die Stadt verkommt für mich zur Krypta unserer Vergangenheit. Bald wird er losgehen, der ungelenke Tanz durchs Minenfeld meiner Freunde, die sich zweifellos an dich erinnern werden, weil ich ihnen von dir vorliebte, ihnen alles über dich erzählte, mit einer Verve, wie das nur jemand kann, der dir von Kopf bis Fuß verfallen ist. Erzählt man etwas, dann verfestigt es sich mit jedem noch so kleinen Wort als Realität, und wenn es schiefgeht, dann wird es zur Hölle. Sie werden sich nach dir erkundigen, sie werden wissen wollen, was du machst und wie es dir so geht. Wie war noch gleich sein Name, werden sie mich beiläufig fragen, und während ich genau weiß, von wem die Rede ist, weil ich dich niemals vergessen kann, werde ich doch nichts anderes hervorbringen als: Wen meinst du? Wenn aber jemand deinen Namen ausspricht, kann man für einen kurzen Moment in meinen Augen sicher Welten aufblitzen sehen, ganze Galaxien, bevor sie kurz darauf als Schatten unbemerkt vergehen.

Glauben kann ich es dir nicht, dass da bei dir nichts mehr war, kein Wunsch nach Zukunft, kein Gefühl, und ich denke nicht einmal, dass du dir selbst das alles glaubst. Wo wir nun stehen, wäre mir begreiflicher, wenn es nicht du gewesen wärst, der diesen Stein erst ins Rollen gebracht hatte, der mit mir flirtete, ganz offensiv, obwohl du sonst so schüchtern bist. Dein Strahlen jedes Mal, wenn wir uns irgendwie begegneten, erwärmte meine ganze Welt. Ich fühlte, du bist mein Zuhause, und ich wollte dir das deine sein. Mein Lächeln muss mich schon von Anfang an verraten haben, diese Maske einer hoffnungslos Hoffnungsvollen, dieses gutmütige Grinsen, weil ich gänzlich glücklich war, und du, du lächeltest zurück.

Immer warst du so bemüht, mich fasziniert auf unsere Gemeinsamkeiten hinzuweisen, auf alle noch so kleinen Zufälle, auf die gewöhnlichen Ereignisse, die nicht mehr so gewöhnlich waren, weil du sie gleich mit mir verbunden hast und ich sie wiederum mit dir. Zwischen uns gedieh eine Art geistiger Intimität und wir vervollständigten uns, als hätten wir das immer schon getan. Du warst fröhlich, wenn wir Dinge zeitgleich erledigten, ohne uns irgendwie abgesprochen zu haben, oder wenn uns ein und dasselbe völlig unabhängig voneinander gefiel. Es waren solche Banalitäten, die dich glücklich machten, selbst wenn die Welt dir gerade lästig war, und ich war glücklich, schon weil du es warst.

Du merktest dir so vieles, was ich dir erzählte, all die Dinge, die ich mag. Ich stand für dich im Licht, war Sammelstelle deiner Aufmerksamkeit und das zeigtest du mir deutlich, nur zugegeben hättest du es nie. Noch über die dümmsten meiner Witze hast du gelacht, wie das nur jemand kann, der nicht mehr ganz bei Trost oder ernsthaft verliebt sein muss, was unterm Strich ja irgendwie das Gleiche ist, mit einem herzlich schönen Lachen, dem ich im ersten Augenblick sofort verfiel.

Du hast dich einmal als einen Menschen bezeichnet, der zuallererst an sich denkt, und dennoch machtest du so viel für mich, du sorgtest dich um mich, du wolltest, dass ich mich bei dir wohlfühle. Für jemanden, der nur an sich denkt, hast du erstaunlich viel an mich gedacht. Ich nahm in deinem Leben einen so großen Raum ein, dass es mir schon beinahe unangenehm wurde. Am Ende unserer Treffen hast du mich kein einziges Mal einfach so fortgehen lassen, ohne mir zwischen Tür und Angel nicht noch Vorschläge für ein Wiedersehen ans Herz zu legen. Deine Phantasie überschlug sich bei dem hölzernen Versuch, neue Vorwände für ein Treffen zu erdenken, mit einer beiläufigen Art, die sicher deine Schüchternheit verbergen sollte, die du immer schon für unmännlich gehalten hast. Dir lag etwas daran, dass wir uns wiedersehen, das war es, was für mich von alldem hängenblieb. Du organisiertest deine Zeit um mich herum, um meine Manifestation in deinem Leben, während ich dich sachte in dem meinen verankerte, als bautest du in meinem Vorhof dein Quartier. Ich nahm mir meine Zeit für dich, ich nahm mir alle Zeit der Welt. Heute willst du sie nicht mehr.

Es spielt keine Rolle, was ich glaube und was tatsächlich deine Gründe waren, denn es bringt uns nicht wieder zusammen, macht aus den Trümmern nicht mehr eins.

Meine Briefe, in denen ich dir schrieb, wie viel du mir bedeutest, hast du leider nie beantwortet, und meine Vorschläge, was wir gemeinsam unternehmen könnten, schlägst du seitdem alle aus. Du warst mit einem Mal wie ausgewechselt, kamst mir vor wie ein Magnet, dessen Polarität sich schlagartig verändert hatte. Was mir gefiel, konntest du plötzlich nicht mehr ausstehen. Bei jeder Angelegenheit, in der wir immer einer Meinung gewesen waren, behauptetest du nun das Gegenteil. Wenn wir uns doch noch einmal trafen, brachtest du stets irgendwelche Freunde mit, Bekannte oder Arbeitskollegen. Mein Eindruck war, es hätten Unbekannte sein können, solange das für dich bedeutete, nicht mit mir allein zu sein, als sei ich über Nacht zu einer düsteren Bedrohung geworden, die nur als Gruppe überhaupt bezwungen werden kann.

Du wolltest es mir verwehren, dich auch weiterhin zu mögen, so wie jemand, der einem armen Bettler etwas Geld verwehrt, nicht weil er selbst ein böser Mensch ist, sondern um die Brieftasche nicht öffnen zu müssen. Es sticht schon höllisch in der Brust, wenn man ernüchtert feststellen muss, dass eine Liebe nicht erwidert wird, doch wenn die eigenen Gefühle noch als Zumutung empfunden werden, ist das wie Starkstrom mitten durch das Herz. Du hast keine Vorstellung davon, wie sehr es schmerzt, auf einmal so behandelt zu werden. Nun muss ich mir ansehen, wie austauschbar ich allem Anschein nach für dich geworden bin. Ich wollte bei dir ankommen, aber für dich war ich in deinem Leben nur zu Gast.

Du konntest nie richtig begreifen, wieso ich etwas an dir fand, weshalb ich etwas an dir mag. Womöglich war ich dir nicht überzeugend genug, aber musste wirklich ich dich überzeugen oder nicht viel eher du dich selbst von deiner Liebenswürdigkeit.

Menschen wie du und ich machen sich mit ihrer Nachdenklichkeit das Leben so unnötig schwer. Gemeinsam hätten wir leichter sein können, leicht genug zum Fliegen, doch abzuheben trautest du dich nie. Ich baute für dich Brücken, wo keine Flüsse, Häuser, wo keine Städte, Tunnel, wo keine Berge waren. Du warst mein Leuchtturm in der Nacht, der selbst noch strahlt und mir als Reisendem die Richtung weist, wenn alles Sonstige in Dunkelheit versinkt. Es hat vor dir schon Andere in meinem Herzen gegeben, doch ich machte dich zum Allerersten und du wirst für mich der Letzte bleiben. Welche Zukunft es mit dir gegeben hätte, weiß ich nicht. Ohne dich gibt es keine Zukunft. Nach dir kommt nichts. Es gibt keine Zukunft mehr, nicht einmal Gegenwart, bloß noch Vergangenheit.

Was ich noch an Hoffnung hatte, setzte ich auf dich und verlor sie ein für alle Mal. Mit wachsender Verzweiflung habe ich versucht, sie zu bewahren. Jedes deiner Worte, auch die ungesagten, drehte ich in meinem Kopf herum, bis ich schließlich einen Ansatz fand, eine Interpretation, die mir ein wenig Zuversicht versprach. Deine Worte waren meine Hypothek, auf deren Darlehen ich mein Leben errichtete. Jeden meiner Schritte machte ich auf einem Steg aus Hoffnung, den ich mir aus den Brettern deiner Worte gezimmert hatte, bis es jeden Tag etwas weniger wurde, an dem ich mich noch festhalten, auf das ich mich noch stützen, mit dem ich mir einen Weg nach vorne hätte bauen können. Du warst meine letzte große Hoffnung auf Zukunft.

Sein ganzes Leben ist der Mensch ein Baum im Wind. Er trotzt den Gewalten, die auf ihn einwirken, er stemmt sich ihnen entgegen, tagein und tagaus, doch wenn der Baum erst einmal angesägt ist, genügt ein leichter Stoß, um ihn zu Fall zu bringen. Gesägt haben an mir schon viele, aber erst du hast mir den Stoß versetzt. Nun bin ich am Boden, habe keine Energie mehr, keine Kraft, um wieder aufzustehen. Je näher man jemanden an sich heranlässt, desto kürzere Messer braucht er. Meine Rüstung, die ich mit mir durchs Leben trage, mein Panzer, der mich vor der Welt beschützt, er ist verbraucht und abgenutzt.

Es gibt keinen unbegrenzten Vorrat an Energie, den man in ein Leben stecken kann. Jede frische Verletzung zehrt an den Kräften, bis irgendwann die Kraft erlischt. Eines Tages wächst einfach keine Haut mehr, wo eine neue Wunde entsteht. Der innere und der äußere Tod sollten in einer idealen Welt zur gleichen Zeit vonstattengehen, doch bei den meisten Menschen ist das nicht der Fall, denn unsere Welt ist alles andere als ideal. Es heißt, die Hoffnung stirbt zuletzt, doch meint das Sprichwort wirklich deren Langlebigkeit, oder bedeutet es denn nicht viel mehr, dass nach dem Tod der Hoffnung nichts mehr bleibt, das dann noch sterben kann. Wie sehr rühmt sich die moderne Medizin, Menschen am Leben erhalten zu können, aber was hilft das, wenn man im Inneren schon lange nicht mehr lebt. Es gibt keine Maschinen, keine lebensverlängernden Maßnahmen, an die man die Hoffnung eines Menschen anschließen könnte. Der biologische Tod wird reduziert auf eine Formsache.

Mach dir nichts draus, das Leben geht weiter, sagen sie dir mit herablassendem Mitleid. Ja, es geht weiter, denn das Hinterhältige an gebrochenen Herzen ist, dass der andere seine Tat nicht vollendet, sie nicht konsequent zum Abschluss führt, weil er einen nie wirklich umbringt. Man ist leer, ausgelaugt, verbraucht, man blickt in ein Schwarzes Loch und überschreitet den Ereignishorizont, man wird hineinsogen und kommt nicht mehr heraus. Das Leben geht weiter, ja, aber man selbst lebt nicht weiter, man existiert bloß noch vor sich hin.

Auch ich füge mich ein ins Heer der wandelnden Toten. Erst verliert man die Hoffnung und dann sich selbst. Nichts hat für mich noch irgendeine Bedeutung. Ich kann nichts mehr fühlen, wenn es nicht mit der Vergangenheit verbunden ist, mit dir. Ich spüre keine Gegenwart, nicht einmal Schmerz, nicht einmal Wut, schon gar nicht Liebe. Wie das Archiv einer längst vergangenen Kultur verwalte ich die Sammlung meiner Emotionen, aber es kommen keine neuen mehr hinzu. Du hast den Menschen aus mir entfernt.

Es gibt so viele wie mich. Ich sehe sie jeden Tag, kann sie durchschauen, sie sind leer, und doch simulieren sie ein Leben, genau wie ich, sie gehen ihrer Arbeit nach, sie essen und schlafen wie jeder andere Mensch auch. Das Scheitern beginnt, wenn man nicht mehr fragt, was man will, sondern bloß noch, was man kann. Mein Schicksal ist es, tot zu sein und weiterleben zu müssen. Ich wollte dir alles geben, du hast mir alles genommen. Nicht aus böser Absicht, vermutlich nicht einmal bewusst, doch unterm Strich zählt letztlich nur, wie alles endet. Du sagtest mir zum Abschied noch, ich sei ein unglaublicher Mensch, wie du ihn nie zuvor getroffen hast, doch was bedeutet das schon, wenn du mich daraufhin kalt abservierst. Ich bin in meinem Leben eine Fremde geworden.

Andere würden sagen, ich hätte meine Zeit mit dir verschwendet, aber verschwendet war sie nie, denn sie hat mich, wenn auch nur vorübergehend, zu einem glücklichen Menschen gemacht.

Es gäbe noch so vieles, das ich dir gerne sagen würde, so viel Unausgesprochenes, das noch auszusprechen wäre, doch ich werde dir nie wieder schreiben, ich werde mit dir nie wieder reden, ich werde dich nicht mehr zum Lachen bringen und dir keine Nachrichten mehr auf der Mailbox hinterlassen Ich werde dir keine Fragen mehr stellen und mich nicht länger für dein Leben interessieren, weil ich die Antworten nicht ertragen würde. Du wirst kein Lebenszeichen von mir erhalten, weil es dieses Leben nicht mehr gibt, das auf sich aufmerksam machen könnte. Wie sagt man jemandem Lebewohl, ohne den man nicht leben kann.

In dieser Stadt ist kein Platz mehr für mich, genauso wenig wie in deinem Leben. Was mich hier noch hält, ist mir ein Rätsel. Ziellos streife ich durch die Straßen dieser Stadt und ich wünschte mir dabei, ich wäre Nero. Ich möchte dich nicht nur vergessen, dich in meinem Kopf nicht bloß verblassen sehen, ich möchte sämtliche Andenken an dich vollständig ausradieren, in mir wie in der Welt. Diese Stadt soll brennen, sie soll verglühen und in Rauch aufgehen, denn sie ist für mich unbegehbar geworden. Ich möchte Feuer legen, rasend alles niederreißen, ich möchte sie zerstören, noch bis hinunter auf den letzten Stein. Die ganze Welt kann untergehen, es wäre mir egal. All die von dir besetzten Gebäude und meine Erinnerung an dich sollen ein für alle Mal in Flammen aufgehen und zu Asche zerfallen, woraus ich als Phönix neu hervorgehen kann.

Vielleicht ja würde es in einigen hundert Jahren eine Gruppe von Archäologen zu den Trümmern dieses lieblosen Ortes führen und sie würden sich eventuell fragen, was hier wohl vorgefallen sein mag. Es wäre nur ein weiteres Puzzleteil in der unendlichen Geschichte der Morde, Kriege und Zerstörungen aus purer Verzweiflung an menschlicher Liebe. Sie ist die edelste aller Kräfte, die auf einen Menschen jemals wirken kann, aber auch die unbarmherzigste und vernichtendste. Wie viele Burgen und Festungen, wie viele Städte und Reiche, wie viele Machthaber und Imperien gingen bereits zugrunde, nur weil ein Mensch sein Herz verlor.

Auch ich habe dich belagert, wenn man es so ausdrücken möchte, aber deine Mauern waren zu stark, dein Bollwerk zu massiv, und dennoch rannte ich voll Freude mit dem Herz dagegen an. Du hast dich am Ende gegen mich entschieden, hast deine Zugbrücke hochgefahren, als ich noch auf ihr stand. Nur zu gerne wäre ich ein wütendes Inferno, das mich wie alles andere im Flammenmeer verschlingt, doch statt den Glaspalästen in der Innenstadt, die mit Getöse auseinanderbrechen, ist es bloß mein Glück. Die Welt bleibt kalt und unberührt, während mein Innerstes heimlich verbrennt.

Dann geht es weiter, das Leben, die dunklen Wolken ziehen aus dem Kopf, ich esse wieder auswärts und mache mein Haar, ich trinke Cocktails und gehe ins Büro, ich flirte und lache und bin normal und habe keine Angst vor dem nächsten Tod. Der nächste wird wieder der letzte sein. Ich bin drei Mal schon gestorben und immer habe ich mir eingeredet, diesmal sei es besonders schlimm, und ich glaube, das ist gut. Das Leiden gehört dazu, wenn es schiefgeht, es zeugt von Bedeutung, es zeugt von Gefühlen, es zeugt von mir. Schlimm ist es erst, wenn man nicht mehr stirbt.

Ich begreife mein Verharren in diesem immer gleichen Leben, diesem Staub, diesem Schmutz an der Oberfläche des Nie-Veränderns einzig als ein Fehlen persönlicher Hygiene.
So wie wir unseren Körper waschen, sollten wir auch unser Schicksal waschen, das Leben wechseln wie Wäsche – nicht, um uns am Leben zu erhalten, wie durch Nahrung oder Schlaf, sondern aus jener wertfreien Selbstachtung, die genau wir Hygiene nennen.
Bei vielen Menschen ist dieser Mangel an Hygiene nicht etwa als bewußt gewollt zu verstehen, sondern vielmehr als ein Achselzucken ihres Intellekts. Und bei vielen ist ein immer gleiches stumpfsinniges Leben nicht auf eine freie Entscheidung zurückzuführen oder auf ein natürliches Sich-Schicken in eine ungewollte Existenz, sondern auf eine getrübte Wahrnehmung ihrer selbst, auf einen ironischen Automatismus ihres Intellekts.
Manchen Schweinen widerstrebt die eigene Schweinerei, dennoch lassen sie nicht ab von ihr, und zwar aus dem gleichen übersteigerten Gefühl heraus, aus dem ein verängstigter Mensch die Gefahr nicht flieht. Wie ich suhlen sich manche Schweine in ihrem Schicksal und lassen, fasziniert vom eigenen Unvermögen, nicht ab von der Banalität ihres Lebens. Sie sind wie Vögel, die allein der Gedanke an die Schlange fesselt, wie Fliegen, die blindlings Baumstämme umkreisen, bis sie in die klebrige Reichweite einer Chamäleonzunge geraten.
Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe

Es ist ein verregneter Samstagabend und ich sitze mit dir in einer kleinen Kneipe in Frankfurt Bockenheim. Du trägst Jeans und ein rotes Oberteil, dein Haar ist zu Zöpfen gebunden, du rauchst. Zuvor sind wir essen gewesen, beim Perser, ich habe dich eingeladen, du hast einen ehemaligen Mitbewohner getroffen, dann sind wir kurz durch die Nacht spaziert. Nun trinken wir Cocktails, wir unterhalten uns, wir werden kritisch, wir werden traurig, wir lachen und spinnen herum. Du bist jemand, bei dem ich sein kann, wer ich bin, ohne Unverständnis zu provozieren, ohne mich verstellen zu müssen, ohne Erwartungen zu begegnen, die mir so fremd sind wie eine außerirdische Kultur. Wir teilen eine Sicht auf die Welt, auf das, was uns stört, was wir mögen, und ich merke, ich mag vor allem dich.

Wir stehen uns politisch nahe, wenn man das so ausdrücken kann. Uns eint der Kampf gegen die Übel dieser Welt, doch Hoffnung treibt dich dabei nicht, eher sei es Rastlosigkeit, man könne eben etwas tun oder schweigend resignieren. Eigentlich aber möchtest du hier weg, sagst du, und mit hier meinst du Deutschland, nicht diesen Moment in dieser kleinen, gemütlichen Kneipe. Ein Häuschen, vielleicht ein Bauernhof, gemeinsam mit ein paar Freunden, das wäre das Richtige, erklärst du mir, und deine Augen funkeln ein wenig bei der Vorstellung daran. Du nennst es andächtig Utopia.

Es mangelt am Willen zur Umsetzung, antworte ich dir und es stimmt. Du bist nicht die erste, die mir von diesem Traum vorschwärmt, denn ich kenne viele, die vom Weggehen träumen, vom selbstbestimmten Leben, nur keinen, der es macht. Auch für dich sei es eher ein Plan B, eine Rückzugsmöglichkeit, gesellst du dich zu ihnen, für die Zeit, wenn dir das Leben hier in diesem Land nicht mehr angenehm erscheint.

Ich finde es jetzt schon nicht mehr angenehm, gestehe ich dir, und du bist der erste Mensch, der bei diesen Worten nicht lacht, nicht mindestens schmunzelt oder mich fragend ansieht. Du nämlich schaust mich an, mit einem Blick, der mir sagt, dass du genau verstehst. Wir führen den Gedanken weiter, bis du mir erklärst, wie du dir das Ganze vorstellst, vielleicht in Griechenland, mit ein paar Tieren und Gemüse und was man eben braucht, um so autark zu sein, wie es die Umstände erlauben. Der Abend klingt aus und ich stoße mit dir darauf an, ihn umzusetzen, deinen Plan B, und du lachst und freust dich und sagst: Ja, das machen wir. Ich sehe Zukunft, wo ein Fragezeichen war. Wir sind Komplizen, die den Ausbruch wagen.

In den Tagen darauf rechne ich zusammen, was ich gespart habe, drucke Immobilienangebote aus, reise um die halbe Welt, um mir einen guten Eindruck von den interessantesten Objekten zu machen, lese Bestimmungen, plane voraus. Drei Wochen später treffen wir uns in deiner Wohnung, ich lege dir Fotos vor, ohne dir meinen Favoriten zu verraten, und deine Wahl fällt auf das gleiche Haus. Wir lachen, freuen uns, gehen Planungen durch, überschlagen Finanzen. Ganz die Realistin, die du bist, wirfst du ein, du fändest das alles wunderbar, nur könntest du nicht von heute auf morgen deine Wohnung aufgeben und deinen Job kündigen, da gäbe es Fristen, und dein Kater mache dir Sorgen, der habe doch sein Revier, und all das Rechtliche. Das macht nichts, beschwichtige ich, dann fahre ich alleine schon mal vor, richte alles her, ich kümmere mich um unser Haus, widme mich dem Bürokratischen, freue mich auf dich, und dem Kater wird es gefallen. Du nickst und dann umarmst du mich auf eine Art, dass ich mich fühle, als würde ich nach langer Odyssee zu Hause ankommen.

Am nächsten Tag plündere ich meine Konten, besteige ein Flugzeug und fliege einem neuen Leben entgegen. Ich kaufe ein Haus, das Haus, unser Haus, mit riesigem Grundstück und modrigem Holzzaun rundherum, die Mauern in einem Rotton, der dir gefallen wird, die Zimmer groß genug, falls wir Besuch oder mal Kinder haben wollen. Das Dach ist nicht ganz dicht, wie ich beim ersten Regen feststellen muss, aber wir sind es auch nicht. Ich renoviere, ich streiche, verlege Böden und lerne mauern, ich lege mich ins Zeug und fühle mich zum ersten Mal als freier Mensch. So verbringe ich Wochen, dann Monate. Mit der Begeisterung eines Kindes schicke ich dir immer wieder Fotos und selbstgedrehte Videos, und du sagst, du willst noch deine Promotion fertigstellen, dann kommst du. Ich freue mich wahnsinnig darauf, wenn du kommst, antworte ich dir.

Das Dach ist mittlerweile gut, das Haus bezugsfertig, was auszubessern war, habe ich ausgebessert. Die Renovierung kommt voran, wenn auch langsam, und zwischendrin versuche ich mich als Gärtner, lese mich schlau, pflanze an, gieße, verteile Dünger, hoffe und warte. Einiges gedeiht, manches nicht, und ich bin stolz, weil das für einen ersten Versuch gar nicht so schlecht ist. Du hast von uns beiden den grüneren Daumen, du wirst mich auslachen, wenn du kommst.

Zwei Monate später bekommst du ein Angebot für eine Stelle an der Uni, ein Einjahresvertrag, und du sagst, so lange solle ich mich noch gedulden, danach aber kämst du. Mir macht es nichts aus, die Renovierung braucht noch etwas Zeit, und ich sage, ich freue mich darauf, wenn du kommst, du wirst ein wunderschönes Haus vorfinden.

Draußen wird es langsam grün und ich filme auch das, schicke es dir, will dir zeigen, dass selbst unter meiner Regie pflanzliches Leben möglich ist. Du lachst so herzlich über meine angestrengten Gärtnerversuche, dass alle Kilometer zwischen uns vergessen sind. Kurz bevor du auflegst, seufzt du, denn du wärst so gerne hier, und ich spiele es herunter, es ist doch nicht mal mehr ein Jahr.

Vier Monate vergehen, in denen wir mailen, chatten, telefonieren, ich schicke dir weiterhin Bilder und Videos, hege Vorfreude, und dann schreibst du mir, du bist jetzt an einem Forschungsprojekt beteiligt, das du super interessant findest, und man erwägt, dich fest einzustellen, und wie großartig das ist und ob ich mich freue.

Drei Tage später antworte ich dir, schicke dir einen Link auf ein kleines regionales Nachrichtenportal, schreibe sonst nichts. Du rufst mich an, obwohl du nicht viel Zeit hast, wie du mir erklärst, du machst gerade Pause, gleich musst du zurück. Du bist verwirrt, sagst du, und ob das ein Scherz sei, aber es ist alles echt, versichere ich dir, das Feuer und der Totalschaden. Utopia ist abgebrannt.

Wir leben ein paar Augenblicke und tun so rasend wichtig. Der eine braucht den Ausdruck »Schwerpunktthema«, der andre spricht von »musikalischer Umrahmung«, der dritte sagt: »Anforderungsprofil«, und solche Wörter tönen so, als würden die, die sie verwenden, ewig leben, und ich kann nicht begreifen, warum der Mund kein Schamteil ist. Wir leben ein paar Augenblicke und achten doch auf Bügelfalten, und ist ein weiches Ei zu hart, macht man Theater. Hier fehlt ein Komma! sagen wir. Und wenn der Hürlimann nicht endlich seine Büsche stutzt! Ich steh auf Kümmel. Nicht mein Typ. Naturschwamm oder Kunststoffschwamm? Sie werden mich noch kennenlernen. Ich ziehe Schritte in Erwägung, da man beim Schweizer Radio die vierte Strophe vieler Jodellieder meistens abklemmt. Du, ist der Meier schwul, er trägt ein selbstgestricktes Rosa-Westchen. Wir leben ein paar Augenblicke und sind so falsch, so schwatzhaft, so himmelschreiend oberflächlich und tun die ganze Zeit die Pflicht, die Pflicht und werden dabei schlecht und dumm und grölen in der Freizeit blöd herum und vögeln ruppig. Wir haben Mut zu nichts und Angst vor allem, wir stehen zeitig auf und tun die Pflicht und schämen uns, wenn wir mal liegen bleiben, und wären froh um eine Grippe. Die Eskapadenfreudigkeit nimmt ab, man denkt schon vor der Sünde an den Katzenjammer, uns fehlt nicht nur die Lust, uns fehlt sogar die Lust zur Lust, schon sie gilt als obszön, nicht aber der Verzicht und nicht die Pflicht und nicht die pausenlose feige Füg- und Folgsamkeit und ihre Folge, die Verblödung.
(Markus Werner – Froschnacht)