Schlagwortarchiv für: Leidenschaft

»Ich wür­de sagen, die Men­ge an Lan­ge­wei­le, falls Lan­ge­wei­le meß­bar ist, ist heu­te viel grö­ßer als frü­her. Weil die dama­li­gen Beru­fe, jeden­falls zu einem gro­ßen Teil, nicht ohne eine lei­den­schaft­li­che Nei­gung denk­bar waren: die Bau­ern, die ihr Land lieb­ten; mein Groß­va­ter, der schö­ne Tische zau­ber­te; die Schus­ter, die die Füße aller Dorf­be­woh­ner aus­wen­dig kann­ten; die Förs­ter; die Gärt­ner; ich ver­mu­te, sogar die Sol­da­ten töte­ten damals mit Lei­den­schaft. Der Sinn des Lebens stand nicht in Fra­ge, er beglei­te­te sie, in ihren Werk­stät­ten, auf ihren Fel­dern. Jeder Beruf hat­te sei­ne eige­ne Men­ta­li­tät, sei­ne eige­ne Seins­wei­se geschaf­fen. Ein Arzt dach­te anders als ein Bau­er, ein Sol­dat ver­hielt sich anders als ein Leh­rer. Heu­te sind wir alle gleich, alle durch die gemein­sa­me Gleich­gül­tig­keit für unse­re Arbeit geeint. Die­se Gleich­gül­tig­keit ist eine Lei­den­schaft gewor­den. Die ein­zi­ge gro­ße kol­lek­ti­ve Lei­den­schaft unse­rer Zeit.«
Chan­tal sag­te: »Aber sag mir doch: du selbst, als du Ski­leh­rer warst, als du in Zeit­schrif­ten über Innen­ar­chi­tek­tur geschrie­ben hast oder spä­ter über Medi­zin, oder als du als Zeich­ner in einer Tisch­le­rei gear­bei­tet hast …«
»… ja, das habe ich am liebs­ten gemacht, aber es ist nicht gelaufen …«
»… oder als du arbeits­los warst und gar nichts getan hast, da hät­test du dich doch auch lang­wei­len müssen!«
»Alles hat sich ver­än­dert, als ich dich ken­nen­ge­lernt habe. Nicht, weil mei­ne klei­nen Arbei­ten span­nen­der gewor­den sind. Son­dern weil ich alles, was um mich her­um geschieht, in Stoff für unse­re Gesprä­che verwandle.«
»Wir könn­ten von etwas ande­rem sprechen!«
»Zwei Men­schen, die sich lie­ben, allein, von der Welt abge­schie­den, das ist sehr schön. Aber womit wür­den sie ihr Tête-à-Tête aus­fül­len? So ver­ächt­lich die Welt auch sein mag, sie brau­chen sie, um mit­ein­an­der reden zu können.«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

Musik. Für Franz ist sie die Kunst, die der dio­ny­si­schen Schön­heit, die als Rausch ver­stan­den wird, am nächs­ten kommt. Man kann sich schlecht von einem Roman oder einem Bild berau­schen las­sen, wohl aber von Beet­ho­vens Neun­ter, Bar­tóks Sona­te für zwei Kla­vie­re und Schlag­in­stru­men­te oder den Songs der Beat­les. Franz unter­schei­det nicht zwi­schen erns­ter Musik und Unter­hal­tungs­mu­sik. Die­se Unter­schei­dung kommt ihm alt­mo­disch und ver­lo­gen vor. Er mag Rock­mu­sik genau­so wie Mozart.
Für ihn ist Musik Befrei­ung, sie befreit ihn von der Ein­sam­keit, der Abge­schie­den­heit und dem Bücher­staub, sie öff­net in sei­nem Kör­per Türen, durch die sei­ne See­le in die Welt hin­aus­ge­hen kann, um sich zu ver­brü­dern. Er tanzt gern und bedau­ert, daß Sabi­na die­se Lei­den­schaft nicht mit ihm teilt.
Sie sit­zen in einem Restau­rant, und zum Essen ertönt aus dem Laut­spre­cher lau­te, rhyth­mi­sche Musik.
Sabi­na sagt: »Das ist ein Teu­fels­kreis. Die Leu­te wer­den schwer­hö­rig, weil sie immer lau­te­re Musik hören. Und weil sie schwer­hö­rig sind, bleibt ihnen nichts ande­res übrig als noch lau­ter aufzudrehen.«
»Du magst kei­ne Musik?« fragt Franz.
»Nein«, sagt Sabi­na. Und dann fügt sie hin­zu: »Viel­leicht, wenn ich in einer ande­ren Zeit gelebt hät­te…«, und sie denkt an die Epo­che von Johann Sebas­ti­an Bach, als die Musik einer Rose glich, die blüh­te im unend­li­chen Schnee­feld der Stille.
Der als Musik getarn­te Lärm ver­folgt sie seit frü­hes­ter Jugend. Wie alle Stu­den­ten muß­te sie die Feri­en in einer soge­nann­ten Jugend-Bau­bri­ga­de ver­brin­gen. Man wohn­te in Gemein­schafts­un­ter­künf­ten und bau­te Hüt­ten­wer­ke. Von fünf Uhr früh bis neun Uhr abends dröhn­te Musik aus den Laut­spre­chern. Ihr war zum Wei­nen zumu­te, aber die Musik klang fröh­lich, und es gab kei­ne Mög­lich­keit, ihr zu ent­rin­nen, weder auf der Toi­let­te noch unter der Bett­de­cke, über­all waren Laut­spre­cher. Die Musik war wie eine Meu­te von Jagd­hun­den, die man auf sie los­ge­hetzt hatte.
Damals hat­te sie geglaubt, die­se Bar­ba­rei der Musik herr­sche nur in der kom­mu­nis­ti­schen Welt. Im Aus­land stell­te sie dann fest, daß die Ver­wand­lung von Musik in Lärm ein welt­wei­ter Pro­zeß war, der die Mensch­heit in die his­to­ri­sche Pha­se der tota­len Häß­lich­keit ein­tre­ten ließ. Die Tota­li­tät der Häß­lich­keit äußer­te sich zunächst als all­ge­gen­wär­ti­ge akus­ti­sche Häß­lich­keit: Autos, Motor­rä­der, elek­tri­sche Gitar­ren, Preß­luft­boh­rer, Laut­spre­cher, Sire­nen. Die All­ge­gen­wart der visu­el­len Häß­lich­keit wür­de bald folgen.
Sie aßen, gin­gen auf ihr Zim­mer und lieb­ten sich. Franz‘ Gedan­ken ver­schwam­men an der Schwel­le zum Schlaf. Er erin­ner­te sich an die lau­te Musik wäh­rend des Abend­essens und sag­te sich: der Lärm hat einen Vor­teil. Man kann kei­ne Wör­ter mehr hören. Es wur­de ihm klar, daß er seit sei­ner Jugend nichts ande­res tat als Reden, Schrei­ben, und Vor­le­sun­gen hal­ten, Sät­ze bil­den, nach For­mu­lie­run­gen suchen und sie ver­bes­sern, so daß ihm zum Schluß kein Wort mehr prä­zis vor­kam und der Sinn ver­schwamm; die Wör­ter ver­lo­ren ihren Inhalt und wur­den zu Krü­meln, Spreu und Staub, zu Sand, der durch sein Gehirn stob, ihm Kopf­schmer­zen und Schlaf­lo­sig­keit ver­ur­sach­te, sei­ne Krank­heit war. Da sehn­te er sich unwi­der­steh­lich, wenn auch unbe­stimmt, nach einer gewal­ti­gen Musik, nach einem rie­si­gen Lärm, einem schö­nen und fröh­li­chen Krach, der alles umarm­te, über­flu­te­te und betäub­te, in dem der Schmerz, die Eitel­keit und die Nich­tig­keit der Wör­ter für immer unter­gin­gen. Musik war die Nega­ti­on der Sät­ze, Musik war das Anti-Wort! Er sehn­te sich danach, unend­lich lan­ge mit Sabi­na umarmt dazu­lie­gen, zu schwei­gen, nie wie­der einen ein­zi­gen Satz zu sagen und das Gefühl der Lust mit dem orgi­as­ti­schen Getö­se der Musik zusam­men­flie­ßen zu las­sen. Mit die­sem glück­se­li­gen Lärm im Kopf schlief er ein.
(Milan Kun­de­ra – Die uner­träg­li­che Leich­tig­keit des Seins)