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Aber ist es romantisch zu werten, wenn Goebbels von einer Fahrt in bombenzerstörte Weststädte pathetisch lügt, er selber, der doch den Betroffenen Mut einflößen wollte, fühlte sich durch ihr unerschütterliches Heldentum »neu aufgeladen«? Nein, hier wirkt bestimmt und allein die Gewöhnung, den Menschen zu einem technischen Apparat zu erniedrigen.
Ich sage es deshalb mit Bestimmtheit, weil in den andern technischen Metaphern des Propagandaministers und des Goebbelskreises der unmittelbare Bezug auf das Maschinelle ohne jede Erinnerung an irgendwelche Kraftströme herrscht. Wieder und wieder werden tätige Menschen mit Motoren verglichen. So heißt es etwa im »Reich« von dem Hamburger Statthalter, er sei in seiner Arbeit wie »ein immer auf Hochtouren laufender Motor«. Viel stärker aber als solch ein Vergleich, der immerhin einen Grenzstrich zieht zwischen dem Bild und dem damit verglichenen Objekt, viel gravierender zeugt für die mechanisierende Grundanschauung ein Goebbelssatz wie dieser: »Wir werden in absehbarer Zeit auf einer Reihe von Gebieten wieder zu vollen Touren auflaufen.« Wir werden also nicht mehr mit Maschinen verglichen, sondern wir sind Maschinen. Wir: das ist Goebbels, das ist die nazistische Regierung, das ist die Gesamtheit Hitlerdeutschlands, die in schwerer Not, bei schrecklichem Kräfteverlust ermutigt werden soll; und sich selber und all seine Getreuen vergleicht der sprachgewaltige Prediger nicht etwa, nein, identifiziert er mit Maschinen. Eine entgeistigtere Denkart als die sich hier verratende ist unmöglich.
(Victor Klemperer – LTI)

Jedes Mal, wenn sich ein Jahr seinem Ende entgegenneigt, machen sich unzählige Menschen gut gemeinte Gedanken zum Ablauf des bald darauf anbrechenden Jahres und nennen ihre Pläne, die daraus hervorgehen, gute Vorsätze. Raucher wollen Nichtraucher werden, Sportmuffel zu Freizeitathleten, Faulenzer zu Arbeitstieren. Diese guten Vorsätze sind in der Regel noch vor Februar wieder vergessen.

Wenn es etwas gab, das sie in dieser Zeit des Jahres am meisten hasste, dann waren es die guten Vorsätze anderer Menschen und deren aufdringliche Art, diese Vorsätze jedem Interessierten und Desinteressierten gleichermaßen unter die Nase zu reiben. Auch sie hatte sich Gedanken zum Ablauf des kommenden Jahres gemacht, war dabei allerdings auf eine andere Idee gekommen, die ihr wesentlich sympathischer erschien. Sie hatte sich vorgenommen, ab Neujahr täglich in einem kleinen schwarzen Büchlein zu notieren, was ihr an jedem einzelnen Tag Schönes widerfahren würde. Es musste nichts Großes sein, nichts Überwältigendes, einfach etwas Schönes, etwas Gutes, etwas Positives, das ihr den Tag und damit auch das Leben ein wenig aufgeheitert oder erhellt, das ihr vielleicht sogar einen Blick auf dieses so genannte Glück ermöglicht hatte.

Das alles begann vor einem Jahr. Nun, dreihundertzweiundsechzig Tage später, saß sie bei Nacht in ihrem Zimmer und blätterte durch das Notizbuch, das sie mit ihren Erlebnissen gefüttert hatte, um sich so kurz vor Silvester die vergangenen zwölf Monate noch einmal Tag für Tag durch den Kopf gehen zu lassen, die angenehmen wie die bedrückenden Zeiten. Sie hatte ein gutes Gefühl dabei, denn das letzte Jahr war schnell vergangen, fast schon zu schnell, und wenn etwas schnell vergeht, ja zu schnell gar, dann ist das in der Regel doch ein Zeichen dafür, dass man eine gute Zeit verbracht hatte. Die guten Zeiten vergehen immer wie im Flug, das ist das Traurige an ihnen und der Grund, weshalb sie so selten das Gewicht der schweren Zeiten aufwiegen können, die sich ihrerseits wie Fußketten an das Leben binden, sodass man sich fühlt, als würde man durch ein Moor waten und nicht vorankommen. Zwar waren in diesem Jahr nicht alle ihre Wünsche in Erfüllung gegangen, aber wer konnte das schon von sich behaupten.

Als sie anfing, die ersten Seiten durchzublättern und dabei die täglichen Einträge zu studieren, musste sie schmunzeln. Sie ging in die Küche, öffnete sich eine Flasche Wein und widmete sich der weiteren Lektüre. Was sie las, stimmte sie zufrieden. Es waren Kleinigkeiten, aber es waren teils süße, teils herzerwärmende, teils völlig in Vergessenheit geratene Geschehnisse, die sie dort sah, und es waren Dinge, die sie auch heute noch fröhlich gemacht hätten, würden sie ihr erneut passieren. Sie las die Einträge des gesamten Januars und dann die Notizen des folgenden Februars. Ihr fiel auf, dass sich einige Erlebnisse bereits wiederholten, doch das störte sie nicht weiter. Ganz im Gegenteil, entwickelte sich beim Lesen eine gewisse Spannung, denn da Januar und Februar recht ruhig verlaufen waren, fieberte sie innerlich dem ersten außergewöhnlichen, dem ersten auffälligen, dem ersten bedeutenden Eintrag entgegen, was nun wiederum nicht hieß, dass die bisherigen Einträge für sie unbedeutend gewesen wären, nur waren es Banalitäten, alltägliche Geschehnisse, die sicherlich jedem zuteilwurden und sich jederzeit wieder ereignen könnten, wenn sie einfach nur einen völlig normalen Tag verbringen oder durch die Fußgängerzone schlendern würde.

Sie setzte ihre Hoffnungen in den März, denn endlich, ja endlich musste doch etwas Aufregendes geschehen sein. Beim Lesen offenbarte sich ihr dann allerdings das gewohnte Bild, das Januar und Februar ihr bereits zur Genüge präsentiert hatten. Langsam wurde sie ungeduldig. Vielleicht ist es doch eine blöde Idee gewesen, dieses Büchlein zu führen, dachte sie sich und blätterte nun ganz zufällig durch die Seiten, bis sie einen Tag im Juni aufschlug, immer noch auf der Suche nach spannenden, irgendwie berührenden Ereignissen. „Fünf Euro auf dem Weg zur Arbeit gefunden“ las sie da und lachte. Nein, das war nun wirklich weder spannend noch berührend. Der folgende Tag war demgegenüber schon etwas besser, denn dort hatte sie notiert: „Im Regen spazieren gegangen“. Sie liebte es, im Regen durch die Straßen der Stadt spazieren zu gehen, insofern war dies nun für sie zwar ein irgendwie berührender, aber kein sonderlich hervorstechender, kein außergewöhnlicher, kein befriedigender Eintrag. Sie blätterte weiterhin wahllos im Juni herum, las „Von einem Kollegen ein Stück Kuchen bekommen“ oder „Jemandem den Weg erklärt“, fand „Eine Frau hat mir lächelnd die Tür der Straßenbahn aufgehalten“ und „Himmlisch geschlafen“, aber rein gar nichts, von dem sie sagen konnte, es sei etwas Besonderes gewesen, das ihr ein Stück vom Glück dargeboten hätte. Das müssen ziemlich schlechte Tage gewesen sein, dachte sie und blätterte weiter, doch was sie auf den Seiten der darauffolgenden Wochen lesen konnte, kam ihr noch banaler, noch unwichtiger, jedenfalls keineswegs erfüllend oder einfach bloß gut vor, sondern irgendwie leer. Sie fühlte sich wie jemand, der in der Lotterie gewinnt und dann aber feststellen muss, dass alle anderen ebenfalls gewonnen haben. Nun, dann sind es eben keine schlechten Tage gewesen, schlechte Wochen müssen es gewesen sein. Sie suchte weiter. Es waren keine schlechten Tage gewesen, musste sie feststellen, auch keine schlechten Wochen, es waren die besten Tage im ganzen Monat gewesen, sogar in zwei Monaten, und der Rest des Jahres war, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht viel besser.

Konnte das wirklich die Wahrheit sein? Sie hatte für jeden Tag des Jahres jeweils nur das eine, das allerbeste Erlebnis notiert, das ihr widerfahren war, die beste Handlung, die sie vollbracht, oder das schönste Gefühl, das sie an diesem Tag empfunden hatte – und diese Dinge, die sie da lesen musste, diese Banalitäten, diese Nichtigkeiten, diese lieblosen leeren Worte, die sie kaum zu lesen wagte, die waren genau das, alles erschöpfte sich in diesen Belanglosigkeiten? Diese Einträge voller unbedeutender Alltäglichkeiten waren alles, was ihr Leben in diesem einen Jahr ausgemacht hatte? Das war das Beste, was die Welt ihr in diesen Wochen und Monaten geboten hatte? Mehr war da nicht?

Was sie außerdem beunruhigte, waren Einträge wie der folgende: „Netter Kassierer hat mir zugezwinkert“. Das ganze letzte Jahr hatte sie allein verbracht, genau wie auch das Jahr zuvor. Sie fand viele weitere Einträge, die Ähnliches festgehalten hatten, ob es sich dabei nun um Kassierer, Jogger, U-Bahn-Fahrgäste oder irgendwelche Callcenter-Mitarbeiter gehandelt hatte. Sie las diese Einträge und sah darin den Unterton, mit dem sie sie wahrscheinlich auch geschrieben hatte: Jemand findet mich gut, jemand mag mich, ich bin etwas wert. War sie so verzweifelt nach menschlicher Nähe, nach dem Gefühl, jemandem – irgendjemandem – zu gefallen? Ihre Zufriedenheit begann zu bröckeln.

Sie nannte es ein Leben, was sie da geführt hatte, nun aber fragte sie sich, ob es denn wirklich mehr war als eine unbedeutende Existenz. Verzweifelt suchte sie nach einem Eintrag, der herausstach, der besonders war, der es wert war, das Beste eines Tages, eines Monats, eines Jahres zu sein. Sie fand absolut nichts, was sie überzeugt, was sie beeindruckt oder was ihr das Gefühl gegeben hätte, ein gutes Jahr hinter sich zu haben. Sie vermisste das große Glück.

Eines Tages blickt man in den Spiegel und begreift, dass man niemals mehr sein wird als das, was man dort sieht. Mit dieser Erkenntnis kann man weiterleben und sie akzeptieren, man kann sich umbringen, um allem zu entgehen, oder man blickt nie wieder in einen Spiegel.

Es war wenige Tage vor Silvester, als sie zum letzten Mal eine leere Seite in ihrem schwarzen Büchlein aufschlug und mit zittrigen Fingern lediglich das Wort „Ende“ hineinschrieb.

Der Mensch will nur,
dass man versteht,
was in ihm drin
so vor sich geht.
Er will das freilich
ohne Mühe,
mag nicht reden,
sich erklären,
will nicht
aus dem Häuschen kommen,
zu viel Welt
macht ihn beklommen;
öffnet keinem
seine Pforte,
zäunt sich ein,
verliert kaum Worte;
und klopft doch mal einer an,
verschließt er sich,
so gut er kann,
dann brüllt er:
Keiner soll es wagen,
durch ein Fenster reinzuspähn! –
und jammert stets
tagein, tagaus:
Ach, wenn es da nur jemand’ gäbe,
der versucht’,
mich zu verstehn.

(2010)

Wenn ich dich frage,
ob wir etwas unternehmen wollen,
dann frage ich nicht jemanden,
ich frage dich.
Ich hoffe,
du verstehst mich.

(2010)

Mit Messern kann man sich verletzen, daher soll man sie vermeiden; Türklinken sind tatsächlich mit Bakterien bedeckt. Wer weiß, ob man mitten im Symphoniekonzert nicht doch plötzlich auf die Toilette muß, oder ob man das Schloß beim Nachprüfen nicht irrtümlich aufgeschlossen hat? Der Vernünftige vermeidet daher scharfe Messer, öffnet Türen mit dem Ellbogen, geht nicht ins Konzert und überzeugt sich fünfmal, daß die Tür wirklich abgesperrt ist. Voraussetzung ist allerdings, daß man das Problem nicht langsam aus den Augen verliert. Die folgende Geschichte zeigt, wie man das vermeiden kann:

Eine alte Jungfer, die am Flußufer wohnt, beschwert sich bei der Polizei über die kleinen Jungen, die vor ihrem Haus nackt baden. Der Inspektor schickt einen seiner Leute hin, der den Bengeln aufträgt, nicht vor dem Haus, sondern weiter flußaufwärts zu schwimmen, wo keine Häuser mehr sind. Am nächsten Tage ruft die Dame erneut an: Die Jungen sind immer noch in Sichtweite. Der Polizist geht hin und schickt sie noch weiter flußaufwärts. Tags darauf kommt die Entrüstete erneut zum Inspektor und beschwert sich: »Von meinem Dachbodenfenster aus kann ich sie mit dem Fernglas immer noch sehen!«

Man kann sich nun fragen: Was macht die Dame, wenn die kleinen Jungen nun endgültig außer Sichtweite sind? Vielleicht begibt sie sich jetzt auf lange Spaziergänge flußaufwärts, vielleicht genügt ihr die Sicherheit, daß irgendwo nackt gebadet wird. Eines scheint sicher: Die Idee wird sie weiterhin beschäftigen. Und das Wichtigste an einer so fest gehegten Idee ist, daß sie ihre eigene Wirklichkeit erschaffen kann.
(Paul Watzlawick – Anleitung zum Unglücklichsein)

Es dauerte zwei ganze Tage, bis mir so langsam klar wurde, was er wirklich zu mir gesagt hatte. Er wolle nicht den Teufel an die Wand malen, doch es sähe nicht gut aus, hatte der Arzt mit einem kurzen Kopfschütteln gemeint, jedoch gleich noch hinzugefügt, wahrscheinlich um der Aussage etwas von ihrer Bedrohlichkeit zu nehmen, ein endgültiges Ergebnis könne er mir erst in einigen Tagen mitteilen. Wie schlimm denn „nicht gut“ sei, hatte ich gefragt, und er antwortete bloß knapp, im schlimmsten Fall stünden die Chancen nicht sehr gut, dass ich das Ende des Jahres noch erleben würde, sollte die genaue Untersuchung seine Vermutung denn bestätigen. Vielleicht war er etwas vorschnell, doch ich schätzte seine Aufrichtigkeit, denn die meisten Ärzte hätten sich davor gedrückt, solch eine Vermutung offen auszusprechen, solange sie nicht über eine definitive Diagnose verfügten, um, wie sie sagen würden, ihre Patienten nicht unnötig zu verängstigen. Zwei Tage später saß ich in einem Bus, es war Nachmittag, und erst da begriff ich plötzlich, wie meine Perspektiven sich verändert hatten. Ich würde vielleicht sterben, und zwar sehr bald.
Ich sprach mit niemandem darüber, außer mit meinen Eltern. Wieso auch? Noch stand das Ergebnis gar nicht fest und ich wollte niemanden unnötig beunruhigen, also verhielt ich mich wie jene Ärzte, die ihre Patienten erst einmal im Dunkeln lassen. Ich hätte es nicht ertragen, von Freunden oder denjenigen Menschen, die sich dafür hielten, mitleidige Blicke und wohlmeinenden Zuspruch zu erhalten, der bestenfalls gut gemeint und im schlimmsten Fall einfach nur lächerlich ist. Nein, ich behielt es für mich, denn es handelte sich ja um eine höchst private Angelegenheit, die zuallererst bloß mich etwas anging. Und wie sie mich etwas anging!
Was in mir geschah, nachdem ich erst einmal begriffen hatte, wie meine Chancen standen und dass ich vielleicht bald sterben würde, kann ich gar nicht so genau beschreiben. Es war jedoch nicht wirklich schlecht, was in mir vorging, so wie man es vielleicht von jemandem erwarten würde, der dem Tod ins Auge blickt, denn genau das tat ich ja, mehr oder weniger. Ich verfiel nicht in tiefe Depression, ich wurde weder apathisch und hoffnungslos, noch begann ich plötzlich, mich für Extremsport zu interessieren, um auf die letzten Tage noch möglichst viele Kicks zu bekommen. Ich blieb, wenn man das so sagen kann, oberflächlich betrachtet ziemlich normal.
Unter der Oberfläche jedoch vollzog sich ein Wandel, der zwar nicht besonders spektakulär erschien, aber meinem Leben eine gewisse neue Richtung geben sollte. Bislang hatte ich ein Leben geführt, das sich in der Regel daran orientierte, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und möglichst wenig aufzufallen, weil Auffallen in der Regel bedeutete, ziemlich schnell in Situationen zu geraten, die sich zu Problemen entwickeln könnten. Ich war der Mann, der immer da, aber nie dabei sein wollte, der immer anwesend, aber nie beteiligt war. Das sollte sich ändern.
Es gab da eine Frau. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ich in sie verliebt gewesen sei. Ein wenig vielleicht. Mehr wollte ich mir nicht erlauben, weil es zu Problemen hätte führen können. Wir gingen einige Male aus, ja, aber nur unter Vorwänden, nur mit Begleitung, und nie fiel das Wort Date, geschweige denn ein Kuss. An schlechten Tage fühlte ich mich feige und hasste mich dafür, nicht den Mut aufzubringen, sie einfach zu küssen, doch an guten Tagen klopfte ich mir auf die Schulter, die Sache nicht noch weiter zu vertiefen, würde sie doch sowieso in einer Katastrophe oder auf eine andere peinliche Art enden, aber jedenfalls enden. Es gab Menschen in meinem Leben, zu denen ich freundlich war, obwohl ich sie nicht ausstehen konnte. Mein Chef zum Beispiel, um ein Klischee zu erfüllen, denn wer mag schon seinen Chef, aber auch Leute in meinem Freundeskreis, Freunde von Freunden, irgendwelche Bekannte sowie natürlich diejenigen, von denen man sich erhofft, für die gespielte Freundlichkeit irgendwann einmal etwas zurückzubekommen. Ich war ordentlich und brav, könnte man sagen, denn ich erfüllte Aufgaben, die mir zugetragen wurden, in der Regel ohne zu murren, befolgte die Regeln, auch wenn sie mir noch so unsinnig erschienen, wagte nichts und ordnete mich unter, wo es nur ging, weil alles andere nur wieder zu Problemen geführt hätte. Es war kein unangenehmes Leben, doch es war ein Leben, das mich auch nicht wirklich befriedigte. Ich ließ mich treiben.
Nach den Worten des Arztes jedoch war alles anders. Meine Perspektive, meine Rolle in der Welt und auch meine Selbstbetrachtung hatten sich verändert. Ich würde vielleicht bald sterben. Haben wir nicht alle diesen Gedanken in uns, schlicht und einfach das zu tun, was uns wirklich glücklich macht, wenn wir nur noch einen Tag zu leben hätten. Wenn es für mich auch nicht ein einzelner sein sollte, so schienen meine Tage doch gezählt. Wie lange hätte ich noch gehabt? Sechs Monate? Ein Jahr? Was ist in einem solchen Fall schon der Unterschied zwischen einem Tag und einem Jahr? Oder anders gefragt: Was ist der Unterschied zwischen einem Tag und einem Leben? Wieso tragen wir diese Vorstellung mit uns herum, wir würden plötzlich alles ganz anders leben und erleben, wenn wir wüssten, es wäre unser letzter Tag? Wenn ich morgen ganz unspektakulär in der Dusche ausrutschen sollte, wäre mein letzter Tag dann nicht der heutige, also beliebig? Immer und nie zugleich? Warum ändern so viele Menschen ihr Leben, wenn sie ein mehr oder weniger vages Datum für ihren Tod erfahren? Verbringen wir unsere Leben vielleicht so unglücklich, so unbefriedigend, so leer, weil wir glauben, wir lebten für immer, wir könnten alles noch irgendwann nachholen, was wir versäumen – und erst das baldige Ende, dieser Gedanke an Endlichkeit bringt uns dazu, unser Leben wahrhaft zu genießen, wenn es dafür schon fast zu spät ist? Ich weiß es nicht.
Was ich jedoch wusste, war, mein Leben sollte anders werden. Ich wollte die wenige Zeit, die mir vielleicht noch blieb, sinnvoll nutzen, sinnvoller als bisher. In meinem Kopf malte ich mir aus, wie mein Leben in Zukunft aussehen sollte. Zuallererst würde ich sie anrufen und um ein Date bitten, ein klares, eindeutiges Date, um dem vorsichtigen Antasten endlich ein Ende zu bereiten. Es wäre riskant, natürlich, so wie jede Liebeserklärung, aber ich hatte nichts mehr zu verlieren. Vor meinem Chef würde ich nicht länger kriechen, wenn er mich für seine eigene Inkompetenz bestraft. Anstatt zu heucheln, würde ich immer meine ehrliche Meinung zum Ausdruck bringen, auch wenn sie einigen Menschen vielleicht nicht gefallen mag. Ich würde diejenigen meiden, die mir nicht guttun, und würde mir Zeit für Menschen und Dinge nehmen, die mir besonders am Herzen liegen. Ich würde ein besserer Freund sein, ein besserer Sohn, ein besserer Liebhaber, ein besserer Mensch. Das war es, was ich mir vorstellte, was in mir brannte. Ich würde, wenigstens auf meine letzten Tage, endlich das Leben führen, das ich schon die ganze Zeit hätte führen sollen.
Drei Tage später erhielt ich die Ergebnisse. Der Arzt sagte zu mir, ich hätte riesiges Glück, und was er damit meinte, war wohl, ich bekäme mein ewiges, undatiertes Leben zurück. Ich ging nach Hause, setzte mich auf meine Couch und verarbeitete, was eben geschehen war. Ich dachte an die Frau, mit der ich schon seit langer Zeit so gerne ausgehen würde, und verteufelte mich dafür, sie noch immer nicht angerufen zu haben. Dann endlich nahm ich das Telefon in die Hand, wählte die Nummer meiner Eltern, erzählte ihnen die gute Nachricht, und führte mein Leben weiterhin wie zuvor.

Was hätten die Komik, die Satire und das Kabarett doch für Möglichkeiten; Möglichkeiten, die Masken von den Gesichtern zu reißen! Doch nichts dergleichen geschieht! Die Masken bleiben Tarnung, die Machthaber und ihre kruden Ideen, Vorhaben und Reformen scheinen unantastbar. Wie Weiß Ferdl tappen sie zaghaft an politischen Bekenntnissen vorbei, betreiben Albernheiten statt Komik, Beleidigungen statt entwaffnendes Narrenrecht, welches es erlauben würde, den Herrschenden jede Wahrheit an den Kopf zu werfen – und dabei sind sie auch noch wahre Publikumshelden. Bloß nicht mit denen anecken, die sich wehren können!, lautet deren Devise. Haut auf die Schwachen, verprügelt die Arbeitslosen, thematisiert Trivialitäten – und wenn es doch unbedingt politisch sein muß, dann witzelt über Frisuren und Brillengestelle, Sprachfehler und – sofern man ein Bad-Boy-Image zu pflegen hat – Behinderungen!
(Roberto J. De Lapuente)

Eine Witwe heiratete einen Witwer. In der ersten Nacht lagen sie nebeneinander. Die Witwe hatte Lust auf den Mann, doch er hörte nicht auf, von seiner verstorbenen Frau zu erzählen. Irgendwann fing auch die Frau an, von ihrem verstorbenen Mann zu reden. Bald darauf schnarchte der Mann neben ihr.
In der zweiten Nacht zog sich die Frau aus und legte sich zu ihrem Mann, doch als sie ihn streichelte, sagte er: »Das erinnert mich an meine Frau, selig soll sie im Schoß Gottes weilen. Sie hat auch immer gern meine Brusthaare gestreichelt.« Er zündete sich eine Zigarette an und erzählte lange von seiner verstorbenen Frau. Die Witwe besann sich und sagte darauf, daß ihr verstorbener Mann im entscheidenden Augenblick auch immer eine Zigarette geraucht und sein Mund davon wie ein Aschenbecher gestunken habe, weshalb ihr die Lust oft vergangen sei. Aber bevor sie mit ihrem Satz zu Ende war, schnarchte der Mann.
In der dritten Nacht nahm die Frau eine Flasche Wein mit ins Schlafzimmer. Sie zog sich aus, zündete eine Kerze an und schenkte dem Mann ein. Das hatte bei ihrem Verstorbenen immer Wunder bewirkt.
Der neue Ehemann nahm einen Schluck. »Chianti?« fragte er begeistert.
»Ja«, antwortete die Frau hoffnungsvoll.
»Das erinnert mich an Venedig, wo ich damals mit meiner so temperamentvollen…«
Da trat die Frau den Mann so kräftig in die Seite, daß er aus dem Bett fiel.
»Was ist los mit dir?« schimpfte er.
»Nichts. Das Bett ist nur für zwei. Wir aber liegen seit drei Tagen hier zu viert, da kann es leicht passieren, daß einer herausfällt.«
(Rafik Schami – Loblied und andere Olivenkerne)

Ihr seid die lieblosesten Menschen, die ich kenne. Ihr schaut euch Sendungen an, in denen Andere, die in ihrem Leben noch nie eine ernsthafte Partnerschaft erlebt haben, einmal von der Liebe sprechen, von dem, was das nun für sie ist, und ihr, ihr macht euch lustig über sie, weil sie in euren Augen so unglaublich peinlich sind. Sie mögen peinlich sein, doch noch viel peinlicher seid letztlich ihr, die ihr euch hämisch über das kleine und große Glück anderer Menschen amüsiert, auf sie herabblickt, um ihre Vorstellung von Liebe und Geborgenheit mit zynischer Aufgeblasenheit in den Dreck zu ziehen und das bisschen Glück, das ein Mensch für sich findet, erst auf den Boden zu werfen und dann mit Füßen zu treten, bis jeder Ansatz von Zufriedenheit verstirbt.

Ihr wendet euch angeekelt ab, wenn sich zwei Menschen liebevoll küssen und ihr das unmittelbar beobachten müsst. Ihr verabscheut jegliches Verhalten, das anderen zeigt, dass man ein Pärchen ist. Ihr würdet sie am liebsten allesamt trennen, wollt ihrem Glück so schnell es geht ein Ende bereiten, denn für euch ist das kein Glück, was ihr da seht, also kann es das für andere doch auch nicht sein. Ihr seid Gefühlsspießer – wenn ihr nicht könnt, sollen alle anderen auch nicht dürfen.

Ihr wollt sie nicht, die Liebe, sagt ihr dann und wiederholt das wie ein Mantra. Wen wollt ihr damit überzeugen, den Rest der Welt oder am Ende bloß euch selbst? Anstatt sie als Geschenk anzunehmen, wollt ihr die Quittung sehen oder blockt sie ab, zerredet sie und macht sie klein. Wer immer euch mal liebt, den stoßt ihr eiskalt weg. Das Übel, sagt ihr, wollt ihr an der Wurzel ausradieren. Hört ihr euch eigentlich manchmal selbst beim Reden zu?

Ihr verschanzt euch hinter beißendem Zynismus, der bequem ist, hinter Traumgebilden, die naiv sind, oder hinter dem, was ihr Vernunft nennt, was doch in Wahrheit dann bloß Angst in listiger Verkleidung ist. Ihr findet so viele gute Gründe, euch nicht auf jemanden einzulassen, so viele schlaue Rationalisierungen, die ihr euch zurechtbiegt, aber nicht einen einzigen Grund dafür. Ihr begreift nicht, dass ihr umsonst sucht, denn es gibt gar keinen Grund dafür, weil das Dafür doch eines Grundes nicht bedarf: „Ich liebe dich, weil…“, das sagt kein Mensch, der wahrhaft liebt. Auf der anderen Seite verstecken sich Millionen Gründe dagegen und ihr, ihr findet sie alle. Ihr wollt sie unbedingt finden, ihr wollt Vorwände, Ausflüchte, Notausgänge. Dann wägt ihr ab: Kein Grund dafür, so viele dagegen, ihr zieht Bilanz und rechnet aus, als ob es um den Einkauf geht. Und ihr, die ihr so lieblos sprecht, ihr wagt es dann, ganz lauthals über jene herzuziehen, die glücklich in Gefühlen baden?

Wenn es nicht Liebe auf den ersten Blick ist, die euch umhaut, die von euch Besitz ergreift, dann wollt ihr sie nicht haben. Seid ehrlich zu euch selbst: Wie oft habt ihr das schon erlebt? Für euch verhält sich Liebe wie die magische Bohne, aus der ganz plötzlich eine Ranke bis zum Himmel wächst. Dass es auch anders geht, dass Liebe auch als zartes Pflänzchen reifen kann, das reichlich Zeit zum Wachsen braucht, das kommt euch gar nicht in den Sinn, denn wenn dann doch mal etwas keimt, stürmt ihr gleich mit der Sichel an.

Ihr seid so abgebrüht. Ihr wollt Pärchen im Park vergiften und amüsiert euch übers Glück der anderen. Wie kann man da Respekt vor euch haben? Ihr seid umgeben von Liebe, sie klopft sogar von Zeit zu Zeit an eure Tür, und alles, was ihr dafür übrig habt, ist Hohn aus eurer Burg. Wenn unerwartet Liebe zu euch kommt, dann schlagt und tretet ihr sie, bis sie stirbt, weil ihr doch lieber weiterhin in eurer kalten Festung wohnt. Ist es da ein Wunder, wenn die Liebe euch nichts gibt?

Ihr informiert euch über bio-chemische Prozesse, ihr theoretisiert und analysiert das Gefühl, doch Theorie wird euch nicht küssen, nie umarmen oder Wärme spenden können. Ihr phantasiert so gern von riesigen Gefühlen, jagt Schimären hinterher, die ihr aus Liebesfilmen kennt, ihr lest in Büchern über sie, von denen ihr in Wahrheit keine Ahnung habt, weil ihr noch nicht einmal die kleinen schätzt. Ihr lehnt sie ab, ihr macht sie schlecht, stets wollt ihr sie zerstören, ihr untergrabt und ihr verschandelt sie, wo immer ihr sie seht, ihr gönnt den anderen kein Glück.

Sind eure Abgebrühtheit, euer Hass, die zynische Verbitterung, die ihr mit eisgekühlter Brust dem Rest der Welt entgegenstellt, die ganze Missgunst und das kalte Herz denn nicht bloß Ausdruck eigener Enttäuschung? Wie wollt ihr jemals glücklich sein, wenn ihr den Schmerz so konserviert?

Den Karren von meiner Hand in die seine wechselnd, erzählte er mir eine lustige Geschichte über den ersten Schubkarren, den er je gesehen. Das war in Sag Harbor. Die Eigner des Schiffes, so scheint es, hatten ihm einen geliehen, um seine schwere Tasche in sein Logierhaus zu schaffen. Um, was dieses Ding betrifft, nicht unwissend zu erscheinen – obgleich er, was die genaue Weise angeht, wie der Karren zu handhaben sei, das in Wahrheit vollkommen war -, packt Queequeg seine Tasche darauf; verschnürt sie feste; und schultert dann die Karre und schreitet den Pier hinauf. »Na«, sagte ich, »Queequeg, das hättest du besser wissen können, sollte man meinen. Haben die Leute nicht gelacht?«
Daraufhin erzählte er mir eine weitere Geschichte. Die Leute seiner Insel Kokovoko pressen, so scheint es, die wohlriechende Flüssigkeit junger Kokosnüsse in eine große gefärbte Kalebasse, wie eine Punschbowle; und diese Punschbowle bildet auf der geflochtenen Matte, wo das Fest abgehalten wird, immer das große Schaustück im Mittelpunkt. Nun kam einmal ein bestimmtes stattliches Handelsschiff in Kokovoko an, und dessen Kommandant – soweit berichtet wird, ein sehr vornehmer, pingeliger Herr, wenigstens für einen Kapitän zur See -, dieser Kommandant wurde zum Hochzeitsfest von Queequegs Schwester eingeladen, einer hübschen jungen Prinzessin, die gerade zehn geworden. Nun ja; als alle Hochzeitsgäste in der Bambushütte der Braut versammelt waren, marschiert dieser Kapitän herein, und alldieweil man ihm den Ehrenplatz zugewiesen, nimmt er Platz drüben, der Punschbowle gegenüber, und zwischen dem Hohepriester und Seiner Majestät dem König, Queequegs Vater. Sobald das Tischgebet gesprochen – denn auch diese Leute haben ihr Tischgebet ebenso wie wir – obwohl Queequeg mir erzählte, daß im Gegensatz zu uns, die wir bei solchen Gelegenheiten niederblicken auf unsere Servierplatten, sie ganz im Gegenteil, es den Enten nachmachend, aufwärts blicken zu dem großen Spender aller Feste -, sobald, wollte ich sagen, das Tischgebet gesprochen, eröffnet der Hohepriester das Bankett mit der uralten Zeremonie der Insel; das heißt, er tunkt seine geweihten und weihenden Finger in die Bowle, bevor das gesegnete Getränk die Runde macht. Wie er sich gleich neben dem Priester placiert sieht und der Zeremonie folgt und sich – als Kapitän eines Schiffes – im klaren Vorrecht gegenüber einem bloßen Inselkönig dünkt, insonderheit in des Königs eigenem Hause – macht er sich ganz kühl daran, seine Hände in der Punschbowle zu waschen; – die er, wie ich annehme, als eine riesige Fingerschale angesehen. »Nun«, sagte Queequeg, »was du jetz denk? – Haben unsere Leute nicht gelacht?«
(Herman Melville – Moby Dick)