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Der blaue Brief starr­te mich an. Nein, Quatsch, ich starr­te den blau­en Brief an. Der blaue Brief lag ein­fach nur da. Brie­fe konn­ten nicht star­ren. Gegen­stän­de konn­ten über­haupt kei­ne mensch­li­chen Hand­lun­gen voll­zie­hen. Vie­ler­lei dritt­klas­si­ge Schrift­stel­ler ver­such­ten Din­ge zu ver­mensch­li­chen, lie­ßen sie star­ren, füh­len, rufen, stau­nen. Meist han­del­te es sich dabei um Men­schen, die das Schrei­ben als Beruf bezeich­ne­ten. Wer aber das Schrei­ben als Beruf ver­un­glimpf­te, im Schrei­ben folg­lich eine Art von insti­tu­tio­na­li­sier­ter Arbeit sah, die ja in der Regel mit aller­hand nerv­tö­ten­den Ter­mi­nen, stän­di­ger Pla­cke­rei und dem maß­geb­li­chen Ziel der finan­zi­el­len Absi­che­rung ver­bun­den war, der hat­te sei­ne Lie­be zum geschrie­be­nen Wort schon lan­ge hin­ter sich gelas­sen. Um die­sen Umstand zu ver­ber­gen, bedien­te er sich zahl­rei­cher Knif­fe wie jenem der Ver­mensch­li­chung. Der Leser soll­te wis­sen: Hier ist ein Krea­ti­ver am Werk, ein Poet und Genie, das toten Din­gen Leben ein­hau­chen kann. Aber tote Din­ge waren tot. Wären sie leben­dig gewe­sen, hät­te man sie Lebe­we­sen genannt. Gegen­stän­de konn­ten her­um­lie­gen, fal­len, rol­len, bren­nen, stin­ken, also ein­fach nur da sein, ihre Funk­ti­on erfül­len oder Schwer­kraft und ande­ren äuße­ren Ein­flüs­sen gehor­chen. Was sie nicht konn­ten, war star­ren. Wie­so aber hat­te ich das für einen Moment gedacht? Ich ver­trieb die­sen lau­si­gen Gedan­ken aus mei­nem Kopf, mach­te schlech­te Roma­ne für mei­nen Faux­pas ver­ant­wort­lich und starr­te wei­ter auf Brief.
Aus der Küche hol­te ich mir ein Mes­ser, schnitt einen Apfel in mund­ge­rech­te Stü­cke und setz­te mich essend an den Tisch. Als der blaue Brief sich auch nach zwei Minu­ten noch nicht gerührt hat­te, war ich mir sicher, es han­del­te sich dabei um einen Gegen­stand wie jeden ande­ren, soll hei­ßen: einen leb­lo­sen. Es befand sich kei­ne Brief­mar­ke auf dem Umschlag, was bedeu­te­te, jemand hat­te sich die Mühe gemacht, bis zu mir aufs Land hin­aus zu fah­ren, nur um das Ding dann dis­kret im Brief­kas­ten zu ver­sen­ken, anstatt nach all dem Auf­wand ein­fach an der Tür zu klin­geln. Wäre da die Post nicht sinn­vol­ler gewe­sen, frag­te ich mich. Ande­rer­seits erfor­der­te die Brief­be­för­de­rung per Post gewal­ti­ge finan­zi­el­le Mit­tel auf Sei­ten des Absen­ders, wes­halb sich die­ser ver­mut­lich gedacht hat­te, es wäre doch sehr viel klü­ger, flink ins eige­ne Auto zu stei­gen, ein Dut­zend Kilo­me­ter mit einem Brief auf dem Bei­fah­rer­sitz durch die Land­schaft zu gon­deln, schön viel Schei­ße in die Luft zu bla­sen und den Brief ganz ein­fach per­sön­lich bei mir ein­zu­wer­fen, anstatt es Men­schen zu über­las­sen, die das haupt­be­ruf­lich aus­üb­ten, sowohl das Brie­fe­trans­por­tie­ren als auch das Schei­ße-in-die-Luft-Bla­sen. Das kam dabei her­aus, wenn Men­schen das Recht auf Mobi­li­tät mit einem Anspruch auf Umwelt­ver­schmut­zung ver­wech­sel­ten und Frei­heit mit der Pflicht, von einem Ter­min zum nächs­ten zu düsen, zum Bei­spiel von der Arbeit zur Knei­pe und spä­ter ange­trun­ken ins hei­mi­sche Bett.
Vom Stich­wort ›ange­trun­ken‹ inspi­riert, voll­zo­gen mei­ne Gedan­ken einen Sprung zu einer nahe­lie­gen­den Fra­ge: Wie­so war der Brief eigent­lich blau? Ich wuss­te, dass es hieß, Schu­len wür­den blaue Brie­fe ver­schi­cken, zumal ich wäh­rend mei­ner Schul­zeit so man­chen Brief von mei­ner Schu­le erhal­ten hat­te, sogar mit Brief­mar­ken dar­auf, doch blau war kei­ner davon gewe­sen. Was blieb mir ande­res übrig als ihn zu öff­nen, um die Neu­gier zu befrie­di­gen. Im Brief­um­schlag erwar­te­te mich eine unper­sön­li­che Einladung:

Lie­be Freun­din­nen und Freunde,
zehn Jah­re sind ver­gan­gen, seit wir von der Schul­bank ins wah­re Leben gezo­gen sind. Herz­lich laden wir euch zum gemein­sa­men Wie­der­se­hen ein.

Unter­halb des Tex­tes waren Zeit­punkt, Ort und Anfahrts­weg ver­merkt, wäh­rend auf der Rück­sei­te der Ein­la­dung eine lachen­den Schild­krö­te abge­bil­det war, die ein Zeug­nis in der Hand hielt, was mir als Aus­druck schu­li­scher Leis­tung irgend­wie unan­ge­mes­sen schien, aber genau des­we­gen fast schon sym­pa­thisch wirk­te, gera­de­zu sub­ver­siv. Wahr­schein­li­cher jedoch war, dass der Urhe­ber kei­ner­lei sub­ver­si­ve Ambi­tio­nen heg­te, son­dern das Bild­chen ein­fach nur für lus­tig befun­den hat­te. Man­ches änder­te sich eben selbst in zehn Jah­ren nicht, zum Bei­spiel schreck­li­cher Humor.
Es gab vie­les, das Leid und Elend über die Mensch­heit brach­te, wo immer es auf­trat: Krieg, Miss­gunst, Gier, Eifer­sucht, Natur­ka­ta­stro­phen und eben Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen. Bis jetzt war ich von all­dem ver­schont geblie­ben, aber jemand unter­nahm den Ver­such, das zu ändern. Jemand, der mich uni­la­te­ral als einen Freund bezeich­ne­te, was das Kon­zept der Freund­schaft ad absur­dum führ­te bis ver­höhn­te. Jemand, der die dumm­dreis­te Vor­stel­lung kul­ti­vier­te, nach der Schu­le wür­de man ins ›wah­re Leben‹ zie­hen, wäh­rend die meis­ten doch tat­säch­lich bloß in Ehe, Fabrik oder Büro umge­zo­gen waren.
Ein Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen war eine Ver­an­stal­tung, bei der sich die Bana­li­tät des Bösen unbarm­her­zig offen­bar­te. Men­schen kamen zusam­men, die sich seit ihrer gemein­sa­men Inter­nie­rung in einer Lehr­an­stalt nicht mehr gese­hen, geschwei­ge denn mit­ein­an­der gespro­chen hat­ten. Mit eini­gen war man befreun­det geblie­ben, als man den Schul­ab­schluss end­lich in der Tasche gehabt hat­te, doch beim Groß­teil schätz­te man sich froh, ihn end­lich los zu sein. Das Jubi­lä­ums­tref­fen nun war ein erzwun­ge­ner Pro­zess, der dazu führ­te, die­se natür­lich gewach­se­ne Distanz mit einer syn­the­ti­schen Nähe zu über­win­den, um eine Grund­stim­mung des gegen­sei­ti­gen Wett­be­werbs zu pro­vo­zie­ren. Der Ablauf eines sol­chen Zusam­men­tref­fens war sozi­al streng gere­gelt und ähnel­te jenem Kar­ten­spiel, bei dem die Spie­ler bei­spiels­wei­se Hub­raum, Höchst­ge­schwin­dig­keit, Beschleu­ni­gung oder Zylin­der­zahl der Fahr­zeu­ge auf ihren Spiel­kar­ten mit­ein­an­der ver­gli­chen, wobei der bes­te Wert gewann. Gespielt wur­de es bei einem Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen aller­dings nicht mit tech­ni­schen Daten, son­dern mit per­sön­li­chem Erfolg, beruf­li­cher Leis­tung, Schön­heit des Ehe­part­ners, Lage des Hau­ses, Preis des PKW, Zen­su­ren der Kin­der, Exklu­si­vi­tät des Urlaubs­ziels, Aus­übung von Macht und ande­ren erbärm­li­chen Sta­tus­sym­bo­len der jewei­li­gen Mit­spie­ler. Ich war arbeits­los und unver­hei­ra­tet, besaß weder Auto noch Eigen­heim und war dem­zu­fol­ge alles, was man nicht sein woll­te, wenn man zu einem Klas­sen­tref­fen ging.
Trotz mei­ner Abnei­gung gegen die­ses klein­ka­rier­te Spiel und der offen­sicht­li­chen Zumu­tun­gen einer sol­chen Ver­an­stal­tung nahm ich mir vor, der Ein­la­dung zu fol­gen. Wie eine Art Kriegs­be­richt­erstat­ter woll­te ich das ent­setz­li­che Elend begut­ach­ten, aller­dings mit der nicht zu unter­schät­zen­den Dif­fe­renz, dass ich im Gegen­satz zum unbe­tei­lig­ten Beob­ach­ter auch in Nah­kämp­fe ver­wi­ckelt sein wür­de und aktiv ins Kampf­ge­sche­hen ein­grei­fen müss­te. Das jedoch war ich gewohnt.
Noch am Abend des­sel­ben Tages rief ich jene Freun­de an, die ich von der Schul­zeit ins ›wah­re Leben‹ mit­ge­nom­men hat­te. Ich erkun­dig­te mich, ob sie die Ein­la­dung eben­falls erhal­ten hat­ten und was sie von ihr hiel­ten. Anschlie­ßend erzähl­te ich ihnen von mei­nem Vor­ha­ben und frag­te nach, ob sie die Absicht hät­ten, der Ver­an­stal­tung ihrer­seits bei­zu­woh­nen. Sie lach­ten über die­se Fra­ge und wünsch­ten mir Glück bei mei­ner Expe­di­ti­on. Des­we­gen waren sie mei­ne Freunde.
Eini­ge Wochen spä­ter war es so weit, an einem win­di­gen Sams­tag­abend. Die Ver­an­stal­tung fand in einer Vil­la nahe von Ham­burg statt. Wir waren ein Abitur­jahr­gang, daher gehör­te Distink­ti­on anschei­nend zwangs­läu­fig dazu, die Sehn­sucht nach stan­des­ge­mä­ßer Insze­nie­rung, die­se Selbst­ver­herr­li­chung als Eli­te. Als ich die Räum­lich­kei­ten betrat, war das Gesche­hen schon in Gang. Zu mei­ner Erleich­te­rung hat­te man die Ver­an­stal­tung als eine Art offe­ner Par­ty kon­zi­piert, ohne Sitz­ord­nung und irgend­wel­che Anspra­chen. Es gab ein Buf­fet mit Häpp­chen und Haupt­spei­sen sowie eine Bar mit einem leid­lich moti­vier­ten Bar­kee­per, der unter ande­rem Sekt und schlech­te Drinks ser­vier­te, sodass die Anwe­sen­den sich in wech­seln­der Kon­stel­la­ti­on an Tischen nie­der­las­sen oder kol­lek­tiv her­um­ste­hen konn­ten, was sehr viel ange­neh­mer war, als den gesam­ten Abend an einem gro­ßen Tisch gemein­sam ein­ge­pfercht zu sein.
Ein wenig ver­lo­ren blick­te ich mich um, bis ich Chris sah. Eigent­lich hieß er Chris­ti­an. Zu Schul­zei­ten war er ein Punk gewe­sen, ein Rebell und Non­kon­for­mist, der sich Auto­ri­tä­ten und Hier­ar­chien nicht hat­te beu­gen wol­len und in der Schu­le, die sich ihren Häft­lin­gen als Dis­zi­pli­nie­rung par excel­lence auf­dräng­te, folg­lich so sei­ne Pro­ble­me gehabt hat­te. Er war mir immer sym­pa­thisch gewe­sen, genau aus die­sem Grund. Heu­te trug er einen ver­dammt gut sit­zen­den Anzug und etwas, das er frü­her als Spie­ßer­fri­sur bezeich­net hät­te. Inner­lich muss­te ich lachen. Er ist eine Kari­ka­tur, dach­te ich, er kommt hier­her und hält allen den Spie­gel vor, macht sich lus­tig über sie, betreibt Sub­ver­si­on. Das ver­dien­te Respekt, daher ging ich zu ihm ans Buf­fet, wo er gera­de das Ange­bot begutachtete.
»Mensch, Chris! Schi­ckes Out­fit«, grins­te ich und nahm mir einen Teller.
»Dan­ke«, erwi­der­te er mit einem Hauch von Überraschung.
»Nur für den Scheiß hier hast du dir so’n Ding besorgt?«
»Was? Wer bist du eigentlich?«
Zuerst lach­te ich, doch dann wur­de mir klar, dass er mich wirk­lich nicht erkannt hat­te. Ich stell­te mich ihm vor und wir plau­der­ten eine Wei­le über die Schul­zeit, die frü­he­re Leh­rer, unser Leben nach dem Abschluss und schließ­lich die beruf­li­che Kar­rie­re. Ein Wort, für das er frü­her nur Ver­ach­tung übrig gehabt hat­te. Nun war er der­je­ni­ge, der es aus­sprach. Nach dem Abitur hat­te er her­um­ge­lun­gert, stän­dig gekifft, viel gesof­fen, was man halt so mach­te, wenn man alles ande­re zum Kot­zen fand, was den Alko­hol bis­wei­len ein­schloss. Doch irgend­wann sei ihm die Erleuch­tung gekom­men, sag­te er. Man dür­fe ein Leben nicht so ver­schwen­den, man müs­se etwas auf­bau­en, etwas leis­ten. Ein Sozi­al­ar­bei­ter habe ihm gehol­fen, sich aus sei­ner Cli­que zu befrei­en, wie er es aus­drück­te. Er hat­te einen Job bekom­men, wenig spä­ter auch eine eige­ne Woh­nung. Von da an sei es nur noch auf­wärts gegan­gen, er habe unglaub­lich hart gear­bei­tet, gespart, ange­legt und investiert.
»Heu­te fehlt es mir an nichts«, schwärm­te er mit hör­ba­rem Stolz. »Ich krieg die Kri­se, wenn ich einen jam­mern höre, er fin­det kei­nen Job. Wer nicht faul ist, der fin­det auch was. Man muss sich halt zusam­men­rei­ßen. Sieh mich an. Statt­des­sen wird jeder bestraft, der erfolg­reich ist. Steu­ern hoch, Steu­ern hoch, das ist alles, was ich höre. Mit mei­nem Geld wer­den sol­che Faul­pel­ze finanziert.«
»Sag mal, muss das nicht anstren­gend sein?« hak­te ich mit total beein­druck­tem Gesichts­aus­druck nach.
»Die Arbeit? Ja, schon, aber nur durch Leis­tung kommt man nach oben…«
»Neee, nicht die Arbeit. Jeden Tag die Idea­le, die du mal hat­test, kräf­tig in den Arsch zu ficken, nur für ein paar Scheinchen.«
Ich dreh­te mich um und führ­te einen inne­ren Kampf zuguns­ten der äuße­ren Con­ten­an­ce. Am liebs­ten hät­te ich ihn aus­ge­lacht, wäre das nicht der siche­re Ruin für mei­nen Abgang gewesen.
Das sind die Schlimms­ten, dach­te ich und ließ mei­nen Blick durch den Raum schwei­fen, auf der Suche nach einem neu­en Gesprächs­part­ner. Die­se Schlimms­ten, das waren für mich sozia­le Auf­stei­ger, die von ihren Wur­zeln nichts mehr wis­sen woll­ten. Weil sie selbst es ›geschafft‹ hat­ten, weil sie von der Frucht der Macht gekos­tet hat­ten, ver­teu­fel­ten sie alle, die es nicht taten. Ganz arme Würst­chen waren das. Mit klei­nen Würst­chen ver­mut­lich, weil sol­che Typen immer klei­ne Würst­chen hat­ten und die­sen Zustand irgend­wie zu kom­pen­sie­ren trach­te­ten, doch so genau woll­te ich es nicht in Erfah­rung brin­gen. Das Jahr­gangs­tref­fen fing an, mir Spaß zu machen. Ich kam in Fahrt, und das war gera­de erst der Anfang.
Plötz­lich wur­de ich von der Sei­te ange­spro­chen. Es war Tors­ten, der sei­nen Tel­ler so bers­tend mit Spei­sen bela­den hat­te, wie man es sonst nur von deut­schen Tou­ris­ten aus dem Urlaub kann­te, die die Angst umtrieb, bei einem zwei­ten Gang zum Buf­fet von der Zom­bie­apo­ka­lyp­se heim­ge­sucht zu wer­den, wes­halb sie auf ihren Tel­lern gewag­te Tür­me kon­stru­ier­ten, die allen Regeln der Sta­tik zu wider­spre­chen schie­nen. Im Gegen­satz zu Chris hat­te er mich umge­hend erkannt und wir kamen ins Gespräch. Tors­ten war jemand, mit dem ich mich in der Schu­le gut ver­stan­den hat­te, obwohl ich ihn nie­mals als einen Freund betrach­tet hät­te. Er war das, was man klas­sisch einen Schul­ka­me­ra­den nann­te. Nach­dem wir die Ein­gangs­flos­keln hin­ter uns gebracht hat­ten, erzähl­te er mir von sei­nem Job bei einer gro­ßen inter­na­tio­na­len Werbeagentur.
»Das gei­le an dem Job ist, so vie­le unter­schied­li­che Kun­den zu haben. Man hat stän­dig eine neue Her­aus­for­de­rung, dau­ernd eine kom­plett neue Arbeit mit kom­plett neu­en Ideen. Ich kann mich krea­tiv ganz aus­le­ben und ver­die­ne dabei auch noch ordentlich.«
»Hm«, gab ich den nach­denk­lich Inter­es­sier­ten. »Was für Kun­den hast du da so? Gibt’s da auch wel­che, bei denen du sagst: Das mach ich nicht, die mag ich nicht?«
»Klar gibt’s die! Ich arbei­te nicht für Rüs­tungs­kon­zer­ne, da hab ich ganz deut­lich eine Linie gezo­gen.« Mit dem Fin­ger zog er ganz deut­lich eine Linie in die Luft. »Man will ja auch noch mit gutem Gewis­sen ein­schla­fen können.«
Rüs­tungs­kon­zer­ne taten mir Leid. Kein ein­zi­ger Wer­ber die­ser Welt woll­te frei­wil­lig für sie arbei­ten. Alle sag­ten sie: Nein, das kann ich ethisch nicht ver­ant­wor­ten. Das muss­te der ers­te Satz gewe­sen sein, den sie auf der Wer­be­kas­per­schu­le gelernt hat­ten und seit­dem wie ein Man­tra vor sich her­be­te­ten. Zum Glück besa­ßen Rüs­tungs­kon­zer­ne in der Regel Toch­ter­ge­sell­schaf­ten oder eigen­stän­di­ge Divi­sio­nen, die sich mit zivi­ler Res­te­ver­wer­tung der mili­tä­ri­schen For­schung beschäf­tig­ten und bei­spiels­wei­se LKW statt Pan­zern her­stell­ten, sodass man sich als Wer­ber oder über­haupt als Ange­stell­ter gut damit her­aus­re­den konn­te, mit der Pro­duk­ti­on von dedi­zier­ten Tötungs­in­stru­men­ten nichts am Hut zu haben. Das war for­mal zwar zwei­fel­los kor­rekt, aber spitz­fin­dig, doch wenn es dem Selbst­be­trug dien­lich sein konn­te, war frei­lich jedes Mit­tel erlaubt.
»Wow!« bewun­der­te ich sei­ne ethi­sche Stand­fes­tig­keit und erin­ner­te mich an die Arbei­ten sei­ner Lügen­bu­de. »Ich stel­le mir das gera­de vor. Da kommt so ein schmie­ri­ger Rüs­tungs­kon­zern zu dir und sagt: Bit­te erstel­len Sie mir eine tol­le Wer­be­kam­pa­gne – und du, du sagst ganz kon­se­quent: Nein! Am nächs­ten Tag stellt sich dann ein Ener­gie­kon­zern bei dir vor, der zu den größ­ten Umwelt­sün­dern des Lan­des gehört, und du ver­passt ihm ein grü­nes Image. Das ist ethisch echt gleich viel besser.«
»Über die­se Kam­pa­gne gab es intern eine rege Dis­kus­si­on, auch ethisch. Wir haben uns dann am Ende für den Auf­trag ent­schie­den, weil der Kon­zern auch viel in grü­ne Ener­gie inves­tiert und…«
»Und weil das Geld so zahl­reich floss, du schlei­mi­ge Wer­be­hu­re!« unter­brach ich ihn frech und nutz­te sei­ne sicht­li­che Über­for­de­rung, um noch ein wenig nach­zu­le­gen: »Eini­ge Wochen spä­ter kriechst du einer Fir­ma zu Kreuz, die ihre Mit­ar­bei­ter wie den letz­ten Dreck behan­delt. Dei­ne schö­ne Agen­tur aber küm­mert sich dar­um, sie als sozi­al gerech­tes Wohl­tä­tig­keits­pa­ra­dies dar­zu­stel­len. Ich mei­ne, hey, du bist so kon­se­quent mit dei­nen mora­li­schen Grund­sät­zen, das ist echt beein­dru­ckend! Mann, ich bin so froh, dass du nachts gut schla­fen kannst, weil du nichts für Rüs­tungs­kon­zer­ne machst.«
Da stand er und schau­te wie ein Hund beim Kacken, der sich kei­ner Schuld bewusst war. Wenn es einen irdi­schen Zugang zur Höl­le gab, dann lag er unter­halb die­ses Gebäu­des und hat­te sich erst kürz­lich auf­ge­tan, um die hier anwe­sen­den Geschöp­fe aus­zu­spei­en. Er wür­de sie hof­fent­lich auch wie­der zurücknehmen.
Gab es denn kei­ne ver­nünf­ti­gen Men­schen in die­sem Haus? Zwei klei­ne Grup­pen stan­den her­um und waren unter­ein­an­der jeweils in Dis­kus­sio­nen ver­tieft, soweit ich das beur­tei­len konn­te. Ich über­leg­te, ob ich mich zu einem der bei­den Grüpp­chen dazu­ge­sel­len und mit­dis­ku­tie­ren soll­te, war aber an der Umset­zung die­ser Vor­stel­lung nicht ernst­haft inter­es­siert, weil ich seit jeher das Gespräch unter vier Augen bevor­zug­te. Dann sah ich Pia. Sie saß allei­ne an einem Tisch, vor sich ein Glas Sekt, an dem sie hin und wie­der nipp­te. In der Schu­le war sie so etwas wie eine graue Maus und eher am unte­ren Ende der aus­rei­chen­den Noten­ska­la behei­ma­tet gewe­sen, was ich nicht tra­gisch fand, ihre Eltern damals aller­dings umso mehr. Nun jedoch trug sie zwei ansehn­li­che Bil­dungs­ab­schlüs­se vor sich her, die sie für jede Beschäf­ti­gung qua­li­fi­zier­ten. Außer­dem hat­te sie zu viel Make-up auf­ge­tra­gen, doch war dies ein Phä­no­men, das ich an vie­len Frau­en beob­ach­ten konn­te, die allem Anschein nach ver­in­ner­licht hat­ten, was man ihnen fort­wäh­rend weis­ma­chen woll­te. Jede belie­bi­ge Kos­me­tik­wer­bung sug­ge­rier­te, Frau­en sei­en von Natur aus häss­li­che Krea­tu­ren, nicht im Ansatz begeh­rens­wert, wenn sie sich nicht hin­ter Mas­ken ver­ber­gen wür­den, an denen ande­re kräf­tig ver­dien­ten. Lie­ber tru­gen sie zu viel auf als gar nichts, aus Angst vor ihrem eige­nen Gesicht. Ein­mal war ich ver­liebt an mei­ne dama­li­ge Freun­din her­an­ge­tre­ten mit den Wor­ten: ›Du bist am schöns­ten, wenn du unge­schminkt bist‹. Da hat­te sie gelacht und mir kein Wort geglaubt.
Pia sah nicht so aus, als wäre ihr zum Lachen zumu­te. Ner­vös durch­streif­te sie mit ihren Bli­cken den Raum und schien nach jeman­dem zu suchen. Sie war zu Schul­zei­ten immer sehr nett zu mir gewe­sen, viel­leicht auch ein biss­chen ver­knallt, dar­um ließ ich mich an ihrem Tisch nie­der und begrüß­te sie mit eini­gen freund­li­chen Wor­ten. Wir kamen ins Gespräch. Eigent­lich, so erzähl­te sie mir, war sie mit einer Freun­din her­ge­kom­men, mit Kath­rin, die sich jedoch auf der Suche nach einer Toi­let­te im Ober­ge­schoss ver­drückt hat­te, in ver­däch­ti­ger zeit­li­cher Nähe zu Sebas­ti­an, was deren bei­der Abwe­sen­heit durch­aus erklär­te. Sebas­ti­an war ver­hei­ra­tet, hat­te die­sen unglück­li­chen Umstand, wie es schien, gleich­wohl tem­po­rär ver­drängt, so wie man trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen eben häu­fig den Zugang zum Bewusst­sein ver­wehr­te. Das war wis­sen­schaft­lich erwie­sen, daher soll­te nie­mand den Zei­ge­fin­ger erhe­ben und behaup­ten, der Betrug an sei­ner Frau sei Sebas­ti­ans eige­ne Ent­schei­dung, geschwei­ge denn des­sen Schuld gewesen.
Pia und ich jeden­falls mach­ten uns dar­über lus­tig wie gute Läs­ter­schwes­tern. Nach einer Wei­le ver­such­te ich, das Gespräch in span­nen­de­re Gewäs­ser zu navi­gie­ren, weil harm­lo­se Läs­te­rei­en zwar recht auf­lo­ckern­de Gesprächs­in­hal­te dar­stell­ten, mich das gesam­te Kon­zept des Läs­terns aber doch sehr an Gar­ten­zwer­ge und Block­wart­ment­a­li­tät erin­ner­te. Ein The­men­kom­plex, mit dem man jeder­zeit Freun­de gewin­nen konn­te, ob nun im Super­markt an der Kas­se, in der Sau­na oder auf dem Zahn­arzt­stuhl, war das gern kon­fe­rier­te Feld der Poli­tik. Ich sprach die um sich grei­fen­de Finanz­kri­se an, die bereits jetzt das Leben von Mil­lio­nen Men­schen zer­stört hat­te, obwohl sie gera­de erst am Anfang stand. Ich belä­chel­te die anhal­tend her­bei­fan­ta­sier­te Mär vom Auf­schwung, der komi­scher­wei­se bei nie­man­dem so recht ankam. Ich erwähn­te den Jubel um sin­ken­de Arbeits­lo­sen­zah­len, die kei­ner, der noch ganz bei Trost war, für etwas ande­res als Pro­pa­gan­da hal­ten konn­te. Die gan­zen ekel­haf­ten Nach­rich­ten eben, wäh­rend Pia bei allem still nickte.
»Mich kotzt das echt an, so ver­arscht zu wer­den«, rumor­te es aus mir her­aus. »Ver­gleich das mal mit dem Ara­bi­schen Früh­ling. Da gehen Men­schen auf die Stra­ße, weil sie demo­kra­ti­sche Mit­be­stim­mung for­dern. Hier­zu­lan­de schimpft man über die Schwer­fäl­lig­keit demo­kra­ti­scher Ent­schei­dungs­fin­dung und ver­tei­digt allen Erns­tes ein­ge­schränk­te Mit­be­stim­mungs­rech­te, wo immer sie auf­tre­ten, weil Beschlüs­se ja so viel effi­zi­en­ter gefällt wer­den könn­ten, wenn weni­ger Men­schen dar­an betei­ligt wären. Markt­ge­rech­te Demo­kra­tie nen­nen sie das und schie­len mit einem Auge auf Chi­na. Da weiß man doch, was man von so einer Demo­kra­tie zu hal­ten hat, oder?«
»Ach, weißt du, das inter­es­siert mich alles nicht so recht. Man darf im Leben nur das Posi­ti­ve sehen, und das tue ich. Ich schaue kei­ne Nach­rich­ten mehr, weil mich das unglück­lich macht.«
So also sahen Men­schen aus, die Lebens­rat­ge­ber lasen wie: ›Mit Yoga zum Glück‹, ›Lachen für ein gutes Leben‹, ›Dank Posi­ti­vem Den­ken aus der Arbeits­lo­sig­keit‹, ›Grin­sen gegen Krebs‹. Oder schlim­mer noch: die sol­chen Schund schrie­ben, um ande­re aus­zu­neh­men, die den Mist glaub­ten. Die­se Men­schen hat­ten kei­nen ande­ren Lebens­in­halt vor­zu­wei­sen als alles wahn­sin­nig schön zu fin­den. Wenn es eines gab, das mich stär­ker ankotz­te als ver­arscht zu wer­den, dann war es die Kraft der posi­ti­ven Wahr­neh­mung, die Igno­ranz auf Speed, die alle Pro­ble­me der Mensch­heit leicht­fü­ßig lösen soll­te. Hun­ger in der Drit­ten Welt? Man schlürf­te Pro­sec­co. Mord im Namen der Frei­heit? Man sah sich einen lus­ti­gen Film an. Ölplatt­form geplatzt? Man gönn­te sich mal was. Opti­mis­mus statt Ver­nunft, Apa­thie statt Zorn. Die Höl­le, das war sie. Wer vor­über­ge­hend doch ein­mal aus dem Glück­se­lig­keits­fa­schis­mus pur­zel­te, der schlug rasch in der Rat­ge­ber­li­te­ra­tur nach, wie man ange­passt zu leben hat­te, anstatt ein­fach mal in sich hin­ein­zu­hor­chen und auf den Tisch zu hauen.
»Wür­dest du das auch klei­nen Kin­dern ins Gesicht sagen, die vor Hun­ger ver­re­cken? ›Seht das Posi­ti­ve: Ihr müsst zum Abneh­men nicht jog­gen gehen‹? Oder zu Zwangs­ar­bei­tern im KZ? ›Seht das Posi­ti­ve: Jeder hier hat einen Arbeits­platz‹? Men­schen wie du kot­zen mich an, weil sie mit ihrer opti­mis­ti­schen Igno­ranz die gan­ze Schei­ße auf der Welt erst ermöglichen.«
Mit ihrem am Boden hän­gen­den Unter­kie­fer ließ ich sie zurück, bevor sie die Chan­ce hat­te, mir den Sekt ins Gesicht zu schüt­ten. Ich kam mir vor wie eine Mut­ter, die ihrem Balg irgend­was ver­bie­ten oder es zum Auf­es­sen bewe­gen woll­te und zu die­sem Zweck ganz scham­los die afri­ka­ni­sche Bevöl­ke­rung ins Spiel brach­te, als hät­te die es nicht schon schwer genug gehabt, selbst ohne euro­päi­sche Scheiß­müt­ter. Glück­li­cher­wei­se hat­te ich mit mei­nem Nazi­ver­gleich noch auf die seriö­se rhe­to­ri­sche Ebe­ne zurück­ge­fun­den. Einer­seits tat Pia mir leid, weil sie mir vor­mals wirk­lich sym­pa­thisch gewe­sen war; ande­rer­seits dien­te sie ja wirk­lich als Steig­bü­gel­hal­ter für das Böse auf die­sem Pla­ne­ten, zwar nicht sie allein, aber ihre Denk­wei­se. Das soll­te man Men­schen auch klipp und klar mitteilen.
Von einer der her­um­ste­hen­den Grup­pen spal­te­te sich jemand ab und kam gera­de­wegs auf mich zu. Es war Mai­ke. Sie muss­te mei­ne Unter­hal­tung mit Pia gese­hen haben, die zuge­ge­be­ner­ma­ßen etwas aus dem Ruder gelau­fen war. Vor­sorg­lich berei­te­te ich mich auf das Schlimms­te vor. Mai­ke aber kam zu mir her­über, leg­te einen Arm um mei­ne Schul­ter und fing an, sich über Pia lus­tig zu machen.
»Ihr zwei habt euch ganz schön in die Haa­re gekriegt. Was war da los? Haben dir ihre neu­en Tit­ten nicht gefal­len? Ganz schön bil­lig so was. Was für ein Flittchen!«
Mai­ke trug Schu­he mit Keil­ab­sät­zen, die bei jun­gen Frau­en und sol­chen, die sich dafür hiel­ten, schwer ange­sagt waren. Wenn ich ein sol­ches Unge­tüm an einem Frau­en­fuß ent­deck­te, war mein ers­ter Ein­druck jedes Mal, die arme Frau sei behin­dert und dass es sich um eine ortho­pä­di­sche Maß­nah­me han­deln muss­te, die die Län­ge ihrer Bei­ne künst­lich aus­glei­chen soll­te. Da der ande­re Fuß jedoch in der Regel mit einem ent­spre­chen­den Gegen­stück aus­ge­stat­tet war, prä­zi­sier­te ich mei­ne Dia­gno­se gewöhn­lich auf eine geis­ti­ge Behin­de­rung, die sich als so genann­tes Mode­be­wusst­sein aus­gab. Vie­le Frau­en und Män­ner fie­len ihr tag­täg­lich zum Opfer. Aus die­ser Posi­ti­on her­aus über die Ästhe­tik auf­ge­pump­ter Brüs­te zu urtei­len, erschien mir gewagt.
»Ihre Brüs­te sind ihr kleins­tes Pro­blem«, sag­te ich, was sehr viel lus­ti­ger gewe­sen wäre, hät­te sie klei­ne Brüs­te gehabt. Der Alko­hol in Mai­kes Blut­bahn befand es trotz­dem des Kicherns wür­dig. »Du wirst es nicht glau­ben, aber wir sind über Poli­tik ins Strei­ten geraten.«
»Ha! Genau mein Metier. Kein Wun­der, dass du da ver­zwei­felt bist. Mit der kann man sich über so was nicht unter­hal­ten. Die ist dafür halt zu dumm.«
Vol­ler Stolz erklär­te sie mir wort­reich, für ein Nach­rich­ten­ma­ga­zin bei einem gro­ßen Pri­vat­sen­der zu arbei­ten und sich in die­ser Funk­ti­on natür­lich viel mit Poli­tik zu beschäf­ti­gen, zumin­dest unter ande­rem. Das war der Knack­punkt: Unter ande­rem. Ihr Arbeits­platz befand sich in der Redak­ti­on eines die­ser Life­style-Maga­zi­ne, die am frü­hen Abend auf allen Pri­vat­sen­dern aus­ge­strahlt wur­den und das Pro­jekt der Auf­klä­rung mit nega­ti­vem Vor­zei­chen fort­führ­ten. Zu sehen gab es dort groß­ar­ti­ge Ein­spie­ler über stol­pern­de Poli­ti­ker, was Mai­kes Inter­es­se an poli­ti­schen Pro­zes­sen erklärt und auch erschöpft haben dürf­te, inves­ti­ga­ti­ve Repor­ta­gen über neu­es­te Mode­trends aus Hol­ly­wood und wis­sen­schaft­li­che Bei­trä­ge über was­ser­fes­tes Make-up, in denen wil­li­ge Feu­er­wehr­män­ner geschmink­ten Frau­en ins Gesicht spritz­ten, was in den Hir­nen der Redak­ti­ons­chefs für rie­si­ge Stän­der und puber­tä­res Geki­cher gesorgt haben dürf­te. Den­noch gab es Frau­en, die sich dazu ernied­ri­gen lie­ßen, so eine Sen­dung zu mode­rie­ren oder an deren Pro­duk­ti­on will­fäh­rig teil­zu­neh­men, wor­auf sie am Ende auch noch stolz waren. Die Eman­zi­pa­ti­on dreh­te sich im Grab her­um, wenn sie sol­che Sen­dun­gen emp­fing, obwohl Gleich­be­rech­ti­gung ja auch bedeu­te­te, genau­so schei­ße wie manch Mann sein zu dürfen.
»Wow!« sprach ich, wor­auf Mai­ke mich eitel anlä­chel­te. »Du arbei­test also für einen Ver­ein, der sich tage­lang mit den Hös­chen von Lady Gaga beschäf­ti­gen kann, aber für das Welt­ge­sche­hen kei­ne Sen­de­mi­nu­ten übrig hat; der Men­schen unauf­hör­lich Luxus­gü­ter prä­sen­tiert und sie wie Esel mit gol­de­ner Möh­re vorm Maul zum ewi­gen Wei­ter­ackern moti­viert; der sich über Rand­grup­pen lus­tig macht, damit sich noch der letz­te Idi­ot vor dem Fern­se­her so rich­tig gut füh­len kann?«
Zum Abschluss unse­rer Show stell­te ich ihr die Eine-Mil­li­on-Euro-Fra­ge: »Wie kann man denn so weit sinken?«
Sie stieß ein empör­tes ›Pöh!‹ aus, dreh­te sich um und zisch­te mit erho­be­nem Näs­chen davon. Eini­ge Augen­bli­cke spä­ter gesell­te sie sich zu Tors­ten an einen Tisch. Sie tuschel­ten mit­ein­an­der, als sie zu mir her­über­sa­hen. Ich hob mein Glas, zwin­ker­te ihnen fröh­lich zu und stat­te­te mein Gesicht mit einem wohl­wol­len­den Lächeln aus, das sie ver­wirr­te. Bei­de gaben vor, mich nicht gese­hen zu haben, wand­ten mir ihre Rücken zu, schüt­tel­ten die Köp­fe. Lang­sam wur­de es heiß.
Von so viel Ekel erschüt­tert, such­te ich kör­per­li­che Erleich­te­rung. Im gesam­ten Erd­ge­schoss konn­te ich nur ein ein­zi­ges Bade­zim­mer ent­de­cken, was ich für eine Vil­la dann doch recht schä­big fand. Noch schä­bi­ger aber war, dass es von jeman­dem benutzt wur­de. Vor der geschlos­se­nen Tür stand Micha­el, der offen­sicht­lich auch auf Ein­lass in das Hei­lig­tum war­te­te. Sei­nen Kopf schmück­te eine Gel­fri­sur, die irgend­wie mit einer grau gerahm­ten Klug­schei­ßer­bril­le eine Sym­bio­se ein­ge­gan­gen war. Klug­schei­ßer­bril­len unter­schie­den sich von regu­lä­ren Bril­len dadurch, dass dem Trä­ger in ers­ter Linie nicht die funk­tio­na­le Leis­tung am Her­zen lag, also mit sei­nen Glub­schern etwas von der Welt wahr­neh­men zu kön­nen, son­dern die Fremd­wahr­neh­mung als gebil­de­ter Bür­ger, als Mensch mit Durch­blick, nicht phy­sisch, son­dern intel­lek­tu­ell. Die­ser wie­der­um unter­schied sich deut­lich vom hip­pen Mit­läu­fer, der eine Bril­le aus rein ästhe­ti­schen Grün­den trug, bevor­zugt im so genann­ten Vin­ta­ge-Look, und die­sen Schwach­sinn auch noch mit­ge­macht hät­te, wenn es ange­sagt gewe­sen wäre, Hör­ge­rä­te oder Krü­cken zu tragen.
Den gebüh­ren­den Respekt wah­rend, der mit der Benut­zung öffent­li­cher Bedürf­nis­an­stal­ten all­ge­mein ein­her­ging, stand ich untä­tig her­um und begut­ach­te­te schwei­gend das auf­re­gen­de Mus­ter der Rau­fa­ser­ta­pe­te. Micha­el kann­te kei­nen Respekt. Er sprach mich an. Nach kur­zem Weißt-du-noch- und Na-wie-geht’s‑Geplänkel fing auch er an, letz­te­re Fra­ge mit lan­gen Aus­schwei­fun­gen über sei­ne beruf­li­che Tätig­keit zu beant­wor­ten. War­um bloß rede­ten so vie­le Men­schen von ihrer Arbeit, von ihrem Stu­di­um, von ihrem Fit­ness­club oder ihrem liebs­ten Fuß­ball­ver­ein, wenn man sie frag­te, wie es ihnen geht. Hat­ten sie kein eige­nes Leben jen­seits der Fremdbestimmung?
Micha­el jeden­falls erzähl­te mir, schon seit län­ge­rer Zeit für eine sehr bekann­te Musik­zeit­schrift zu arbei­ten, für den unglaub­lich krea­tiv benann­ten ›Laut­spre­cher‹.
»Die Atmo­sphä­re in der Redak­ti­on ist ein­fach toll«, him­mel­te er mir unge­fragt vor. »Alle sind total jung, total locker. Jeder hat ganz viel Frei­heit. Das ist für mich echt ein Traum­job. Die gan­ze Zeit darf ich Musik hören, dar­über schrei­ben, sie bewer­ten, darf mich mit Künst­lern tref­fen und Inter­views füh­ren, in die Sze­ne ein­tau­chen und neue Trends ent­de­cken – oder wel­che set­zen. Natür­lich steckt da auch viel Arbeit drin, aber die ist es wert. Uns geht es ein­fach nur um gute Musik.«
Wer kei­nen Musik­ge­schmack auf­wei­sen konn­te, der las Musik­zeit­schrif­ten, die ihren Lesern die läs­ti­ge Auf­ga­be eige­ner Mei­nungs­bil­dung gegen ein Ent­gelt bereit­wil­lig abnah­men. Ähn­li­che Publi­ka­tio­nen gab es für Lite­ra­tur, Mode, Lyrik, Fil­me, Kat­zen­bil­der, Scheiß­hau­fen und so ziem­lich alles, was Men­schen sonst noch her­vor­brach­ten. Sie stan­den in bes­ter Tra­di­ti­on jenes Men­schen­ty­pus, der sich von Gott oder ande­ren Wahn­vor­stel­lun­gen dazu beru­fen fühl­te, kul­tu­rel­le Aus­drucks­for­men zu bewer­ten und dabei vor­wie­gend ›man‹ statt ›ich‹ zu gebrau­chen, wie etwa: ›das hört man nicht‹, ›das liest man nicht‹, ›das sagt man nicht‹, ›das trägt man nicht‹. Die­se hoheit­li­chen Ver­dik­te fan­den ihre treu­en Abneh­mer unter jenen, die sich durch Anschluss an bestehen­de Trends und Moden Indi­vi­dua­li­tät zu geben ver­such­ten. Das Resul­tat war eine Armee von see­len­lo­sen Zom­bies, die sich bei jedem Lied, bei jedem Film, bei jedem Klei­dungs­stück und jedem Buch erst ein­mal ange­strengt den Kopf dar­über zer­bra­chen, ob sie es denn über­haupt gut fin­den dür­fen, und zur Klä­rung die­ser Fra­ge ihre hei­li­gen Schrif­ten konsultierten.
»Du sagst also ande­ren, was gute Musik ist und was nicht? Woher willst du das denn wis­sen? Bist du die Talent­po­li­zei? Die Geschmacks­ge­sta­po? Ist dir klar, dass es da drau­ßen unglaub­lich vie­le Men­schen gibt, die irgend­wel­che Bands schlecht fin­den, bloß weil du sie schlecht fin­dest? Die dei­ne Tex­te lesen und deren Inhalt dann als eige­ne Mei­nung aus­ge­ben? Macht dich das geil? Raffst du nicht, wie spie­ßig das ist?«
»Bist du…«, woll­te ich wei­ter aus­ho­len, als die Tür des Bade­zim­mers abrupt geöff­net wur­de. Her­aus kam René, wäh­rend sich Micha­el dank­bar dar­in ver­drück­te. René muss­te so sehr auf die Beherr­schung sei­nes bes­ten Stücks fixiert gewe­sen sein, dass er die Unter­hal­tung vor der Bade­zim­mer­tür gar nicht mit­be­kom­men hat­te. Anders konn­te ich mir nicht erklä­ren, wie­so er ste­hen­blieb und mir beschwingt die Hand gab, die er hof­fent­lich gewa­schen hat­te. Wie ich bald dar­auf erfuhr, war er Bank­an­ge­stell­ter und leb­te mit sei­ner Frau und zwei Kin­dern in der Frank­fur­ter Innen­stadt. Stolz zeig­te er mir Fotos der bei­den Töch­ter, gar­niert mit epi­schen Geschich­ten von Hele­nes wun­der­vol­ler Ein­schu­lung und den groß­ar­ti­gen Noten der fünf Jah­re älte­ren Marie-Sophie. Mein Ein­druck war, ich hat­te einen Men­schen vor mir, der ein Leben am Limit führ­te, weil er ohne Kom­pro­mis­se eine kon­se­quent selbst­be­stimm­te Linie fuhr und sei­ne abge­dreh­ten Lebens­träu­me erfüllt hat­te, also Füh­rer­schein, Abitur, dann Wirt­schafts­stu­di­um und Rei­hen­haus­hälf­te. Als er nach einer gefühl­ten Ewig­keit den Vor­rat des fami­lia­len Erfolgs erschöpft hat­te, den es zu erzäh­len lohn­te, war es an mir, den eige­nen Kar­rie­re­pfad gla­mou­rös nachzuzeichnen.
»Und was machst du so? Ich hab gehört, bei dir lief es nicht so toll?«
»Ich bin arbeits­los«, erwi­der­te ich treuherzig.
»Oje. Ist das nicht schrecklich?«
Ich fand, das war eigent­lich eine sehr gute Fra­ge, wenn er sie nur nicht unbe­dingt mir gestellt hätte.
»Ich fin­de, das ist eigent­lich eine sehr gute Fra­ge«, ant­wor­te­te ich der Wahr­heit zulie­be. »Mal sehen. Du stehst jeden Mor­gen auf, damit du etli­che Stun­den hin­ter Pan­zer­glas ver­brin­gen kannst, wo du den Gewinn dei­ner scheiß Bank ver­mehrst, von dem du aber nie etwas zu Gesicht bekom­men wirst. Wenn du Glück hast, kannst du zwei Mal im Jahr in irgend­ei­nen tol­len Pau­schal­ur­laub fah­ren oder Ski­lau­fen gehen, aber sonst ist jeder Tag so lang­wei­lig wie der letz­te. Stän­dig machst du dir die Hosen voll vor Angst, irgend­wann mal dei­nen Job zu ver­lie­ren oder bei einem Über­fall erschos­sen zu wer­den – was auch sein Gutes hät­te, weil dei­ner Fami­lie dann immer­hin noch die Lebens­ver­si­che­rung zukom­men wür­de. Ist das nicht schrecklich?«
Er ließ mich eis­kalt ste­hen. Wenig spä­ter kam Micha­el aus dem Bade­zim­mer und ging wort­los an mir vor­bei. Ich frag­te mich, ob er René und mich belauscht hat­te. Was sonst konn­te ihn so lan­ge dort drin beschäf­tigt haben?
Beim Was­ser­las­sen mal­te ich mir aus, dass drau­ßen Möbel vor die Tür gescho­ben wur­den, um die Par­ty end­lich von einem stö­ren­den Ele­ment zu befrei­en, das zufäl­lig mei­nen Namen trug. Als ich schließ­lich die Tür öff­ne­te, stan­den jedoch kei­ne Möbel davor, son­dern Han­na. Han­na arbei­te­te mitt­ler­wei­le als Pfle­ge­rin in einer Psych­ia­trie, wie ich von Pia erfah­ren hat­te. Sie war Betreue­rin, The­ra­peu­tin, Psy­cho­lo­gin, Psy­cho­the­ra­peu­tin, Psy­cho­psy­cho­lo­gin, Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin, psy­cho­pa­thi­sche The­ra­peu­tin oder was weiß ich, wel­cher Begriff gera­de für Mecha­ni­ker des Innen­le­bens en vogue war, die sich in sol­chen Anstal­ten der emo­ti­ons­lo­sen Behand­lung emo­tio­na­ler The­men ver­schrie­ben hat­ten, der Behe­bung mensch­li­cher Defek­te, not­falls mit­hil­fe der Che­mie, damit der Motor wei­ter­hin brumm­te. Um allen Kli­schees gerecht zu wer­den, trug sie eine rote Bril­le. Viel­leicht ist sie beauf­tragt wor­den, mich nach den bis­he­ri­gen Zusam­men­stö­ßen mit dem Jahr­gang in ihre Arbeits­stät­te ein­zu­wei­sen, mut­maß­te ich.
Nichts der­glei­chen geschah. Sie nick­te mir zu und sag­te Hal­lo. Den bis­he­ri­gen Ver­lauf des Abends noch ein­mal Revue pas­sie­ren las­send, beschloss ich, das übli­cher­wei­se von mei­nen Gesprächs­part­nern bevor­zug­te The­ma dies­mal ein­fach vorwegzunehmen.
»Du bist jetzt in einer Psych­ia­trie, hab ich gehört.«
»Ja, schon.« Han­na lach­te. »Aber als Ärz­tin, nicht als Patientin.«
Das war den Wach­mann­schaf­ten sol­cher Ein­rich­tun­gen wich­tig. Kla­re Rol­len­gren­zen muss­ten gezo­gen, ein­deu­ti­ge Hier­ar­chien und eine unver­rück­ba­re Nor­ma­li­tät als Bezugs­rah­men kon­stru­iert wer­den. Wider­sprach der Pati­ent, war er ver­rückt. Gehorch­te er, gestand er sei­ne Ver­rückt­heit. Hin­ein kamen Men­schen mit einem Knacks, her­aus kamen sie mit schwe­ren Schä­den. Wer dort arbei­te­te, war der eigent­li­che Irre, wur­de aber nicht so genannt, denn er war es auf eine mit dem als ›nor­mal‹ ver­kann­ten Wahn­sinn sehr kon­form gehen­de Art und Weise.
»Ach, das ist ja ver­rückt«, kalau­er­te ich und luchs­te ihr ein Schmun­zeln ab. »Was machst du da so?«
»Viel Ver­rück­tes!« Zwei glei­che Wort­wit­ze waren einer zu viel. »Aber im Ernst: Das ist echt super wich­ti­ge Arbeit. Mit was für Men­schen man da zu tun hat, das ist der Wahnsinn.«
Sie hat­te ihre Aus­fahrt von der Wort­spiel­au­to­bahn ver­passt. Gequält ver­renk­te ich mei­ne Mund­win­kel, um mög­lichst lebens­nah ein Lächeln zu simulieren.
»Letz­ten Monat«, erzähl­te sie mir, »kam ein Mäd­chen zu uns, das wir vor dem Sui­zid geret­tet haben. Die woll­te sich umbrin­gen, weil sie in der Schu­le nicht mehr mit­kam. Ihre Ver­set­zung war gefähr­det, dann hät­te sie ein Jahr wie­der­ho­len müs­sen. Die gan­zen Freun­de in der Klas­se hät­te sie natür­lich auch ver­lo­ren und gegen­über ihren Eltern schäm­te sie sich. Ihr war das alles zu viel. Ihre Eltern fan­den sie in ihrem Zim­mer. Tabletten.«
»Krass!« flüs­ter­te ich nur.
»Das kannst du laut sagen. Na ja, aber die Hil­fe kam ja noch recht­zei­tig. Wir haben ihr dann gehol­fen, da durch­zu­kom­men. Sie hat­te sich über­for­dert, woll­te sich nicht ein­ge­ste­hen, dass sie die Stu­fe nicht schaf­fen wür­de, also konn­te sie nur wei­ter­ma­chen, bis alles an die Wand fuhr. Ich hab dann mit ihr gespro­chen, hab ihr klar­ge­macht, dass es bes­ser für sie ist, auf eine leich­te­re Schu­le zu wech­seln, um den Druck ein wenig zu redu­zie­ren. Da wür­de sie zwar auch ihre Freun­de ver­lie­ren, aber eben nicht die Lust am Leben. Gott sei Dank hat sie das ein­ge­se­hen. Am Ende war sie rich­tig glück­lich, dass alles noch mal gut aus­ge­gan­gen ist. Das sind so Momen­te, in denen ich weiß, das Rich­ti­ge zu tun. Men­schen zu helfen.«
Die Unter­hal­tung mit René schwirr­te mir noch im Hin­ter­kopf her­um und so rief sie mir ins Bewusst­sein, was ich Wich­ti­ges von ihm gelernt hatte.
»Fin­dest du das nicht schreck­lich?« frag­te ich sie mit treu­doo­fem Blick.
»Natür­lich ist das schreck­lich!« ant­wor­te­te sie mit dem geho­be­nen Selbst­be­wusst­sein der­je­ni­gen, die sich auf der guten Sei­te wähn­ten. »Aber zum Glück ging es gut aus. Wir haben ja noch mal die Kur­ve gekriegt.«
»Neeee. Ich mein­te, ob du nicht schreck­lich fin­dest, was du da machst.«
Sie stutzte.
»Da kommt ein Mäd­chen zu dir, das sich umbrin­gen möch­te, weil sei­ne Schu­le ihm den Ein­druck ver­mit­telt, doof und unfä­hig zu sein, und anstel­le dar­aus den ein­zi­gen empa­thi­schen Schluss zu zie­hen, dass das ein ver­dammt beschis­se­nes Sys­tem sein muss, wenn es Kin­dern eine sol­che Ernied­ri­gung zumu­tet, über­zeugst du das arme Mäd­chen davon, auf eine leich­te­re Schu­le zu wech­seln. Damit sagst du ihm doch ins Gesicht, dass es wirk­lich doof und unfä­hig ist! Du machst dich zum Hand­lan­ger von Struk­tu­ren, wegen der sie sich hat umbrin­gen wol­len – und du fühlst dich auch noch gut dabei! Fin­dest du das nicht men­schen­ver­ach­tend? Was zum Teu­fel machst du an ande­ren Tagen? Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fern erklä­ren, sie wären doch selbst schuld, wenn sie sich wie Schlam­pen anziehen?«
Sicher­lich kann­te Han­na unzäh­li­ge Begrif­fe, die sie mir ger­ne um die Ohren gehau­en hät­te. ›Anti­so­zia­le Per­sön­lich­keits­stö­rung‹ bei­spiels­wei­se, weil ich es wag­te, ihre patho­lo­gi­sche Nor­ma­li­tät in Fra­ge zu stel­len. Schu­le schwän­zen galt eben­falls als anti­so­zia­les Ver­hal­ten. Wenn aber einer begriff, so wie Chris das frü­her getan hat­te, dass Schu­le und Gefäng­nis zahl­rei­che Par­al­le­len auf­wie­sen und es nicht ums Ler­nen, son­dern um die Ein­tei­lung in Hier­ar­chie­stu­fen ging, um Unter­ord­nung und die Anpas­sung an ein bür­ger­li­ches Leben mit Aus­bil­dung, Arbeit und Ren­te, dass daher nie das Wohl der Kin­der im Vor­der­grund stand, son­dern die öko­no­mi­sche Ver­wert­bar­keit mensch­li­cher Res­sour­cen, dann war es in mei­nen Augen sehr gesund, sowohl geis­tig wie auch sozi­al, sich die­ser Schei­ße zu wider­set­zen, weil die­se Struk­tu­ren das eigent­li­che Anti­so­zia­le dar­stell­ten. Lei­der hat­te ich das erst am Ende mei­ner Schul­zeit geschnallt.
Anstatt mit Fach­ter­mi­no­lo­gie um sich zu schmei­ßen, ver­pass­te Han­na mir eine Ohr­fei­ge und knall­te ihr Sekt­glas auf den Boden, bevor sie in ihren Sti­let­to-Stie­feln davon­k­la­cker­te. Von hin­ten gefiel sie mir.
Ich brau­che schleu­nigst einen Drink, dach­te ich, nach­dem sie außer Hör­wei­te gestö­ckelt war. Unschuld vor­täu­schend schlurf­te ich zur Bar, an der sich bereits Andre­as häus­lich ein­ge­rich­tet hatte.
»Was für ein lang­wei­li­ger Hau­fen.« Er pros­te­te mir zu. »Ich find’s toll, dass du hier ein wenig Stim­mung reinbringst.«
»Einer muss es ja tun.«
Frü­her war Andre­as ein typi­sches Kel­ler­kind gewe­sen, Leis­tungs­kur­se Mathe und Infor­ma­tik, mit dem selbst noch auf die­ser Par­ty kei­ner so rich­tig zu tun haben woll­te. Da er den ers­ten ver­nünf­ti­gen Satz des Abends von sich gege­ben hat­te, hielt ich ihn umge­hend für einen net­ten Men­schen. Vor­ur­tei­le waren dazu da, sie zu über­win­den. Wir tausch­ten unse­re Ein­drü­cke über die anwe­sen­de Lang­wei­ler­trup­pe aus, deren Dün­kel­haf­tig­keit und ihre Sta­tus­sym­bo­le. Mit spür­ba­rem Ekel trug ich mei­nen vor­läu­fi­gen Expe­di­ti­ons­be­richt vor; leg­te Andre­as die strik­te Lebens­pla­nung dar, die jeder der Mus­ter­men­schen hier offen­bart hat­te, mit dem ich ins Gespräch gekom­men war. Andre­as hat­te dafür bloß einen ein­zi­gen Satz übrig: ›Je plan­mä­ßi­ger das eige­ne Leben funk­tio­niert, des­to weni­ger ist es ein eige­nes Leben‹.
Mir fiel Dio­ge­nes ein, die­ser grie­chi­sche Phi­lo­soph, der angeb­lich in einer Ton­ne gehaust haben soll. Andre­as ver­kör­per­te die moder­ni­sier­te Ver­si­on die­ser Geschich­te und hat­te die Ton­ne gegen sei­nen Kel­ler aus­ge­tauscht. Viel­leicht wäre die Welt eine bes­se­re gewe­sen, hät­te sie auf ihre Kel­ler­kin­der gehört.
Eine ange­se­he­ne Kar­rie­re war Andre­as im Gegen­satz zu den vie­len Leis­tungs­mons­tern auf die­ser Par­ty nicht son­der­lich wich­tig. Tags­über arbei­te­te er als Soft­ware­ent­wick­ler für einen gro­ßen deut­schen Ver­si­che­rungs­kon­zern, betrieb in sei­ner Frei­zeit aber eine gesell­schafts- und kapi­ta­lis­mus­kri­ti­sche Web­site, wie er mir eupho­risch mit­teil­te. Er fand das alles schei­ße, wie es lief, die gan­ze Gesell­schafts­ord­nung war ihm ein Dorn im Auge.
»Stän­dig wird man ver­arscht«, seufz­te er und rann­te offe­ne Türen bei mir ein. »Seit zehn Jah­ren sind wir im Krieg, nur kei­ner spricht das Wort offen aus. Oder die Finanz­kri­se! Unse­re lach­haf­te Eli­te spielt sich als gro­ßer Euro­pa-Ret­ter auf. Dabei ist es doch Deutsch­land gewe­sen, das durch Lohn­dum­ping zum ach so tol­len Export­welt­meis­ter gewor­den ist und dadurch die Schul­den der ande­ren Län­der über­haupt erst nach oben getrie­ben hat. Nun wun­dert man sich hier, dass man im Aus­land nicht als Held gefei­ert wird. Als ob dich auf der Stra­ße einer zusam­men­schlägt, dein gan­zes Erspar­tes von dir for­dert, damit er dir den Ret­tungs­wa­gen ruft, und für die­se Wohl­tat dann auch noch gelobt wer­den möchte.«
Andre­as schüt­tel­te den Kopf und leer­te sein Bier.
»Man soll här­ter arbei­ten, heißt es, län­ger, bes­ser, bil­li­ger«, fuhr er fort. »Man soll wäh­len gehen, obwohl sich ja doch nichts ändert. Man soll mit weni­ger Lohn, mit weni­ger Ren­te, mit weni­ger Urlaub zufrie­den sein. Die Löh­ne sei­en gestie­gen, schrei­ben die Zei­tun­gen, dabei sind sie wäh­rend der letz­ten Jah­re um eini­ges gesun­ken, wenn man mal nach­rech­net. Man soll schuf­ten bis zum Umfal­len und sich ein Leben lang wei­ter­bil­den. Man soll die Fres­se hal­ten, weil man sonst ent­las­sen oder nie­der­ge­knüp­pelt wird. Man soll schön dan­ke sagen für jede Zumu­tung, die einem auf­er­legt wird. Und die Scha­fe glau­ben den gan­zen Mist.«
»Weil man sowie­so nichts ändern kann«, ver­voll­stän­dig­te ich ironisch.
»Genau! Genau das sagen sie dann: Da kann man nichts tun. Das ist halt so. Das ist schon immer so gewe­sen. Das wird auch immer so sein.«
»Weil sie zu blöd sind, Markt­ge­set­ze von Natur­ge­set­zen zu unterscheiden.«
»Eben. Und weil sie immer noch glau­ben, die Ord­nung käme von Gott. Heu­te sagen vie­le viel­leicht nicht mehr ›Gott‹ dazu, aber was sie glau­ben, läuft auf das glei­che hin­aus: Das ist halt so. Wie klei­ne Kin­der. Obwohl, stimmt gar nicht – klei­ne Kin­der stel­len wesent­lich mehr kri­ti­sche Fra­gen als die meis­ten Erwach­se­nen. Wenn man ehr­lich ist, muss man doch zuge­ben, die Auf­klä­rung hat ver­sagt. ›Habe Mut, dich dei­nes eige­nen Geld­beu­tels zu bedie­nen‹, das ist alles, was davon übrig geblie­ben ist.«
Ich fühl­te mich wie ein Schatz­su­cher. Unter all dem cha­rak­ter­lo­sen Geröll, das in Abend­gar­de­ro­be durch die Räum­lich­kei­ten kul­ler­te, hat­te ich einen Edel­stein entdeckt.
»Heu­te Mit­tag hab ich einen Arti­kel über kam­bo­dscha­ni­sche Arbeits­ver­hält­nis­se geschrie­ben. Unter der Woche lässt mir der Job lei­der kaum Zeit.«
»War­um Kam­bo­dscha?« Ich konn­te dem The­men­sprung nicht folgen.
»Weil unse­re tol­len Kla­mot­ten­lä­den dort so ger­ne pro­du­zie­ren las­sen. Kaufst du da manch­mal ein? Bei die­sen Ket­ten? Soll­test du nicht. Die Men­schen in den Fabri­ken dort bre­chen scha­ren­wei­se zusam­men und bekom­men nur einen Hun­ger­lohn dafür. Wer sich beschwert, wird rausgeschmissen.«
Davon hat­te ich gelesen.
»Und das ist noch harm­los im Ver­gleich zur Elek­tronik­bran­che«, setz­te er nach. »Hast du das mit­be­kom­men von den Wer­ken in Chi­na? Wo sich zahl­rei­che Mit­ar­bei­ter aus Pro­test vom Dach gestürzt haben? Jetzt hat die Fir­ma dort über­all Fang­net­ze instal­liert, um sol­che auf­se­hen­er­re­gen­den Selbst­mord­ver­su­che zu unter­bin­den. Das sind doch Pro­blem­lö­sungs­stra­te­gien nach der Logik von Psy­cho­pa­then! Nur weil hier jeder unbe­dingt ein Smart­phone in der Hand hal­ten möch­te…« Er schlug mit der Hand auf den Tre­sen. »Wenn ich sol­che Zustän­de sehe, werd ich echt wütend!«
»Ich auch.« Wir schwie­gen uns für eini­ge Sekun­den an. »Aber weißt du, was mich am wütends­ten macht? Dass ich mit mei­ner Wut fast allei­ne bin. Bis vor eini­ger Zeit hat mich das echt oft an den Rand der Ver­zweif­lung gebracht. Alle sagen sie zu mir: Reg dich nicht auf, so ist es halt.«
»Wie die Schafe.«
»Wie die Scha­fe«, pflich­te­te ich ihm bei.
»Mensch, das ist doch alles zum Kot­zen«, fass­te er das Welt­ge­sche­hen aus­sa­ge­kräf­tig zusammen.
Er hat­te zwar Recht mit sei­nen Aus­füh­run­gen und sei­ne Ableh­nung der Zustän­de war mora­lisch durch­aus lobens­wert, doch allein mit mora­li­scher Ent­rüs­tung war kein Blu­men­topf zu gewinnen.
»Und den­noch machst du mit«, stell­te ich bei­läu­fig fest.
»Wie­so?«
»Na, dein Job…«
»Na ja, was soll man tun. Man muss ja irgendwie.«
»Nein. Wenn man kon­se­quent ist, muss man das nicht.«
»Du hast gut reden. Du bist ja arbeitslos.«
Eines muss­te man die­ser Spie­ßer­ban­de las­sen, der Infor­ma­ti­ons­fluss funk­tio­nier­te per­fekt. Mein Stig­ma des arbeits­lo­sen Unter­men­schen­tums hat­te sich bereits her­um­ge­spro­chen. Ich konn­te das ›nur‹, das nicht gesagt wur­de, förm­lich sehen, als wäre es mit Leucht­buch­sta­ben in die Luft gesetzt.
»Ganz recht«, ent­geg­ne­te ich, »und wenn du Eier in der Hose hät­test, dann wür­dest du dei­nen beschis­se­nen Job genau­so an den Nagel hängen.«
Aus mir sprach Wut, zu einem Teil aber auch per­sön­li­che Ent­täu­schung, weil er hin­ter sei­ner Fas­sa­de genau­so strom­li­ni­en­för­mig war wie alle ande­ren. Wäre er Dio­ge­nes gewe­sen, ich hät­te mit aller Wucht gegen sei­ne alber­ne Ton­ne getreten.
»Wenn du alles so schei­ße fin­dest, war­um machst du dann noch mit? Wenn einer dich beim Pokern ver­arscht, dann schmeißt du doch die Kar­ten hin und gehst, oder nicht? Statt­des­sen machst du einen auf kri­tisch und reflek­tiert, bist aber auch nur eines von die­sen Scha­fen, das sich nach Strich und Faden ver­ar­schen lässt. Du bist der größ­te von allen Blen­dern hier. Du bist ein Feig­ling und ein Heuch­ler, weil Kri­tik ohne per­sön­li­che Kon­se­quenz nichts ande­res als Heu­che­lei ist.«
»Ach ja? Und du bist ein Arsch­loch«, kon­ter­te er und ver­ließ kur­zer­hand die Party.
Nach die­sem anre­gen­den Dia­log fand ich nie­man­den mehr, der mit mir reden woll­te, was mich nicht beson­ders trau­rig stimm­te, weil ich mich nun mit Leib und See­le dem Buf­fet wid­men konn­te. Totes Tier war ein ange­neh­me­rer Gesprächs­part­ner, hat­te es vor sei­nem Tod doch immer­hin ein Rück­grat beses­sen, was man vom Rest der Anwe­sen­den nur sehr ein­ge­schränkt behaup­ten konnte.
Das war das bes­te Klas­sen­tref­fen mei­nes Lebens und ver­mut­lich auch das letz­te. Sie wür­den sich hüten, mich noch ein­mal ein­zu­la­den. Allei­ne dafür hat­te es sich schon gelohnt.

Arbeit ver­höhnt die Frei­heit. Offi­zi­ell kön­nen wir uns glück­lich schät­zen, von Rechts­staat und Demo­kra­tie umge­ben zu sein. Ande­re arme Unglück­li­che, die nicht so frei sind wie wir, müs­sen in Poli­zei­staa­ten leben. Die­se Opfer fol­gen Befeh­len, egal wie will­kür­lich sie sind. Die Behör­den hal­ten sie unter dau­ern­der Auf­sicht. Staats­be­am­te kon­trol­lie­ren sogar kleins­te Details ihres All­tags­le­bens. Die Büro­kra­ten, die sie her­um­schub­sen, müs­sen sich nur nach oben ver­ant­wor­ten, in öffent­li­chen wie in Pri­vat-Ange­le­gen­hei­ten. So und so wer­den Abwei­chung und Auf­leh­nung bestraft. Regel­mä­ßig lei­ten Infor­man­ten Berich­te an die Behör­den wei­ter. Das alles gilt als sehr schlecht.
Und das ist es auch, obwohl es nichts wei­ter dar­stellt als eine Beschrei­bung eines moder­nen Arbeits­plat­zes. Die Libe­ra­len und Kon­ser­va­ti­ven und Frei­heit­li­chen, die sich über Tota­li­ta­ris­mus beschwe­ren, sind Schwind­ler und Heuch­ler. (…) In einem Büro oder einer Fabrik herrscht die­sel­be Art von Hier­ar­chie und Dis­zi­plin wie in einem Klos­ter oder einem Gefäng­nis. Tat­säch­lich haben Fou­cault und ande­re gezeigt, daß Gefäng­nis­se und Fabri­ken etwa zur glei­chen Zeit auf­ka­men, und ihre Betrei­ber ent­lie­hen sich bewußt Kon­troll­tech­ni­ken von­ein­an­der. Ein Arbei­ter ist ein Teil­zeit­skla­ve. Der Chef sagt, wann es los­geht, wann gegan­gen wer­den kann und was in der Zwi­schen­zeit getan wird. Er schreibt vor, wie­viel Arbeit zu erle­di­gen ist und mit wel­chem Tem­po. Es steht ihm frei, sei­ne Kon­trol­le bis in demü­ti­gen­de Extre­me aus­zu­wei­ten, indem er fest­legt (wenn ihm danach ist), wel­che Klei­dung vor­ge­schrie­ben wird und wie oft die Toi­let­te auf­ge­sucht wer­den darf. Mit weni­gen Aus­nah­men kann er jeden aus jedem Grund feu­ern, oder auch ohne Grund. Er läßt bespit­zeln und nach­schnüf­feln, er legt Akten über jeden Ange­stell­ten an. Wider­spre­chen heißt „Unbot­mä­ßig­sein“, als wäre der Arbei­ter ein unge­zo­ge­nes Kind, und es sorgt nicht nur für sofor­ti­ge Ent­las­sung, es ver­rin­gert auch die Chan­cen auf Arbeits­lo­sen­un­ter­stüt­zung. Ohne es unbe­dingt gut­zu­hei­ßen, ist es wich­tig anzu­mer­ken, daß Kin­der zu Hau­se und in der Schu­le die glei­che Behand­lung erfah­ren, bei ihnen durch die ange­nom­me­ne Unrei­fe gerecht­fer­tigt. Was sagt uns das über ihre Eltern und Leh­rer, die arbeiten?
(Bob Black – Die Abschaf­fung der Arbeit; im Ori­gi­nal: The Aboli­ti­on of Work)

One of the most inspi­ra­tio­nal spee­ches in recor­ded histo­ry was given by a come­di­an by the name of Char­lie Chaplin:

The Grea­test Speech Ever Made auf YouTube

So lan­ge ich zurück­den­ken kann, war ich noch nie­mals rich­tig glück­lich. Es liegt nicht an per­sön­li­chen Eitel­kei­ten, dass es so ist, wie es ist. Mei­ne Kind­heit war erfüllt und ich übte bis vor kur­zem einen ange­se­he­nen Beruf aus, der es mir ermög­lich­te, ein gutes Leben zu füh­ren, zumin­dest mate­ri­ell. Ich bin emo­tio­nal gut aus­ge­gli­chen, wie man es wohl aus­drü­cken wür­de, und kann mich in Lie­bes­din­gen nicht all­zu viel beschwe­ren. Den­noch hat es da in mei­nem Leben schon immer ande­re Ein­flüs­se gege­ben, Inter­fe­ren­zen sozu­sa­gen, Stör­fak­to­ren, die es mir unmög­lich mach­ten, mit die­sem Leben wirk­lich glück­lich zu sein. Es kommt mir vor, als blick­te ich durch trü­bes Glas, das mir den gan­zen schö­nen Aus­blick rui­niert. Ich habe mich hin und wie­der glück­lich gewähnt, doch ich war es nicht. Die Welt, die mich umgibt, drückt wie ein Stein im Schuh, der jeden noch so klei­nen Schritt mit Schmer­zen unter­legt. Es ist der Zustand die­ser Welt, der stö­rend auf mein Leben ein­wirkt, der Stein im Schuh, das trü­be Glas, das die­ses Leben uner­träg­lich wer­den lässt. Jede per­sön­li­che Freu­de wird zur Far­ce, wenn sie von Unglück umge­ben ist. Wie führt man ein gutes Leben in einer schlech­ten Welt?

Ich habe schon vor lan­ger Zeit damit auf­ge­hört, ande­ren Men­schen von mei­nem Unbe­ha­gen zu erzäh­len, denn ihre Ant­wor­ten sind immer gleich: »Das Leben ist kein Wunsch­kon­zert«, sagen sie, oder: »Es ist nun mal so«, sie mei­ßeln Phra­sen in die Welt wie: »Ande­ren geht es viel schlech­ter« und »Nimm’s nicht so schwer«, sie ant­wor­ten nicht ernst­haft, sie geben nur wie­der. Als wür­de das irgend­et­was ändern, stel­len sie Sprü­che in den Raum und wol­len damit Trost spen­den oder abspei­sen, das eine kommt dem ande­ren gleich, denn es sind sinn­lo­se, inhalts­lee­re Sät­ze. »Hau doch ab, wenn es dir hier nicht gefällt«, legen sie mir unmiss­ver­ständ­lich nahe, ein ums ande­re Mal, doch wo ist es bes­ser, fra­ge ich mich dann.

Sie mei­nen, ich müs­se nur end­lich erwach­sen wer­den und mich ein­fach bloß zusam­men­rei­ßen, müs­se begrei­fen, dass all das nor­mal ist, wor­über ich beun­ru­higt bin. Ihnen fällt über­haupt nicht auf, wie oft sie »man muss« und wie sel­ten sie »ich will« ver­wen­den. Sie ver­lan­gen Dis­zi­plin, doch ich möch­te nie­man­des Skla­ve sein, nicht ein­mal mein eige­ner, oder viel­mehr schon gar nicht. Sie wer­fen mir unauf­hör­lich vor, ich käme nicht zurecht mit die­ser Welt. Sie sagen, ich sei depres­siv und krank, als wäre es ein Aus­druck der geis­ti­gen Gesund­heit, an kran­ke Ver­hält­nis­se gut ange­passt zu sein. Sie möch­ten mich behan­deln, mich nor­ma­li­sie­ren, mich wie­der ein­glie­dern in die­se Welt, mit der ich mei­nen Frie­den schlie­ßen soll, doch wenn sie Frie­den sagen, mei­nen sie bloß Kapi­tu­la­ti­on. Sie wol­len, dass ich ver­leug­ne, wie ich mich wirk­lich füh­le, sie möch­ten mein Unbe­ha­gen in einen Kas­ten sper­ren und die­sen dann irgend­wo ver­sen­ken, auf dass er für immer ver­schwun­den bleibt. Sie drän­gen mich dazu, mein inne­res Leben auf­zu­ge­ben, um am äuße­ren zu par­ti­zi­pie­ren. Ich soll es jenen recht machen, die mich als Men­schen negie­ren. Aber bin ich wirk­lich krank? Bin ich krank, weil ich aus dem her­aus­fal­le, was sie allen Erns­tes als nor­mal bezeichnen?

Es gilt als Aus­druck von Nor­ma­li­tät, sich bereit­wil­lig in eine Gesell­schaft ein­zu­fü­gen, die sys­te­ma­tisch ihre Grund­la­gen zer­stört und die sich um das Wohl­erge­hen ihrer Insas­sen nicht son­der­lich schert. Es ist nor­mal, dass wir mehr Geld und Krea­ti­vi­tät in Waf­fen oder gegen­sei­ti­ge Abschre­ckung inves­tie­ren als in Bil­dung und Kul­tur, weil wir uns so sehr bemü­hen, das Gegen­ein­an­der zu opti­mie­ren, wäh­rend das Für­ein­an­der brach­liegt. Es ist nor­mal, dass die­je­ni­gen, die Krie­ge vom Zaun bre­chen und ihre Mit­men­schen wie wert­lo­sen Dreck behan­deln, als Mäch­ti­ge in den Par­la­men­ten und Auf­sichts­rä­ten sit­zen, in unse­ren Regie­run­gen und wich­ti­gen Ent­schei­dungs­gre­mi­en. Wir sto­ßen uns nicht dar­an, dass Wis­sen aus wirt­schaft­li­chen Grün­den unter Ver­schluss gehal­ten wird, anstatt es zum Woh­le der All­ge­mein­heit offen zur Ver­fü­gung zu stel­len, und wir neh­men es anstands­los hin, uns Geset­zen beu­gen zu müs­sen, von denen nur weni­ge pro­fi­tie­ren, weil wir es anders nie­mals ken­nen­ge­lernt haben. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, auch nur ansatz­wei­se von Ver­schwen­dung zu reden, wenn so vie­le der klügs­ten Köp­fe ihre kost­ba­re Zeit damit ver­brin­gen, nutz­lo­se Din­ge zu ver­kau­fen, die weder benö­tigt noch begehrt wer­den, in Beru­fen, die jeden Tag aufs Neue dazu bei­tra­gen, die Welt ein klei­nes biss­chen destruk­ti­ver zu gestal­ten. Es ist uns egal, dass die einen ster­ben, wäh­rend die ande­ren an die­sem Tod ver­die­nen, so wie wir uns auch gleich­mü­tig dar­an gewöhnt haben, Nah­rung zu uns zu neh­men, die uns ver­gif­tet und lang­sam umbringt, solan­ge das für den Her­stel­ler bedeu­tet, ein wenig güns­ti­ger pro­du­zie­ren zu können.

Unser gesam­tes Leben, unse­re Plä­ne und noch die sehn­suchts­volls­ten Träu­me unter­wer­fen wir einem stän­di­gen Zwang, dem sich alles bedin­gungs­los unter­zu­ord­nen hat, doch es stellt für uns kei­ner­lei Wider­spruch dar, wenn wir die­se tota­le Dis­zi­pli­nie­rung dann als höchs­te Form der Unab­hän­gig­keit begrei­fen, als Aus­druck eines selbst­be­stimm­ten Daseins. Wir neh­men sinn­lo­se, see­len­zer­mür­ben­de Jobs an, die wir has­sen und in denen wir uns auf­rei­ben, weil es für uns nichts Unge­wöhn­li­ches ist, dass nur die­je­ni­gen über­le­ben dür­fen, die auch bereit sind, dafür zu arbei­ten, wäh­rend Tau­sen­de täg­lich ver­hun­gern, die ein­fach nur zu arm sind, um sich ihre Mahl­zei­ten über­haupt leis­ten zu kön­nen. Wir defi­nie­ren uns so ehr­gei­zig über die will­kür­lich fest­ge­leg­ten Zah­len, die am Ende des Monats auf unse­rem Kon­to vor­zu­fin­den sind, dass es für uns nicht wirk­lich besorg­nis­er­re­gend ist, wenn eine Hand­voll Men­schen mehr besit­zen kön­nen als der gan­ze gro­ße Rest der Welt; eine Welt, in der ein Leben nur so viel wert ist, wie es erwirt­schaf­ten kann. Zufrie­den­heit, Freu­de und Glück wer­den abhän­gig gemacht von objek­ti­vis­ti­schen Kate­go­rien: mehr haben, mehr kön­nen, mehr sein als ande­re, in einer quan­ti­fi­zier­ba­ren Art und Wei­se, sich dadurch schließ­lich bes­ser, grö­ßer, mäch­ti­ger zu füh­len als sie, wird zum Maß­stab der eige­nen Per­sön­lich­keit, zum Sinn­ge­ber in einer glo­ba­len Konkurrenz.

Jeden Tag neh­men wir bil­li­gend in Kauf, dass für über­flüs­si­gen Luxus unwi­der­ruf­li­cher Scha­den an Umwelt und Ande­ren ent­steht, ohne auch nur einen ernst­haf­ten Gedan­ken dar­an zu ver­schwen­den, wel­che öko­lo­gi­schen und sozia­len Fol­gen unser Han­deln hat. Es ist all­täg­li­che Rou­ti­ne gewor­den, dass Men­schen ster­ben oder wie schwers­te Ver­bre­cher behan­delt wer­den, bloß weil sie den ver­zwei­fel­ten Ver­such wagen, von einem Stück­chen Land zu einem ande­ren zu gelan­gen. Wir bau­en Zäu­ne um uns her­um, damit uns die ande­ren nicht zu nahe kom­men, wir gren­zen uns ab, schlie­ßen uns ein und haben Angst vor­ein­an­der, aber wir sehen dar­in nichts Außer­ge­wöhn­li­ches, es ist uns kein Grund zur Sor­ge. Die Nor­ma­li­tät die­ser Zustän­de, die für mehr und mehr Men­schen nur noch mit Psy­cho­phar­ma­ka zu ver­kraf­ten sind, beun­ru­higt uns nicht. Die­se gan­ze Kata­stro­phe, die uns jeden Tag umgibt, sie betrifft uns zwar, aber sie berührt uns nicht. Wir gehen teil­nahms­los unse­ren Tages­ge­schäf­ten nach, denn das alles ent­hält für uns kei­ne Bot­schaft, außer jener der Selbst­ver­ständ­lich­keit. Wir wis­sen genau dar­über Bescheid und obwohl wir etwas unter­neh­men könn­ten, ändert sich nichts.

Es gibt noch so vie­les, mit dem ich mich genau­so wenig abfin­den kann und auch nicht abfin­den möch­te, zu vie­les, um es auf­zu­zäh­len, weil es jeden Ver­such einer Auf­zäh­lung spren­gen wür­de; die­se gan­zen Nor­ma­li­tä­ten einer fremd­ar­ti­gen Welt, die für mich nicht nor­mal, noch weni­ger lebens­wert ist.

Seit jeher wird an mich die Erwar­tung her­an­ge­tra­gen, ein Teil des­sen zu wer­den, was mir zuwi­der ist, mich ein­zu­glie­dern in eine Welt, die alle Ein­ge­glie­der­ten ver­schlingt. Viel zu häu­fig litt ich unter Alb­träu­men und bin schweiß­ge­ba­det auf­ge­wacht, noch viel häu­fi­ger habe ich erst gar nicht ein­schla­fen kön­nen, weil ich mir aus­mal­te, wie es mit mei­nem Leben wei­ter­ge­hen wür­de in die­ser Welt: Für den Rest mei­ner Tage müss­te ich so gut wie jeden Mor­gen auf­ste­hen, um mit vor­ge­täusch­ter Frei­wil­lig­keit der glei­chen, unbe­deu­ten­den Beschäf­ti­gung nach­zu­ge­hen, was letz­ten Endes doch bloß heißt, das am Leben zu erhal­ten, was alles Leben­di­ge unter sich erdrückt. Mit etwas Glück hät­te ich am Abend ein paar Stun­den die­ser so genann­ten Frei­zeit, die es mir erlau­ben wür­den, mich von mei­nem Arbeits­tag zu erho­len, so wie man den Sol­da­ten ins Laza­rett bringt, nicht aus Nächs­ten­lie­be, son­dern damit er wie­der kämp­fen kann, also wür­de ich ein wenig ein­kau­fen, fern­se­hen, mich betrin­ken oder was man eben macht in jener Zeit, die noch zum Leben übrig­ge­blie­ben ist, doch in der Regel bloß ver­fliegt, dann gin­ge ich schla­fen und alles begän­ne am nächs­ten Tag von vorn. Macht das ein Leben aus?

Wenn ich ehr­lich mit mir sein möch­te, kann und darf ich das nicht Leben nen­nen, obwohl ich mit die­sem trost­lo­sen Schick­sal noch zu den weni­gen Pri­vi­le­gier­ten auf die­sem Pla­ne­ten gehö­ren wür­de, zu jenen, denen es gut zu gehen hat, weil es dem Groß­teil noch viel schlech­ter geht. Ich reagier­te auf die­se Bedro­hung mit Angst­zu­stän­den und Ner­ven­zu­sam­men­brü­chen, ich war regel­mä­ßig panisch und ich wer­de es noch heu­te, wenn ich mir vor­stel­le, dass ich auf die­se Art in die­ser Welt den Rest mei­nes Daseins ver­brin­gen müss­te, oder wenn schon nicht den Rest, dann wenigs­tens den größ­ten Teil. Mein Leben war von Anfang an ein­ge­teilt, fest­ge­legt, geplant; es war nicht vor­ge­se­hen, dass man mich jemals dazu ange­hört hät­te, was ich denn von alle­dem hal­te, das man mir zumu­ten wür­de. Nie­mand hat je gefragt, ob ich damit glück­lich oder auch nur ein­ver­stan­den bin, weil es nie­man­den interessiert.

All das ist nor­mal. Das sind die Nor­men, an denen ich gemes­sen wer­den soll. »So ist eben das Leben«, wird mir immer wie­der weis­ge­macht, und als ›das Leben‹ bezeich­nen sie eine gewalt­sam auf­recht­erhal­te­ne Ord­nung der Welt. Ich woll­te so nicht leben, will so nicht leben, nicht in die­ser Welt, das ist nicht mein Ent­wurf für ein gelun­ge­nes Dasein. Ich sehe nicht die gerings­te Moti­va­ti­on für den Ver­such, mich als pro­duk­ti­ves Mit­glied in die­se Gesell­schaft ein­zu­glie­dern, und ich habe erst­recht kein Inter­es­se dar­an, mich ein­glie­dern zu las­sen, weil ich mit allem, was sie aus­macht, grund­le­gend unein­ver­stan­den bin. Jeden Tag den­ke ich, ich muss hier raus, muss mich aus die­sem Gefäng­nis irgend­wie befrei­en. Je mehr ich die­se Welt begrei­fe, des­to weni­ger möch­te ich dar­in leben, je mehr ich ihre Abläu­fe ver­ste­he, des­to weni­ger möch­te ich dar­an betei­ligt sein. Wie kann man sich den Zustand der Welt betrach­ten und den­noch glück­lich sein?

Der Wahn­sinn liegt in der Nor­ma­li­tät, die für all die­se Zustän­de gleich­gül­tig in Anspruch genom­men wird. Wir alle tra­gen als Kom­pli­zen dazu bei, mit jedem Tag, an dem wir es hin­neh­men, das Destruk­ti­ve als nor­mal zu begrei­fen, denn die Ord­nung der Welt hält unse­re Köp­fe besetzt. Wir sagen Frei­heit und wir mei­nen damit, uns zwi­schen vor­ge­ge­be­nen Alter­na­ti­ven ent­schei­den zu dür­fen. Wir sagen Sicher­heit und wir haben dabei im Sinn, einen lang­fris­ti­gen Arbeits­platz zu fin­den. Wir sagen Glück und wir stel­len uns dar­un­ter vor, im Lot­to zu gewin­nen oder in einer Prü­fung erfolg­reich zu sein. Unse­re Spra­che und unse­re Sehn­süch­te haben sich den Zwän­gen ange­passt, weil sie uns stän­dig als Nor­ma­li­tä­ten vor­ge­hal­ten wer­den, von Insti­tu­tio­nen, Poli­ti­kern, The­ra­peu­ten, Eltern und letz­ten Endes allen, die immer noch glau­ben, die­se Nor­ma­li­tä­ten sei­en nor­mal. Ich bin nicht krank. Krank ist die­se Welt und was mich dar­an depri­miert, nein, melan­cho­lisch wer­den lässt, das ist die Tat­sa­che, dass den­noch ich es bin, der all­ge­mein für krank gehal­ten wird, weil ich mit die­ser ach so wun­der­ba­ren Welt nicht klar­kom­me, mit ihr auch gar nicht klar­kom­men möch­te. Die objek­ti­ven Zustän­de wer­den nicht bes­ser, bloß weil ich ler­ne, damit umzu­ge­hen; es ist ja gera­de die­ses Klar­kom­men, das dem Bestehen­den zum Fort­be­stand ver­hilft. Wer also hat nun Recht? Wer von uns ist krank? Liegt es an mir, wenn ich mich unbe­hag­lich fühle?

Tag um Tag muss­te ich es mir anhö­ren, immer und immer wie­der: »Hau doch ab« und »Wan­der doch aus«, »Werd end­lich erwach­sen« und »Gewöhn dich dran«, »Reiß dich zusam­men« oder »Bring dich doch um«. Frü­her oder spä­ter fand noch jede Dis­kus­si­on, all die mit Wor­ten geführ­ten Frei­heits­kämp­fe, ihr Ende an die­sem einen Punkt, mit einem die­ser Sät­ze. Jedes Mal, wenn ich Ein­spruch erhob gegen die Nor­ma­li­tä­ten die­ser Welt, wenn ich Beschwer­de führ­te gegen jene Zustän­de, mit denen ich nicht leben will, wenn ich Vor­gän­ge kri­ti­sier­te oder wenn ich Nach­rich­ten las und zum Aus­druck brach­te, dass ich mit dem, was geschieht, nicht ein­ver­stan­den bin, waren die Ant­wor­ten immer gleich, die Phra­sen wie ein­stu­diert. Wie viel Zwang wirkt auf einen Men­schen, um sol­che Sät­ze zu formulieren?

Wäh­rend es frü­her schnell hieß: »Dann geh doch nach drü­ben«, heißt es heu­te: »Dann wan­der doch aus«, oder noch schlim­mer, aber ehr­li­cher: »Dann bring dich doch um«. Ich jedoch hän­ge an mei­nem Leben, ich genie­ße es, so gut es mir die Umstän­de erlau­ben. Ich suche mir Frei­räu­me, Schlupf­lö­cher und Hin­ter­tü­ren, die mir ein wenig Luft zum Atmen bie­ten. Es ist nicht mein Leben, das mir Sor­gen berei­tet, son­dern die Welt um mich her­um, das Kor­sett, in das mein Leben hier gesteckt wer­den soll. Was mich bedrückt, ist nicht das Dasein, weder mei­nes noch all­ge­mein, son­dern viel­mehr der Rah­men, in dem es sich wie­der­fin­den muss, jener Zustand der Welt, in den es sich anstands­los ein­zu­bet­ten hat und den ich nicht ver­schul­det habe, es sind die so genann­ten Frei­hei­ten, die mir wie allen ande­ren auf­dring­lich ange­bo­ten wer­den, die aber kei­ne ernst­zu­neh­men­den Frei­hei­ten sind.

Was sagt das über einen Zustand aus, über die­sen Zustand, wenn dir die­je­ni­gen, die ihn so vehe­ment ver­tei­di­gen, als Alter­na­ti­ve nichts wei­ter anzu­bie­ten haben als den Tod? Geh unter oder füge dich, die Wahl ist Kol­laps oder Kol­la­bo­ra­ti­on, also betrach­te ich die­se Men­schen mit einer wach­sen­den Distanz, als wären sie Gehil­fen einer feind­se­li­gen Besat­zungs­macht. Selbst noch, wenn ich ratio­na­le Grün­de prä­sen­tie­re, war­um ich mich in die­se Welt nicht ein­fü­gen möch­te, war­um ich mich an ihren Abläu­fen nicht betei­li­gen will, wer­de ich des unver­nünf­ti­gen Ver­hal­tens beschul­digt, als hät­te man den Maß­stab ein­fach umge­kehrt. »Reiß dich zusam­men«, lau­tet das dau­ern­de Dik­tat, und sie begrei­fen den Befehl als Tugend, wie sie das wohl auch dem Schnor­rer in der Fuß­gän­ger­zo­ne ant­wor­ten wür­den, der sie bloß nach etwas Klein­geld fragt, doch wenn der sich letzt­lich für Ver­wei­ge­rung und gegen Kapi­tu­la­ti­on ent­schei­det, so ist mir des­sen Kon­se­quenz alle­mal sym­pa­thi­scher als der erho­be­ne Zei­ge­fin­ger der­je­ni­gen, die mir erzäh­len wol­len, das Pro­blem sei eine Fra­ge mei­ner eige­nen Befind­lich­keit. Ich füh­le mich ein­sam, wenn ich unter sol­chen Men­schen bin. Kraft Geburt erhielt ich das Recht, ich selbst zu sein, doch seit­dem wird es mir auf die­se Art verwehrt.

Mit jedem zusätz­li­chen Wort lie­ßen mich die­se und ähn­li­che Ant­wor­ten ein klei­nes biss­chen unglück­li­cher wer­den, bis ich mich schließ­lich auf die Suche nach etwas Ande­rem begab, nach einem schö­ne­ren und glück­li­che­ren Leben in einer schö­ne­ren und glück­li­che­ren Welt. Trotz all des Hohns und der stän­di­gen Ent­mu­ti­gun­gen habe ich etwas Bes­se­res gefun­den als den Tod, etwas Hoff­nungs­vol­le­res als Kapi­tu­la­ti­on. Etwas, das sich all jene, die mir der­ar­ti­ge Ant­wor­ten geben oder so genann­te Rat­schlä­ge ertei­len, nie­mals hät­ten träu­men las­sen. Etwas, das sogar ich selbst vor weni­gen Mona­ten noch für nahe­zu unmög­lich gehal­ten hät­te. Ohne viel Gepäck ver­schwand ich eines ganz nor­ma­len Tages aus dem, was ich bis dahin mein Leben genannt hat­te, ich ging fort, ohne gro­ße Rei­se­plä­ne zu schmie­den, und ließ ein für alle Mal zurück, was mich schon viel zu lan­ge unglück­lich gemacht hat­te. Ich fand einen Ort, an dem die Men­schen anders sind, Men­schen, denen es ähn­lich geht wie mir. Ich schloss mich ihnen an, hier fand ich mei­ne Heimat.

Wo ich nun lebe, gibt es kei­ne Armut, weil jeder ein­zel­ne von uns im Reich­tum schwimmt, denn wir haben uns gegen­sei­tig und alles Not­wen­di­ge, das man zum Leben wirk­lich braucht. Es gibt kei­ne zwei­hun­dert Fern­seh­pro­gram­me, kei­ne teu­ren Sport­wa­gen und kei­ne gol­de­nen Was­ser­häh­ne, dafür aber Soli­da­ri­tät, Ver­trau­en und Frei­heit; kei­nen mate­ri­el­len Über­fluss, jedoch auch kei­nen Ver­zicht. Wir haben hier kein Geld, kein Gehalt, weil wir es nicht brau­chen, und wir beu­gen uns kei­nen Herr­schern, weil wir nicht län­ger Beherrsch­te sein möch­ten. Wir ken­nen kei­ne Arbeits­lo­sig­keit, kei­nen Ter­ro­ris­mus und kei­ne Para­noia. Nie­mand wird zu sei­nem Tun gezwun­gen, kei­ner muss sich einem ande­ren irgend­wie unter­ord­nen, es gibt weder Chefs noch Hier­ar­chien, es wer­den kei­ne Befeh­le gege­ben und kein Gehor­sam ver­langt. Wir sind Glei­che unter Glei­chen. Es exis­tiert kein Mili­tär, kei­ne Poli­zei, nie­mand baut Mau­ern und Zäu­ne um sich her­um. Wir gehen auf­ein­an­der zu, anstatt uns gegen­sei­tig die Schä­del ein­zu­schla­gen, tref­fen Ent­schei­dun­gen, indem wir alle gleich­be­rech­tigt dar­in ein­be­zie­hen, wir haben Mit­ge­fühl und zei­gen den gebüh­ren­den Respekt, sowohl im Umgang mit­ein­an­der als auch gegen­über dem, was uns umgibt. Wir neh­men uns so viel wir brau­chen, aber wir zer­stö­ren nicht, wir beu­ten nicht aus, weder uns selbst noch das, wovon wir leben. Das Unwohl­sein über die Nor­ma­li­tä­ten jener Welt, die wir alle­samt zurück­lie­ßen, die Dis­kre­panz zwi­schen Sehn­sucht und Wirk­lich­keit, die­se Span­nung zwi­schen dem, was ist, und den eige­nen Gefüh­len, wird hier nicht als Krank­heit emp­fun­den. Hier bin ich glück­lich. Hier. Endlich.

„Wir ste­hen vor einem Rät­sel“, erklär­te der jun­ge Arzt im Kreis sei­ner Kol­le­gen. „Kein Wort, kei­ne ein­zi­ge Reak­ti­on. Seit Mona­ten ist er in die­sem Zustand, obwohl wir kei­ne neu­ro­lo­gi­sche Ursa­che fest­stel­len kön­nen. Im Gegen­teil. Die Akti­vi­tät in sei­nem Gehirn ist bemerkenswert.“

Jedes Mal, wenn sich ein Jahr sei­nem Ende ent­ge­gen­neigt, machen sich unzäh­li­ge Men­schen gut gemein­te Gedan­ken zum Ablauf des bald dar­auf anbre­chen­den Jah­res und nen­nen ihre Plä­ne, die dar­aus her­vor­ge­hen, gute Vor­sät­ze. Rau­cher wol­len Nicht­rau­cher wer­den, Sport­muf­fel zu Frei­zeit­ath­le­ten, Fau­len­zer zu Arbeits­tie­ren. Die­se guten Vor­sät­ze sind in der Regel noch vor Febru­ar wie­der vergessen.

Wenn es etwas gab, das sie in die­ser Zeit des Jah­res am meis­ten hass­te, dann waren es die guten Vor­sät­ze ande­rer Men­schen und deren auf­dring­li­che Art, die­se Vor­sät­ze jedem Inter­es­sier­ten und Des­in­ter­es­sier­ten glei­cher­ma­ßen unter die Nase zu rei­ben. Auch sie hat­te sich Gedan­ken zum Ablauf des kom­men­den Jah­res gemacht, war dabei aller­dings auf eine ande­re Idee gekom­men, die ihr wesent­lich sym­pa­thi­scher erschien. Sie hat­te sich vor­ge­nom­men, ab Neu­jahr täg­lich in einem klei­nen schwar­zen Büch­lein zu notie­ren, was ihr an jedem ein­zel­nen Tag Schö­nes wider­fah­ren wür­de. Es muss­te nichts Gro­ßes sein, nichts Über­wäl­ti­gen­des, ein­fach etwas Schö­nes, etwas Gutes, etwas Posi­ti­ves, das ihr den Tag und damit auch das Leben ein wenig auf­ge­hei­tert oder erhellt, das ihr viel­leicht sogar einen Blick auf die­ses so genann­te Glück ermög­licht hatte.

Das alles begann vor einem Jahr. Nun, drei­hun­dert­zwei­und­sech­zig Tage spä­ter, saß sie bei Nacht in ihrem Zim­mer und blät­ter­te durch das Notiz­buch, das sie mit ihren Erleb­nis­sen gefüt­tert hat­te, um sich so kurz vor Sil­ves­ter die ver­gan­ge­nen zwölf Mona­te noch ein­mal Tag für Tag durch den Kopf gehen zu las­sen, die ange­neh­men wie die bedrü­cken­den Zei­ten. Sie hat­te ein gutes Gefühl dabei, denn das letz­te Jahr war schnell ver­gan­gen, fast schon zu schnell, und wenn etwas schnell ver­geht, ja zu schnell gar, dann ist das in der Regel doch ein Zei­chen dafür, dass man eine gute Zeit ver­bracht hat­te. Die guten Zei­ten ver­ge­hen immer wie im Flug, das ist das Trau­ri­ge an ihnen und der Grund, wes­halb sie so sel­ten das Gewicht der schwe­ren Zei­ten auf­wie­gen kön­nen, die sich ihrer­seits wie Fuß­ket­ten an das Leben bin­den, sodass man sich fühlt, als wür­de man durch ein Moor waten und nicht vor­an­kom­men. Zwar waren in die­sem Jahr nicht alle ihre Wün­sche in Erfül­lung gegan­gen, aber wer konn­te das schon von sich behaupten.

Als sie anfing, die ers­ten Sei­ten durch­zu­blät­tern und dabei die täg­li­chen Ein­trä­ge zu stu­die­ren, muss­te sie schmun­zeln. Sie ging in die Küche, öff­ne­te sich eine Fla­sche Wein und wid­me­te sich der wei­te­ren Lek­tü­re. Was sie las, stimm­te sie zufrie­den. Es waren Klei­nig­kei­ten, aber es waren teils süße, teils herz­er­wär­men­de, teils völ­lig in Ver­ges­sen­heit gera­te­ne Gescheh­nis­se, die sie dort sah, und es waren Din­ge, die sie auch heu­te noch fröh­lich gemacht hät­ten, wür­den sie ihr erneut pas­sie­ren. Sie las die Ein­trä­ge des gesam­ten Janu­ars und dann die Noti­zen des fol­gen­den Febru­ars. Ihr fiel auf, dass sich eini­ge Erleb­nis­se bereits wie­der­hol­ten, doch das stör­te sie nicht wei­ter. Ganz im Gegen­teil, ent­wi­ckel­te sich beim Lesen eine gewis­se Span­nung, denn da Janu­ar und Febru­ar recht ruhig ver­lau­fen waren, fie­ber­te sie inner­lich dem ers­ten außer­ge­wöhn­li­chen, dem ers­ten auf­fäl­li­gen, dem ers­ten bedeu­ten­den Ein­trag ent­ge­gen, was nun wie­der­um nicht hieß, dass die bis­he­ri­gen Ein­trä­ge für sie unbe­deu­tend gewe­sen wären, nur waren es Bana­li­tä­ten, all­täg­li­che Gescheh­nis­se, die sicher­lich jedem zuteil­wur­den und sich jeder­zeit wie­der ereig­nen könn­ten, wenn sie ein­fach nur einen völ­lig nor­ma­len Tag ver­brin­gen oder durch die Fuß­gän­ger­zo­ne schlen­dern würde.

Sie setz­te ihre Hoff­nun­gen in den März, denn end­lich, ja end­lich muss­te doch etwas Auf­re­gen­des gesche­hen sein. Beim Lesen offen­bar­te sich ihr dann aller­dings das gewohn­te Bild, das Janu­ar und Febru­ar ihr bereits zur Genü­ge prä­sen­tiert hat­ten. Lang­sam wur­de sie unge­dul­dig. Viel­leicht ist es doch eine blö­de Idee gewe­sen, die­ses Büch­lein zu füh­ren, dach­te sie sich und blät­ter­te nun ganz zufäl­lig durch die Sei­ten, bis sie einen Tag im Juni auf­schlug, immer noch auf der Suche nach span­nen­den, irgend­wie berüh­ren­den Ereig­nis­sen. „Fünf Euro auf dem Weg zur Arbeit gefun­den“ las sie da und lach­te. Nein, das war nun wirk­lich weder span­nend noch berüh­rend. Der fol­gen­de Tag war dem­ge­gen­über schon etwas bes­ser, denn dort hat­te sie notiert: „Im Regen spa­zie­ren gegan­gen“. Sie lieb­te es, im Regen durch die Stra­ßen der Stadt spa­zie­ren zu gehen, inso­fern war dies nun für sie zwar ein irgend­wie berüh­ren­der, aber kein son­der­lich her­vor­ste­chen­der, kein außer­ge­wöhn­li­cher, kein befrie­di­gen­der Ein­trag. Sie blät­ter­te wei­ter­hin wahl­los im Juni her­um, las „Von einem Kol­le­gen ein Stück Kuchen bekom­men“ oder „Jeman­dem den Weg erklärt“, fand „Eine Frau hat mir lächelnd die Tür der Stra­ßen­bahn auf­ge­hal­ten“ und „Himm­lisch geschla­fen“, aber rein gar nichts, von dem sie sagen konn­te, es sei etwas Beson­de­res gewe­sen, das ihr ein Stück vom Glück dar­ge­bo­ten hät­te. Das müs­sen ziem­lich schlech­te Tage gewe­sen sein, dach­te sie und blät­ter­te wei­ter, doch was sie auf den Sei­ten der dar­auf­fol­gen­den Wochen lesen konn­te, kam ihr noch bana­ler, noch unwich­ti­ger, jeden­falls kei­nes­wegs erfül­lend oder ein­fach bloß gut vor, son­dern irgend­wie leer. Sie fühl­te sich wie jemand, der in der Lot­te­rie gewinnt und dann aber fest­stel­len muss, dass alle ande­ren eben­falls gewon­nen haben. Nun, dann sind es eben kei­ne schlech­ten Tage gewe­sen, schlech­te Wochen müs­sen es gewe­sen sein. Sie such­te wei­ter. Es waren kei­ne schlech­ten Tage gewe­sen, muss­te sie fest­stel­len, auch kei­ne schlech­ten Wochen, es waren die bes­ten Tage im gan­zen Monat gewe­sen, sogar in zwei Mona­ten, und der Rest des Jah­res war, von ein­zel­nen Aus­nah­men abge­se­hen, nicht viel besser. 

Konn­te das wirk­lich die Wahr­heit sein? Sie hat­te für jeden Tag des Jah­res jeweils nur das eine, das aller­bes­te Erleb­nis notiert, das ihr wider­fah­ren war, die bes­te Hand­lung, die sie voll­bracht, oder das schöns­te Gefühl, das sie an die­sem Tag emp­fun­den hat­te – und die­se Din­ge, die sie da lesen muss­te, die­se Bana­li­tä­ten, die­se Nich­tig­kei­ten, die­se lieb­lo­sen lee­ren Wor­te, die sie kaum zu lesen wag­te, die waren genau das, alles erschöpf­te sich in die­sen Belang­lo­sig­kei­ten? Die­se Ein­trä­ge vol­ler unbe­deu­ten­der All­täg­lich­kei­ten waren alles, was ihr Leben in die­sem einen Jahr aus­ge­macht hat­te? Das war das Bes­te, was die Welt ihr in die­sen Wochen und Mona­ten gebo­ten hat­te? Mehr war da nicht?

Was sie außer­dem beun­ru­hig­te, waren Ein­trä­ge wie der fol­gen­de: „Net­ter Kas­sie­rer hat mir zuge­zwin­kert“. Das gan­ze letz­te Jahr hat­te sie allein ver­bracht, genau wie auch das Jahr zuvor. Sie fand vie­le wei­te­re Ein­trä­ge, die Ähn­li­ches fest­ge­hal­ten hat­ten, ob es sich dabei nun um Kas­sie­rer, Jog­ger, U‑Bahn-Fahr­gäs­te oder irgend­wel­che Call­cen­ter-Mit­ar­bei­ter gehan­delt hat­te. Sie las die­se Ein­trä­ge und sah dar­in den Unter­ton, mit dem sie sie wahr­schein­lich auch geschrie­ben hat­te: Jemand fin­det mich gut, jemand mag mich, ich bin etwas wert. War sie so ver­zwei­felt nach mensch­li­cher Nähe, nach dem Gefühl, jeman­dem – irgend­je­man­dem – zu gefal­len? Ihre Zufrie­den­heit begann zu bröckeln.

Sie nann­te es ein Leben, was sie da geführt hat­te, nun aber frag­te sie sich, ob es denn wirk­lich mehr war als eine unbe­deu­ten­de Exis­tenz. Ver­zwei­felt such­te sie nach einem Ein­trag, der her­aus­stach, der beson­ders war, der es wert war, das Bes­te eines Tages, eines Monats, eines Jah­res zu sein. Sie fand abso­lut nichts, was sie über­zeugt, was sie beein­druckt oder was ihr das Gefühl gege­ben hät­te, ein gutes Jahr hin­ter sich zu haben. Sie ver­miss­te das gro­ße Glück.

Eines Tages blickt man in den Spie­gel und begreift, dass man nie­mals mehr sein wird als das, was man dort sieht. Mit die­ser Erkennt­nis kann man wei­ter­le­ben und sie akzep­tie­ren, man kann sich umbrin­gen, um allem zu ent­ge­hen, oder man blickt nie wie­der in einen Spiegel.

Es war weni­ge Tage vor Sil­ves­ter, als sie zum letz­ten Mal eine lee­re Sei­te in ihrem schwar­zen Büch­lein auf­schlug und mit zitt­ri­gen Fin­gern ledig­lich das Wort „Ende“ hineinschrieb.

Der Mensch will nur,
dass man versteht,
was in ihm drin
so vor sich geht.
Er will das freilich
ohne Mühe,
mag nicht reden,
sich erklären,
will nicht
aus dem Häus­chen kommen,
zu viel Welt
macht ihn beklommen;
öff­net keinem
sei­ne Pforte,
zäunt sich ein,
ver­liert kaum Worte;
und klopft doch mal einer an,
ver­schließt er sich,
so gut er kann,
dann brüllt er:
Kei­ner soll es wagen,
durch ein Fens­ter reinzuspähn! -
und jam­mert stets
tag­ein, tagaus:
Ach, wenn es da nur jemand‘ gäbe,
der versucht‘,
mich zu verstehn.

(2010)

Wenn ich dich frage,
ob wir etwas unter­neh­men wollen,
dann fra­ge ich nicht jemanden,
ich fra­ge dich.
Ich hoffe,
du ver­stehst mich.

(2010)

Vier­ter Ankla­ge­punkt [im Pro­zess gegen das Leben]: Wo war die Liebe?

(…) Die­se Ant­wort inter­es­sier­te mich sehr. Lie­be, ja, was hat­te das Leben mit der Lie­be getan? Ver­scheucht, ver­gru­selt, ent­fernt, mich nicht gelas­sen, mir neh­mend, nie gebend. Das Leben woll­te nicht, dass ich geliebt wer­de, leg­te mir Mut­lo­sig­keit und Angst in den Weg, nahm mir mein Selbst­wert­ge­fühl, schubs­te mich zu Boden. Sau­k­erl! Das hat­te ich nicht ver­dient. Ich hat­te dar­um gebe­ten, glück­lich zu sein, lie­ben zu dür­fen, doch stän­dig misch­te es sich ein, mein größ­ter Geg­ner, mein Feind, die­ses Leben, von dem ande­re sagen, es sei schön, lie­bens­wert und mache Spaß. Welch eine Lüge, damit wäre nach die­sem Pro­zess Schluss. Für immer. Die Wahr­heit muss­te auf den Tisch, die Men­schen muss­ten erken­nen, dass sie es nicht ver­dient hat­ten, dass das Leben ihnen einen Strich durch die Rech­nung macht. War­um hat­te ich so wenig gelacht, hat­te so wenig Freu­de, wur­de nicht geliebt, und immer, wenn ich lie­ben woll­te, wur­de mir wie­der ein Stein hin­ge­schmis­sen? Los, sprich, schnell, ich hol dich sonst hin­ter dem Vor­hang vor, du elen­der Gau­ner, du Dieb mei­ner Lie­be. Schämst du dich end­lich, du Leben, das ich nicht woll­te? Los, komm end­lich raus!

Was hast du erwartet?

Lie­be!

War­um hast du es nicht zugelassen?

Weil du mich nicht gelas­sen hast!

War­um warst du so feige?

Weil du mir den Mut nicht gabst!

Wie­so hast du ihn dir nicht ein­fach genommen?
(Mia Bern­stein – Erdbeerflecken)

Die Ewi­ge Wie­der­kehr ist ein geheim­nis­vol­ler Gedan­ke, und Nietz­sche hat damit man­chen Phi­lo­so­phen in Ver­le­gen­heit gebracht: alles wird sich irgend­wann so wie­der­ho­len, wie man es schon ein­mal erlebt hat, und auch die­se Wie­der­ho­lung wird sich unend­lich wiederholen!
(…)
Wenn sich jede Sekun­de unse­res Lebens unend­li­che Male wie­der­holt, sind wir an die Ewig­keit gena­gelt wie Jesus Chris­tus ans Kreuz. Eine schreck­li­che Vor­stel­lung. In der Welt der Ewi­gen Wie­der­kehr las­tet auf jeder Ges­te die Schwe­re einer uner­träg­li­chen Ver­ant­wor­tung. Aus die­sem Grund hat Nietz­sche den Gedan­ken der Ewi­gen Wie­der­kehr »das schwers­te Gewicht« genannt.
Wenn die Ewi­ge Wie­der­kehr das schwers­te Gewicht ist, kann unser Leben vor die­sem Hin­ter­grund in sei­ner gan­zen herr­li­chen Leicht­heit erscheinen.
Ist aber das Schwe­re wirk­lich schreck­lich und das Leich­te herrlich?
Das schwers­te Gewicht beugt uns nie­der, erdrückt uns, preßt uns zu Boden. In der Lie­bes­ly­rik aller Zei­ten aber sehnt sich die Frau nach der Schwe­re des männ­li­chen Kör­pers. Das schwers­te Gewicht ist also gleich­zei­tig ein Bild inten­sivs­ter Lebens­er­fül­lung. Je schwe­rer das Gewicht, des­to näher ist unser Leben der Erde, des­to wirk­li­cher und wah­rer ist es.
Im Gegen­satz dazu bewirkt die völ­li­ge Abwe­sen­heit von Gewicht, daß der Mensch leich­ter wird als Luft, daß er empor­schwebt und sich von der Erde, vom irdi­schen Sein ent­fernt, daß er nur noch zur Hälf­te wirk­lich ist und sei­ne Bewe­gun­gen eben­so frei wie bedeu­tungs­los sind.
Was also soll man wäh­len? Das Schwe­re oder das Leichte?
(Milan Kun­de­ra – Die uner­träg­li­che Leich­tig­keit des Seins)

Mit Mes­sern kann man sich ver­let­zen, daher soll man sie ver­mei­den; Tür­klin­ken sind tat­säch­lich mit Bak­te­ri­en bedeckt. Wer weiß, ob man mit­ten im Sym­pho­nie­kon­zert nicht doch plötz­lich auf die Toi­let­te muß, oder ob man das Schloß beim Nach­prü­fen nicht irr­tüm­lich auf­ge­schlos­sen hat? Der Ver­nünf­ti­ge ver­mei­det daher schar­fe Mes­ser, öff­net Türen mit dem Ell­bo­gen, geht nicht ins Kon­zert und über­zeugt sich fünf­mal, daß die Tür wirk­lich abge­sperrt ist. Vor­aus­set­zung ist aller­dings, daß man das Pro­blem nicht lang­sam aus den Augen ver­liert. Die fol­gen­de Geschich­te zeigt, wie man das ver­mei­den kann:

Eine alte Jung­fer, die am Fluß­u­fer wohnt, beschwert sich bei der Poli­zei über die klei­nen Jun­gen, die vor ihrem Haus nackt baden. Der Inspek­tor schickt einen sei­ner Leu­te hin, der den Ben­geln auf­trägt, nicht vor dem Haus, son­dern wei­ter fluß­auf­wärts zu schwim­men, wo kei­ne Häu­ser mehr sind. Am nächs­ten Tage ruft die Dame erneut an: Die Jun­gen sind immer noch in Sicht­wei­te. Der Poli­zist geht hin und schickt sie noch wei­ter fluß­auf­wärts. Tags dar­auf kommt die Ent­rüs­te­te erneut zum Inspek­tor und beschwert sich: »Von mei­nem Dach­bo­den­fens­ter aus kann ich sie mit dem Fern­glas immer noch sehen!«

Man kann sich nun fra­gen: Was macht die Dame, wenn die klei­nen Jun­gen nun end­gül­tig außer Sicht­wei­te sind? Viel­leicht begibt sie sich jetzt auf lan­ge Spa­zier­gän­ge fluß­auf­wärts, viel­leicht genügt ihr die Sicher­heit, daß irgend­wo nackt geba­det wird. Eines scheint sicher: Die Idee wird sie wei­ter­hin beschäf­ti­gen. Und das Wich­tigs­te an einer so fest geheg­ten Idee ist, daß sie ihre eige­ne Wirk­lich­keit erschaf­fen kann.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)