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Here was a man who, if he wan­ted, could spend every waking moment in self-pity, fee­ling his body for decay, coun­ting his breaths. So many peo­p­le with far smal­ler pro­blems are so self-absor­bed, their eyes gla­ze over if you speak for more than thir­ty seconds. They alre­a­dy have some­thing else in mind – a fri­end to call, a fax to send, a lover they’­re day­d­re­a­ming about. They only snap back to full atten­ti­on when you finish tal­king, at which point they say „Uh-huh“ or „Yeah, real­ly“ and fake their way back to the moment. (…) We are gre­at at small talk: „What do you do?“ „Whe­re do you live?“ But real­ly lis­tening to someone – wit­hout try­ing to sell them some­thing, pick them up, recruit them, or get some kind of sta­tus in return – how often do we get this any­mo­re? I belie­ve many visi­tors in the last few months of Morrie’s life were drawn not becau­se of the atten­ti­on they wan­ted to pay to him but becau­se of the atten­ti­on he paid to them. Despi­te his per­so­nal pain and decay, this litt­le old man lis­ten­ed the way they always wan­ted someone to listen.
(Mitch Albom – Tues­days with Morrie)

Sel­ten unter­neh­me ich etwas mit mehr als drei Men­schen auf ein­mal. Viel­leicht mag das unso­zi­al erschei­nen, doch für mich ist es genau das Gegen­teil. Ich mei­de Mas­sen­ver­an­stal­tun­gen und blei­be Tref­fen fern, wenn abseh­bar ist, dass am Ende mehr Men­schen anwe­send sein wer­den als ich für ange­nehm befin­de. Das liegt vor allem dar­an, dass jedes Tref­fen von mehr als vier Per­so­nen für mich schon eine Grup­pe dar­stellt und ich Grup­pen nicht beson­ders lei­den kann – beson­ders dann nicht, wenn dar­un­ter Men­schen sind, die ich mag.

Je mehr von ihnen ich mag oder je mehr ich ein­zel­ne dar­un­ter mag, des­to weni­ger möch­te ich sie zeit­gleich mit ande­ren in eine Grup­pe ste­cken. Es ist nicht unbe­dingt so, dass ich mich in einer Grup­pe unwohl füh­le, denn oft ver­spricht eine Grup­pe und ihre spe­zi­el­le Dyna­mik gro­ßen Spaß, doch ist es der Man­gel an Nähe und Exklu­si­vi­tät, der mich Grup­pen in der Regel eher mei­den lässt. Es geht mir hier­bei nicht um Nähe und Exklu­si­vi­tät, die ich von ande­ren erwar­ten, ein­for­dern oder gar ver­lan­gen wür­de, son­dern um Nähe und Exklu­si­vi­tät, die ich selbst ger­ne den­je­ni­gen Men­schen zukom­men las­sen möch­te, die ich mag. Ich möch­te mei­ne Auf­merk­sam­keit gegen­über die­sen Men­schen nicht hin und her sprin­gen las­sen müs­sen, will mein Inter­es­se nicht spal­ten und mei­ne Gedan­ken nicht het­zen, son­dern will mich auf ein Gegen­über kon­zen­trie­ren und für die­se eine Per­son in die­sem Augen­blick voll und ganz da sein, ein­zig und allein, abso­lut und ungeteilt.

Ein­mal saß ich mit fünf­zehn wei­te­ren Per­so­nen zum Abend­essen an einem lan­gen Tisch und fei­er­te den Geburts­tag einer Freun­din – nur eine von vie­len Situa­tio­nen, die aber exem­pla­risch ist für das, was ich zum Aus­druck brin­gen möch­te. Links von mir konn­te ich Gesprä­che ver­fol­gen, rechts von mir konn­te ich Gesprä­che ver­fol­gen, und ich selbst unter­hielt mich mit mei­nen Nach­barn über die­ses und über jenes.

Es war, wie es immer ist, wenn eine grö­ße­re Anzahl von Men­schen auf­ein­an­der­trifft: Man steigt aus Gesprä­chen aus und in ande­re ein, man wech­selt den Gesprächs­part­ner, wenn es lang­wei­lig zu wer­den droht, man teilt die Auf­merk­sam­keit. Man rast hin und her, zumin­dest in Gedan­ken, man ver­liert Fokus und Kon­zen­tra­ti­on, man frag­men­tiert die Anteil­nah­me. Alle Unter­hal­tun­gen sind gleich, indem sie unper­sön­lich blei­ben: Man begnügt sich mit Smalltalk.

Je mehr Men­schen sich zusam­men­fin­den, umso grö­ßer die Wahr­schein­lich­keit unglei­cher Freund­schafts­be­zie­hun­gen. Wenn wie in die­sem Bei­spiel sechs­zehn Per­so­nen an einem Tisch sit­zen, ist es recht unwahr­schein­lich, dass alle die­se Per­so­nen das glei­che Freund­schafts- und Ver­trau­ens­ver­hält­nis tei­len oder alle­samt unter­ein­an­der bes­te Freun­de sind. Viel­leicht sind eini­ge sich völ­lig fremd und noch nicht ein­mal sym­pa­thisch. In der­lei Kon­stel­la­tio­nen unter­hält man sich not­ge­drun­gen nicht über all­zu Per­sön­li­ches, weil Ohren anwe­send sind, die es ver­mut­lich nichts angeht. Was man dem bes­ten Freund oder der Freun­din erzählt, das teilt man hier nicht allen mit. Der Aus­weg ist das ober­fläch­li­che Gespräch oder das seich­te Amü­se­ment. Bei­des gibt mir nichts, mit bei­dem kann ich nichts anfan­gen, bei­des ist für mich sozi­al ungenügend.

Das seich­te Amü­se­ment in der Grup­pe, der ober­fläch­li­che Spaß, das unbe­schwer­te Lachen für Zwi­schen­durch, wenn tie­fe Gesprä­che nicht zur Debat­te ste­hen und gro­ße Nähe nicht in Fra­ge kommt, ist in jenen Momen­ten, in denen es statt­fin­det, für mich so schön wie für jeden ande­ren Betei­lig­ten auch, doch neh­me ich dar­aus nichts mit. Ich habe mit Leu­ten eine schö­ne Zeit, ja, mit Freun­den gar, doch wenn ich dann nach Hau­se kom­me, bleibt in mir ein unbe­frie­di­gen­des Gefühl zurück, der Wunsch nach mehr – nicht an Quan­ti­tät, son­dern an Qualität.

Es kommt mir wie Ver­schwen­dung vor, wenn da jemand ist, mit dem ich ger­ne in die Tie­fe abtau­chen wür­de, aber es nicht kann, weil wir in einer Grup­pe gefan­gen sind, die auf der Ober­flä­che des größ­ten gemein­sa­men Tei­lers treibt. Es erscheint mir wie Ver­geu­dung von Freund­schaft, bloß Spaß mit ihnen zu haben. Ent­schei­dend ist das »bloß«. Nicht: Spaß mit ihnen zu haben, son­dern: bloß Spaß mit ihnen zu haben. Die Reduk­ti­on auf eine Dimen­si­on, wo doch so vie­le sind, wo doch so vie­le sein soll­ten. Auf die Spit­ze getrie­ben: Für Spaß allein, da rei­chen schon Bekann­te, ja sicher­lich schon Unbe­kann­te, denn es steckt Unver­bind­lich­keit und Aus­tausch­bar­keit dar­in. Die ober­fläch­li­che „gute Zeit“, der spa­ßi­ge Abend, die kurz­wei­li­ge Unter­hal­tung ver­hält sich zur wirk­li­chen guten Zeit wie die Pro­sti­tu­ier­te zur gro­ßen Lie­be, da die­se „gute Zeit“ so ein­fach, so belie­big, so auf­wands­los zu haben ist, wäh­rend die ech­te gute Zeit, die nicht in Anfüh­rungs­zei­chen steht, für mich ganz ande­re Qua­li­tä­ten hat, die Nähe, Offen­heit und Exklu­si­vi­tät vereint.

Auf der ande­ren Sei­te bleibt als Mög­lich­keit nur das ober­fläch­li­che Gespräch, das sich am Level des Freund­schafts­ver­hält­nis­ses ori­en­tiert, den die gesam­te Grup­pe gemein hat und der folg­lich meist recht klein ist. Es mün­det letzt­lich in Small­talk. Was jemand macht, was er am Tag geges­sen hat, wel­che Möbel er erwarb, wie viel Geld er ver­dient oder wel­ches Auto er fährt, das alles inter­es­siert mich nicht. Ich stel­le die­se Fra­gen nicht, weil mich die Ant­wor­ten nicht küm­mern. Gesprä­che die­ser Art beläs­ti­gen mich nicht, doch hal­te ich mich dann zurück und gebe den Beob­ach­ter, neh­me alles in mich auf und zie­he mei­ne Schlüs­se, möch­te aber nicht mitreden.

Was mich wirk­lich inter­es­siert, das ist die Per­son, wer jemand ist, und wie es dem­je­ni­gen gera­de geht. Über­haupt: Die Fra­ge, wie es jeman­dem geht – wer beant­wor­tet sie denn schon ehr­lich? Die meis­ten erzäh­len dar­auf­hin, wie sie mit ihrer Arbeit zurecht­kom­men, was das Finanz­amt von ihnen ver­langt oder dass sie sich schon wie­der einen neu­en Fern­se­her gekauft haben. Ant­wor­ten auf Fra­gen, die gar nicht gestellt wur­den, wäh­rend die gestell­ten völ­lig unbe­ant­wor­tet blei­ben. Auf die­se Fra­gen bekommt man sel­ten eine wah­re Ant­wort, noch sel­te­ner so unter Vie­len, und wenn, dann nur unter vier Augen.

Das ist die Art von Gespräch, die ich füh­ren möch­te, denn nichts ist so befrie­di­gend, erkennt­nis­reich, offen, ein­fühl­sam und ver­bin­dend wie die­se. Jedes Mal ist es für mich daher sehr ent­täu­schend, wenn jemand, mit dem ich mich ver­ab­re­det habe, plötz­lich unge­fragt noch irgend­wel­che Drit­te hin­zu­holt. Nicht bloß ist es unhöf­lich, es war auch nicht abge­macht, und hät­te ich es im Vor­aus gewusst, ich hät­te ver­mut­lich abge­sagt, nicht weil ich die Freun­de mei­ner Freun­de nicht mag, son­dern weil es die Grund­la­gen des Tref­fens maß­geb­lich ver­än­dert, denn es gewinnt dadurch an Belie­big­keit und ver­liert an poten­ti­el­ler Tie­fe, büßt Nähe ein zuguns­ten einer grö­ße­ren Teil­neh­mer­zahl und zer­stört die Zwei­sam­keit, die vor allem, aber eben nicht allein nur fürs Roman­ti­sche so wich­tig ist.

Wenn ich mich mit jeman­dem tref­fen oder gene­rell unter­hal­ten möch­te, dann tue ich das in der Regel, um den Men­schen, die ich mag, im dop­pel­ten Wort­sinn nah zu sein. Das geht nicht, wenn man unter Vie­len ist.

Im Bewusst­sein der Zeit­lich­keit setzt sich der Knacks durch. Auch wo er nicht iden­ti­fi­ziert wird, bricht er sich Bahn in den zuwi­der­lau­fen­den Kräf­ten, etwa im Ver­such, sei­ner Arbeit mit einer Beschleu­ni­gung des Lebens­ge­fühls zu begeg­nen. Mach schnell, und du wirst ihn mit blo­ßem Auge, mit blo­ßem inne­ren Auge, nicht mehr wahr­neh­men. Die Geschwin­dig­keit wird den Knacks dahinraffen.
Hat die Spra­che die­se Beschleu­ni­gung mit voll­zo­gen? Und ob: In den Sieb­zi­gern beant­wor­te­te man die Fra­ge »How are you« mit »good«, in den Acht­zi­gern ant­wor­te­te man auf die glei­che Fra­ge mit »busy«.
Was war gesche­hen? Die Beschleu­ni­gung ver­riet sich in Kom­pa­ra­ti­ven. Der Schnell­zug ver­schwand, er war nicht schnell genug; der Eil­brief ver­schwand, denn schon das Eilen selbst klingt gemäch­lich: Alt­mo­di­sche Voka­beln, sie erin­nern an die lang­sa­me Art, schnell zu sein.
Statt­des­sen wur­den die Indi­zi­en der Beschleu­ni­gung mora­lisch: was schnell war, war gut. Es war gut, »auf der Über­hol­spur« zu leben, es war »in«, Fast Food zu mögen, aber Fast Food ist eigent­lich Fast Eat, und es erreich­te rasch das eige­ne Heim. Mit der 5‑Mi­nu­ten-Ter­ri­ne erreicht die Küche ohne Koch und ohne Ritu­al die Haus­hal­te. Alles beschleu­nigt: Schnell­ra­sur, Schnell­im­biss, Schnell­lif­ting, Schnell­tank­stel­le, Schnell­re­stau­rant, Schnell­rei­ni­gung wie juris­ti­sche Schnell­ver­fah­ren. Es geht schnel­ler: Die ein­zi­ge Musik­sen­dung auf der Höhe der Zeit hieß »Fast For­ward«, die Dro­ge der urba­nen Jugend »Speed«. Dies alles arbei­tet an der Fik­ti­on des gewon­ne­nen Lebens, es sagt, wenn du schnel­ler bist, schnel­ler reist, Zeit sparst, wirst du am Ende mehr davon haben.
(…)
Wir haben kei­ne Zeit. Wir haben alle kei­ne Zeit. Wir haben sie schon des­halb nicht, damit wir uns nicht zu gut füh­len. Bruch, Knacks, Ermü­dung, Schei­tern, Kol­laps: Unse­re rui­nö­sen Ich-Res­te sol­len nicht erschei­nen, nicht auf­bre­chen, nicht mitsprechen.
(Roger Wil­lem­sen – Der Knacks)

Ein Lie­bes­paar geht über die Stra­ße. Sie ver­liert einen Knopf. Ein Drit­ter hebt ihn auf, trägt ihn ihr nach. Das Elend hat ihn wie eine Flech­te über­zo­gen, sein Anzug, sei­ne Haut sogar, alles ist Elend.
»O dan­ke«, sagt die Frau und greift nach dem Knopf, den er aber fest­hält. »Das haben wir gar nicht gemerkt.«
»Natür­lich nicht«, bellt der Drit­te. »Immer ist es unse­re Auf­ga­be, uns um die Glück­li­chen zu küm­mern. Wir sol­len die Augen offen hal­ten. Wir sol­len sor­gen, dass nichts fehlt. Glau­ben Sie viel­leicht, die Glück­li­chen haben ein Auge auf uns? Träu­men Sie wei­ter! Ich bin nicht glück­lich, sehen Sie, ich lebe allein, mit mir in Frie­den, aber glück­lich? Küm­mert sich jemand um mich? Wird jemand an mei­nem Grab singen …«
So geht es immer wei­ter. Er redet mit dem Knopf in der Hand, den er nicht her­gibt. Sein Mono­log schlägt sich ins Gebüsch.
»Uner­wi­der­te Lie­be?«, fragt die Frau.
Er nickt.
»Dei­ne Zeit wird kom­men«, sagt sie.
Das ist ihm neu und gibt ihm zu den­ken. Drei Tage spä­ter nimmt er sein Glück in bei­de Hän­de und bucht einen Flug nach Madei­ra, wo ihn eine Woche Hotel ein statt­li­ches Sümm­chen kos­ten soll. Egal, fin­det er, fühlt sich sno­bis­tisch. Aller­dings stürz­te die Maschi­ne ins Meer, und er soll Madei­ra nie ken­nen­ler­nen. Das Hotel berech­net den Hin­ter­blie­be­nen drei Tage Stor­no-Gebühr, und die Lie­ben­den wer­den nicht ein­mal erfah­ren, dass ihn der Fund eines Knop­fes das Leben kos­ten soll­te. So groß ist ihr Glück.
(Roger Wil­lem­sen – Der Knacks)

I read the first chap­ter of A Brief Histo­ry of Time when Dad was still ali­ve, and I got incre­di­bly hea­vy boots about how rela­tively insi­gni­fi­cant life is, and how, com­pared to the uni­ver­se and com­pared to time, it did­n’t even mat­ter if I exis­ted at all. When Dad was tuck­ing me in that night and we were tal­king about the book, I asked if he could think of a solu­ti­on to that pro­blem. „Which pro­blem?“ „The pro­blem of how rela­tively insi­gni­fi­cant we are.“ He said, „Well, what would hap­pen if a pla­ne drop­ped you in the midd­le of the Saha­ra Desert and you picked up a sin­gle grain of sand with tweezers and moved it one mil­li­me­ter?“ I said, „I’d pro­ba­b­ly die of dehy­dra­ti­on.“ He said, „I just mean right then, when you moved that sin­gle grain of sand. What would that mean?“ I said, „I dun­no, what?“ He said, „Think about it.“ I thought about it. „I guess I would have moved a grain of sand.“ „Which would mean?“ „Which would mean I moved a grain of sand?“ „Which would mean you chan­ged the Saha­ra.“ „So?“ „So? So the Saha­ra is a vast desert. And it has exis­ted for mil­li­ons of years. And you chan­ged it!“ „That’s true!“ I said, sit­ting up. „I chan­ged the Saha­ra!“ „Which means?“ he said. „What? Tell me.“ „Well, I’m not tal­king about pain­ting the Mona Lisa or curing can­cer. I’m just tal­king about moving that one grain of sand one mil­li­me­ter.“ „Yeah?“ „If you had­n’t done it, human histo­ry would have been one way…“ „Uh-huh?“ „But you did do it, so…?“ I stood in the bed, poin­ted my fin­gers at the fake stars, and screa­med: „I chan­ged the cour­se of human histo­ry!“ „That’s right.“ „I chan­ged the uni­ver­se!“ „You did.“ „I’m God!“ „You’­re an athe­ist.“ „I don’t exist!“ I fell back onto the bed, into his arms, and we cra­cked up together.
(Jona­than Safran Foer – Extre­me­ly Loud & Incre­di­bly Close)

Wo immer näm­lich die­se Gesell­schaft nicht funk­tio­niert, wo immer sie ver­sagt, wird ihr Ver­sa­gen an den Ärms­ten offenbar.
Jede Ver­än­de­rung im sozia­len Raum, jede Ver­schär­fung des Wett­be­werbs, jede Zunah­me an Gewalt im öffent­li­chen Leben, jede Kon­ta­mi­nie­rung bil­li­gen Essens hin­ter­lässt in der Lebens­er­fah­rung von Armen ihre Spu­ren. Auch wie Gesell­schaft sich ver­än­dert, in ihren Klas­sen- und Geschlechts­ver­hält­nis­sen eben­so wie in ihrer Mit­mensch­lich­keit, das erfah­ren die Armen zuerst. Sie wer­den des­halb eben nicht nur mate­ri­ell und gesund­heit­lich, sie wer­den auch psy­cho­lo­gisch und mora­lisch am emp­find­lichs­ten von den Ein­bu­ßen der Gesell­schaft getroffen.
In der Armut wird das Selbst­bild der Gesell­schaft gekränkt und bestä­tigt: gekränkt, weil sie ihre idea­len Bil­der ohne Rück­stän­de pro­du­zie­ren möch­te, bestä­tigt, weil sie die­se Armut ja selbst her­stellt, die Pro­duk­ti­on von Armut also genau so for­ciert wie ihr Pen­dant, den Wohlstand.
In die­ser Kul­tur, und das heißt auch in den Bezie­hun­gen der Men­schen unter­ein­an­der, hat sich der Wert der Ver­käuf­lich­keit und Käuf­lich­keit der­art ver­selb­stän­digt, dass Men­schen schon degra­diert wer­den, weil sie nicht am Waren­ver­kehr teil­neh­men kön­nen oder wol­len. Jede Gesin­nung, jedes Phä­no­men, jede Erschei­nung, jede mensch­li­che Her­vor­brin­gung, jede Leis­tung wird auf opti­ma­le Ver­käuf­lich­keit unter­sucht und abge­rich­tet. Unvor­stell­bar, wel­che Kul­tur sich ent­wi­ckeln könn­te, wenn nicht jede Lebens­re­gung an ihrer Markt­taug­lich­keit gemes­sen, wenn Zugang zur Öffent­lich­keit nicht nur Din­gen ver­schafft wür­de, die sich ver­kau­fen las­sen, wenn, mit einem Wort, jeder täte, was er gesell­schaft­lich für wich­tig, und nicht, was er für pro­fi­ta­bel hiel­te. Eine Uto­pie mehr.
(Roger Wil­lem­sen – Der Knacks)

Und nie­mand ver­steht bes­ser anzu­trei­ben, nie­mand ver­steht höh­ni­scher zu sagen: »Schlap­per Hund! Soll­test mich mal sehen!« als der Mit-Tote, als der Mit-Pro­let, als der Mit-Hun­gern­de, als der Mit-Gepeitsch­te. Selbst die Galee­ren­skla­ven haben ihren Stolz und ihr Ehr­ge­fühl, sie haben den Stolz, gute Galee­ren­skla­ven zu sein und ›nun ein­mal zu zei­gen‹, was sie kön­nen. Wenn das Auge des Kom­man­do­ru­fers, der mit der Peit­sche die Rei­hen ent­lang­geht, wohl­ge­fäl­lig auf ihm ruht, so ist er beglückt, als hät­te ihm ein Kai­ser per­sön­lich einen Orden an die Brust geheftet.
(B. Tra­ven – Das Totenschiff)

Unse­re Mei­nung, dass wir das ande­re ken­nen, ist das Ende der Lie­be, jedes­mal, aber Ursa­che und Wir­kung lie­gen viel­leicht anders, als wir anzu­neh­men ver­sucht sind – nicht weil wir das ande­re ken­nen, geht unse­re Lie­be zu Ende, son­dern umge­kehrt: weil unse­re Lie­be zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, dar­um ist der Mensch fer­tig für uns. Er muß es sein. Wir kön­nen nicht mehr! Wir kün­di­gen ihm die Bereit­schaft, auf wei­te­re Ver­wand­lun­gen ein­zu­ge­hen. Wir ver­wei­gern ihm den Anspruch alles Leben­di­gen, das unfaß­bar bleibt, und zugleich sind wir ver­wun­dert und ent­täuscht, dass unser Ver­hält­nis nicht mehr leben­dig sei. „Du bist nicht“, sagt der Ent­täusch­te oder die Ent­täusch­te, „wofür ich dich gehal­ten habe“. Und wofür hat man sich denn gehal­ten? Für ein Geheim­nis, das der Mensch ja immer­hin ist, ein erre­gen­des Rät­sel, das aus­zu­hal­ten wir müde gewor­den sind. Man macht sich ein Bild­nis. Das ist das Lieb­lo­se, der Verrat.
(Max Frisch – Tage­buch 1946–1949)

Wünschst du dir nicht auch manch­mal, du fän­dest eine Insel? Wenn du dich schla­fen legst und das nicht kannst, wenn du durch Stra­ßen einer Groß­stadt gehst, wenn du in frem­de Augen blickst, dann tust du es viel­leicht. Ein Ort, der nir­gend­wo ver­zeich­net ist, ein Platz fern­ab vom trau­ri­gen Gewühl, ein Unter­schlupf, der dich mit Kraft ver­sorgt, mit Glück und Mut und Eupho­rie, ja ein Idyll, das nur für dich dein Eden ist. Suchst du das auch?
In all dem Cha­os die­ser Welt, da fand ich eine Insel. Wenn­gleich sie kei­nen Gold­schatz birgt, so über­trifft sie doch an Reich­tum alles ande­re auf die­ser Welt. Ein Eiland fand ich und erkor es mir zum Para­dies. Nichts hat je so gro­ßen Wert gehabt wie die­ses klei­ne Stück­chen Land; weder König­rei­che, Staa­ten noch die größ­ten Dynas­tien besa­ßen jemals so viel Ein­fluss wie die­ser unschein­ba­re Fleck. Als eine Art Schiff­brü­chi­ger bin ich durch puren Zufall hier gestran­det, doch für nichts auf die­ser Erde gin­ge ich hier jemals wie­der fort.
Es wird nach mir gesucht wer­den, denn man wird mich ret­ten wol­len, fürch­te ich, doch mei­ne Ret­tung habe ich bereits gefun­den, sie liegt hier und nir­gends sonst. Man wird mich für ver­lo­ren erklä­ren und nie erfah­ren, wie falsch man doch in Wahr­heit liegt, denn alles, was es sich zu fin­den lohn­te, fin­de ich allei­ne hier. Kraft einer glück­li­chen Strö­mung setz­te ich einen Fuß auf die­sen Strand. Was ich hier fand, das ist ein Eiland weit, allein im Meer, das ich zu mei­ner Hei­mat nahm, weil eine bes­se­re die Welt mir nie­mals bie­ten kann. Was ich hier fand, bedeu­tet für mich alles, wofür es sich zu leben lohnt.
Ist es Iso­la­ti­on, mich nun an die­sen Ort zurück­zu­zie­hen? Viel­leicht ver­schlie­ße ich die Augen vor dem Rest der Welt, doch hier erst wuch­sen mir die Augen, dank derer mir die Welt beach­tens­wert erscheint. Hier erst neh­me ich die Far­ben wahr, in denen schil­lernd alles strahlt, wäh­rend sich doch mei­ne Umwelt vor­mals oft genug in Grau ertrank. Es ist kei­ne Flucht, kein Eska­pis­mus, wie manch Zyni­ker viel­leicht behaup­ten mag, wenn ich mich auf die­ser Insel nun häus­lich ein­rich­te. Sie gibt mir jene Kraft, der Welt mit offe­nen Augen ent­ge­gen­tre­ten zu kön­nen, sie aus­zu­hal­ten, so wie sie ist. Sie kann einen nicht län­ger erschüt­tern, nicht mehr bedrän­gen, sie kann einen nie wie­der aus der Bahn wer­fen, jene Welt, wenn man die­ses Eiland erst ein­mal für sich gefun­den hat, das allen Gewal­ten so stand­haft trotzt.
Kei­ne Legen­den und kei­ne Erzäh­lun­gen ver­mö­gen die Ein­zig­ar­tig­keit die­ses wun­der­ba­ren Ortes ange­mes­sen zu beschrei­ben, er ist undenk- und nicht mal vor­stell­bar, solan­ge man nicht selbst sein Leben hier ver­bringt. All jene Belang­lo­sig­kei­ten, nach denen ein Mensch im Lau­fe sei­nes Lebens strebt, ver­lie­ren voll­ends an Bedeu­tung, wenn man die Wun­der die­ser Insel kennt, all ihre Schön­heit, wenn man Fuß auf sie gesetzt, sie bloß ein­mal betre­ten hat. Es gibt hier alles, was ein Mensch zum Über­le­ben braucht, zum Leben gar, nicht bloß zum Existieren.
Was ich hier fand, ist eine Insel jen­seits aller Schiff­fahrts­rou­ten. Ein Stück der Welt, das kei­ne Kar­te offen­bart, weil sich das Land hier nicht ver­mes­sen lässt. Ein Platz, der kei­ne Gren­zen kennt, der kei­ne Mau­ern hat und kei­ne Grä­ben zieht, der blin­de Orts­kennt­nis ver­langt und an zwei Tagen nie der glei­che ist. Ein Land so weit von aller Zivi­li­sa­ti­on. Kei­ne Armeen, kei­ne Legio­nen, kei­ne Heer­scha­ren die­ser Welt, wie groß und mäch­tig sie auch sein mögen, wer­den im Stan­de sein, auf die­ser Insel jemals ein­zu­fal­len und damit alles zu zer­stö­ren. Sie haben es ver­sucht und sie sind jedes Mal geschei­tert. Wäh­rend die größ­ten Rei­che unter­ge­hen, hat die­ses Eiland hier bestand. Auf die­ser Insel lebt, was all­seits sonst bereits im Ster­ben liegt. Hier wächst, was auf dem Rest der Welt verdorrt.
Ent­ge­gen einer kal­ten Welt, die mehr und mehr in Arg­wohn zu ver­sin­ken droht, ist die­ses Eiland hier ein Ort der Wär­me und des völ­li­gen Ver­trau­ens. Immer und immer wie­der gelingt es den Eigen­ar­ten die­ser Insel, mir ein herz­li­ches Lächeln ins Gesicht zu zeich­nen, und noch in den dun­kels­ten Stun­den der Trau­er fin­de ich hier etwas, das mich die gan­ze Welt umar­men, das sie lie­bens­wert erschei­nen lässt. Alles, was es wert ist, gewusst zu wer­den, habe ich hier gelernt und ler­ne ich hier noch heu­te. Es gibt Din­ge, die so wun­der­voll beschaf­fen sind, dass man gar nicht mehr bemerkt, wie man lau­fend älter wird und eines Tages ster­ben muss, die sogar so uner­hört bezau­bernd sind, dass man ent­ge­gen aller land­läu­fi­gen Furcht das Älter­wer­den und sogar das Ster­ben als etwas Gutes betrach­tet, als Voll­endung sei­nes Lebens, weil man rund­um glück­lich ist.
Nichts auf die­ser Welt ist es wert, hier jemals wie­der fort­zu­ge­hen, weil kei­ner, der sie je betrat, ver­ges­sen kann, was die­se Insel einem offe­riert. Was ich bis­her mein Leben genannt habe, die­ses Dasein, die­se blo­ße Exis­tenz, wur­de erst zu einem Leben, als ich die­sen Ort hier fand. Mein Eiland, das bist du.

Man braucht nur eine Insel
allein im wei­ten Meer.
Man braucht nur einen Menschen,
den aber braucht man sehr.
(Mascha Kaléko)

Mr. Black said, „I once went to report on a vil­la­ge in Rus­sia, a com­mu­ni­ty of artists who were forced to flee the cities! I’d heard that pain­tings hung ever­y­whe­re! I heard you could­n’t see the walls through all of the pain­tings! They’d pain­ted the cei­lings, the pla­tes, the win­dows, the lamp­sha­des! Was it an act of rebel­li­on! An act of expres­si­on! Were the pain­tings good, or was that bes­i­de the point! I nee­ded to see it for mys­elf, and I nee­ded to tell the world about it! I used to live for report­ing like that! Sta­lin found out about the com­mu­ni­ty and sent his thugs in, just a few days befo­re I got the­re, to break all of their arms! That was worse than kil­ling them! It was a hor­ri­ble sight, Oskar: their arms in cru­de splints, straight in front of them like zom­bies! They could­n’t feed them­sel­ves, becau­se they could­n’t get their hands to their mouths! So you know what they did!“ „They star­ved?“ „They fed each other! That’s the dif­fe­rence bet­ween hea­ven and hell! In hell we star­ve! In hea­ven we feed each other!“ „I don’t belie­ve in the after­li­fe.“ „Neither do I, but I belie­ve in the story!“
(Jona­than Safran Foer – Extre­me­ly Loud & Incre­di­bly Close)