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Den­ken heißt zer­stö­ren. Der Denk­vor­gang opfert den Gedan­ken, denn Den­ken heißt aus­ein­an­der­neh­men. Könn­ten die Men­schen das Geheim­nis des Lebens sin­nend erfah­ren, könn­ten sie die tau­send Ver­stri­ckun­gen erah­nen, die der See­le bei der gerings­ten Regung dro­hen, sie wür­den nicht einen Fin­ger rüh­ren, geschwei­ge­denn leben. Sie wür­den vor Schreck ver­ge­hen, wie all jene, die Selbst­mord bege­hen, um nicht anderen­tags unter der Guil­lo­ti­ne zu enden.
(Fer­nan­do Pes­soa – Das Buch der Unruhe)

Man kann jah­re­lang in ner­vö­ser Hast in der Stadt leben, es rui­niert zwar die Ner­ven, aber man kann es lan­ge Zeit durch­hal­ten. Doch kein Mensch kann län­ger als ein paar Mona­te in ner­vö­ser Hast berg­stei­gen, Erd­äp­fel ein­le­gen, holz­ha­cken oder mähen. Das ers­te Jahr, in dem ich mich noch nicht ange­paßt hat­te, war weit über mei­ne Kräf­te gegan­gen, und ich wer­de mich von die­sen Arbeits­exzes­sen nie ganz erho­len. Unsin­ni­ger­wei­se hat­te ich mir auf jeden der­ar­ti­gen Rekord auch noch etwas ein­ge­bil­det. Heu­te gehe ich sogar vom Haus zum Stall in einem geruh­sa­men Wäld­ler­trab. Der Kör­per bleibt ent­spannt, und die Augen haben Zeit zu schau­en. Einer, der rennt, kann nicht schau­en. In mei­nem frü­he­ren Leben führ­te mich mein Weg jah­re­lang an einem Platz vor­bei, auf dem eine alte Frau die Tau­ben füt­ter­te. Ich moch­te Tie­re immer gern, und jenen, heu­te längst ver­stei­ner­ten Tau­ben gehör­te mein gan­zes Wohl­wol­len, und doch kann ich nicht eine von ihnen beschrei­ben. Ich weiß nicht ein­mal, wel­che Far­be ihre Augen und ihre Schnä­bel hat­ten. Ich weiß es ein­fach nicht, und ich glau­be, das sagt genug dar­über aus, wie ich mich durch die Stadt zu bewe­gen pfleg­te. Seit ich lang­sa­mer gewor­den bin, ist der Wald um mich erst leben­dig gewor­den. Ich möch­te nicht sagen, daß dies die ein­zi­ge Art zu leben ist, für mich ist sie aber gewiß die ange­mes­se­ne. Und was muß­te alles gesche­hen, ehe ich zu ihr fin­den konn­te. Frü­her war ich immer irgend­wo­hin unter­wegs, immer in gro­ßer Eile und erfüllt von einer rasen­den Unge­duld, denn über­all, wo ich anlang­te, muß­te ich erst ein­mal lan­ge war­ten. Ich hät­te eben­so­gut den gan­zen Weg dahin­schlei­chen kön­nen. Manch­mal erkann­te ich mei­nen Zustand und den Zustand unse­rer Welt ganz klar, aber ich war nicht fähig, aus die­sem ungu­ten Leben aus­zu­bre­chen. Die Lan­ge­wei­le, unter der ich oft litt, war die Lan­ge­wei­le eines bie­de­ren Rosen­züch­ters auf einem Kon­greß der Auto­fa­bri­kan­ten. Fast mein gan­zes Leben lang befand ich mich auf einem der­ar­ti­gen Kon­greß, und es wun­dert mich, daß ich nicht eines Tages vor Über­druß tot umge­fal­len bin.
Hier, im Wald, bin ich eigent­lich auf dem mir ange­mes­se­nen Platz. Ich tra­ge den Auto­fa­bri­kan­ten nichts nach, sie sind ja längst nicht mehr inter­es­sant. Aber wie sie mich alle gequält haben mit Din­gen, die mir zuwi­der waren. Ich hat­te nur die­ses eine klei­ne Leben, und sie lie­ßen es mich nicht in Frie­den leben.
Mar­len Haus­ho­fer – Die Wand

»Ich wür­de sagen, die Men­ge an Lan­ge­wei­le, falls Lan­ge­wei­le meß­bar ist, ist heu­te viel grö­ßer als frü­her. Weil die dama­li­gen Beru­fe, jeden­falls zu einem gro­ßen Teil, nicht ohne eine lei­den­schaft­li­che Nei­gung denk­bar waren: die Bau­ern, die ihr Land lieb­ten; mein Groß­va­ter, der schö­ne Tische zau­ber­te; die Schus­ter, die die Füße aller Dorf­be­woh­ner aus­wen­dig kann­ten; die Förs­ter; die Gärt­ner; ich ver­mu­te, sogar die Sol­da­ten töte­ten damals mit Lei­den­schaft. Der Sinn des Lebens stand nicht in Fra­ge, er beglei­te­te sie, in ihren Werk­stät­ten, auf ihren Fel­dern. Jeder Beruf hat­te sei­ne eige­ne Men­ta­li­tät, sei­ne eige­ne Seins­wei­se geschaf­fen. Ein Arzt dach­te anders als ein Bau­er, ein Sol­dat ver­hielt sich anders als ein Leh­rer. Heu­te sind wir alle gleich, alle durch die gemein­sa­me Gleich­gül­tig­keit für unse­re Arbeit geeint. Die­se Gleich­gül­tig­keit ist eine Lei­den­schaft gewor­den. Die ein­zi­ge gro­ße kol­lek­ti­ve Lei­den­schaft unse­rer Zeit.«
Chan­tal sag­te: »Aber sag mir doch: du selbst, als du Ski­leh­rer warst, als du in Zeit­schrif­ten über Innen­ar­chi­tek­tur geschrie­ben hast oder spä­ter über Medi­zin, oder als du als Zeich­ner in einer Tisch­le­rei gear­bei­tet hast …«
»… ja, das habe ich am liebs­ten gemacht, aber es ist nicht gelaufen …«
»… oder als du arbeits­los warst und gar nichts getan hast, da hät­test du dich doch auch lang­wei­len müssen!«
»Alles hat sich ver­än­dert, als ich dich ken­nen­ge­lernt habe. Nicht, weil mei­ne klei­nen Arbei­ten span­nen­der gewor­den sind. Son­dern weil ich alles, was um mich her­um geschieht, in Stoff für unse­re Gesprä­che verwandle.«
»Wir könn­ten von etwas ande­rem sprechen!«
»Zwei Men­schen, die sich lie­ben, allein, von der Welt abge­schie­den, das ist sehr schön. Aber womit wür­den sie ihr Tête-à-Tête aus­fül­len? So ver­ächt­lich die Welt auch sein mag, sie brau­chen sie, um mit­ein­an­der reden zu können.«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

»Am Ende mei­nes Besuchs im Kran­ken­haus hat er ange­fan­gen, Erin­ne­run­gen zu erzäh­len. Er hat mir ins Gedächt­nis geru­fen, was ich mit sech­zehn gesagt haben muß. In dem Moment habe ich den ein­zi­gen Sinn von Freund­schaft, wie sie heu­te prak­ti­ziert wird, begrif­fen. Der Mensch ist auf sie ange­wie­sen, damit sein Gedächt­nis funk­tio­niert. Sich an sei­ne Ver­gan­gen­heit zu erin­nern, sie immer bei sich zu haben ist viel­leicht die not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung dafür, die Inte­gri­tät sei­nes Ichs zu wah­ren, wie man so sagt. Damit das Ich nicht schrumpft, damit es sein Volu­men behält, müs­sen die Erin­ne­run­gen begos­sen wer­den wie Topf­blu­men, und die­ses Gie­ßen erfor­dert den regel­mä­ßi­gen Kon­takt mit Zeu­gen der Ver­gan­gen­heit. Sie sind unser Spie­gel; unser Gedächt­nis; man ver­langt nichts von ihnen, außer daß sie von Zeit zu Zeit die­sen Spie­gel polie­ren, damit man sich dar­in anschau­en kann. Aber mich inter­es­siert nicht im gerings­ten, was ich auf dem Gym­na­si­um gemacht habe! Was ich mir seit mei­ner frü­hen Jugend, viel­leicht seit mei­ner Kind­heit immer gewünscht habe, war etwas ganz ande­res: die Freund­schaft als obers­ter Wert. Ich sage oft: vor die Wahl zwi­schen der Wahr­heit und dem Freund gestellt, wäh­le ich immer den Freund. Ich sag­te es, um zu pro­vo­zie­ren, aber ich mein­te es ernst. Heu­te weiß ich, daß die­se Maxi­me archa­isch ist. Sie moch­te für Achill gel­ten, den Freund des Patro­klos, für Alex­and­re Dumas‘ Mus­ke­tie­re, sogar für Sancho, der trotz all ihrer Zwis­tig­kei­ten ein ech­ter Freund sei­nes Herrn war. Aber sie gilt nicht für uns. Ich gehe in mei­nem Pes­si­mis­mus so weit, daß ich heu­te bereit bin, die Wahr­heit der Freund­schaft vor­zu­zie­hen. (…) Die Freund­schaft war für mich der Beweis, daß es etwas Stär­ke­res gibt als die Ideo­lo­gie, als die Reli­gi­on, als die Nati­on. In Dumas‘ Roman befin­den sich die Freun­de oft in geg­ne­ri­schen Lagern, so daß sie gezwun­gen sind, gegen­ein­an­der zu kämp­fen. Aber das ändert nichts an ihrer Freund­schaft. Sie hel­fen ein­an­der trotz­dem heim­lich, lis­tig und set­zen sich über die Wahr­heit ihres jewei­li­gen Lagers hin­weg. Sie haben die Freund­schaft über die Wahr­heit, die Sache, die Befeh­le von oben gestellt, über den König, über die Köni­gin, über alles.«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

Dei­nem Leben fehlt die Würze,
es geschmack­lich abzurunden,
mäkeln sie und streun dir darum
reich­lich Salz in dei­ne Wunden.

(2010÷2014)

Als ich die Wor­te zum ers­ten Mal aus sei­nem Mund ver­nahm, fand ich sie furcht­bar flach: »Wir alle brau­chen manch­mal einen Lotsen«.

Die­ser nichts­sa­gen­de Satz, die­se inhalts­lee­re Belang­lo­sig­keit war einer sei­ner Lieb­lings­sprü­che, sein Man­tra, sei­ne Lösung für alles und sei­ne Lösung für jeden. Nun, für fast jeden, muss ich ergän­zen. Er selbst, der gro­ße Kapi­tän, schien kei­nen Lot­sen nötig zu haben, auf kei­ner Rei­se sei­nes Lebens, nein, im Gegen­teil, stets bot er sich ande­ren als Bei­stand an, weil er wohl glaub­te, er sei der ein­zi­ge, der ver­stan­den habe, wo im Leben die Untie­fen lie­gen und wel­che unsi­che­ren Gewäs­ser es zu mei­den gilt.

Es war ein Satz wie einer die­ser uner­träg­lich opti­mis­ti­schen Kalen­der­sprü­che, die Unzu­frie­de­nen das Leben etwas freund­li­cher gestal­ten sol­len und in ihrer Bot­schaft so belang­los, so stu­pi­de sind, dass nie­mand je etwas Ver­nünf­ti­ges dage­gen ein­zu­wen­den ver­mag. Was hät­te jemand auch gegen die­sen Satz ein­wen­den sol­len? Er war ja rich­tig. Das war es, was mich dar­an zur Weiß­glut brach­te. Aus­ge­rech­net er muss­te es sein, der mir die­sen bedeu­tungs­lo­sen Satz mit einer Ernst­haf­tig­keit vor­pre­dig­te, so als wüss­te er genau, wor­um es im Leben gehe und wie man es sich ein­zu­rich­ten habe. Er wähn­te sich nicht nur als stol­zer Kapi­tän sei­nes eige­nen, wind­schnit­ti­gen Lebens und Lot­se der Leben aller ande­ren, son­dern gleich als Kar­to­graf für Leben über­haupt. In mei­nen Augen war er ein arro­gan­ter, chau­vi­nis­ti­scher Idiot.

Mit der Zeit fing ich an, die­sen Satz zu has­sen, und dadurch letzt­lich auch des­sen Urhe­ber. Er mach­te mich rasend, zumin­dest inner­lich, und ich muss­te mich schier beherr­schen, ihm nicht offen ins Gesicht zu fau­chen. Mit einer gelas­se­nen Regel­mä­ßig­keit wag­te er es hin und wie­der, die­se Plat­ti­tü­de in Dis­kus­sio­nen ein­zu­streu­en, die er mit mir führ­te, oder den Satz zu vari­ie­ren, ihm ein Tro­ja­ni­sches Pferd als Vehi­kel zu kon­stru­ie­ren und ihn einer Meta­pher unter­zu­schie­ben, damit die Wor­te nachts her­vor­kom­men und in mei­nem Kopf ihre Wir­kung ent­fal­ten konn­ten. Wenn er sich mit ande­ren unter­hielt oder wenn wir in einer Grup­pe unter­wegs waren und er jeman­dem die­sen Tipp, die­se Nich­tig­keit zuteil­wer­den ließ, blick­te er mit einem süf­fi­san­ten Lächeln in mei­ne Rich­tung, so als woll­te er ganz sicher­stel­len, dass ich den Satz auch zwei­fel­los ver­nom­men hätte.

War­um war es ihm so wich­tig, mir die­sen Satz immer und immer wie­der unter die Nase zu rei­ben? Es kotz­te mich ehr­lich gesagt an. Ich war doch Kapi­tän mei­nes eige­nen Lebens und ich brauch­te kei­nen Lot­sen. Schon gar nicht ihn!

Was also woll­te er mir mit die­sem dümm­li­chen Satz sagen, was pass­te ihm nicht an mir? Ich ver­stand es nicht und ich wuss­te nicht, ob ich es über­haupt ver­ste­hen wollte.

In den fol­gen­den Mona­ten hat­ten wir sel­ten mit­ein­an­der zu tun, wir tra­fen uns nur dann und wann rein zufäl­lig, so auch an Sil­ves­ter. Wir plau­der­ten ganz ober­fläch­lich über die­ses und jenes, denn auch ihm muss­te auf­ge­fal­len sein, dass unser Kon­takt sich ver­rin­gert hat­te. Bei einem Bier erzähl­te ich ihm kurz von jenen Din­gen, die mich zu die­ser Zeit beweg­ten, belas­te­ten, ganz nor­ma­ler All­tags­kram, und er sprach bloß leicht ange­trun­ken von einem Schiff, das auf Grund lau­fen wür­de, wenn ihm ein Lot­se fehl­te, denn schließ­lich bräuch­te selbst der bes­te Kapi­tän manch­mal einen Lot­sen und so wei­ter. Er spul­te sein Pro­gramm ab.

Mir war klar, dass er mich mein­te. Ich wür­de mit mei­nen Pro­ble­men auf Grund lau­fen, wenn nicht er, der gro­ße, all­wis­sen­de Lot­se mich ret­ten wür­de. Arsch­loch! Er kam sich in die­sem Moment sicher unglaub­lich lus­tig und über­le­gen vor, und es war wie­der ein­mal typisch für ihn, der glaub­te, ich hät­te nur auf sei­ne, gera­de sei­ne ret­ten­de Hil­fe gewar­tet. Sah ich so aus, als hät­te ich das nötig? Nein! Er konn­te mich mal.

Als er mir von sei­ner neu­en Woh­nung vor­zu­schwär­men begann, hör­te ich ihm schon nicht mehr rich­tig zu. Völ­lig unver­bind­lich ließ ich mir das Ver­spre­chen abrin­gen, ihn irgend­wann ein­mal besu­chen zu kom­men, und ver­schwand sofort dar­auf im anony­men Tru­bel der Sil­ves­ter­fei­ern­den. Ich sah noch, wie er mir nach­wink­te. Er schien mit die­ser Ant­wort glück­lich zu sein, aber ich hat­te nicht vor, ihn tat­säch­lich zu besuchen.

Ein Jahr ver­ging, in dem ich ihn kaum sah. Jedes Mal, wenn es doch geschah, leb­te in mir die Erin­ne­rung an jenen Satz auf. Ich ver­mied es schließ­lich voll­ends, ihm zu begeg­nen, und ging ihm aus dem Weg. Es war kei­ne bewuss­te Ent­schei­dung, die mich dazu gebracht hat­te, son­dern die­ses auf eine vage Art ver­un­si­chern­de Gefühl, das mich über­kam, wenn ich durch ihn an sei­nen Satz erin­nert wur­de. Ich ertapp­te mich dabei und fand es albern, konn­te mich aller­dings nie über­win­den, ihn ein­fach anzu­ru­fen oder ein Tref­fen mit ihm zu ver­ein­ba­ren. Mir fiel wie­der ein, dass er in der Stadt eine neue Woh­nung gefun­den hat­te und ich nun weder sei­ne neue Anschrift noch sei­ne Tele­fon­num­mer besaß. Das beru­hig­te mich, denn selbst wenn ich ihn hät­te errei­chen wol­len, so hät­te ich es nicht gekonnt. Es lag nicht in mei­ner Macht.

Er wie­der­um mach­te eben­so weni­ge Anstal­ten, sich bei mir zu mel­den, und so ver­gaß ich ihn fast, bis ich eines Tages im Super­markt auf jeman­den traf, den er mir einst als einen Freund vor­ge­stellt hat­te. Unschlüs­sig, ob ich die­sen Freund ein­fach anspre­chen soll­te, blieb ich zwi­schen den Rega­len ste­hen und dach­te nach, bis mir die Ent­schei­dung abge­nom­men wur­de und er sei­ner­seits auf mich zukam. Von der Situa­ti­on über­rum­pelt, ent­fuhr mir ein »Hal­lo!«, er aber griff bloß nach einer Packung Corn­flakes. Ich stand genau davor. Das war alles. Wort­los mus­ter­te er mich, bis ich ihn schließ­lich unbe­hol­fen frag­te, ob er sich an mich erin­ne­re, wir hät­ten einen gemein­sa­men Freund, und wo die­ser gemein­sa­me Freund denn hin­ge­zo­gen sei. Sein Gesicht ver­riet mir, dass er mich erkann­te. Zunächst erstaunt, dann bedrückt sah er mich an, bejah­te, sah sich um, als sei­en sei­ne Wor­te für die­sen Ort unge­eig­net, und sprach in gedämpf­tem Ton:

„Du weißt es noch gar nicht, hm? Man fand ihn vor, ja, knapp andert­halb Mona­ten in sei­ner Woh­nung. Tablet­ten oder so. Er hat­te sogar einen Abschieds­brief geschrie­ben, na ja, mehr eine Abschieds­no­tiz: »Ohne dich lau­fe ich auf Grund«. Selt­sam, was? Nie­mand weiß, wen oder was er damit gemeint hat.“

Und da ver­stand ich sei­nen Satz.

Ich habe letz­te Nacht von dir geträumt, von uns, von den Wegen, die wir gemein­sam hät­ten gehen, den Geheim­nis­se, die wir alle hät­ten tei­len kön­nen, von dem, was wir einst waren, und von dem, was wir noch alles hät­ten sein kön­nen. Die Träu­me sind der letz­te Ort, an dem ich dir noch nah sein kann. Es ist vor­bei, habe ich gedacht, und ich käme damit klar. Nun aber ver­brin­ge ich mei­ne Tage im Bett, manch­mal acht­zehn Stun­den und mehr, weil doch mit dir der letz­te Grund zum Auf­ste­hen schwand. Schla­fen jedoch kann ich kaum, und ob ich wach bin oder nicht, mei­ne Gedan­ken dre­hen sich um dich, um das, was von dir noch immer in mir übrig ist. Du bist in mir ein­ge­zo­gen, damals, als wir uns ken­nen­lern­ten, und als du gegan­gen bist, hast du dei­ne Sachen ein­fach in mir zurück­ge­las­sen. Sie ste­hen in mei­nen Räu­men her­um und erin­nern mich an dich, sie bele­gen so viel Platz in mei­nen Kam­mern, dass mir zum Leben kei­ner bleibt. Mein Appe­tit hat mir den Rücken zuge­kehrt, genau wie du, doch ohne Nah­rung kann ich über­le­ben, bloß ohne dich fällt mir das reich­lich schwer.

Mit Trä­nen gehe ich in jede Nacht und mei­ne Augen sind am nächs­ten Tag so schwer wie rot. Mor­gens treibt mich nur die Hoff­nung an, du könn­test dich heu­te bei mir mel­den. Abends ban­ge ich dann vor dem Schla­fen­ge­hen, viel­leicht ja mel­dest du dich mor­gen. Was zwi­schen die­sen Punk­ten liegt, ist jene Zeit, in wel­cher ich ein Leben simu­lie­re, frech und selbst­be­wusst, das sorg­lo­se Mäd­chen; die­se Zeit, in der ich hoff­nungs­los ver­su­chen muss, mit Kopf und Herz nicht jeden Augen­blick bei dir zu sein. Ohne ein Zei­chen von dir sind mei­ne Tage leer.

Wann immer ich in letz­ter Zeit durch die­se Stadt schlen­der­te, in der dein Leben das mei­ne zum ers­ten Mal betrat, fühl­te ich die Aura dei­ner Anwe­sen­heit. Hier lebst du, arbei­test du, ver­bringst du dei­ne Tage. Hier lach­ten wir, spra­chen wir, teil­ten wir ein Dasein mit­ein­an­der. Es ist dei­ne Stadt, das war sie schon, als wir uns ken­nen­lern­ten, und sie liegt vor mir wie ein Mahn­mal, wie ein Tor zu einer bes­se­ren Zeit. Hin­ter jeder Ecke könn­test du her­vor­kom­men, auf jeder Stra­ße könn­test du spa­zie­ren, und tat­säch­lich war­test du auf mich an jedem Ort. Nicht du, nicht als Per­son, aber als Erin­ne­rung, als Gespenst mei­ner Ver­gan­gen­heit, unse­rer Ver­gan­gen­heit, das mich auf Schritt und Tritt ver­folgt. Du hast die Stadt für mich unbe­nutz­bar gemacht, denn über allem liegt der Schlei­er dei­nes Wesens. Kei­nen Meter kann ich gehen, ohne dass du mir erscheinst. So wie du mich im Schlaf in jeder Nacht ver­folgst, ver­folgst du mich bei jedem Schritt.

Du weißt, es beschränkt sich nicht auf eine lee­re Meta­pher, wenn ich dir sage, dass du für mich die Welt gewe­sen bist. Alles hier erin­nert mich an dich. Die Stadt, sie schmeckt nach dir, sie riecht nach dir, der Wind ver­brei­tet dei­nen Duft, die Häu­ser erzäh­len Geschich­ten über dich, die Brun­nen spei­en dein Was­ser. Stra­ßen, Gebäu­de und Men­schen erschöp­fen sich in ihrer Rela­ti­on zu dir, ich neh­me sie wahr als Kulis­sen und Kom­par­sen unse­res ver­gan­ge­nen, gemein­sa­men Lebens. Ich beweg­te mich wie auf Schie­nen mit dir, war durch dich Zug gewor­den, der sei­ne Glei­se immer mit sich führt, was links und rechts von uns geschah, war mir egal, denn Augen hat­te ich doch bloß für dich. Mit dir war alles schön, schon weil du da warst. Heu­te aber sind die Wei­chen umge­stellt, die alten Tras­sen am Verrotten.

Mit beben­dem Her­zen kreu­ze ich in die­sen Tagen dann und wann den wei­ten Platz, auf dem der klei­ne Brun­nen steht, an dem wir uns so vie­le Näch­te um die Ohren schlu­gen, bis das Mor­gen­licht uns unter­brach. Fast jeden Tag betre­te ich den men­schen­lee­ren Bahn­steig, an des­sen Ende du so oft auf mich gewar­tet hast. Wenn ich irgend­wo bloß einen Zug vor­über­rau­schen sehe, fah­re ich im Traum zu dir. Mit mat­tem Blick ver­fol­ge ich die Stra­ßen­bahn, die auch zu dei­ner Stra­ße führt. An jeder Hal­te­stel­le suche ich nach dir. Manch­mal schlen­de­re ich durch den Park, in dem wir auf der Wie­se saßen, um uns die Ster­ne anzu­se­hen, doch wenn ich heu­te in den Him­mel bli­cke, zeigt jedes Ster­nen­bild bloß dein Gesicht. Wie Split­ter der Ver­gan­gen­heit sind all die Knei­pen, Clubs und Restau­rants, in denen wir zusam­men saßen, tanz­ten und lach­ten, lose über die­se Stadt ver­streut. Wenn ich dort heu­te etwas trin­ken gehe, trin­ke ich dabei auf dich, und wenn ich hier und da ein wenig Nah­rung zu mir neh­me, hun­ge­re ich dabei nach dir.

Wie gern wir bei­de im Thea­ter waren, wie oft wir Lesun­gen besuch­ten, das hat sich ein­ge­brannt in mei­nen Kopf und geht dort nie­mals wie­der raus. Bei jeder Vor­stel­lung, bei jedem Wort, bei jedem Kunst­werk und bei jedem Expo­nat bist du im Geist noch immer neben mir und dar­um mei­de ich das alles nun fast ganz, aus Furcht, du könn­test in der Men­ge sein. Manch­mal lese ich in dei­nen Brie­fen, die du mir geschrie­ben hast, und wenn ich heu­te Post emp­fan­ge, hof­fe ich, sie ist von dir. All die Bands, die du so moch­test, sind mir kei­ne Freu­de mehr, und in den Büchern, über die ich mit dir sprach, wohnst du auf ewig zwi­schen allen Zei­len. Alles Schö­ne, das ich neu für mich ent­de­cke, jedes Buch, in dem ich mich ver­lie­ren kann, jeden Film, der mich begeis­tert, alles will ich wei­ter­hin so ger­ne mit dir tei­len – und dann den­ke ich mit tie­fem Seuf­zen: ja, das wür­de dir gefallen.

Selbst mei­ne Woh­nung ist nicht län­ger mein Zuhau­se, die Din­ge spre­chen alle nur von dir. Ich bin hier nie­mals mehr allein. Jedes Klin­geln führt mich hoff­nungs­froh an mei­ne Tür, doch hat sie mich noch alle­mal ent­täuscht. Ich war­te auf E‑Mails, die nicht kom­men, star­re auf Tele­fo­ne, die nicht klin­geln. In mei­ner Küche stand ich nicht, seit wir gemein­sam dort zugan­ge waren, und lie­ge ich in mei­nem Bett, erdrückt mich dei­ne Abwe­sen­heit. Es fühlt sich leer an, denn du fehlst, nicht nur in mei­nem Bett, vor allem in mei­nem Leben.

Ich wer­de die­se Stadt nicht län­ger ertra­gen kön­nen. An jeder Ecke tref­fe ich auf dich, ohne dich je berüh­ren zu kön­nen; aller­orts erscheinst du mir, an jeder Wand, in jeder Spie­ge­lung auf einer Schei­be, auf dem Asphalt und in der Luft, ohne wirk­lich bei mir zu sein. Über­all ver­ste­cken sich Gespens­ter. Bei jedem Men­schen, der dir ähnelt, beginnt es schnell in mir zu pochen, bis die Hoff­nung still ver­welkt. Wie Fata Mor­ga­nas schrei­ten dei­ne Erschei­nun­gen durch die­se Stadt und blen­den mich, doch kei­ne davon stillt den Durst.

Nicht bloß die Stadt ver­kommt für mich zur Kryp­ta unse­rer Ver­gan­gen­heit. Bald wird er los­ge­hen, der unge­len­ke Tanz durchs Minen­feld mei­ner Freun­de, die sich zwei­fel­los an dich erin­nern wer­den, weil ich ihnen von dir vor­lieb­te, ihnen alles über dich erzähl­te, mit einer Ver­ve, wie das nur jemand kann, der dir von Kopf bis Fuß ver­fal­len ist. Erzählt man etwas, dann ver­fes­tigt es sich mit jedem noch so klei­nen Wort als Rea­li­tät, und wenn es schief­geht, dann wird es zur Höl­le. Sie wer­den sich nach dir erkun­di­gen, sie wer­den wis­sen wol­len, was du machst und wie es dir so geht. Wie war noch gleich sein Name, wer­den sie mich bei­läu­fig fra­gen, und wäh­rend ich genau weiß, von wem die Rede ist, weil ich dich nie­mals ver­ges­sen kann, wer­de ich doch nichts ande­res her­vor­brin­gen als: Wen meinst du? Wenn aber jemand dei­nen Namen aus­spricht, kann man für einen kur­zen Moment in mei­nen Augen sicher Wel­ten auf­blit­zen sehen, gan­ze Gala­xien, bevor sie kurz dar­auf als Schat­ten unbe­merkt vergehen.

Glau­ben kann ich es dir nicht, dass da bei dir nichts mehr war, kein Wunsch nach Zukunft, kein Gefühl, und ich den­ke nicht ein­mal, dass du dir selbst das alles glaubst. Wo wir nun ste­hen, wäre mir begreif­li­cher, wenn es nicht du gewe­sen wärst, der die­sen Stein erst ins Rol­len gebracht hat­te, der mit mir flir­te­te, ganz offen­siv, obwohl du sonst so schüch­tern bist. Dein Strah­len jedes Mal, wenn wir uns irgend­wie begeg­ne­ten, erwärm­te mei­ne gan­ze Welt. Ich fühl­te, du bist mein Zuhau­se, und ich woll­te dir das dei­ne sein. Mein Lächeln muss mich schon von Anfang an ver­ra­ten haben, die­se Mas­ke einer hoff­nungs­los Hoff­nungs­vol­len, die­ses gut­mü­ti­ge Grin­sen, weil ich gänz­lich glück­lich war, und du, du lächel­test zurück.

Immer warst du so bemüht, mich fas­zi­niert auf unse­re Gemein­sam­kei­ten hin­zu­wei­sen, auf alle noch so klei­nen Zufäl­le, auf die gewöhn­li­chen Ereig­nis­se, die nicht mehr so gewöhn­lich waren, weil du sie gleich mit mir ver­bun­den hast und ich sie wie­der­um mit dir. Zwi­schen uns gedieh eine Art geis­ti­ger Inti­mi­tät und wir ver­voll­stän­dig­ten uns, als hät­ten wir das immer schon getan. Du warst fröh­lich, wenn wir Din­ge zeit­gleich erle­dig­ten, ohne uns irgend­wie abge­spro­chen zu haben, oder wenn uns ein und das­sel­be völ­lig unab­hän­gig von­ein­an­der gefiel. Es waren sol­che Bana­li­tä­ten, die dich glück­lich mach­ten, selbst wenn die Welt dir gera­de läs­tig war, und ich war glück­lich, schon weil du es warst.

Du merk­test dir so vie­les, was ich dir erzähl­te, all die Din­ge, die ich mag. Ich stand für dich im Licht, war Sam­mel­stel­le dei­ner Auf­merk­sam­keit und das zeig­test du mir deut­lich, nur zuge­ge­ben hät­test du es nie. Noch über die dümms­ten mei­ner Wit­ze hast du gelacht, wie das nur jemand kann, der nicht mehr ganz bei Trost oder ernst­haft ver­liebt sein muss, was unterm Strich ja irgend­wie das Glei­che ist, mit einem herz­lich schö­nen Lachen, dem ich im ers­ten Augen­blick sofort verfiel.

Du hast dich ein­mal als einen Men­schen bezeich­net, der zual­ler­erst an sich denkt, und den­noch mach­test du so viel für mich, du sorg­test dich um mich, du woll­test, dass ich mich bei dir wohl­füh­le. Für jeman­den, der nur an sich denkt, hast du erstaun­lich viel an mich gedacht. Ich nahm in dei­nem Leben einen so gro­ßen Raum ein, dass es mir schon bei­na­he unan­ge­nehm wur­de. Am Ende unse­rer Tref­fen hast du mich kein ein­zi­ges Mal ein­fach so fort­ge­hen las­sen, ohne mir zwi­schen Tür und Angel nicht noch Vor­schlä­ge für ein Wie­der­se­hen ans Herz zu legen. Dei­ne Phan­ta­sie über­schlug sich bei dem höl­zer­nen Ver­such, neue Vor­wän­de für ein Tref­fen zu erdenken, mit einer bei­läu­fi­gen Art, die sicher dei­ne Schüch­tern­heit ver­ber­gen soll­te, die du immer schon für unmänn­lich gehal­ten hast. Dir lag etwas dar­an, dass wir uns wie­der­se­hen, das war es, was für mich von all­dem hän­gen­blieb. Du orga­ni­sier­test dei­ne Zeit um mich her­um, um mei­ne Mani­fes­ta­ti­on in dei­nem Leben, wäh­rend ich dich sach­te in dem mei­nen ver­an­ker­te, als bau­test du in mei­nem Vor­hof dein Quar­tier. Ich nahm mir mei­ne Zeit für dich, ich nahm mir alle Zeit der Welt. Heu­te willst du sie nicht mehr.

Es spielt kei­ne Rol­le, was ich glau­be und was tat­säch­lich dei­ne Grün­de waren, denn es bringt uns nicht wie­der zusam­men, macht aus den Trüm­mern nicht mehr eins.

Mei­ne Brie­fe, in denen ich dir schrieb, wie viel du mir bedeu­test, hast du lei­der nie beant­wor­tet, und mei­ne Vor­schlä­ge, was wir gemein­sam unter­neh­men könn­ten, schlägst du seit­dem alle aus. Du warst mit einem Mal wie aus­ge­wech­selt, kamst mir vor wie ein Magnet, des­sen Pola­ri­tät sich schlag­ar­tig ver­än­dert hat­te. Was mir gefiel, konn­test du plötz­lich nicht mehr aus­ste­hen. Bei jeder Ange­le­gen­heit, in der wir immer einer Mei­nung gewe­sen waren, behaup­te­test du nun das Gegen­teil. Wenn wir uns doch noch ein­mal tra­fen, brach­test du stets irgend­wel­che Freun­de mit, Bekann­te oder Arbeits­kol­le­gen. Mein Ein­druck war, es hät­ten Unbe­kann­te sein kön­nen, solan­ge das für dich bedeu­te­te, nicht mit mir allein zu sein, als sei ich über Nacht zu einer düs­te­ren Bedro­hung gewor­den, die nur als Grup­pe über­haupt bezwun­gen wer­den kann.

Du woll­test es mir ver­weh­ren, dich auch wei­ter­hin zu mögen, so wie jemand, der einem armen Bett­ler etwas Geld ver­wehrt, nicht weil er selbst ein böser Mensch ist, son­dern um die Brief­ta­sche nicht öff­nen zu müs­sen. Es sticht schon höl­lisch in der Brust, wenn man ernüch­tert fest­stel­len muss, dass eine Lie­be nicht erwi­dert wird, doch wenn die eige­nen Gefüh­le noch als Zumu­tung emp­fun­den wer­den, ist das wie Stark­strom mit­ten durch das Herz. Du hast kei­ne Vor­stel­lung davon, wie sehr es schmerzt, auf ein­mal so behan­delt zu wer­den. Nun muss ich mir anse­hen, wie aus­tausch­bar ich allem Anschein nach für dich gewor­den bin. Ich woll­te bei dir ankom­men, aber für dich war ich in dei­nem Leben nur zu Gast.

Du konn­test nie rich­tig begrei­fen, wie­so ich etwas an dir fand, wes­halb ich etwas an dir mag. Womög­lich war ich dir nicht über­zeu­gend genug, aber muss­te wirk­lich ich dich über­zeu­gen oder nicht viel eher du dich selbst von dei­ner Liebenswürdigkeit.

Men­schen wie du und ich machen sich mit ihrer Nach­denk­lich­keit das Leben so unnö­tig schwer. Gemein­sam hät­ten wir leich­ter sein kön­nen, leicht genug zum Flie­gen, doch abzu­he­ben trau­test du dich nie. Ich bau­te für dich Brü­cken, wo kei­ne Flüs­se, Häu­ser, wo kei­ne Städ­te, Tun­nel, wo kei­ne Ber­ge waren. Du warst mein Leucht­turm in der Nacht, der selbst noch strahlt und mir als Rei­sen­dem die Rich­tung weist, wenn alles Sons­ti­ge in Dun­kel­heit ver­sinkt. Es hat vor dir schon Ande­re in mei­nem Her­zen gege­ben, doch ich mach­te dich zum Aller­ers­ten und du wirst für mich der Letz­te blei­ben. Wel­che Zukunft es mit dir gege­ben hät­te, weiß ich nicht. Ohne dich gibt es kei­ne Zukunft. Nach dir kommt nichts. Es gibt kei­ne Zukunft mehr, nicht ein­mal Gegen­wart, bloß noch Vergangenheit.

Was ich noch an Hoff­nung hat­te, setz­te ich auf dich und ver­lor sie ein für alle Mal. Mit wach­sen­der Ver­zweif­lung habe ich ver­sucht, sie zu bewah­ren. Jedes dei­ner Wor­te, auch die unge­sag­ten, dreh­te ich in mei­nem Kopf her­um, bis ich schließ­lich einen Ansatz fand, eine Inter­pre­ta­ti­on, die mir ein wenig Zuver­sicht ver­sprach. Dei­ne Wor­te waren mei­ne Hypo­thek, auf deren Dar­le­hen ich mein Leben errich­te­te. Jeden mei­ner Schrit­te mach­te ich auf einem Steg aus Hoff­nung, den ich mir aus den Bret­tern dei­ner Wor­te gezim­mert hat­te, bis es jeden Tag etwas weni­ger wur­de, an dem ich mich noch fest­hal­ten, auf das ich mich noch stüt­zen, mit dem ich mir einen Weg nach vor­ne hät­te bau­en kön­nen. Du warst mei­ne letz­te gro­ße Hoff­nung auf Zukunft.

Sein gan­zes Leben ist der Mensch ein Baum im Wind. Er trotzt den Gewal­ten, die auf ihn ein­wir­ken, er stemmt sich ihnen ent­ge­gen, tag­ein und tag­aus, doch wenn der Baum erst ein­mal ange­sägt ist, genügt ein leich­ter Stoß, um ihn zu Fall zu brin­gen. Gesägt haben an mir schon vie­le, aber erst du hast mir den Stoß ver­setzt. Nun bin ich am Boden, habe kei­ne Ener­gie mehr, kei­ne Kraft, um wie­der auf­zu­ste­hen. Je näher man jeman­den an sich her­an­lässt, des­to kür­ze­re Mes­ser braucht er. Mei­ne Rüs­tung, die ich mit mir durchs Leben tra­ge, mein Pan­zer, der mich vor der Welt beschützt, er ist ver­braucht und abgenutzt.

Es gibt kei­nen unbe­grenz­ten Vor­rat an Ener­gie, den man in ein Leben ste­cken kann. Jede fri­sche Ver­let­zung zehrt an den Kräf­ten, bis irgend­wann die Kraft erlischt. Eines Tages wächst ein­fach kei­ne Haut mehr, wo eine neue Wun­de ent­steht. Der inne­re und der äuße­re Tod soll­ten in einer idea­len Welt zur glei­chen Zeit von­stat­ten­ge­hen, doch bei den meis­ten Men­schen ist das nicht der Fall, denn unse­re Welt ist alles ande­re als ide­al. Es heißt, die Hoff­nung stirbt zuletzt, doch meint das Sprich­wort wirk­lich deren Lang­le­big­keit, oder bedeu­tet es denn nicht viel mehr, dass nach dem Tod der Hoff­nung nichts mehr bleibt, das dann noch ster­ben kann. Wie sehr rühmt sich die moder­ne Medi­zin, Men­schen am Leben erhal­ten zu kön­nen, aber was hilft das, wenn man im Inne­ren schon lan­ge nicht mehr lebt. Es gibt kei­ne Maschi­nen, kei­ne lebens­ver­län­gern­den Maß­nah­men, an die man die Hoff­nung eines Men­schen anschlie­ßen könn­te. Der bio­lo­gi­sche Tod wird redu­ziert auf eine Formsache.

Mach dir nichts draus, das Leben geht wei­ter, sagen sie dir mit her­ab­las­sen­dem Mit­leid. Ja, es geht wei­ter, denn das Hin­ter­häl­ti­ge an gebro­che­nen Her­zen ist, dass der ande­re sei­ne Tat nicht voll­endet, sie nicht kon­se­quent zum Abschluss führt, weil er einen nie wirk­lich umbringt. Man ist leer, aus­ge­laugt, ver­braucht, man blickt in ein Schwar­zes Loch und über­schrei­tet den Ereig­nis­ho­ri­zont, man wird hin­ein­so­gen und kommt nicht mehr her­aus. Das Leben geht wei­ter, ja, aber man selbst lebt nicht wei­ter, man exis­tiert bloß noch vor sich hin.

Auch ich füge mich ein ins Heer der wan­deln­den Toten. Erst ver­liert man die Hoff­nung und dann sich selbst. Nichts hat für mich noch irgend­ei­ne Bedeu­tung. Ich kann nichts mehr füh­len, wenn es nicht mit der Ver­gan­gen­heit ver­bun­den ist, mit dir. Ich spü­re kei­ne Gegen­wart, nicht ein­mal Schmerz, nicht ein­mal Wut, schon gar nicht Lie­be. Wie das Archiv einer längst ver­gan­ge­nen Kul­tur ver­wal­te ich die Samm­lung mei­ner Emo­tio­nen, aber es kom­men kei­ne neu­en mehr hin­zu. Du hast den Men­schen aus mir entfernt.

Es gibt so vie­le wie mich. Ich sehe sie jeden Tag, kann sie durch­schau­en, sie sind leer, und doch simu­lie­ren sie ein Leben, genau wie ich, sie gehen ihrer Arbeit nach, sie essen und schla­fen wie jeder ande­re Mensch auch. Das Schei­tern beginnt, wenn man nicht mehr fragt, was man will, son­dern bloß noch, was man kann. Mein Schick­sal ist es, tot zu sein und wei­ter­le­ben zu müs­sen. Ich woll­te dir alles geben, du hast mir alles genom­men. Nicht aus böser Absicht, ver­mut­lich nicht ein­mal bewusst, doch unterm Strich zählt letzt­lich nur, wie alles endet. Du sag­test mir zum Abschied noch, ich sei ein unglaub­li­cher Mensch, wie du ihn nie zuvor getrof­fen hast, doch was bedeu­tet das schon, wenn du mich dar­auf­hin kalt abser­vierst. Ich bin in mei­nem Leben eine Frem­de geworden.

Ande­re wür­den sagen, ich hät­te mei­ne Zeit mit dir ver­schwen­det, aber ver­schwen­det war sie nie, denn sie hat mich, wenn auch nur vor­über­ge­hend, zu einem glück­li­chen Men­schen gemacht.

Es gäbe noch so vie­les, das ich dir ger­ne sagen wür­de, so viel Unaus­ge­spro­che­nes, das noch aus­zu­spre­chen wäre, doch ich wer­de dir nie wie­der schrei­ben, ich wer­de mit dir nie wie­der reden, ich wer­de dich nicht mehr zum Lachen brin­gen und dir kei­ne Nach­rich­ten mehr auf der Mail­box hin­ter­las­sen Ich wer­de dir kei­ne Fra­gen mehr stel­len und mich nicht län­ger für dein Leben inter­es­sie­ren, weil ich die Ant­wor­ten nicht ertra­gen wür­de. Du wirst kein Lebens­zei­chen von mir erhal­ten, weil es die­ses Leben nicht mehr gibt, das auf sich auf­merk­sam machen könn­te. Wie sagt man jeman­dem Lebe­wohl, ohne den man nicht leben kann.

In die­ser Stadt ist kein Platz mehr für mich, genau­so wenig wie in dei­nem Leben. Was mich hier noch hält, ist mir ein Rät­sel. Ziel­los strei­fe ich durch die Stra­ßen die­ser Stadt und ich wünsch­te mir dabei, ich wäre Nero. Ich möch­te dich nicht nur ver­ges­sen, dich in mei­nem Kopf nicht bloß ver­blas­sen sehen, ich möch­te sämt­li­che Andenken an dich voll­stän­dig aus­ra­die­ren, in mir wie in der Welt. Die­se Stadt soll bren­nen, sie soll ver­glü­hen und in Rauch auf­ge­hen, denn sie ist für mich unbe­geh­bar gewor­den. Ich möch­te Feu­er legen, rasend alles nie­der­rei­ßen, ich möch­te sie zer­stö­ren, noch bis hin­un­ter auf den letz­ten Stein. Die gan­ze Welt kann unter­ge­hen, es wäre mir egal. All die von dir besetz­ten Gebäu­de und mei­ne Erin­ne­rung an dich sol­len ein für alle Mal in Flam­men auf­ge­hen und zu Asche zer­fal­len, wor­aus ich als Phö­nix neu her­vor­ge­hen kann.

Viel­leicht ja wür­de es in eini­gen hun­dert Jah­ren eine Grup­pe von Archäo­lo­gen zu den Trüm­mern die­ses lieb­lo­sen Ortes füh­ren und sie wür­den sich even­tu­ell fra­gen, was hier wohl vor­ge­fal­len sein mag. Es wäre nur ein wei­te­res Puz­zle­teil in der unend­li­chen Geschich­te der Mor­de, Krie­ge und Zer­stö­run­gen aus purer Ver­zweif­lung an mensch­li­cher Lie­be. Sie ist die edels­te aller Kräf­te, die auf einen Men­schen jemals wir­ken kann, aber auch die unbarm­her­zigs­te und ver­nich­tends­te. Wie vie­le Bur­gen und Fes­tun­gen, wie vie­le Städ­te und Rei­che, wie vie­le Macht­ha­ber und Impe­ri­en gin­gen bereits zugrun­de, nur weil ein Mensch sein Herz verlor.

Auch ich habe dich bela­gert, wenn man es so aus­drü­cken möch­te, aber dei­ne Mau­ern waren zu stark, dein Boll­werk zu mas­siv, und den­noch rann­te ich voll Freu­de mit dem Herz dage­gen an. Du hast dich am Ende gegen mich ent­schie­den, hast dei­ne Zug­brü­cke hoch­ge­fah­ren, als ich noch auf ihr stand. Nur zu ger­ne wäre ich ein wüten­des Infer­no, das mich wie alles ande­re im Flam­men­meer ver­schlingt, doch statt den Glas­pa­läs­ten in der Innen­stadt, die mit Getö­se aus­ein­an­der­bre­chen, ist es bloß mein Glück. Die Welt bleibt kalt und unbe­rührt, wäh­rend mein Inners­tes heim­lich verbrennt.

Dann geht es wei­ter, das Leben, die dunk­len Wol­ken zie­hen aus dem Kopf, ich esse wie­der aus­wärts und mache mein Haar, ich trin­ke Cock­tails und gehe ins Büro, ich flir­te und lache und bin nor­mal und habe kei­ne Angst vor dem nächs­ten Tod. Der nächs­te wird wie­der der letz­te sein. Ich bin drei Mal schon gestor­ben und immer habe ich mir ein­ge­re­det, dies­mal sei es beson­ders schlimm, und ich glau­be, das ist gut. Das Lei­den gehört dazu, wenn es schief­geht, es zeugt von Bedeu­tung, es zeugt von Gefüh­len, es zeugt von mir. Schlimm ist es erst, wenn man nicht mehr stirbt.

Ich begrei­fe mein Ver­har­ren in die­sem immer glei­chen Leben, die­sem Staub, die­sem Schmutz an der Ober­flä­che des Nie-Ver­än­derns ein­zig als ein Feh­len per­sön­li­cher Hygiene.
So wie wir unse­ren Kör­per waschen, soll­ten wir auch unser Schick­sal waschen, das Leben wech­seln wie Wäsche – nicht, um uns am Leben zu erhal­ten, wie durch Nah­rung oder Schlaf, son­dern aus jener wert­frei­en Selbst­ach­tung, die genau wir Hygie­ne nennen.
Bei vie­len Men­schen ist die­ser Man­gel an Hygie­ne nicht etwa als bewußt gewollt zu ver­ste­hen, son­dern viel­mehr als ein Ach­sel­zu­cken ihres Intel­lekts. Und bei vie­len ist ein immer glei­ches stumpf­sin­ni­ges Leben nicht auf eine freie Ent­schei­dung zurück­zu­füh­ren oder auf ein natür­li­ches Sich-Schi­cken in eine unge­woll­te Exis­tenz, son­dern auf eine getrüb­te Wahr­neh­mung ihrer selbst, auf einen iro­ni­schen Auto­ma­tis­mus ihres Intellekts.
Man­chen Schwei­nen wider­strebt die eige­ne Schwei­ne­rei, den­noch las­sen sie nicht ab von ihr, und zwar aus dem glei­chen über­stei­ger­ten Gefühl her­aus, aus dem ein ver­ängs­tig­ter Mensch die Gefahr nicht flieht. Wie ich suh­len sich man­che Schwei­ne in ihrem Schick­sal und las­sen, fas­zi­niert vom eige­nen Unver­mö­gen, nicht ab von der Bana­li­tät ihres Lebens. Sie sind wie Vögel, die allein der Gedan­ke an die Schlan­ge fes­selt, wie Flie­gen, die blind­lings Baum­stäm­me umkrei­sen, bis sie in die kleb­ri­ge Reich­wei­te einer Cha­mä­le­on­zun­ge geraten.
Fer­nan­do Pes­soa – Das Buch der Unruhe

Es ist ein ver­reg­ne­ter Sams­tag­abend und ich sit­ze mit dir in einer klei­nen Knei­pe in Frank­furt Bocken­heim. Du trägst Jeans und ein rotes Ober­teil, dein Haar ist zu Zöp­fen gebun­den, du rauchst. Zuvor sind wir essen gewe­sen, beim Per­ser, ich habe dich ein­ge­la­den, du hast einen ehe­ma­li­gen Mit­be­woh­ner getrof­fen, dann sind wir kurz durch die Nacht spa­ziert. Nun trin­ken wir Cock­tails, wir unter­hal­ten uns, wir wer­den kri­tisch, wir wer­den trau­rig, wir lachen und spin­nen her­um. Du bist jemand, bei dem ich sein kann, wer ich bin, ohne Unver­ständ­nis zu pro­vo­zie­ren, ohne mich ver­stel­len zu müs­sen, ohne Erwar­tun­gen zu begeg­nen, die mir so fremd sind wie eine außer­ir­di­sche Kul­tur. Wir tei­len eine Sicht auf die Welt, auf das, was uns stört, was wir mögen, und ich mer­ke, ich mag vor allem dich.

Wir ste­hen uns poli­tisch nahe, wenn man das so aus­drü­cken kann. Uns eint der Kampf gegen die Übel die­ser Welt, doch Hoff­nung treibt dich dabei nicht, eher sei es Rast­lo­sig­keit, man kön­ne eben etwas tun oder schwei­gend resi­gnie­ren. Eigent­lich aber möch­test du hier weg, sagst du, und mit hier meinst du Deutsch­land, nicht die­sen Moment in die­ser klei­nen, gemüt­li­chen Knei­pe. Ein Häus­chen, viel­leicht ein Bau­ern­hof, gemein­sam mit ein paar Freun­den, das wäre das Rich­ti­ge, erklärst du mir, und dei­ne Augen fun­keln ein wenig bei der Vor­stel­lung dar­an. Du nennst es andäch­tig Utopia.

Es man­gelt am Wil­len zur Umset­zung, ant­wor­te ich dir und es stimmt. Du bist nicht die ers­te, die mir von die­sem Traum vor­schwärmt, denn ich ken­ne vie­le, die vom Weg­ge­hen träu­men, vom selbst­be­stimm­ten Leben, nur kei­nen, der es macht. Auch für dich sei es eher ein Plan B, eine Rück­zugs­mög­lich­keit, gesellst du dich zu ihnen, für die Zeit, wenn dir das Leben hier in die­sem Land nicht mehr ange­nehm erscheint.

Ich fin­de es jetzt schon nicht mehr ange­nehm, geste­he ich dir, und du bist der ers­te Mensch, der bei die­sen Wor­ten nicht lacht, nicht min­des­tens schmun­zelt oder mich fra­gend ansieht. Du näm­lich schaust mich an, mit einem Blick, der mir sagt, dass du genau ver­stehst. Wir füh­ren den Gedan­ken wei­ter, bis du mir erklärst, wie du dir das Gan­ze vor­stellst, viel­leicht in Grie­chen­land, mit ein paar Tie­ren und Gemü­se und was man eben braucht, um so aut­ark zu sein, wie es die Umstän­de erlau­ben. Der Abend klingt aus und ich sto­ße mit dir dar­auf an, ihn umzu­set­zen, dei­nen Plan B, und du lachst und freust dich und sagst: Ja, das machen wir. Ich sehe Zukunft, wo ein Fra­ge­zei­chen war. Wir sind Kom­pli­zen, die den Aus­bruch wagen.

In den Tagen dar­auf rech­ne ich zusam­men, was ich gespart habe, dru­cke Immo­bi­li­en­an­ge­bo­te aus, rei­se um die hal­be Welt, um mir einen guten Ein­druck von den inter­es­san­tes­ten Objek­ten zu machen, lese Bestim­mun­gen, pla­ne vor­aus. Drei Wochen spä­ter tref­fen wir uns in dei­ner Woh­nung, ich lege dir Fotos vor, ohne dir mei­nen Favo­ri­ten zu ver­ra­ten, und dei­ne Wahl fällt auf das glei­che Haus. Wir lachen, freu­en uns, gehen Pla­nun­gen durch, über­schla­gen Finan­zen. Ganz die Rea­lis­tin, die du bist, wirfst du ein, du fän­dest das alles wun­der­bar, nur könn­test du nicht von heu­te auf mor­gen dei­ne Woh­nung auf­ge­ben und dei­nen Job kün­di­gen, da gäbe es Fris­ten, und dein Kater mache dir Sor­gen, der habe doch sein Revier, und all das Recht­li­che. Das macht nichts, beschwich­ti­ge ich, dann fah­re ich allei­ne schon mal vor, rich­te alles her, ich küm­me­re mich um unser Haus, wid­me mich dem Büro­kra­ti­schen, freue mich auf dich, und dem Kater wird es gefal­len. Du nickst und dann umarmst du mich auf eine Art, dass ich mich füh­le, als wür­de ich nach lan­ger Odys­see zu Hau­se ankommen.

Am nächs­ten Tag plün­de­re ich mei­ne Kon­ten, bestei­ge ein Flug­zeug und flie­ge einem neu­en Leben ent­ge­gen. Ich kau­fe ein Haus, das Haus, unser Haus, mit rie­si­gem Grund­stück und mod­ri­gem Holz­zaun rund­her­um, die Mau­ern in einem Rot­ton, der dir gefal­len wird, die Zim­mer groß genug, falls wir Besuch oder mal Kin­der haben wol­len. Das Dach ist nicht ganz dicht, wie ich beim ers­ten Regen fest­stel­len muss, aber wir sind es auch nicht. Ich reno­vie­re, ich strei­che, ver­le­ge Böden und ler­ne mau­ern, ich lege mich ins Zeug und füh­le mich zum ers­ten Mal als frei­er Mensch. So ver­brin­ge ich Wochen, dann Mona­te. Mit der Begeis­te­rung eines Kin­des schi­cke ich dir immer wie­der Fotos und selbst­ge­dreh­te Vide­os, und du sagst, du willst noch dei­ne Pro­mo­ti­on fer­tig­stel­len, dann kommst du. Ich freue mich wahn­sin­nig dar­auf, wenn du kommst, ant­wor­te ich dir.

Das Dach ist mitt­ler­wei­le gut, das Haus bezugs­fer­tig, was aus­zu­bes­sern war, habe ich aus­ge­bes­sert. Die Reno­vie­rung kommt vor­an, wenn auch lang­sam, und zwi­schen­drin ver­su­che ich mich als Gärt­ner, lese mich schlau, pflan­ze an, gie­ße, ver­tei­le Dün­ger, hof­fe und war­te. Eini­ges gedeiht, man­ches nicht, und ich bin stolz, weil das für einen ers­ten Ver­such gar nicht so schlecht ist. Du hast von uns bei­den den grü­ne­ren Dau­men, du wirst mich aus­la­chen, wenn du kommst.

Zwei Mona­te spä­ter bekommst du ein Ange­bot für eine Stel­le an der Uni, ein Ein­jah­res­ver­trag, und du sagst, so lan­ge sol­le ich mich noch gedul­den, danach aber kämst du. Mir macht es nichts aus, die Reno­vie­rung braucht noch etwas Zeit, und ich sage, ich freue mich dar­auf, wenn du kommst, du wirst ein wun­der­schö­nes Haus vorfinden.

Drau­ßen wird es lang­sam grün und ich fil­me auch das, schi­cke es dir, will dir zei­gen, dass selbst unter mei­ner Regie pflanz­li­ches Leben mög­lich ist. Du lachst so herz­lich über mei­ne ange­streng­ten Gärt­ner­ver­su­che, dass alle Kilo­me­ter zwi­schen uns ver­ges­sen sind. Kurz bevor du auf­legst, seufzt du, denn du wärst so ger­ne hier, und ich spie­le es her­un­ter, es ist doch nicht mal mehr ein Jahr.

Vier Mona­te ver­ge­hen, in denen wir mai­len, chat­ten, tele­fo­nie­ren, ich schi­cke dir wei­ter­hin Bil­der und Vide­os, hege Vor­freu­de, und dann schreibst du mir, du bist jetzt an einem For­schungs­pro­jekt betei­ligt, das du super inter­es­sant fin­dest, und man erwägt, dich fest ein­zu­stel­len, und wie groß­ar­tig das ist und ob ich mich freue.

Drei Tage spä­ter ant­wor­te ich dir, schi­cke dir einen Link auf ein klei­nes regio­na­les Nach­rich­ten­por­tal, schrei­be sonst nichts. Du rufst mich an, obwohl du nicht viel Zeit hast, wie du mir erklärst, du machst gera­de Pau­se, gleich musst du zurück. Du bist ver­wirrt, sagst du, und ob das ein Scherz sei, aber es ist alles echt, ver­si­che­re ich dir, das Feu­er und der Total­scha­den. Uto­pia ist abgebrannt.

Wir leben ein paar Augen­bli­cke und tun so rasend wich­tig. Der eine braucht den Aus­druck »Schwer­punkt­the­ma«, der and­re spricht von »musi­ka­li­scher Umrah­mung«, der drit­te sagt: »Anfor­de­rungs­pro­fil«, und sol­che Wör­ter tönen so, als wür­den die, die sie ver­wen­den, ewig leben, und ich kann nicht begrei­fen, war­um der Mund kein Scham­teil ist. Wir leben ein paar Augen­bli­cke und ach­ten doch auf Bügel­fal­ten, und ist ein wei­ches Ei zu hart, macht man Thea­ter. Hier fehlt ein Kom­ma! sagen wir. Und wenn der Hür­li­mann nicht end­lich sei­ne Büsche stutzt! Ich steh auf Küm­mel. Nicht mein Typ. Natur­schwamm oder Kunst­stoff­schwamm? Sie wer­den mich noch ken­nen­ler­nen. Ich zie­he Schrit­te in Erwä­gung, da man beim Schwei­zer Radio die vier­te Stro­phe vie­ler Jodel­lie­der meis­tens abklemmt. Du, ist der Mei­er schwul, er trägt ein selbst­ge­strick­tes Rosa-West­chen. Wir leben ein paar Augen­bli­cke und sind so falsch, so schwatz­haft, so him­mel­schrei­end ober­fläch­lich und tun die gan­ze Zeit die Pflicht, die Pflicht und wer­den dabei schlecht und dumm und grö­len in der Frei­zeit blöd her­um und vögeln rup­pig. Wir haben Mut zu nichts und Angst vor allem, wir ste­hen zei­tig auf und tun die Pflicht und schä­men uns, wenn wir mal lie­gen blei­ben, und wären froh um eine Grip­pe. Die Eska­pa­den­freu­dig­keit nimmt ab, man denkt schon vor der Sün­de an den Kat­zen­jam­mer, uns fehlt nicht nur die Lust, uns fehlt sogar die Lust zur Lust, schon sie gilt als obs­zön, nicht aber der Ver­zicht und nicht die Pflicht und nicht die pau­sen­lo­se fei­ge Füg- und Folg­sam­keit und ihre Fol­ge, die Verblödung.
(Mar­kus Wer­ner – Froschnacht)