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Man kann jah­re­lang in ner­vö­ser Hast in der Stadt leben, es rui­niert zwar die Ner­ven, aber man kann es lan­ge Zeit durch­hal­ten. Doch kein Mensch kann län­ger als ein paar Mona­te in ner­vö­ser Hast berg­stei­gen, Erd­äp­fel ein­le­gen, holz­ha­cken oder mähen. Das ers­te Jahr, in dem ich mich noch nicht ange­paßt hat­te, war weit über mei­ne Kräf­te gegan­gen, und ich wer­de mich von die­sen Arbeits­exzes­sen nie ganz erho­len. Unsin­ni­ger­wei­se hat­te ich mir auf jeden der­ar­ti­gen Rekord auch noch etwas ein­ge­bil­det. Heu­te gehe ich sogar vom Haus zum Stall in einem geruh­sa­men Wäld­ler­trab. Der Kör­per bleibt ent­spannt, und die Augen haben Zeit zu schau­en. Einer, der rennt, kann nicht schau­en. In mei­nem frü­he­ren Leben führ­te mich mein Weg jah­re­lang an einem Platz vor­bei, auf dem eine alte Frau die Tau­ben füt­ter­te. Ich moch­te Tie­re immer gern, und jenen, heu­te längst ver­stei­ner­ten Tau­ben gehör­te mein gan­zes Wohl­wol­len, und doch kann ich nicht eine von ihnen beschrei­ben. Ich weiß nicht ein­mal, wel­che Far­be ihre Augen und ihre Schnä­bel hat­ten. Ich weiß es ein­fach nicht, und ich glau­be, das sagt genug dar­über aus, wie ich mich durch die Stadt zu bewe­gen pfleg­te. Seit ich lang­sa­mer gewor­den bin, ist der Wald um mich erst leben­dig gewor­den. Ich möch­te nicht sagen, daß dies die ein­zi­ge Art zu leben ist, für mich ist sie aber gewiß die ange­mes­se­ne. Und was muß­te alles gesche­hen, ehe ich zu ihr fin­den konn­te. Frü­her war ich immer irgend­wo­hin unter­wegs, immer in gro­ßer Eile und erfüllt von einer rasen­den Unge­duld, denn über­all, wo ich anlang­te, muß­te ich erst ein­mal lan­ge war­ten. Ich hät­te eben­so­gut den gan­zen Weg dahin­schlei­chen kön­nen. Manch­mal erkann­te ich mei­nen Zustand und den Zustand unse­rer Welt ganz klar, aber ich war nicht fähig, aus die­sem ungu­ten Leben aus­zu­bre­chen. Die Lan­ge­wei­le, unter der ich oft litt, war die Lan­ge­wei­le eines bie­de­ren Rosen­züch­ters auf einem Kon­greß der Auto­fa­bri­kan­ten. Fast mein gan­zes Leben lang befand ich mich auf einem der­ar­ti­gen Kon­greß, und es wun­dert mich, daß ich nicht eines Tages vor Über­druß tot umge­fal­len bin.
Hier, im Wald, bin ich eigent­lich auf dem mir ange­mes­se­nen Platz. Ich tra­ge den Auto­fa­bri­kan­ten nichts nach, sie sind ja längst nicht mehr inter­es­sant. Aber wie sie mich alle gequält haben mit Din­gen, die mir zuwi­der waren. Ich hat­te nur die­ses eine klei­ne Leben, und sie lie­ßen es mich nicht in Frie­den leben.
Mar­len Haus­ho­fer – Die Wand

Ein wun­der­ba­rer Text von Lars Frers, den ich schon vor eini­gen Jah­ren ent­deckt habe und nun, um ihn auch hier zu ver­brei­ten, gemäß CC-Lizenz als Voll­zi­tat wie­der­ge­ben möch­te (das Ori­gi­nal fin­det sich hier):

Es scheint vie­le Grün­de zu geben, die gegen den Müßig­gang spre­chen. Der bes­te von ihnen ist viel­leicht der Vor­wurf, dass das Nichts­tun, das nicht auf etwas kon­kre­tes hin ori­en­tier­te Tätig­sein unpro­duk­tiv sei. Der Sinn unse­res Daseins sei ja schließ­lich nicht das Trei­ben durch die Welt, son­dern das akti­ve Nut­zen des uns gege­be­nen Hand­lungs­po­ten­ti­als, der uns gege­be­nen Frei­heit. Müßig­gän­ger ver­schleu­dern die­ses Poten­ti­al. Im schlimms­ten Fall sind sie eh zu gar nichts nut­ze, im bes­ten Fal­le ist es bedau­er­lich, dass sie sich nicht mehr für ihre, die oder irgend­ei­ne Sache ein­set­zen, denn ihre Mit­ar­beit ist gefragt und die Sache drängt. Wozu also zögern? Mutig, auf zur Tat!

In der Muße liegt eine beson­de­re Kraft. Sie ist ein Rück­zug aus dem Drän­gen und Zie­hen des All­tags­ge­schäfts, ein Rück­zug, der es ermög­licht die Din­ge und die Men­schen noch ein­mal aus der Distanz anzu­schau­en, zu sehen, zu den­ken und zu füh­len, ob ein­ge­schla­ge­ne Rich­tun­gen dort­hin füh­ren, wo ich eigent­lich hin will. Sich mit die­sen grund­sätz­li­chen Fra­gen zu kon­fron­tie­ren braucht Zeit. Kann ich mich dazu zwin­gen, mich mit die­sen Fra­gen aus­ein­an­der­zu­set­zen? Viel­leicht, aber ich glau­be nicht, dass ich unter Druck zu den Fra­gen – und mög­li­cher­wei­se auch Ant­wor­ten – kom­men kann, die für mich wich­tig sind. Man fin­det viel­leicht auch unter Druck Ant­wor­ten, aber wahr­schein­lich stellt man sich nicht die rich­ti­gen Fragen.

Für mich ist der Über­gang vom Faul­sein zur Muße oder von der Ablen­kung zur Muße nicht voll­stän­dig klar. Klar ist mir nur, das ich nicht direkt von der Arbeit und vom All­tags­ge­schäft in die Muße ein­tre­ten kann. Es braucht erst eini­ge Zeit (das heißt in der Regel: eini­ge Tage oder beson­de­re Umstän­de wie eine anste­hen­de Rei­se oder einen Urlaub), bis ich kei­ne Lust mehr habe, mich abzu­len­ken, bis ich mich mit der Welt und mir beschäf­ti­gen möch­te oder bis ich ein­fach offen bin für Ein­drü­cke und Wahr­neh­mun­gen, die ich sonst ausfiltere.

In der Muße aller­dings fin­de ich nicht unbe­dingt den Frie­den. Muße bedeu­tet nicht Zen-mäßig nach dem Eins­sein mit der Welt zu stre­ben oder ins Nir­va­na oder die völ­li­ge Ruhe ein­zu­tau­chen. In der Muße liegt eine Kraft, etwas akti­ves, auf die Welt bezo­ge­nes. Sie ist ein Distanz-zur-Welt-ein­neh­men, aber sie ist nicht ein sich-von-der-Welt-lösen. Dies scheint mir das Beson­de­re und das Pro­duk­ti­ve: eine Reor­ga­ni­sa­ti­on, eine Neu­ein­schät­zung und ein weit­ge­hend unbe­fan­ge­nes in Per­spek­ti­ve set­zen wird mög­lich. Von die­ser Per­spek­ti­ve aus kann ich dann gestärkt mit Bezug auf mei­ne Welt Tätig wer­den. Es wird sozu­sa­gen ein fes­ter Boden geschaf­fen, von dem aus ich mich betei­li­gen kann, der Halt gibt in einer Welt, in der es eine völ­lig unüber­schau­ba­re Anzahl von attrak­ti­ven Ange­bo­ten und von Ver­füh­run­gen jed­we­der Art gibt. Ich glau­be, dass es kaum mög­lich ist, ohne sol­che Pau­sen – die anfangs Zer­stre­ung sein mögen, die aber spä­ter Raum und Zeit zur Kon­zen­tra­ti­on bie­ten – die Din­ge zu tun, die man eigent­lich tun möch­te und sollte.

Etwas unheim­lich fin­de ich, dass ich bereits seit über sie­ben Mona­ten eine ein­zel­ne, lee­re Datei auf dem sonst immer auf­ge­räum­ten Desk­top mei­nes Com­pu­ters habe. Die Datei heisst 041105-musse.txt. Das heisst, ich habe mir am 4. Novem­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res über­legt, dass ich ger­ne etwas über die Muße schrei­ben möch­te. In der Datei stand nur der Titel die­ses Ein­trags Mut zur Muße. Offen­sicht­lich habe ich in den ver­gan­ge­nen Mona­ten eben nicht die Muße und den Mut gefun­den, mich mit die­sem The­ma schrift­lich aus­ein­an­der­zu­set­zen. Statt des­sen habe ich lie­ber über gese­he­ne Fil­me geschrie­ben, an mei­ner Arbeit geses­sen, Exzerp­te ange­fer­tigt und aller­lei ande­res erle­digt. Das hat auch alles sei­nen Sinn, aber ich fin­de es bedau­er­lich, dass ich mich nicht vor­her die­ser Sache gewid­met habe, die mir eigent­lich wirk­lich am Her­zen liegt.

Zum Abschluss möch­te ich noch ein­mal auf den Mut ein­ge­hen, den es zur Muße benö­tigt. Mut scheint mir vor allem aus zwei Grün­den erforderlich.

  • Die Umwelt unter­stellt in ihrer spe­zi­fi­schen Form von Nor­ma­li­tät und Arbeits­ethik, dass Müßig­gang unmo­ra­lisch und unver­ant­wort­lich wäre. Ich glau­be, das Gegen­teil ist der Fall, aber ich füh­le auch den Zwang, mich für die­ses ille­gi­ti­me Ver­hal­ten zu recht­fer­ti­gen (sonst wür­de ich wohl kaum die­sen Text hier schrei­ben). Das Per­fi­de ist, dass der häu­fig nur indi­rek­te Vor­wurf der Unan­ge­mes­sen­heit sowohl von Sei­ten des ent­fes­sel­ten Kapi­ta­lis­mus als auch von des­sen Geg­nern kommt. Im einen Fall drängt die Kon­kur­renz, im ande­ren die Sache. In bei­den Fäl­len ist Nicht­kon­for­mi­tät aus­ser­or­dent­lich irritierend.
  • Mut ist gegen­über sich selbst erfor­der­lich. Eige­ne, bereits getrof­fe­ne Ent­schei­dun­gen wer­den hin­ter­fragt. Es ist vor­her unklar, was eigent­lich her­aus­kommt und ob es einen wirk­lich ‚wei­ter­brin­gen‘ wird man sich der Refle­xi­on stel­len möch­te. In der Regel ist bei mir ein merk­wür­di­ges Zusam­men­spiel aus Unzu­frie­den­heit und Zuver­sicht, aus Ver­pflich­tungs­frei­heit und Moti­viert­heit erfor­der­lich, damit ich den Mut zur Muße aufbringe.

(Lars Frers, Juni 2005)

Seit Jah­ren schon möch­te ich ein Buch über etwas schrei­ben, das mir sehr am Her­zen liegt. Oder wenigs­tens ein PDF mit vie­len Sei­ten. Der Ursprung die­ses Wun­sches liegt in mitt­ler­wei­le schon nicht mehr fass­ba­rer Ver­gan­gen­heit, doch einen ernst­haf­ten Anfang mach­te die­ser Gedan­ke dann erst zum Ende mei­ner Schul­zei­ten, aber bis heu­te habe ich mit die­sem Vor­ha­ben kei­ne gro­ßen Fort­schrit­te erzielt. Ideen kom­men und gehen und das Kon­zept wächst unauf­hör­lich, trotz­dem schaf­fen es nur die sel­tens­ten die­ser Ideen als aus­for­mu­lier­te Sät­ze, Abschnit­te oder gar Sei­ten aufs elek­tro­ni­sche Papier. Warum?

Vie­le Din­ge spie­len eine Rol­le. Die übli­chen Ver­däch­ti­gen natür­lich: man­geln­de Zeit, Faul­heit, nagen­der Per­fek­tio­nis­mus und die Angst vor dem ers­ten Ent­wurf, der nie über­zeugt. Eini­ge davon – wahr­schein­lich die meis­ten – mögen Aus­re­den sein, das ist sicher, doch sind all das gene­rell Grün­de, mit denen umge­gan­gen, denen begeg­net wer­den kann. Es sind Stei­ne auf dem Weg, die weg­zu­räu­men nicht das Pro­blem ist, wenn man weiß, dass man den Weg unbe­dingt gehen möchte.

Der Haupt­grund aller­dings, der mich dar­an hin­dert, irgend­wie sinn­voll mit mei­nem Text vor­an­zu­kom­men, liegt in der Zukunft. Es sind all die Din­ge, die in mei­nem Kopf als gro­ßes Muss auf mich zukom­men: Ich muss Haus­ar­bei­ten machen, ich muss Refe­ra­te vor­be­rei­ten, ich muss für Prü­fun­gen ler­nen (obwohl ich noch nie für Prü­fun­gen gelernt habe). Es ist dabei nicht der Zeit­auf­wand an sich, der für die­se Din­ge jeweils auf­ge­bracht wer­den muss, denn er lässt mir genug Spiel­raum für Frei­zeit, son­dern es sind die Din­ge als sol­che, in denen ich kei­nen per­sön­li­chen Sinn sehe, die das Pro­blem darstellen.

Frei­zeit bedeu­tet nicht gleich­zei­tig freie Zeit. Wenn in den Semes­ter­fe­ri­en alle Haus­ar­bei­ten hin­ter mir lie­gen, kei­ne Klau­su­ren anste­hen und auch das kom­men­de Semes­ter im Ide­al­fall noch eini­ge Wochen ent­fernt liegt, ist das nur Frei­zeit, aber kei­ne freie Zeit. Im Hin­ter­kopf ist mir stets das stö­ren­de Wis­sen all­ge­gen­wär­tig, dass ich bald, wenn die­se kur­ze Pha­se der Frei­zeit ver­gan­gen sein wird, wie­der neue Refe­ra­te wer­de vor­be­rei­ten müs­sen. Wenn die Refe­ra­te vor­be­rei­tet und gehal­ten wur­den, fol­gen die dazu­ge­hö­ri­gen Haus­ar­bei­ten, nach den Haus­ar­bei­ten fol­gen neue Refe­ra­te. Wenn irgend­wann Refe­ra­te und Haus­ar­bei­ten ein­mal vor­bei sind, ste­hen Diplom­ar­beit und Diplom­prü­fung bereits vor der Tür. Danach Bewer­bun­gen, Vor­stel­lungs­ge­sprä­che, Ein­ar­bei­tung, Arbeits­all­tag. Jede die­ser neu­en Stu­fen ist von lächer­li­chen Bestä­ti­gun­gen irgend­wel­cher Instan­zen bezeich­net: eine bestan­de­ne Klau­sur oder Prü­fung, eine Note, eine gut­ge­hei­ße­ne Arbeit, der Abschluss eines Pro­jekts, die Ver­set­zung in ein ande­res Be(s)tätigungsfeld.

All die­ses Müs­sen hängt in mei­nem Kopf stän­dig unbe­wusst über allem ande­ren, wie ein Rau­schen im Radio, das einem die Musik ver­dirbt. Wenn ich Frei­zeit habe, ver­geu­de ich sie mit irgend­wel­chen Seri­en oder Spie­len, räu­me auf oder um, wid­me mich ganz gene­rell dem so genann­ten Amü­se­ment und Enter­tain­ment, um mich von einem Muss zum nächs­ten zu han­geln und die Zeit dazwi­schen tot­zu­schla­gen, in der Hoff­nung auf ein Ende die­ses Muss-Kreis­laufs. Doch immer wie­der erscheint irgend­wo eine neue Stu­fe. Para­ly­se. Nie bekom­me ich es hin, mich end­lich mit dem zu beschäf­ti­gen, womit ich mich schon so lan­ge beschäf­ti­gen möch­te und was mir zudem so sehr am Her­zen liegt. Hin­zu kommt die Eigen­schaft all die­ser Neben­schau­plät­ze – Haus­ar­bei­ten, Refe­ra­te, Bewer­bun­gen und so wei­ter -, eine der­art gro­ße Men­ge an Auf­merk­sam­keit für sich zu bean­spru­chen, dass ein effek­ti­ves und unge­stör­tes Kon­zen­trie­ren auf das, was mir eigent­lich wirk­lich wich­tig ist, gar nicht mög­lich ist.

Mei­ne letz­te freie Zeit, die nicht nur als Frei­zeit bezeich­net wer­den kann, genoss ich direkt nach dem Abitur, als noch völ­lig offen war, ob ich Zivil­dienst wür­de leis­ten müs­sen oder nicht und wie es danach wei­ter­ge­hen wür­de. Die­se Zeit, in der nicht klar war, wel­ches Muss als nächs­tes und wann auf­tre­ten wür­de, in der es kei­nen fest gere­gel­ten Ablauf für die Zukunft gab, kei­ne struk­tu­rier­ten Plä­ne, kei­ne star­ren Schie­nen, auf denen alles ziel­ge­rich­tet dahin­rollt, war gleich­zei­tig die produktivste.

Was wir brau­chen, ist freie Zeit, die nicht bloß Frei­zeit ist.