Schlagwortarchiv für: Normalität

Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet. Ich entziehe einer Zivilisation das Vertrauen, die den Geist an den Körper verraten hat. Ich entziehe einem Körper das Vertrauen, der nicht mein eigenes Fleisch und Blut, sondern eine kollektive Vision vom Normalkörper darstellen soll. Ich entziehe einer Normalität das Vertrauen, die sich selbst als Gesundheit definiert. Ich entziehe einer Gesundheit das Vertrauen, die sich selbst als Normalität definiert. Ich entziehe einem Herrschaftssystem das Vertrauen, das sich auf Zirkelschlüsse stützt. Ich entziehe einer Sicherheit das Vertrauen, die eine letztmögliche Antwort sein will, ohne zu verraten, wie die Frage lautet. Ich entziehe einer Philosophie das Vertrauen, die vorgibt, dass die Auseinandersetzung mit existentiellen Problemen beendet sei. Ich entziehe einer Moral das Vertrauen, die zu faul ist, sich dem Paradoxon von Gut und Böse zu stellen und sich lieber an »funktioniert« oder »funktioniert nicht« hält. Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt. Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. Ich entziehe einer METHODE das Vertrauen, die lieber der DNA eines Menschen als seinen Worten glaubt. Ich entziehe dem allgemeinen Wohl das Vertrauen, weil es Selbstbestimmtheit als untragbaren Kostenfaktor sieht. Ich entziehe dem persönlichen Wohl das Vertrauen, solange es nichts weiter als eine Variation auf den kleinsten gemeinsamen Nenner ist. Ich entziehe einer Politik das Vertrauen, die ihre Popularität allein auf das Versprechen eines risikofreien Lebens stützt. Ich entziehe einer Wissenschaft das Vertrauen, die behauptet, dass es keinen freien Willen gebe. Ich entziehe einer Liebe das Vertrauen, die sich für das Produkt eines immunologischen Optimierungsvorgangs hält. Ich entziehe Eltern das Vertrauen, die ein Baumhaus »Verletzungsgefahr« und ein Haustier »Ansteckungsrisiko« nennen. Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst. Ich entziehe jenem Idioten das Vertrauen, der das Schild am Eingang unserer Welt abmontiert hat, auf dem stand: »Vorsicht! Leben kann zum Tode führen.«
Juli Zeh – Corpus Delicti

Der blaue Brief starrte mich an. Nein, Quatsch, ich starrte den blauen Brief an. Der blaue Brief lag einfach nur da. Briefe konnten nicht starren. Gegenstände konnten überhaupt keine menschlichen Handlungen vollziehen. Vielerlei drittklassige Schriftsteller versuchten Dinge zu vermenschlichen, ließen sie starren, fühlen, rufen, staunen. Meist handelte es sich dabei um Menschen, die das Schreiben als Beruf bezeichneten. Wer aber das Schreiben als Beruf verunglimpfte, im Schreiben folglich eine Art von institutionalisierter Arbeit sah, die ja in der Regel mit allerhand nervtötenden Terminen, ständiger Plackerei und dem maßgeblichen Ziel der finanziellen Absicherung verbunden war, der hatte seine Liebe zum geschriebenen Wort schon lange hinter sich gelassen. Um diesen Umstand zu verbergen, bediente er sich zahlreicher Kniffe wie jenem der Vermenschlichung. Der Leser sollte wissen: Hier ist ein Kreativer am Werk, ein Poet und Genie, das toten Dingen Leben einhauchen kann. Aber tote Dinge waren tot. Wären sie lebendig gewesen, hätte man sie Lebewesen genannt. Gegenstände konnten herumliegen, fallen, rollen, brennen, stinken, also einfach nur da sein, ihre Funktion erfüllen oder Schwerkraft und anderen äußeren Einflüssen gehorchen. Was sie nicht konnten, war starren. Wieso aber hatte ich das für einen Moment gedacht? Ich vertrieb diesen lausigen Gedanken aus meinem Kopf, machte schlechte Romane für meinen Fauxpas verantwortlich und starrte weiter auf Brief.
Aus der Küche holte ich mir ein Messer, schnitt einen Apfel in mundgerechte Stücke und setzte mich essend an den Tisch. Als der blaue Brief sich auch nach zwei Minuten noch nicht gerührt hatte, war ich mir sicher, es handelte sich dabei um einen Gegenstand wie jeden anderen, soll heißen: einen leblosen. Es befand sich keine Briefmarke auf dem Umschlag, was bedeutete, jemand hatte sich die Mühe gemacht, bis zu mir aufs Land hinaus zu fahren, nur um das Ding dann diskret im Briefkasten zu versenken, anstatt nach all dem Aufwand einfach an der Tür zu klingeln. Wäre da die Post nicht sinnvoller gewesen, fragte ich mich. Andererseits erforderte die Briefbeförderung per Post gewaltige finanzielle Mittel auf Seiten des Absenders, weshalb sich dieser vermutlich gedacht hatte, es wäre doch sehr viel klüger, flink ins eigene Auto zu steigen, ein Dutzend Kilometer mit einem Brief auf dem Beifahrersitz durch die Landschaft zu gondeln, schön viel Scheiße in die Luft zu blasen und den Brief ganz einfach persönlich bei mir einzuwerfen, anstatt es Menschen zu überlassen, die das hauptberuflich ausübten, sowohl das Briefetransportieren als auch das Scheiße-in-die-Luft-Blasen. Das kam dabei heraus, wenn Menschen das Recht auf Mobilität mit einem Anspruch auf Umweltverschmutzung verwechselten und Freiheit mit der Pflicht, von einem Termin zum nächsten zu düsen, zum Beispiel von der Arbeit zur Kneipe und später angetrunken ins heimische Bett.
Vom Stichwort ›angetrunken‹ inspiriert, vollzogen meine Gedanken einen Sprung zu einer naheliegenden Frage: Wieso war der Brief eigentlich blau? Ich wusste, dass es hieß, Schulen würden blaue Briefe verschicken, zumal ich während meiner Schulzeit so manchen Brief von meiner Schule erhalten hatte, sogar mit Briefmarken darauf, doch blau war keiner davon gewesen. Was blieb mir anderes übrig als ihn zu öffnen, um die Neugier zu befriedigen. Im Briefumschlag erwartete mich eine unpersönliche Einladung:

Liebe Freundinnen und Freunde,
zehn Jahre sind vergangen, seit wir von der Schulbank ins wahre Leben gezogen sind. Herzlich laden wir euch zum gemeinsamen Wiedersehen ein.

Unterhalb des Textes waren Zeitpunkt, Ort und Anfahrtsweg vermerkt, während auf der Rückseite der Einladung eine lachenden Schildkröte abgebildet war, die ein Zeugnis in der Hand hielt, was mir als Ausdruck schulischer Leistung irgendwie unangemessen schien, aber genau deswegen fast schon sympathisch wirkte, geradezu subversiv. Wahrscheinlicher jedoch war, dass der Urheber keinerlei subversive Ambitionen hegte, sondern das Bildchen einfach nur für lustig befunden hatte. Manches änderte sich eben selbst in zehn Jahren nicht, zum Beispiel schrecklicher Humor.
Es gab vieles, das Leid und Elend über die Menschheit brachte, wo immer es auftrat: Krieg, Missgunst, Gier, Eifersucht, Naturkatastrophen und eben Klassen- oder Jahrgangstreffen. Bis jetzt war ich von alldem verschont geblieben, aber jemand unternahm den Versuch, das zu ändern. Jemand, der mich unilateral als einen Freund bezeichnete, was das Konzept der Freundschaft ad absurdum führte bis verhöhnte. Jemand, der die dummdreiste Vorstellung kultivierte, nach der Schule würde man ins ›wahre Leben‹ ziehen, während die meisten doch tatsächlich bloß in Ehe, Fabrik oder Büro umgezogen waren.
Ein Klassen- oder Jahrgangstreffen war eine Veranstaltung, bei der sich die Banalität des Bösen unbarmherzig offenbarte. Menschen kamen zusammen, die sich seit ihrer gemeinsamen Internierung in einer Lehranstalt nicht mehr gesehen, geschweige denn miteinander gesprochen hatten. Mit einigen war man befreundet geblieben, als man den Schulabschluss endlich in der Tasche gehabt hatte, doch beim Großteil schätzte man sich froh, ihn endlich los zu sein. Das Jubiläumstreffen nun war ein erzwungener Prozess, der dazu führte, diese natürlich gewachsene Distanz mit einer synthetischen Nähe zu überwinden, um eine Grundstimmung des gegenseitigen Wettbewerbs zu provozieren. Der Ablauf eines solchen Zusammentreffens war sozial streng geregelt und ähnelte jenem Kartenspiel, bei dem die Spieler beispielsweise Hubraum, Höchstgeschwindigkeit, Beschleunigung oder Zylinderzahl der Fahrzeuge auf ihren Spielkarten miteinander verglichen, wobei der beste Wert gewann. Gespielt wurde es bei einem Klassen- oder Jahrgangstreffen allerdings nicht mit technischen Daten, sondern mit persönlichem Erfolg, beruflicher Leistung, Schönheit des Ehepartners, Lage des Hauses, Preis des PKW, Zensuren der Kinder, Exklusivität des Urlaubsziels, Ausübung von Macht und anderen erbärmlichen Statussymbolen der jeweiligen Mitspieler. Ich war arbeitslos und unverheiratet, besaß weder Auto noch Eigenheim und war demzufolge alles, was man nicht sein wollte, wenn man zu einem Klassentreffen ging.
Trotz meiner Abneigung gegen dieses kleinkarierte Spiel und der offensichtlichen Zumutungen einer solchen Veranstaltung nahm ich mir vor, der Einladung zu folgen. Wie eine Art Kriegsberichterstatter wollte ich das entsetzliche Elend begutachten, allerdings mit der nicht zu unterschätzenden Differenz, dass ich im Gegensatz zum unbeteiligten Beobachter auch in Nahkämpfe verwickelt sein würde und aktiv ins Kampfgeschehen eingreifen müsste. Das jedoch war ich gewohnt.
Noch am Abend desselben Tages rief ich jene Freunde an, die ich von der Schulzeit ins ›wahre Leben‹ mitgenommen hatte. Ich erkundigte mich, ob sie die Einladung ebenfalls erhalten hatten und was sie von ihr hielten. Anschließend erzählte ich ihnen von meinem Vorhaben und fragte nach, ob sie die Absicht hätten, der Veranstaltung ihrerseits beizuwohnen. Sie lachten über diese Frage und wünschten mir Glück bei meiner Expedition. Deswegen waren sie meine Freunde.
Einige Wochen später war es so weit, an einem windigen Samstagabend. Die Veranstaltung fand in einer Villa nahe von Hamburg statt. Wir waren ein Abiturjahrgang, daher gehörte Distinktion anscheinend zwangsläufig dazu, die Sehnsucht nach standesgemäßer Inszenierung, diese Selbstverherrlichung als Elite. Als ich die Räumlichkeiten betrat, war das Geschehen schon in Gang. Zu meiner Erleichterung hatte man die Veranstaltung als eine Art offener Party konzipiert, ohne Sitzordnung und irgendwelche Ansprachen. Es gab ein Buffet mit Häppchen und Hauptspeisen sowie eine Bar mit einem leidlich motivierten Barkeeper, der unter anderem Sekt und schlechte Drinks servierte, sodass die Anwesenden sich in wechselnder Konstellation an Tischen niederlassen oder kollektiv herumstehen konnten, was sehr viel angenehmer war, als den gesamten Abend an einem großen Tisch gemeinsam eingepfercht zu sein.
Ein wenig verloren blickte ich mich um, bis ich Chris sah. Eigentlich hieß er Christian. Zu Schulzeiten war er ein Punk gewesen, ein Rebell und Nonkonformist, der sich Autoritäten und Hierarchien nicht hatte beugen wollen und in der Schule, die sich ihren Häftlingen als Disziplinierung par excellence aufdrängte, folglich so seine Probleme gehabt hatte. Er war mir immer sympathisch gewesen, genau aus diesem Grund. Heute trug er einen verdammt gut sitzenden Anzug und etwas, das er früher als Spießerfrisur bezeichnet hätte. Innerlich musste ich lachen. Er ist eine Karikatur, dachte ich, er kommt hierher und hält allen den Spiegel vor, macht sich lustig über sie, betreibt Subversion. Das verdiente Respekt, daher ging ich zu ihm ans Buffet, wo er gerade das Angebot begutachtete.
»Mensch, Chris! Schickes Outfit«, grinste ich und nahm mir einen Teller.
»Danke«, erwiderte er mit einem Hauch von Überraschung.
»Nur für den Scheiß hier hast du dir so’n Ding besorgt?«
»Was? Wer bist du eigentlich?«
Zuerst lachte ich, doch dann wurde mir klar, dass er mich wirklich nicht erkannt hatte. Ich stellte mich ihm vor und wir plauderten eine Weile über die Schulzeit, die frühere Lehrer, unser Leben nach dem Abschluss und schließlich die berufliche Karriere. Ein Wort, für das er früher nur Verachtung übrig gehabt hatte. Nun war er derjenige, der es aussprach. Nach dem Abitur hatte er herumgelungert, ständig gekifft, viel gesoffen, was man halt so machte, wenn man alles andere zum Kotzen fand, was den Alkohol bisweilen einschloss. Doch irgendwann sei ihm die Erleuchtung gekommen, sagte er. Man dürfe ein Leben nicht so verschwenden, man müsse etwas aufbauen, etwas leisten. Ein Sozialarbeiter habe ihm geholfen, sich aus seiner Clique zu befreien, wie er es ausdrückte. Er hatte einen Job bekommen, wenig später auch eine eigene Wohnung. Von da an sei es nur noch aufwärts gegangen, er habe unglaublich hart gearbeitet, gespart, angelegt und investiert.
»Heute fehlt es mir an nichts«, schwärmte er mit hörbarem Stolz. »Ich krieg die Krise, wenn ich einen jammern höre, er findet keinen Job. Wer nicht faul ist, der findet auch was. Man muss sich halt zusammenreißen. Sieh mich an. Stattdessen wird jeder bestraft, der erfolgreich ist. Steuern hoch, Steuern hoch, das ist alles, was ich höre. Mit meinem Geld werden solche Faulpelze finanziert.«
»Sag mal, muss das nicht anstrengend sein?« hakte ich mit total beeindrucktem Gesichtsausdruck nach.
»Die Arbeit? Ja, schon, aber nur durch Leistung kommt man nach oben…«
»Neee, nicht die Arbeit. Jeden Tag die Ideale, die du mal hattest, kräftig in den Arsch zu ficken, nur für ein paar Scheinchen.«
Ich drehte mich um und führte einen inneren Kampf zugunsten der äußeren Contenance. Am liebsten hätte ich ihn ausgelacht, wäre das nicht der sichere Ruin für meinen Abgang gewesen.
Das sind die Schlimmsten, dachte ich und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach einem neuen Gesprächspartner. Diese Schlimmsten, das waren für mich soziale Aufsteiger, die von ihren Wurzeln nichts mehr wissen wollten. Weil sie selbst es ›geschafft‹ hatten, weil sie von der Frucht der Macht gekostet hatten, verteufelten sie alle, die es nicht taten. Ganz arme Würstchen waren das. Mit kleinen Würstchen vermutlich, weil solche Typen immer kleine Würstchen hatten und diesen Zustand irgendwie zu kompensieren trachteten, doch so genau wollte ich es nicht in Erfahrung bringen. Das Jahrgangstreffen fing an, mir Spaß zu machen. Ich kam in Fahrt, und das war gerade erst der Anfang.
Plötzlich wurde ich von der Seite angesprochen. Es war Torsten, der seinen Teller so berstend mit Speisen beladen hatte, wie man es sonst nur von deutschen Touristen aus dem Urlaub kannte, die die Angst umtrieb, bei einem zweiten Gang zum Buffet von der Zombieapokalypse heimgesucht zu werden, weshalb sie auf ihren Tellern gewagte Türme konstruierten, die allen Regeln der Statik zu widersprechen schienen. Im Gegensatz zu Chris hatte er mich umgehend erkannt und wir kamen ins Gespräch. Torsten war jemand, mit dem ich mich in der Schule gut verstanden hatte, obwohl ich ihn niemals als einen Freund betrachtet hätte. Er war das, was man klassisch einen Schulkameraden nannte. Nachdem wir die Eingangsfloskeln hinter uns gebracht hatten, erzählte er mir von seinem Job bei einer großen internationalen Werbeagentur.
»Das geile an dem Job ist, so viele unterschiedliche Kunden zu haben. Man hat ständig eine neue Herausforderung, dauernd eine komplett neue Arbeit mit komplett neuen Ideen. Ich kann mich kreativ ganz ausleben und verdiene dabei auch noch ordentlich.«
»Hm«, gab ich den nachdenklich Interessierten. »Was für Kunden hast du da so? Gibt’s da auch welche, bei denen du sagst: Das mach ich nicht, die mag ich nicht?«
»Klar gibt’s die! Ich arbeite nicht für Rüstungskonzerne, da hab ich ganz deutlich eine Linie gezogen.« Mit dem Finger zog er ganz deutlich eine Linie in die Luft. »Man will ja auch noch mit gutem Gewissen einschlafen können.«
Rüstungskonzerne taten mir Leid. Kein einziger Werber dieser Welt wollte freiwillig für sie arbeiten. Alle sagten sie: Nein, das kann ich ethisch nicht verantworten. Das musste der erste Satz gewesen sein, den sie auf der Werbekasperschule gelernt hatten und seitdem wie ein Mantra vor sich herbeteten. Zum Glück besaßen Rüstungskonzerne in der Regel Tochtergesellschaften oder eigenständige Divisionen, die sich mit ziviler Resteverwertung der militärischen Forschung beschäftigten und beispielsweise LKW statt Panzern herstellten, sodass man sich als Werber oder überhaupt als Angestellter gut damit herausreden konnte, mit der Produktion von dedizierten Tötungsinstrumenten nichts am Hut zu haben. Das war formal zwar zweifellos korrekt, aber spitzfindig, doch wenn es dem Selbstbetrug dienlich sein konnte, war freilich jedes Mittel erlaubt.
»Wow!« bewunderte ich seine ethische Standfestigkeit und erinnerte mich an die Arbeiten seiner Lügenbude. »Ich stelle mir das gerade vor. Da kommt so ein schmieriger Rüstungskonzern zu dir und sagt: Bitte erstellen Sie mir eine tolle Werbekampagne – und du, du sagst ganz konsequent: Nein! Am nächsten Tag stellt sich dann ein Energiekonzern bei dir vor, der zu den größten Umweltsündern des Landes gehört, und du verpasst ihm ein grünes Image. Das ist ethisch echt gleich viel besser.«
»Über diese Kampagne gab es intern eine rege Diskussion, auch ethisch. Wir haben uns dann am Ende für den Auftrag entschieden, weil der Konzern auch viel in grüne Energie investiert und…«
»Und weil das Geld so zahlreich floss, du schleimige Werbehure!« unterbrach ich ihn frech und nutzte seine sichtliche Überforderung, um noch ein wenig nachzulegen: »Einige Wochen später kriechst du einer Firma zu Kreuz, die ihre Mitarbeiter wie den letzten Dreck behandelt. Deine schöne Agentur aber kümmert sich darum, sie als sozial gerechtes Wohltätigkeitsparadies darzustellen. Ich meine, hey, du bist so konsequent mit deinen moralischen Grundsätzen, das ist echt beeindruckend! Mann, ich bin so froh, dass du nachts gut schlafen kannst, weil du nichts für Rüstungskonzerne machst.«
Da stand er und schaute wie ein Hund beim Kacken, der sich keiner Schuld bewusst war. Wenn es einen irdischen Zugang zur Hölle gab, dann lag er unterhalb dieses Gebäudes und hatte sich erst kürzlich aufgetan, um die hier anwesenden Geschöpfe auszuspeien. Er würde sie hoffentlich auch wieder zurücknehmen.
Gab es denn keine vernünftigen Menschen in diesem Haus? Zwei kleine Gruppen standen herum und waren untereinander jeweils in Diskussionen vertieft, soweit ich das beurteilen konnte. Ich überlegte, ob ich mich zu einem der beiden Grüppchen dazugesellen und mitdiskutieren sollte, war aber an der Umsetzung dieser Vorstellung nicht ernsthaft interessiert, weil ich seit jeher das Gespräch unter vier Augen bevorzugte. Dann sah ich Pia. Sie saß alleine an einem Tisch, vor sich ein Glas Sekt, an dem sie hin und wieder nippte. In der Schule war sie so etwas wie eine graue Maus und eher am unteren Ende der ausreichenden Notenskala beheimatet gewesen, was ich nicht tragisch fand, ihre Eltern damals allerdings umso mehr. Nun jedoch trug sie zwei ansehnliche Bildungsabschlüsse vor sich her, die sie für jede Beschäftigung qualifizierten. Außerdem hatte sie zu viel Make-up aufgetragen, doch war dies ein Phänomen, das ich an vielen Frauen beobachten konnte, die allem Anschein nach verinnerlicht hatten, was man ihnen fortwährend weismachen wollte. Jede beliebige Kosmetikwerbung suggerierte, Frauen seien von Natur aus hässliche Kreaturen, nicht im Ansatz begehrenswert, wenn sie sich nicht hinter Masken verbergen würden, an denen andere kräftig verdienten. Lieber trugen sie zu viel auf als gar nichts, aus Angst vor ihrem eigenen Gesicht. Einmal war ich verliebt an meine damalige Freundin herangetreten mit den Worten: ›Du bist am schönsten, wenn du ungeschminkt bist‹. Da hatte sie gelacht und mir kein Wort geglaubt.
Pia sah nicht so aus, als wäre ihr zum Lachen zumute. Nervös durchstreifte sie mit ihren Blicken den Raum und schien nach jemandem zu suchen. Sie war zu Schulzeiten immer sehr nett zu mir gewesen, vielleicht auch ein bisschen verknallt, darum ließ ich mich an ihrem Tisch nieder und begrüßte sie mit einigen freundlichen Worten. Wir kamen ins Gespräch. Eigentlich, so erzählte sie mir, war sie mit einer Freundin hergekommen, mit Kathrin, die sich jedoch auf der Suche nach einer Toilette im Obergeschoss verdrückt hatte, in verdächtiger zeitlicher Nähe zu Sebastian, was deren beider Abwesenheit durchaus erklärte. Sebastian war verheiratet, hatte diesen unglücklichen Umstand, wie es schien, gleichwohl temporär verdrängt, so wie man traumatischen Erlebnissen eben häufig den Zugang zum Bewusstsein verwehrte. Das war wissenschaftlich erwiesen, daher sollte niemand den Zeigefinger erheben und behaupten, der Betrug an seiner Frau sei Sebastians eigene Entscheidung, geschweige denn dessen Schuld gewesen.
Pia und ich jedenfalls machten uns darüber lustig wie gute Lästerschwestern. Nach einer Weile versuchte ich, das Gespräch in spannendere Gewässer zu navigieren, weil harmlose Lästereien zwar recht auflockernde Gesprächsinhalte darstellten, mich das gesamte Konzept des Lästerns aber doch sehr an Gartenzwerge und Blockwartmentalität erinnerte. Ein Themenkomplex, mit dem man jederzeit Freunde gewinnen konnte, ob nun im Supermarkt an der Kasse, in der Sauna oder auf dem Zahnarztstuhl, war das gern konferierte Feld der Politik. Ich sprach die um sich greifende Finanzkrise an, die bereits jetzt das Leben von Millionen Menschen zerstört hatte, obwohl sie gerade erst am Anfang stand. Ich belächelte die anhaltend herbeifantasierte Mär vom Aufschwung, der komischerweise bei niemandem so recht ankam. Ich erwähnte den Jubel um sinkende Arbeitslosenzahlen, die keiner, der noch ganz bei Trost war, für etwas anderes als Propaganda halten konnte. Die ganzen ekelhaften Nachrichten eben, während Pia bei allem still nickte.
»Mich kotzt das echt an, so verarscht zu werden«, rumorte es aus mir heraus. »Vergleich das mal mit dem Arabischen Frühling. Da gehen Menschen auf die Straße, weil sie demokratische Mitbestimmung fordern. Hierzulande schimpft man über die Schwerfälligkeit demokratischer Entscheidungsfindung und verteidigt allen Ernstes eingeschränkte Mitbestimmungsrechte, wo immer sie auftreten, weil Beschlüsse ja so viel effizienter gefällt werden könnten, wenn weniger Menschen daran beteiligt wären. Marktgerechte Demokratie nennen sie das und schielen mit einem Auge auf China. Da weiß man doch, was man von so einer Demokratie zu halten hat, oder?«
»Ach, weißt du, das interessiert mich alles nicht so recht. Man darf im Leben nur das Positive sehen, und das tue ich. Ich schaue keine Nachrichten mehr, weil mich das unglücklich macht.«
So also sahen Menschen aus, die Lebensratgeber lasen wie: ›Mit Yoga zum Glück‹, ›Lachen für ein gutes Leben‹, ›Dank Positivem Denken aus der Arbeitslosigkeit‹, ›Grinsen gegen Krebs‹. Oder schlimmer noch: die solchen Schund schrieben, um andere auszunehmen, die den Mist glaubten. Diese Menschen hatten keinen anderen Lebensinhalt vorzuweisen als alles wahnsinnig schön zu finden. Wenn es eines gab, das mich stärker ankotzte als verarscht zu werden, dann war es die Kraft der positiven Wahrnehmung, die Ignoranz auf Speed, die alle Probleme der Menschheit leichtfüßig lösen sollte. Hunger in der Dritten Welt? Man schlürfte Prosecco. Mord im Namen der Freiheit? Man sah sich einen lustigen Film an. Ölplattform geplatzt? Man gönnte sich mal was. Optimismus statt Vernunft, Apathie statt Zorn. Die Hölle, das war sie. Wer vorübergehend doch einmal aus dem Glückseligkeitsfaschismus purzelte, der schlug rasch in der Ratgeberliteratur nach, wie man angepasst zu leben hatte, anstatt einfach mal in sich hineinzuhorchen und auf den Tisch zu hauen.
»Würdest du das auch kleinen Kindern ins Gesicht sagen, die vor Hunger verrecken? ›Seht das Positive: Ihr müsst zum Abnehmen nicht joggen gehen‹? Oder zu Zwangsarbeitern im KZ? ›Seht das Positive: Jeder hier hat einen Arbeitsplatz‹? Menschen wie du kotzen mich an, weil sie mit ihrer optimistischen Ignoranz die ganze Scheiße auf der Welt erst ermöglichen.«
Mit ihrem am Boden hängenden Unterkiefer ließ ich sie zurück, bevor sie die Chance hatte, mir den Sekt ins Gesicht zu schütten. Ich kam mir vor wie eine Mutter, die ihrem Balg irgendwas verbieten oder es zum Aufessen bewegen wollte und zu diesem Zweck ganz schamlos die afrikanische Bevölkerung ins Spiel brachte, als hätte die es nicht schon schwer genug gehabt, selbst ohne europäische Scheißmütter. Glücklicherweise hatte ich mit meinem Nazivergleich noch auf die seriöse rhetorische Ebene zurückgefunden. Einerseits tat Pia mir leid, weil sie mir vormals wirklich sympathisch gewesen war; andererseits diente sie ja wirklich als Steigbügelhalter für das Böse auf diesem Planeten, zwar nicht sie allein, aber ihre Denkweise. Das sollte man Menschen auch klipp und klar mitteilen.
Von einer der herumstehenden Gruppen spaltete sich jemand ab und kam geradewegs auf mich zu. Es war Maike. Sie musste meine Unterhaltung mit Pia gesehen haben, die zugegebenermaßen etwas aus dem Ruder gelaufen war. Vorsorglich bereitete ich mich auf das Schlimmste vor. Maike aber kam zu mir herüber, legte einen Arm um meine Schulter und fing an, sich über Pia lustig zu machen.
»Ihr zwei habt euch ganz schön in die Haare gekriegt. Was war da los? Haben dir ihre neuen Titten nicht gefallen? Ganz schön billig so was. Was für ein Flittchen!«
Maike trug Schuhe mit Keilabsätzen, die bei jungen Frauen und solchen, die sich dafür hielten, schwer angesagt waren. Wenn ich ein solches Ungetüm an einem Frauenfuß entdeckte, war mein erster Eindruck jedes Mal, die arme Frau sei behindert und dass es sich um eine orthopädische Maßnahme handeln musste, die die Länge ihrer Beine künstlich ausgleichen sollte. Da der andere Fuß jedoch in der Regel mit einem entsprechenden Gegenstück ausgestattet war, präzisierte ich meine Diagnose gewöhnlich auf eine geistige Behinderung, die sich als so genanntes Modebewusstsein ausgab. Viele Frauen und Männer fielen ihr tagtäglich zum Opfer. Aus dieser Position heraus über die Ästhetik aufgepumpter Brüste zu urteilen, erschien mir gewagt.
»Ihre Brüste sind ihr kleinstes Problem«, sagte ich, was sehr viel lustiger gewesen wäre, hätte sie kleine Brüste gehabt. Der Alkohol in Maikes Blutbahn befand es trotzdem des Kicherns würdig. »Du wirst es nicht glauben, aber wir sind über Politik ins Streiten geraten.«
»Ha! Genau mein Metier. Kein Wunder, dass du da verzweifelt bist. Mit der kann man sich über so was nicht unterhalten. Die ist dafür halt zu dumm.«
Voller Stolz erklärte sie mir wortreich, für ein Nachrichtenmagazin bei einem großen Privatsender zu arbeiten und sich in dieser Funktion natürlich viel mit Politik zu beschäftigen, zumindest unter anderem. Das war der Knackpunkt: Unter anderem. Ihr Arbeitsplatz befand sich in der Redaktion eines dieser Lifestyle-Magazine, die am frühen Abend auf allen Privatsendern ausgestrahlt wurden und das Projekt der Aufklärung mit negativem Vorzeichen fortführten. Zu sehen gab es dort großartige Einspieler über stolpernde Politiker, was Maikes Interesse an politischen Prozessen erklärt und auch erschöpft haben dürfte, investigative Reportagen über neueste Modetrends aus Hollywood und wissenschaftliche Beiträge über wasserfestes Make-up, in denen willige Feuerwehrmänner geschminkten Frauen ins Gesicht spritzten, was in den Hirnen der Redaktionschefs für riesige Ständer und pubertäres Gekicher gesorgt haben dürfte. Dennoch gab es Frauen, die sich dazu erniedrigen ließen, so eine Sendung zu moderieren oder an deren Produktion willfährig teilzunehmen, worauf sie am Ende auch noch stolz waren. Die Emanzipation drehte sich im Grab herum, wenn sie solche Sendungen empfing, obwohl Gleichberechtigung ja auch bedeutete, genauso scheiße wie manch Mann sein zu dürfen.
»Wow!« sprach ich, worauf Maike mich eitel anlächelte. »Du arbeitest also für einen Verein, der sich tagelang mit den Höschen von Lady Gaga beschäftigen kann, aber für das Weltgeschehen keine Sendeminuten übrig hat; der Menschen unaufhörlich Luxusgüter präsentiert und sie wie Esel mit goldener Möhre vorm Maul zum ewigen Weiterackern motiviert; der sich über Randgruppen lustig macht, damit sich noch der letzte Idiot vor dem Fernseher so richtig gut fühlen kann?«
Zum Abschluss unserer Show stellte ich ihr die Eine-Million-Euro-Frage: »Wie kann man denn so weit sinken?«
Sie stieß ein empörtes ›Pöh!‹ aus, drehte sich um und zischte mit erhobenem Näschen davon. Einige Augenblicke später gesellte sie sich zu Torsten an einen Tisch. Sie tuschelten miteinander, als sie zu mir herübersahen. Ich hob mein Glas, zwinkerte ihnen fröhlich zu und stattete mein Gesicht mit einem wohlwollenden Lächeln aus, das sie verwirrte. Beide gaben vor, mich nicht gesehen zu haben, wandten mir ihre Rücken zu, schüttelten die Köpfe. Langsam wurde es heiß.
Von so viel Ekel erschüttert, suchte ich körperliche Erleichterung. Im gesamten Erdgeschoss konnte ich nur ein einziges Badezimmer entdecken, was ich für eine Villa dann doch recht schäbig fand. Noch schäbiger aber war, dass es von jemandem benutzt wurde. Vor der geschlossenen Tür stand Michael, der offensichtlich auch auf Einlass in das Heiligtum wartete. Seinen Kopf schmückte eine Gelfrisur, die irgendwie mit einer grau gerahmten Klugscheißerbrille eine Symbiose eingegangen war. Klugscheißerbrillen unterschieden sich von regulären Brillen dadurch, dass dem Träger in erster Linie nicht die funktionale Leistung am Herzen lag, also mit seinen Glubschern etwas von der Welt wahrnehmen zu können, sondern die Fremdwahrnehmung als gebildeter Bürger, als Mensch mit Durchblick, nicht physisch, sondern intellektuell. Dieser wiederum unterschied sich deutlich vom hippen Mitläufer, der eine Brille aus rein ästhetischen Gründen trug, bevorzugt im so genannten Vintage-Look, und diesen Schwachsinn auch noch mitgemacht hätte, wenn es angesagt gewesen wäre, Hörgeräte oder Krücken zu tragen.
Den gebührenden Respekt wahrend, der mit der Benutzung öffentlicher Bedürfnisanstalten allgemein einherging, stand ich untätig herum und begutachtete schweigend das aufregende Muster der Raufasertapete. Michael kannte keinen Respekt. Er sprach mich an. Nach kurzem Weißt-du-noch- und Na-wie-geht’s-Geplänkel fing auch er an, letztere Frage mit langen Ausschweifungen über seine berufliche Tätigkeit zu beantworten. Warum bloß redeten so viele Menschen von ihrer Arbeit, von ihrem Studium, von ihrem Fitnessclub oder ihrem liebsten Fußballverein, wenn man sie fragte, wie es ihnen geht. Hatten sie kein eigenes Leben jenseits der Fremdbestimmung?
Michael jedenfalls erzählte mir, schon seit längerer Zeit für eine sehr bekannte Musikzeitschrift zu arbeiten, für den unglaublich kreativ benannten ›Lautsprecher‹.
»Die Atmosphäre in der Redaktion ist einfach toll«, himmelte er mir ungefragt vor. »Alle sind total jung, total locker. Jeder hat ganz viel Freiheit. Das ist für mich echt ein Traumjob. Die ganze Zeit darf ich Musik hören, darüber schreiben, sie bewerten, darf mich mit Künstlern treffen und Interviews führen, in die Szene eintauchen und neue Trends entdecken – oder welche setzen. Natürlich steckt da auch viel Arbeit drin, aber die ist es wert. Uns geht es einfach nur um gute Musik.«
Wer keinen Musikgeschmack aufweisen konnte, der las Musikzeitschriften, die ihren Lesern die lästige Aufgabe eigener Meinungsbildung gegen ein Entgelt bereitwillig abnahmen. Ähnliche Publikationen gab es für Literatur, Mode, Lyrik, Filme, Katzenbilder, Scheißhaufen und so ziemlich alles, was Menschen sonst noch hervorbrachten. Sie standen in bester Tradition jenes Menschentypus, der sich von Gott oder anderen Wahnvorstellungen dazu berufen fühlte, kulturelle Ausdrucksformen zu bewerten und dabei vorwiegend ›man‹ statt ›ich‹ zu gebrauchen, wie etwa: ›das hört man nicht‹, ›das liest man nicht‹, ›das sagt man nicht‹, ›das trägt man nicht‹. Diese hoheitlichen Verdikte fanden ihre treuen Abnehmer unter jenen, die sich durch Anschluss an bestehende Trends und Moden Individualität zu geben versuchten. Das Resultat war eine Armee von seelenlosen Zombies, die sich bei jedem Lied, bei jedem Film, bei jedem Kleidungsstück und jedem Buch erst einmal angestrengt den Kopf darüber zerbrachen, ob sie es denn überhaupt gut finden dürfen, und zur Klärung dieser Frage ihre heiligen Schriften konsultierten.
»Du sagst also anderen, was gute Musik ist und was nicht? Woher willst du das denn wissen? Bist du die Talentpolizei? Die Geschmacksgestapo? Ist dir klar, dass es da draußen unglaublich viele Menschen gibt, die irgendwelche Bands schlecht finden, bloß weil du sie schlecht findest? Die deine Texte lesen und deren Inhalt dann als eigene Meinung ausgeben? Macht dich das geil? Raffst du nicht, wie spießig das ist?«
»Bist du…«, wollte ich weiter ausholen, als die Tür des Badezimmers abrupt geöffnet wurde. Heraus kam René, während sich Michael dankbar darin verdrückte. René musste so sehr auf die Beherrschung seines besten Stücks fixiert gewesen sein, dass er die Unterhaltung vor der Badezimmertür gar nicht mitbekommen hatte. Anders konnte ich mir nicht erklären, wieso er stehenblieb und mir beschwingt die Hand gab, die er hoffentlich gewaschen hatte. Wie ich bald darauf erfuhr, war er Bankangestellter und lebte mit seiner Frau und zwei Kindern in der Frankfurter Innenstadt. Stolz zeigte er mir Fotos der beiden Töchter, garniert mit epischen Geschichten von Helenes wundervoller Einschulung und den großartigen Noten der fünf Jahre älteren Marie-Sophie. Mein Eindruck war, ich hatte einen Menschen vor mir, der ein Leben am Limit führte, weil er ohne Kompromisse eine konsequent selbstbestimmte Linie fuhr und seine abgedrehten Lebensträume erfüllt hatte, also Führerschein, Abitur, dann Wirtschaftsstudium und Reihenhaushälfte. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit den Vorrat des familialen Erfolgs erschöpft hatte, den es zu erzählen lohnte, war es an mir, den eigenen Karrierepfad glamourös nachzuzeichnen.
»Und was machst du so? Ich hab gehört, bei dir lief es nicht so toll?«
»Ich bin arbeitslos«, erwiderte ich treuherzig.
»Oje. Ist das nicht schrecklich?«
Ich fand, das war eigentlich eine sehr gute Frage, wenn er sie nur nicht unbedingt mir gestellt hätte.
»Ich finde, das ist eigentlich eine sehr gute Frage«, antwortete ich der Wahrheit zuliebe. »Mal sehen. Du stehst jeden Morgen auf, damit du etliche Stunden hinter Panzerglas verbringen kannst, wo du den Gewinn deiner scheiß Bank vermehrst, von dem du aber nie etwas zu Gesicht bekommen wirst. Wenn du Glück hast, kannst du zwei Mal im Jahr in irgendeinen tollen Pauschalurlaub fahren oder Skilaufen gehen, aber sonst ist jeder Tag so langweilig wie der letzte. Ständig machst du dir die Hosen voll vor Angst, irgendwann mal deinen Job zu verlieren oder bei einem Überfall erschossen zu werden – was auch sein Gutes hätte, weil deiner Familie dann immerhin noch die Lebensversicherung zukommen würde. Ist das nicht schrecklich?«
Er ließ mich eiskalt stehen. Wenig später kam Michael aus dem Badezimmer und ging wortlos an mir vorbei. Ich fragte mich, ob er René und mich belauscht hatte. Was sonst konnte ihn so lange dort drin beschäftigt haben?
Beim Wasserlassen malte ich mir aus, dass draußen Möbel vor die Tür geschoben wurden, um die Party endlich von einem störenden Element zu befreien, das zufällig meinen Namen trug. Als ich schließlich die Tür öffnete, standen jedoch keine Möbel davor, sondern Hanna. Hanna arbeitete mittlerweile als Pflegerin in einer Psychiatrie, wie ich von Pia erfahren hatte. Sie war Betreuerin, Therapeutin, Psychologin, Psychotherapeutin, Psychopsychologin, Psychoanalytikerin, psychopathische Therapeutin oder was weiß ich, welcher Begriff gerade für Mechaniker des Innenlebens en vogue war, die sich in solchen Anstalten der emotionslosen Behandlung emotionaler Themen verschrieben hatten, der Behebung menschlicher Defekte, notfalls mithilfe der Chemie, damit der Motor weiterhin brummte. Um allen Klischees gerecht zu werden, trug sie eine rote Brille. Vielleicht ist sie beauftragt worden, mich nach den bisherigen Zusammenstößen mit dem Jahrgang in ihre Arbeitsstätte einzuweisen, mutmaßte ich.
Nichts dergleichen geschah. Sie nickte mir zu und sagte Hallo. Den bisherigen Verlauf des Abends noch einmal Revue passieren lassend, beschloss ich, das üblicherweise von meinen Gesprächspartnern bevorzugte Thema diesmal einfach vorwegzunehmen.
»Du bist jetzt in einer Psychiatrie, hab ich gehört.«
»Ja, schon.« Hanna lachte. »Aber als Ärztin, nicht als Patientin.«
Das war den Wachmannschaften solcher Einrichtungen wichtig. Klare Rollengrenzen mussten gezogen, eindeutige Hierarchien und eine unverrückbare Normalität als Bezugsrahmen konstruiert werden. Widersprach der Patient, war er verrückt. Gehorchte er, gestand er seine Verrücktheit. Hinein kamen Menschen mit einem Knacks, heraus kamen sie mit schweren Schäden. Wer dort arbeitete, war der eigentliche Irre, wurde aber nicht so genannt, denn er war es auf eine mit dem als ›normal‹ verkannten Wahnsinn sehr konform gehende Art und Weise.
»Ach, das ist ja verrückt«, kalauerte ich und luchste ihr ein Schmunzeln ab. »Was machst du da so?«
»Viel Verrücktes!« Zwei gleiche Wortwitze waren einer zu viel. »Aber im Ernst: Das ist echt super wichtige Arbeit. Mit was für Menschen man da zu tun hat, das ist der Wahnsinn.«
Sie hatte ihre Ausfahrt von der Wortspielautobahn verpasst. Gequält verrenkte ich meine Mundwinkel, um möglichst lebensnah ein Lächeln zu simulieren.
»Letzten Monat«, erzählte sie mir, »kam ein Mädchen zu uns, das wir vor dem Suizid gerettet haben. Die wollte sich umbringen, weil sie in der Schule nicht mehr mitkam. Ihre Versetzung war gefährdet, dann hätte sie ein Jahr wiederholen müssen. Die ganzen Freunde in der Klasse hätte sie natürlich auch verloren und gegenüber ihren Eltern schämte sie sich. Ihr war das alles zu viel. Ihre Eltern fanden sie in ihrem Zimmer. Tabletten.«
»Krass!« flüsterte ich nur.
»Das kannst du laut sagen. Na ja, aber die Hilfe kam ja noch rechtzeitig. Wir haben ihr dann geholfen, da durchzukommen. Sie hatte sich überfordert, wollte sich nicht eingestehen, dass sie die Stufe nicht schaffen würde, also konnte sie nur weitermachen, bis alles an die Wand fuhr. Ich hab dann mit ihr gesprochen, hab ihr klargemacht, dass es besser für sie ist, auf eine leichtere Schule zu wechseln, um den Druck ein wenig zu reduzieren. Da würde sie zwar auch ihre Freunde verlieren, aber eben nicht die Lust am Leben. Gott sei Dank hat sie das eingesehen. Am Ende war sie richtig glücklich, dass alles noch mal gut ausgegangen ist. Das sind so Momente, in denen ich weiß, das Richtige zu tun. Menschen zu helfen.«
Die Unterhaltung mit René schwirrte mir noch im Hinterkopf herum und so rief sie mir ins Bewusstsein, was ich Wichtiges von ihm gelernt hatte.
»Findest du das nicht schrecklich?« fragte ich sie mit treudoofem Blick.
»Natürlich ist das schrecklich!« antwortete sie mit dem gehobenen Selbstbewusstsein derjenigen, die sich auf der guten Seite wähnten. »Aber zum Glück ging es gut aus. Wir haben ja noch mal die Kurve gekriegt.«
»Neeee. Ich meinte, ob du nicht schrecklich findest, was du da machst.«
Sie stutzte.
»Da kommt ein Mädchen zu dir, das sich umbringen möchte, weil seine Schule ihm den Eindruck vermittelt, doof und unfähig zu sein, und anstelle daraus den einzigen empathischen Schluss zu ziehen, dass das ein verdammt beschissenes System sein muss, wenn es Kindern eine solche Erniedrigung zumutet, überzeugst du das arme Mädchen davon, auf eine leichtere Schule zu wechseln. Damit sagst du ihm doch ins Gesicht, dass es wirklich doof und unfähig ist! Du machst dich zum Handlanger von Strukturen, wegen der sie sich hat umbringen wollen – und du fühlst dich auch noch gut dabei! Findest du das nicht menschenverachtend? Was zum Teufel machst du an anderen Tagen? Vergewaltigungsopfern erklären, sie wären doch selbst schuld, wenn sie sich wie Schlampen anziehen?«
Sicherlich kannte Hanna unzählige Begriffe, die sie mir gerne um die Ohren gehauen hätte. ›Antisoziale Persönlichkeitsstörung‹ beispielsweise, weil ich es wagte, ihre pathologische Normalität in Frage zu stellen. Schule schwänzen galt ebenfalls als antisoziales Verhalten. Wenn aber einer begriff, so wie Chris das früher getan hatte, dass Schule und Gefängnis zahlreiche Parallelen aufwiesen und es nicht ums Lernen, sondern um die Einteilung in Hierarchiestufen ging, um Unterordnung und die Anpassung an ein bürgerliches Leben mit Ausbildung, Arbeit und Rente, dass daher nie das Wohl der Kinder im Vordergrund stand, sondern die ökonomische Verwertbarkeit menschlicher Ressourcen, dann war es in meinen Augen sehr gesund, sowohl geistig wie auch sozial, sich dieser Scheiße zu widersetzen, weil diese Strukturen das eigentliche Antisoziale darstellten. Leider hatte ich das erst am Ende meiner Schulzeit geschnallt.
Anstatt mit Fachterminologie um sich zu schmeißen, verpasste Hanna mir eine Ohrfeige und knallte ihr Sektglas auf den Boden, bevor sie in ihren Stiletto-Stiefeln davonklackerte. Von hinten gefiel sie mir.
Ich brauche schleunigst einen Drink, dachte ich, nachdem sie außer Hörweite gestöckelt war. Unschuld vortäuschend schlurfte ich zur Bar, an der sich bereits Andreas häuslich eingerichtet hatte.
»Was für ein langweiliger Haufen.« Er prostete mir zu. »Ich find’s toll, dass du hier ein wenig Stimmung reinbringst.«
»Einer muss es ja tun.«
Früher war Andreas ein typisches Kellerkind gewesen, Leistungskurse Mathe und Informatik, mit dem selbst noch auf dieser Party keiner so richtig zu tun haben wollte. Da er den ersten vernünftigen Satz des Abends von sich gegeben hatte, hielt ich ihn umgehend für einen netten Menschen. Vorurteile waren dazu da, sie zu überwinden. Wir tauschten unsere Eindrücke über die anwesende Langweilertruppe aus, deren Dünkelhaftigkeit und ihre Statussymbole. Mit spürbarem Ekel trug ich meinen vorläufigen Expeditionsbericht vor; legte Andreas die strikte Lebensplanung dar, die jeder der Mustermenschen hier offenbart hatte, mit dem ich ins Gespräch gekommen war. Andreas hatte dafür bloß einen einzigen Satz übrig: ›Je planmäßiger das eigene Leben funktioniert, desto weniger ist es ein eigenes Leben‹.
Mir fiel Diogenes ein, dieser griechische Philosoph, der angeblich in einer Tonne gehaust haben soll. Andreas verkörperte die modernisierte Version dieser Geschichte und hatte die Tonne gegen seinen Keller ausgetauscht. Vielleicht wäre die Welt eine bessere gewesen, hätte sie auf ihre Kellerkinder gehört.
Eine angesehene Karriere war Andreas im Gegensatz zu den vielen Leistungsmonstern auf dieser Party nicht sonderlich wichtig. Tagsüber arbeitete er als Softwareentwickler für einen großen deutschen Versicherungskonzern, betrieb in seiner Freizeit aber eine gesellschafts- und kapitalismuskritische Website, wie er mir euphorisch mitteilte. Er fand das alles scheiße, wie es lief, die ganze Gesellschaftsordnung war ihm ein Dorn im Auge.
»Ständig wird man verarscht«, seufzte er und rannte offene Türen bei mir ein. »Seit zehn Jahren sind wir im Krieg, nur keiner spricht das Wort offen aus. Oder die Finanzkrise! Unsere lachhafte Elite spielt sich als großer Europa-Retter auf. Dabei ist es doch Deutschland gewesen, das durch Lohndumping zum ach so tollen Exportweltmeister geworden ist und dadurch die Schulden der anderen Länder überhaupt erst nach oben getrieben hat. Nun wundert man sich hier, dass man im Ausland nicht als Held gefeiert wird. Als ob dich auf der Straße einer zusammenschlägt, dein ganzes Erspartes von dir fordert, damit er dir den Rettungswagen ruft, und für diese Wohltat dann auch noch gelobt werden möchte.«
Andreas schüttelte den Kopf und leerte sein Bier.
»Man soll härter arbeiten, heißt es, länger, besser, billiger«, fuhr er fort. »Man soll wählen gehen, obwohl sich ja doch nichts ändert. Man soll mit weniger Lohn, mit weniger Rente, mit weniger Urlaub zufrieden sein. Die Löhne seien gestiegen, schreiben die Zeitungen, dabei sind sie während der letzten Jahre um einiges gesunken, wenn man mal nachrechnet. Man soll schuften bis zum Umfallen und sich ein Leben lang weiterbilden. Man soll die Fresse halten, weil man sonst entlassen oder niedergeknüppelt wird. Man soll schön danke sagen für jede Zumutung, die einem auferlegt wird. Und die Schafe glauben den ganzen Mist.«
»Weil man sowieso nichts ändern kann«, vervollständigte ich ironisch.
»Genau! Genau das sagen sie dann: Da kann man nichts tun. Das ist halt so. Das ist schon immer so gewesen. Das wird auch immer so sein.«
»Weil sie zu blöd sind, Marktgesetze von Naturgesetzen zu unterscheiden.«
»Eben. Und weil sie immer noch glauben, die Ordnung käme von Gott. Heute sagen viele vielleicht nicht mehr ›Gott‹ dazu, aber was sie glauben, läuft auf das gleiche hinaus: Das ist halt so. Wie kleine Kinder. Obwohl, stimmt gar nicht – kleine Kinder stellen wesentlich mehr kritische Fragen als die meisten Erwachsenen. Wenn man ehrlich ist, muss man doch zugeben, die Aufklärung hat versagt. ›Habe Mut, dich deines eigenen Geldbeutels zu bedienen‹, das ist alles, was davon übrig geblieben ist.«
Ich fühlte mich wie ein Schatzsucher. Unter all dem charakterlosen Geröll, das in Abendgarderobe durch die Räumlichkeiten kullerte, hatte ich einen Edelstein entdeckt.
»Heute Mittag hab ich einen Artikel über kambodschanische Arbeitsverhältnisse geschrieben. Unter der Woche lässt mir der Job leider kaum Zeit.«
»Warum Kambodscha?« Ich konnte dem Themensprung nicht folgen.
»Weil unsere tollen Klamottenläden dort so gerne produzieren lassen. Kaufst du da manchmal ein? Bei diesen Ketten? Solltest du nicht. Die Menschen in den Fabriken dort brechen scharenweise zusammen und bekommen nur einen Hungerlohn dafür. Wer sich beschwert, wird rausgeschmissen.«
Davon hatte ich gelesen.
»Und das ist noch harmlos im Vergleich zur Elektronikbranche«, setzte er nach. »Hast du das mitbekommen von den Werken in China? Wo sich zahlreiche Mitarbeiter aus Protest vom Dach gestürzt haben? Jetzt hat die Firma dort überall Fangnetze installiert, um solche aufsehenerregenden Selbstmordversuche zu unterbinden. Das sind doch Problemlösungsstrategien nach der Logik von Psychopathen! Nur weil hier jeder unbedingt ein Smartphone in der Hand halten möchte…« Er schlug mit der Hand auf den Tresen. »Wenn ich solche Zustände sehe, werd ich echt wütend!«
»Ich auch.« Wir schwiegen uns für einige Sekunden an. »Aber weißt du, was mich am wütendsten macht? Dass ich mit meiner Wut fast alleine bin. Bis vor einiger Zeit hat mich das echt oft an den Rand der Verzweiflung gebracht. Alle sagen sie zu mir: Reg dich nicht auf, so ist es halt.«
»Wie die Schafe.«
»Wie die Schafe«, pflichtete ich ihm bei.
»Mensch, das ist doch alles zum Kotzen«, fasste er das Weltgeschehen aussagekräftig zusammen.
Er hatte zwar Recht mit seinen Ausführungen und seine Ablehnung der Zustände war moralisch durchaus lobenswert, doch allein mit moralischer Entrüstung war kein Blumentopf zu gewinnen.
»Und dennoch machst du mit«, stellte ich beiläufig fest.
»Wieso?«
»Na, dein Job…«
»Na ja, was soll man tun. Man muss ja irgendwie.«
»Nein. Wenn man konsequent ist, muss man das nicht.«
»Du hast gut reden. Du bist ja arbeitslos.«
Eines musste man dieser Spießerbande lassen, der Informationsfluss funktionierte perfekt. Mein Stigma des arbeitslosen Untermenschentums hatte sich bereits herumgesprochen. Ich konnte das ›nur‹, das nicht gesagt wurde, förmlich sehen, als wäre es mit Leuchtbuchstaben in die Luft gesetzt.
»Ganz recht«, entgegnete ich, »und wenn du Eier in der Hose hättest, dann würdest du deinen beschissenen Job genauso an den Nagel hängen.«
Aus mir sprach Wut, zu einem Teil aber auch persönliche Enttäuschung, weil er hinter seiner Fassade genauso stromlinienförmig war wie alle anderen. Wäre er Diogenes gewesen, ich hätte mit aller Wucht gegen seine alberne Tonne getreten.
»Wenn du alles so scheiße findest, warum machst du dann noch mit? Wenn einer dich beim Pokern verarscht, dann schmeißt du doch die Karten hin und gehst, oder nicht? Stattdessen machst du einen auf kritisch und reflektiert, bist aber auch nur eines von diesen Schafen, das sich nach Strich und Faden verarschen lässt. Du bist der größte von allen Blendern hier. Du bist ein Feigling und ein Heuchler, weil Kritik ohne persönliche Konsequenz nichts anderes als Heuchelei ist.«
»Ach ja? Und du bist ein Arschloch«, konterte er und verließ kurzerhand die Party.
Nach diesem anregenden Dialog fand ich niemanden mehr, der mit mir reden wollte, was mich nicht besonders traurig stimmte, weil ich mich nun mit Leib und Seele dem Buffet widmen konnte. Totes Tier war ein angenehmerer Gesprächspartner, hatte es vor seinem Tod doch immerhin ein Rückgrat besessen, was man vom Rest der Anwesenden nur sehr eingeschränkt behaupten konnte.
Das war das beste Klassentreffen meines Lebens und vermutlich auch das letzte. Sie würden sich hüten, mich noch einmal einzuladen. Alleine dafür hatte es sich schon gelohnt.

Noch die inhumansten Arbeits- und Lebensbedingungen können als sinnhaft und attraktiv erlebt werden durch das stillschweigende Einverständnis von Menschen, die durch inhumane Existenzbedingungen darauf vorbereitet worden sind, sie zu akzeptieren.
(Margarete Steinrücke, in: Pierre Bourdieu – Der Tote packt den Lebenden)

So lange ich zurückdenken kann, war ich noch niemals richtig glücklich. Es liegt nicht an persönlichen Eitelkeiten, dass es so ist, wie es ist. Meine Kindheit war erfüllt und ich übte bis vor kurzem einen angesehenen Beruf aus, der es mir ermöglichte, ein gutes Leben zu führen, zumindest materiell. Ich bin emotional gut ausgeglichen, wie man es wohl ausdrücken würde, und kann mich in Liebesdingen nicht allzu viel beschweren. Dennoch hat es da in meinem Leben schon immer andere Einflüsse gegeben, Interferenzen sozusagen, Störfaktoren, die es mir unmöglich machten, mit diesem Leben wirklich glücklich zu sein. Es kommt mir vor, als blickte ich durch trübes Glas, das mir den ganzen schönen Ausblick ruiniert. Ich habe mich hin und wieder glücklich gewähnt, doch ich war es nicht. Die Welt, die mich umgibt, drückt wie ein Stein im Schuh, der jeden noch so kleinen Schritt mit Schmerzen unterlegt. Es ist der Zustand dieser Welt, der störend auf mein Leben einwirkt, der Stein im Schuh, das trübe Glas, das dieses Leben unerträglich werden lässt. Jede persönliche Freude wird zur Farce, wenn sie von Unglück umgeben ist. Wie führt man ein gutes Leben in einer schlechten Welt?

Ich habe schon vor langer Zeit damit aufgehört, anderen Menschen von meinem Unbehagen zu erzählen, denn ihre Antworten sind immer gleich: »Das Leben ist kein Wunschkonzert«, sagen sie, oder: »Es ist nun mal so«, sie meißeln Phrasen in die Welt wie: »Anderen geht es viel schlechter« und »Nimm’s nicht so schwer«, sie antworten nicht ernsthaft, sie geben nur wieder. Als würde das irgendetwas ändern, stellen sie Sprüche in den Raum und wollen damit Trost spenden oder abspeisen, das eine kommt dem anderen gleich, denn es sind sinnlose, inhaltsleere Sätze. »Hau doch ab, wenn es dir hier nicht gefällt«, legen sie mir unmissverständlich nahe, ein ums andere Mal, doch wo ist es besser, frage ich mich dann.

Sie meinen, ich müsse nur endlich erwachsen werden und mich einfach bloß zusammenreißen, müsse begreifen, dass all das normal ist, worüber ich beunruhigt bin. Ihnen fällt überhaupt nicht auf, wie oft sie »man muss« und wie selten sie »ich will« verwenden. Sie verlangen Disziplin, doch ich möchte niemandes Sklave sein, nicht einmal mein eigener, oder vielmehr schon gar nicht. Sie werfen mir unaufhörlich vor, ich käme nicht zurecht mit dieser Welt. Sie sagen, ich sei depressiv und krank, als wäre es ein Ausdruck der geistigen Gesundheit, an kranke Verhältnisse gut angepasst zu sein. Sie möchten mich behandeln, mich normalisieren, mich wieder eingliedern in diese Welt, mit der ich meinen Frieden schließen soll, doch wenn sie Frieden sagen, meinen sie bloß Kapitulation. Sie wollen, dass ich verleugne, wie ich mich wirklich fühle, sie möchten mein Unbehagen in einen Kasten sperren und diesen dann irgendwo versenken, auf dass er für immer verschwunden bleibt. Sie drängen mich dazu, mein inneres Leben aufzugeben, um am äußeren zu partizipieren. Ich soll es jenen recht machen, die mich als Menschen negieren. Aber bin ich wirklich krank? Bin ich krank, weil ich aus dem herausfalle, was sie allen Ernstes als normal bezeichnen?

Es gilt als Ausdruck von Normalität, sich bereitwillig in eine Gesellschaft einzufügen, die systematisch ihre Grundlagen zerstört und die sich um das Wohlergehen ihrer Insassen nicht sonderlich schert. Es ist normal, dass wir mehr Geld und Kreativität in Waffen oder gegenseitige Abschreckung investieren als in Bildung und Kultur, weil wir uns so sehr bemühen, das Gegeneinander zu optimieren, während das Füreinander brachliegt. Es ist normal, dass diejenigen, die Kriege vom Zaun brechen und ihre Mitmenschen wie wertlosen Dreck behandeln, als Mächtige in den Parlamenten und Aufsichtsräten sitzen, in unseren Regierungen und wichtigen Entscheidungsgremien. Wir stoßen uns nicht daran, dass Wissen aus wirtschaftlichen Gründen unter Verschluss gehalten wird, anstatt es zum Wohle der Allgemeinheit offen zur Verfügung zu stellen, und wir nehmen es anstandslos hin, uns Gesetzen beugen zu müssen, von denen nur wenige profitieren, weil wir es anders niemals kennengelernt haben. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, auch nur ansatzweise von Verschwendung zu reden, wenn so viele der klügsten Köpfe ihre kostbare Zeit damit verbringen, nutzlose Dinge zu verkaufen, die weder benötigt noch begehrt werden, in Berufen, die jeden Tag aufs Neue dazu beitragen, die Welt ein kleines bisschen destruktiver zu gestalten. Es ist uns egal, dass die einen sterben, während die anderen an diesem Tod verdienen, so wie wir uns auch gleichmütig daran gewöhnt haben, Nahrung zu uns zu nehmen, die uns vergiftet und langsam umbringt, solange das für den Hersteller bedeutet, ein wenig günstiger produzieren zu können.

Unser gesamtes Leben, unsere Pläne und noch die sehnsuchtsvollsten Träume unterwerfen wir einem ständigen Zwang, dem sich alles bedingungslos unterzuordnen hat, doch es stellt für uns keinerlei Widerspruch dar, wenn wir diese totale Disziplinierung dann als höchste Form der Unabhängigkeit begreifen, als Ausdruck eines selbstbestimmten Daseins. Wir nehmen sinnlose, seelenzermürbende Jobs an, die wir hassen und in denen wir uns aufreiben, weil es für uns nichts Ungewöhnliches ist, dass nur diejenigen überleben dürfen, die auch bereit sind, dafür zu arbeiten, während Tausende täglich verhungern, die einfach nur zu arm sind, um sich ihre Mahlzeiten überhaupt leisten zu können. Wir definieren uns so ehrgeizig über die willkürlich festgelegten Zahlen, die am Ende des Monats auf unserem Konto vorzufinden sind, dass es für uns nicht wirklich besorgniserregend ist, wenn eine Handvoll Menschen mehr besitzen können als der ganze große Rest der Welt; eine Welt, in der ein Leben nur so viel wert ist, wie es erwirtschaften kann. Zufriedenheit, Freude und Glück werden abhängig gemacht von objektivistischen Kategorien: mehr haben, mehr können, mehr sein als andere, in einer quantifizierbaren Art und Weise, sich dadurch schließlich besser, größer, mächtiger zu fühlen als sie wird zum Maßstab der eigenen Persönlichkeit, zum Sinngeber in einer globalen Konkurrenz.

Jeden Tag nehmen wir billigend in Kauf, dass für überflüssigen Luxus unwiderruflicher Schaden an Umwelt und Anderen entsteht, ohne auch nur einen ernsthaften Gedanken daran zu verschwenden, welche ökologischen und sozialen Folgen unser Handeln hat. Es ist alltägliche Routine geworden, dass Menschen sterben oder wie schwerste Verbrecher behandelt werden, bloß weil sie den verzweifelten Versuch wagen, von einem Stückchen Land zu einem anderem zu gelangen. Wir bauen Zäune um uns herum, damit uns die anderen nicht zu nahe kommen, wir grenzen uns ab, schließen uns ein und haben Angst voreinander, aber wir sehen darin nichts Außergewöhnliches, es ist uns kein Grund zur Sorge. Die Normalität dieser Zustände, die für mehr und mehr Menschen nur noch mit Psychopharmaka zu verkraften sind, beunruhigt uns nicht. Diese ganze Katastrophe, die uns jeden Tag umgibt, sie betrifft uns zwar, aber sie berührt uns nicht. Wir gehen teilnahmslos unseren Tagesgeschäften nach, denn das alles enthält für uns keine Botschaft, außer jener der Selbstverständlichkeit. Wir wissen genau darüber Bescheid und obwohl wir etwas unternehmen könnten, ändert sich nichts.

Es gibt noch so vieles, mit dem ich mich genauso wenig abfinden kann und auch nicht abfinden möchte, zu vieles, um es aufzuzählen, weil es jeden Versuch einer Aufzählung sprengen würde; diese ganzen Normalitäten einer fremdartigen Welt, die für mich nicht normal, noch weniger lebenswert ist.

Seit jeher wird an mich die Erwartung herangetragen, ein Teil dessen zu werden, was mir zuwider ist, mich einzugliedern in eine Welt, die alle Eingegliederten verschlingt. Viel zu häufig litt ich unter Albträumen und bin schweißgebadet aufgewacht, noch viel häufiger habe ich erst gar nicht einschlafen können, weil ich mir ausmalte, wie es mit meinem Leben weitergehen würde in dieser Welt: Für den Rest meiner Tage müsste ich so gut wie jeden Morgen aufstehen, um mit vorgetäuschter Freiwilligkeit der gleichen, unbedeutenden Beschäftigung nachzugehen, was letzten Endes doch bloß heißt, das am Leben zu erhalten, was alles Lebendige unter sich erdrückt. Mit etwas Glück hätte ich am Abend ein paar Stunden dieser so genannten Freizeit, die es mir erlauben würden, mich von meinem Arbeitstag zu erholen, so wie man den Soldaten ins Lazarett bringt, nicht aus Nächstenliebe, sondern damit er wieder kämpfen kann, also würde ich ein wenig einkaufen, fernsehen, mich betrinken oder was man eben macht in jener Zeit, die noch zum Leben übriggeblieben ist, doch in der Regel bloß verfliegt, dann ginge ich schlafen und alles begänne am nächsten Tag von vorn. War es das? Macht das ein Leben aus?

Wenn ich ehrlich mit mir sein möchte, kann und darf ich das nicht Leben nennen, obwohl ich mit diesem trostlosen Schicksal noch zu den wenigen Privilegierten auf diesem Planeten gehören würde, zu jenen, denen es gut zu gehen hat, weil es dem Großteil noch viel schlechter geht. Ich reagierte auf diese Bedrohung mit Angstzuständen und Nervenzusammenbrüchen, ich war regelmäßig panisch und ich werde es noch heute, wenn ich mir vorstelle, dass ich auf diese Art in dieser Welt den Rest meines Daseins verbringen müsste, oder wenn schon nicht den Rest, dann wenigstens den größten Teil. Mein Leben war von Anfang an eingeteilt, festgelegt, geplant; es war nicht vorgesehen, dass man mich jemals dazu angehört hätte, was ich denn von alledem halte, das man mir zumuten würde. Niemand hat je gefragt, ob ich damit glücklich oder auch nur einverstanden bin, weil es niemanden interessiert.

All das ist normal. Das sind die Normen, an denen ich gemessen werden soll. »So ist eben das Leben«, wird mir immer wieder weisgemacht, und als ›das Leben‹ bezeichnen sie eine gewaltsam aufrechterhaltene Ordnung der Welt. Ich wollte so nicht leben, will so nicht leben, nicht in dieser Welt, das ist nicht mein Entwurf für ein gelungenes Dasein. Ich sehe nicht die geringste Motivation für den Versuch, mich als produktives Mitglied in diese Gesellschaft einzugliedern, und ich habe erstrecht kein Interesse daran, mich eingliedern zu lassen, weil ich mit allem, was sie ausmacht, grundlegend uneinverstanden bin. Jeden Tag denke ich, ich muss hier raus, muss mich aus diesem Gefängnis irgendwie befreien. Je mehr ich diese Welt begreife, desto weniger möchte ich darin leben, je mehr ich ihre Abläufe verstehe, desto weniger möchte ich daran beteiligt sein. Wie kann man sich den Zustand der Welt betrachten und dennoch glücklich sein?

Der Wahnsinn liegt in der Normalität, die für all diese Zustände gleichgültig in Anspruch genommen wird. Wir alle tragen als Komplizen dazu bei, mit jedem Tag, an dem wir es hinnehmen, das Destruktive als normal zu begreifen, denn die Ordnung der Welt hält unsere Köpfe besetzt. Wir sagen Freiheit und wir meinen damit, uns zwischen vorgegebenen Alternativen entscheiden zu dürfen. Wir sagen Sicherheit und wir haben dabei im Sinn, einen langfristigen Arbeitsplatz zu finden. Wir sagen Glück und wir stellen uns darunter vor, im Lotto zu gewinnen oder in einer Prüfung erfolgreich zu sein. Unsere Sprache und unsere Sehnsüchte haben sich den Zwängen angepasst, weil sie uns ständig als Normalitäten vorgehalten werden, von Institutionen, Politikern, Therapeuten, Eltern und letzten Endes allen, die immer noch glauben, diese Normalitäten seien normal. Ich bin nicht krank. Krank ist diese Welt und was mich daran deprimiert, nein, melancholisch werden lässt, das ist die Tatsache, dass dennoch ich es bin, der allgemein für krank gehalten wird, weil ich mit dieser ach so wunderbaren Welt nicht klarkomme, mit ihr auch gar nicht klarkommen möchte. Die objektiven Zustände werden nicht besser, bloß weil ich lerne, damit umzugehen; es ist ja gerade dieses Klarkommen, das dem Bestehenden zum Fortbestand verhilft. Wer also hat nun Recht? Wer von uns ist krank? Liegt es an mir, wenn ich mich unbehaglich fühle?

Tag um Tag musste ich es mir anhören, immer und immer wieder: »Hau doch ab« und »Wander doch aus«, »Werd endlich erwachsen« und »Gewöhn dich dran«, »Reiß dich zusammen« oder »Bring dich doch um«. Früher oder später fand noch jede Diskussion, all die mit Worten geführten Freiheitskämpfe, ihr Ende an diesem einen Punkt, mit einem dieser Sätze. Jedes Mal, wenn ich Einspruch erhob gegen die Normalitäten dieser Welt, wenn ich Beschwerde führte gegen jene Zustände, mit denen ich nicht leben will, wenn ich Vorgänge kritisierte oder wenn ich Nachrichten las und zum Ausdruck brachte, dass ich mit dem, was geschieht, nicht einverstanden bin, waren die Antworten immer gleich, die Phrasen wie einstudiert. Wie viel Zwang wirkt auf einen Menschen, um solche Sätze zu formulieren?

Während es früher schnell hieß: »Dann geh doch nach drüben«, heißt es heute: »Dann wander doch aus«, oder noch schlimmer, aber ehrlicher: »Dann bring dich doch um«. Ich jedoch hänge an meinem Leben, ich genieße es, so gut es mir die Umstände erlauben. Ich suche mir Freiräume, Schlupflöcher und Hintertüren, die mir ein wenig Luft zum Atmen bieten. Es ist nicht mein Leben, das mir Sorgen bereitet, sondern die Welt um mich herum, das Korsett, in das mein Leben hier gesteckt werden soll. Was mich bedrückt, ist nicht das Dasein, weder meines noch allgemein, sondern vielmehr der Rahmen, in dem es sich wiederfinden muss, jener Zustand der Welt, in den es sich anstandslos einzubetten hat und den ich nicht verschuldet habe, es sind die so genannten Freiheiten, die mir wie allen anderen aufdringlich angeboten werden, die aber keine ernstzunehmenden Freiheiten sind.

Was sagt das über einen Zustand aus, über diesen Zustand, wenn dir diejenigen, die ihn so vehement verteidigen, als Alternative nichts weiter anzubieten haben als den Tod? Geh unter oder füge dich, die Wahl ist Kollaps oder Kollaboration, also betrachte ich diese Menschen mit einer wachsenden Distanz, als wären sie Gehilfen einer feindseligen Besatzungsmacht. Selbst noch, wenn ich rationale Gründe präsentiere, warum ich mich in diese Welt nicht einfügen möchte, warum ich mich an ihren Abläufen nicht beteiligen will, werde ich des unvernünftigen Verhaltens beschuldigt, als hätte man den Maßstab einfach umgekehrt. »Reiß dich zusammen«, lautet das dauernde Diktat, und sie begreifen den Befehl als Tugend, wie sie das wohl auch dem Schnorrer in der Fußgängerzone antworten würden, der sie bloß nach etwas Kleingeld fragt, doch wenn der sich letztlich für Verweigerung und gegen Kapitulation entscheidet, so ist mir dessen Konsequenz allemal sympathischer als der erhobene Zeigefinger derjenigen, die mir erzählen wollen, das Problem sei eine Frage meiner eigenen Befindlichkeit. Ich fühle mich einsam, wenn ich unter solchen Menschen bin. Kraft Geburt erhielt ich das Recht, ich selbst zu sein, doch seitdem wird es mir auf diese Art verwehrt.

Mit jedem zusätzlichen Wort ließen mich diese und ähnliche Antworten ein kleines bisschen unglücklicher werden, bis ich mich schließlich auf die Suche nach etwas Anderem begab, nach einem schöneren und glücklicheren Leben in einer schöneren und glücklicheren Welt. Trotz all des Hohns und der ständigen Entmutigungen habe ich etwas Besseres gefunden als den Tod, etwas Hoffnungsvolleres als Kapitulation. Etwas, das sich all jene, die mir derartige Antworten geben oder so genannte Ratschläge erteilen, niemals hätten träumen lassen. Etwas, das sogar ich selbst vor wenigen Monaten noch für nahezu unmöglich gehalten hätte. Ohne viel Gepäck verschwand ich eines ganz normalen Tages aus dem, was ich bis dahin mein Leben genannt hatte, ich ging fort, ohne große Reisepläne zu schmieden, und ließ ein für alle Mal zurück, was mich schon viel zu lange unglücklich gemacht hatte. Ich fand einen Ort, an dem die Menschen anders sind, Menschen, denen es ähnlich geht wie mir. Ich schloss mich ihnen an, hier fand ich meine Heimat.

Wo ich nun lebe, gibt es keine Armut, weil jeder einzelne von uns im Reichtum schwimmt, denn wir haben uns gegenseitig und alles Notwendige, das man zum Leben wirklich braucht. Es gibt keine zweihundert Fernsehprogramme, keine teuren Sportwagen und keine goldenen Wasserhähne, dafür aber Solidarität, Vertrauen und Freiheit; keinen materiellen Überfluss, jedoch auch keinen Verzicht. Wir haben hier kein Geld, kein Gehalt, weil wir es nicht brauchen, und wir beugen uns keinen Herrschern, weil wir nicht länger Beherrschte sein möchten. Wir kennen keine Arbeitslosigkeit, keinen Terrorismus und keine Paranoia. Niemand wird zu seinem Tun gezwungen, keiner muss sich einem anderen irgendwie unterordnen, es gibt weder Chefs noch Hierarchien, es werden keine Befehle gegeben und kein Gehorsam verlangt. Wir sind Gleiche unter Gleichen. Es existiert kein Militär, keine Polizei, niemand baut Mauern und Zäune um sich herum. Wir gehen aufeinander zu, anstatt uns gegenseitig die Schädel einzuschlagen, treffen Entscheidungen, indem wir alle gleichberechtigt darin einbeziehen, wir haben Mitgefühl und zeigen den gebührenden Respekt, sowohl im Umgang miteinander als auch gegenüber dem, was uns umgibt. Wir nehmen uns so viel wir brauchen, aber wir zerstören nicht, wir beuten nicht aus, weder uns selbst noch das, wovon wir leben. Das Unwohlsein über die Normalitäten jener Welt, die wir allesamt zurückließen, die Diskrepanz zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit, diese Spannung zwischen dem, was ist, und den eigenen Gefühlen, wird hier nicht als Krankheit empfunden. Hier bin ich glücklich. Hier. Endlich.

„Wir stehen vor einem Rätsel“, erklärte der junge Arzt im Kreis seiner Kollegen. „Kein Wort, keine einzige Reaktion. Seit Monaten ist er in diesem Zustand, obwohl wir keine neurologische Ursache feststellen können. Im Gegenteil. Die Aktivität in seinem Gehirn ist bemerkenswert.“

Was Psychiatrie und Psychologie als Geisteskrankheit vorführen, ist an die Vorstellung gebunden, daß es sich dabei um zunehmenden Realitätsverlust handelt. Mehr oder weniger Realitätsbezug – danach wird alles menschliche Verhalten klassifiziert. »Realität« wird dabei ausschließlich als äußere Realität verstanden.
In der Tat ist der Realitätsbezug – sein Fehlen oder der Grad der Ergebenheit an die äußere Realität – ein Raster, in das man Menschen einordnen kann und das uns ermöglicht, eine Klassifizierung vorzunehmen vom psychotischen Verhalten über die Neurose zur Normalität. Doch ein solches Schema verdeckt, daß es auch noch eine andere Art von Krankheit gibt, die viel gefährlicher ist als die, die vom Verlust des Realitätsbezugs gekennzeichnet ist.
Diese andere Art von Krankheit zu sehen erfordert einen Wechsel der Blickrichtung und eine Abkehr von den herkömmlichen Kategorien. Dann wird man sehen, daß sich hinter der Orientierung an der »Realität«, die gemeinhin das Kriterium für Gesundheit ist, eine tiefere und weniger augenfällige Pathologie verbirgt: die des »normalen« Verhaltens, die Pathologie der Anpassung als Folge der Preisgabe des Selbst.
(Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität)

Sinnkrise. Ich komm in die Beratung, sagt stockend ein Klient, weil ich so komisch traurig bin die ganze Zeit, weil alles mich so sinnlos dünkt. – (Berichtigung: Dies sagt nicht ein Klient, sehr viele sagen es; ich wähle stellvertretend einen und nenn ihn Zemp und referiere lückenhaft.)
Wuchs gedrungen. Fleischige Gestalt. Gliedmaßen kurz. Gang eher schleppend. Gute, blaue Augen. Trevira-Hosen, bügelfrei, handgestrickte Weste. Zemp ist ein Volksschullehrer, Mitte vierzig, Familie, im Militär Major.
Weiß Ihre Frau um Ihren Zustand?
Neinnein.
Sie sagen zweimal nein, warum?
Ich will es ihr nicht sagen, es würde sie belasten.
Spürt sie’s nicht ohnehin?
Ich nehme mich zusammen.
Sie haben also das Gefühl, es würde Ihre Frau belasten, wenn Sie ihr anvertrauten, wie’s Ihnen wirklich geht?
Ja, schon. Ich … ich bin sonst eben nicht so schwach. Ich muß dagegen kämpfen, und Sie als Fachmann, dachte ich, Sie kennen doch die Waffen.
Sie hassen Ihre düstere Gemütsverfassung?
Sehr.
Und das Gefühl, daß alles sinnlos ist, scheint Ihnen ungehörig?
Es ist ein Virus, wie ein Virus. Ein Überfall.
Ich kürze ab: Natürlich besteht die erste Phase der »Behandlung« darin, dem Zemp zu zeigen, daß man auch als Major und Ehemann und Vater ein bißchen schwach sein darf; daß zweitens Probleme seiner Art rein waffentechnisch nicht zu lösen sind; daß drittens ein Symptom so wenig feindlich wie ein Leuchtturm ist, der auf Gefahrenzonen hinweist. – Und in der nächsten Phase, die ich »politisch« im weiten Wortsinn nennen möchte, geht es dann darum, zu erwägen, ob Sinnlosigkeitsgefühle und Betrübnis nicht allenfalls verstanden werden könnten als durchaus angemessene, Intaktheitssehnsucht offenbarende Reaktionsgebärden gegen eine Wirklichkeit, die über weite Strecken so beschaffen ist, daß einer, der sich in ihr nicht traurig fühlt, sein Trauerdefizit betrauern müßte.
(Markus Werner – Froschnacht)

Ein Overkill an Informationen, das Erreichen des eigenen Aufnahmelimits, Überforderung am Arbeitsplatz, das Verzweifeln an gesellschaftlichen Zumutungen, physische Beschwerden – all das spielt keine Rolle, denn man hat sich an den Trott gewöhnt. Man erscheint immer wieder, ob in der Schule oder am Arbeitsplatz, ob auf direkten Befehl oder indirekten Druck – weil man soll. Obwohl man weiß, dass man auch an diesem Abend mit Kopfschmerzen zu Hause ankommen wird; obwohl man weiß, dass man von dem ganzen Kram, der einem im Laufe des Tages abgefordert wird, schon seit langer Zeit genug hat, weil es einfach zu viel, zu nervig, zu belastend ist; obwohl man weiß, man wird noch nicht einmal Gelegenheit haben, um über das nachzudenken, was man mitgenommen, was man erfahren, was man überstanden hat. Überforderung, Erschöpfung, Kollaps, Kapitulation und Scheitern – die Diagnose, sei sie nun von außen herangetragen oder bereits verinnerlicht, läuft in der Regel auf persönliche Defizite hinaus, auf eigene Unzulänglichkeit, weil man mit den Anforderungen nicht klargekommen ist.

Man setzt sich abends auf das heimische Sofa, schaltet den Fernseher ein und sieht einen Werbespot für Kopfschmerztabletten, der exemplarisch das Prinzip der Schuldzuschreibung verdeutlicht: Wer durch die äußeren Umstände Kopfschmerzen bekommt, durch Überforderung, durch Überanstrengung oder Stress, der nimmt eine Kopfschmerztablette und funktioniert danach wieder wie zuvor. Das Problem ist folglich die mangelnde persönliche Funktions- und Belastungsfähigkeit, nicht die äußeren Umstände, die überhaupt erst die Kopfschmerzen verursacht haben. Man hört die Botschaft ganz deutlich, sie schwingt im Hintergrund stets mit wie ein Flüstern, zu leise, um sie wirklich zu fassen, aber laut genug, um sie die ganze Zeit zu fühlen: Du bist schuld.

Egal, worum es geht – Arbeitsplatzverlust, psychische wie physische Beschwerden, schlechte Schulnoten oder erdrückende Arbeitsanforderungen –, die Antwort ist immer gleich: Du bist schuld!

Es ist individualisierte Schuld, denn es liegt immer an den jeweiligen Menschen selbst, wenn sie beim schulischen Lernen einfach nicht mitkommen, keinen Job finden oder in irgendeiner Weise ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen. Man ist selbst schuld, wenn man mit dieser wunderbaren Welt nicht klarkommt, denn mit der Welt an sich, mit ihren Zuständen, Zwängen und Anforderungen, ist alles in Ordnung, so die suggestive Diagnose, deren Einfachheit verlockend ist; sie zerstört jeglichen Widerstand und jegliche Kritik, damit man sich den Lebensumständen einfach ergibt, wie immer sie auch aussehen mögen, denn ein Kritiker ist bloß ein Niemand, der den Umständen nicht gewachsen ist, ein Schwächling, ein Versager.

Wer für einen Job nicht umziehen möchte, weil das die Aufgabe von Freundeskreis, Umfeld und Milieu bedeuten würde, wer nicht bereit ist, minimale Löhne anzunehmen, von denen er nicht leben kann, der gilt als Verursacher seines eigenen Elends, der trägt die Schuld. Wer zweihundert Kilogramm auf den Rücken gebunden bekommt und unter dieser Last zusammenbricht, der hat sich einfach nicht genug angestrengt, der ist nicht kooperativ, der ist faul oder ein Taugenichts, aber in jedem Fall ist es seine, ganz allein seine individuelle Schuld. Dass die Umstände an sich besorgniserregend sind, dass die Last erdrückend ist, dass es nicht am Individuum liegt, wenn es den Anforderungen nicht genügen kann oder sich ihnen nicht beugen will, wird gar nicht in Betracht gezogen.

Wer die Zustände für unzumutbar hält und so tapfer ist, diese Meinung auszudrücken, wer im Extremfall an diesen Zuständen zerbricht, dessen Verhalten wird psychologisiert, es liegt also an Kindheit, am Verhältnis zu den Eltern, an Problemen mit der Liebe oder an anderen hineinprojizierten Motiven, oder es wird pathologisiert, derjenige ist also depressiv und krank oder suizidal, womit das Unbehagen über die Zustände der Welt gleichgesetzt wird mit einem generellen Scheitern am Leben, denn wer die Welt in ihrer bestehenden Ordnung ablehnt, der verzweifle am Leben an sich.

Das normale Verhalten, das eingefordert wird bis zur Selbsterschöpfung, ist ein normatives Verhalten, denn wer mit diesem normalen Verhalten nichts anfangen kann, der muss normalisiert werden, also sein abnormales Verhalten aufgeben, seinen Widerstand gegen die Zustände, die ihn erdrücken, einstellen, um die äußere Normalität anzuerkennen, die auf ihn wirkt und überhaupt erst in diese Lage gebracht hat.

Richard Sennett hat den flexiblen Menschen, der sich lässig bis zum Umfallen sämtliche Anforderungen einer sozial und technisch hochverschalteten Lebenswelt aufbuckelt, als Mythos des nomadischen Turbo-Kapitalismus diskreditiert. Der flexible Mensch […] ist jener Robot, der seine eigene Überforderung noch als Selbstverwirklichung verkauft, während die Sicherungen durchbrennen.
(Goedart Palm bei Telepolis)

So schleift man sich jeden Tag zurück, macht, was verlangt wird, und behandelt die Symptome – beispielsweise mithilfe von Kopfschmerztabletten. Man macht sich kaputt, nimmt alles auf sich, ist masochistisch, aber es ist okay, denn man will kein Versager sein. Man bekommt Hilfe, die man freudig entgegennimmt, wird gestützt und aufgebaut, um bloß nicht umzufallen. Man glaubt, was im Hintergrund leise rauscht: Du bist schuld!

Aber vielleicht sind es ja gar nicht die so genannten Versager, mit denen etwas nicht stimmt. Wer die Welt, wie sie ist, nicht ausstehen kann, der ist kein Fall für psychologische Betreuung oder die Lebensberatung, sondern kann primär einfach nur die Welt nicht ausstehen, so wie sie ist. Wer die Zustände zum Kotzen findet, wer sich ihnen widersetzt oder sie nicht anerkennt, weil er vielleicht sogar daran zerbricht, der hat ein berechtigtes Anliegen – ein Anliegen, das mit persönlichen Defiziten nichts zu tun hat.

Neigen wir erst einmal zur Trennung von Denken und Fühlen, so besteht die Schwierigkeit darin, daß wir nicht mehr in der Lage sind, diesen Vorgang zu sehen. Aufgrund unserer Entwicklung werden wir bestrebt sein, uns nicht so zu sehen, wie wir sind, sondern so, wie wir meinen, daß wir gesehen werden sollten. Es werden Image und wirkliches Sein sich nicht entsprechen. Und wenn sie sich nicht entsprechen, wird dieser Widerspruch der inneren Realität ständige Quelle von Angst sein. Dieser Widerspruch bedroht uns mit dem Zusammenbruch, und die Angst davor zwingt uns erst recht, auf unsere Gefühle zu »verzichten«.

Für jene, die in das Erscheinungsbild »normalen« Verhaltens hineinschlüpfen, weil sie die Spannung der Widersprüche zwischen der uns auferlegten Realität und ihrer inneren Welt nicht ertragen, für solche Menschen gibt es bald keine wirklichen Gefühle mehr. Statt dessen gehen sie mit Ideen von Gefühlen um, haben keine Erfahrung mehr mit ihnen. Sie präsentieren aufgesetzte Gefühle als ihre eigenen und sagen sich von den wahren Gefühlen los. Je »gesünder« das Image ihrer Identität, das sie angenommen haben, desto erfolgreicher werden sie diese Manipulation vollziehen können. Und es ist Manipulation, da ihr Ziel nicht der Ausdruck ihrer selbst ist, sondern sie den anderen davon überzeugen wollen, daß sie angemessen handeln, denken und fühlen. Dies sind die Menschen, die ich als die wirklich Wahnsinnigen unter uns zeigen möchte.
(Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität)