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4 minu­tes of Occu­py Frankfurt

Wir leben in tur­bu­len­ten Zei­ten. Der Kapi­ta­lis­mus, wie wir ihn heu­te ken­nen, fin­det sein Ende – auf die eine oder auf die ande­re Art. Anstatt die Kri­se aber als Bedro­hung und das Schei­tern des Kapi­ta­lis­mus als Unter­gang der Welt wahr­zu­neh­men, sind viel­mehr die Chan­cen zu erken­nen, die Grund zur Freu­de lie­fern, wenn sie genutzt werden.

Wer mit den immer deut­li­cher auf­tre­ten­den Zer­falls­pro­zes­sen des Kapi­ta­lis­mus das Aus­bre­chen eines glo­ba­len Cha­os her­an­na­hen sieht, arti­ku­liert mit die­sen Bedro­hungs­sze­na­ri­en Ängs­te, die vor allem eines offen­ba­ren: Die öko­no­mi­schen Gesetz­mä­ßig­kei­ten und Anfor­de­run­gen des bestehen­den Wirt­schafts­sys­tems, des­sen Sieg über die Sowjet­uni­on auf­grund des dar­aus resul­tie­ren­den Man­gels an kon­kre­ten Sys­te­mal­ter­na­ti­ven bis­wei­len schon zur Mär vom Ende der Geschich­te ver­lei­tet hat, haben sich bereits so sehr als Denk­sche­ma­ta in den Köp­fen der Men­schen fest­ge­setzt, dass ein Weg­fal­len die­ser Gesetz­mä­ßig­kei­ten als Weg­fall der Ord­nung an sich begrif­fen wird, so als gäbe es kei­ne ande­ren Mög­lich­kei­ten, das mensch­li­che Mit­ein­an­der zu orga­ni­sie­ren, als jene, die zur­zeit bestehen. Die­se schein­bar alter­na­tiv­lo­sen gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren, durch deren Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten wir sozia­li­siert wur­den und die daher in unse­re Habi­tus, in unse­re Hand­lungs- und Denk­struk­tu­ren Ein­zug gefun­den haben, befin­den sich nun in einer Kri­se, die nicht nur öko­no­mi­scher, son­dern auch psy­cho­lo­gi­scher Natur ist, denn die sozia­le Ord­nung hat sich unse­rer bis in die Fan­ta­sie hin­ein bemäch­tigt, wo sie der Vor­stel­lungs­kraft enge Gren­zen setzt, die jenen des wirt­schaft­li­chen Sys­tems ent­spre­chen. Eine grund­le­gen­de Ände­rung die­ses Sys­tems über­steigt selbst in des­sen Kri­se noch die Gren­zen des Vor­stell­ba­ren oder ist nur als Uto­pie denk­bar, als etwas, dem per se kei­ne (zeit­na­he) Rea­li­sie­rungs­chan­ce zuge­spro­chen wird. Die Gedan­ken, habi­tu­ell der­art geprägt und folg­lich ein­ge­schränkt, wir­ken somit als Kom­pli­zen des der­zei­ti­gen Sys­tems fort und so muss die Kri­se der bestehen­den Ord­nung wie eine Kri­se der Ord­nung an sich emp­fun­den wer­den, der Zer­fall des Kapi­ta­lis­mus wie der Zer­fall jeg­li­cher Gesellschaft.

Tat­säch­lich aber ist die der­zei­ti­ge Kri­se eine Chan­ce. Wer trotz aller Fak­ten noch unbe­irrt dar­auf baut, es möge alles so blei­ben, wie es ist, der möch­te eine Gesell­schafts­ord­nung am Leben erhal­ten, in der ein immer klei­ne­rer Teil auf Kos­ten der gro­ßen Mehr­heit lebt. Die sich aus­brei­ten­de Kri­se lie­fert die Mög­lich­keit, die­sen Zustand zu ändern, im Klei­nen wie im Gro­ßen. Genau die­ses Anlie­gen ver­tre­ten die wach­sen­den welt­wei­ten Proteste.

Nicht der Zusam­men­bruch stellt die Bedro­hung dar, son­dern jeder zusätz­li­che Tag, den das bestehen­de Sys­tem künst­lich am Leben erhal­ten wird – zu hor­ren­den öko­no­mi­schen, öko­lo­gi­schen und sozia­len Kos­ten. Wenn alles unge­hemmt wei­ter­läuft wie bis­her, wer­den wir in naher Zukunft unter ande­rem Fol­gen­des erleben:

  • weit­ge­hen­den Abbau des Sozialstaats
    der bereits vor Jah­ren ein­ge­setzt hat und sich stän­dig ver­schärft, man schaue neben Deutsch­land nur auf die dra­ko­ni­schen Spar­maß­nah­men in Grie­chen­land, das jüngst ver­ab­schie­de­te Spar­pa­ket Ita­li­ens, die dras­ti­schen Spar­be­mü­hun­gen in Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, Spa­ni­en und Portugal.
  • erstar­ken­den Nationalismus
    der bereits jetzt schon zu beob­ach­ten ist, hier­zu­lan­de am offen­sicht­lichs­ten in Form der unver­hoh­le­nen und auch von poli­ti­scher Sei­te – im Sin­ne natio­na­ler Inter­es­sen – befeu­er­ten Het­ze gegen den ver­meint­li­chen Kri­sen­ver­ur­sa­cher Grie­chen­land, für des­sen angeb­li­che Faul­heit und Inkom­pe­tenz man nicht län­ger Zahl­meis­ter sein wol­le, genau­so wenig wie für ande­re Schul­den­län­der, wäh­rend im Aus­land teil­wei­se Deutsch­land als Ver­ur­sa­cher der Kri­se aus­ge­macht wird und ent­spre­chend ver­hasst ist; der zudem durch die natio­na­len Wirt­schafts­in­ter­es­sen vor­an­ge­trie­ben wird, die allen vor­an Deutsch­land, aber auch Frank­reich mit der Durch­set­zung der eige­nen Vor­stel­lung von Kri­sen­be­wäl­ti­gung und Haus­halts­po­li­tik auf Kos­ten drit­ter Län­der verfolgt.
  • zuneh­men­de Ver­ar­mung und Prekarisierung
    die schon seit eini­ger Zeit zu ver­zeich­nen ist, man füh­re sich bloß ein­mal Arbeits­lo­sen­zah­len wie zum Bei­spiel die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit in Spa­ni­en (~45 %) und Ita­li­en (~30 %) oder Sta­tis­ti­ken der Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung (ers­te­re hier als inter­ak­ti­ve Gra­fik für die USA), der Obdach­lo­sig­keit, der Schul­den­be­las­tung sowie der Armut oder des Armuts­ri­si­kos zu Gemü­te, die alle­samt anwach­sen­de sozia­le Miss­stän­de offenbaren.
  • gras­sie­ren­den Sozialdarwinismus
    der bereits heu­te vor­zu­fin­den ist, bei­spiels­wei­se in Form der Dis­kri­mi­nie­rung von Arbeits­lo­sen und Migran­ten, die – auch von poli­ti­scher Sei­te – teil­wei­se sub­til, teil­wei­se ganz offen als faul und dumm, als Para­si­ten oder als unfi­nan­zier­ba­re Last des Wirt­schafts­stand­orts dif­fa­miert wer­den; der sich zudem hin­ter der brei­ten Akzep­tanz von in den letz­ten Jah­ren wie­der erstar­ken­den Geis­tes­hal­tun­gen wie „Nur wer arbei­tet, soll auch essen“ mehr schlecht als recht verbirgt.
  • zuneh­men­de Entsolidarisierung
    die bereits in die­sen Tagen exem­pla­risch als ste­ti­ge Pri­va­ti­sie­rung, als ein­sei­ti­ge Gebüh­ren­er­hö­hun­gen und Spar­maß­nah­men zu Las­ten unte­rer Schich­ten, als Abschot­tung der Wohl­ha­ben­den in Gated Com­mu­ni­ties und als das Aus­spie­len von Bevöl­ke­rungs­tei­len gegen ande­re Grup­pen der Bevöl­ke­rung aus­zu­ma­chen ist, so zum Bei­spiel Gering­ver­die­ner gegen Arbeits­lo­se oder „rich­ti­ge Deut­sche“ gegen Migranten.
  • Per­so­na­li­sie­rung der Kritik
    die als aggres­si­ve Sün­den­bock­su­che bereits heu­te deut­lich zu ver­neh­men ist, wenn bei­spiels­wei­se gezielt Ban­ker und Spe­ku­lan­ten als Blut­sauger oder Fremd­kör­per bezeich­net und teil­wei­se sogar bedroht werden.
  • Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung
    die momen­tan schon sehr ein­dring­lich anhand von Grie­chen­land und Ita­li­en zu beob­ach­ten ist, wo nun Tech­no­kra­ten im Sin­ne einer rigi­den Spar­po­li­tik die Über­gangs­re­gie­run­gen lei­ten sol­len, das jewei­li­ge Land also de fac­to gar nicht mehr regiert, son­dern bloß noch zur Abwick­lung gema­na­ged wer­den wird; die außer­dem auf euro­päi­scher Ebe­ne klar zu ver­zeich­nen ist, wo sich Ent­schei­dungs­pro­zes­se unter Aus­schluss euro­päi­scher Insti­tu­tio­nen, die ihrer­seits bereits unter Demo­kra­tie­de­fi­zi­ten lei­den, mehr und mehr auf die deutsch-fran­zö­si­sche Dop­pel­spit­ze kon­zen­trie­ren; die zuletzt jedoch am deut­lichs­ten an den offen demo­kra­tie­feind­li­chen Reak­tio­nen auf die ange­kün­dig­te Volks­ab­stim­mung in Grie­chen­land abzu­le­sen war.
  • Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Protestbekämpfung
    für die die Stra­ßen­schlach­ten in Athen, Rom und in den USA, aber auch die Riots in Lon­don ein Vor­ge­schmack waren.

All dies sind kei­ne düs­te­ren Zukunfts­vi­sio­nen, son­dern aus­nahms­los Pro­zes­se, die bereits ein­ge­setzt haben und sich mit Zuspit­zung der Kri­se pro­por­tio­nal ver­schär­fen wer­den, sofern ihnen nicht ent­ge­gen­ge­wirkt wird. Es ist der ganz nor­ma­le Wahn, den die bestehen­de Kri­se zum Vor­schein bringt.

Die glo­ba­len Pro­tes­te wie­der­um, die zur­zeit statt­fin­den und immer mehr Zulauf erfah­ren, sind in ihrem Kern nicht unbe­dingt pri­mär als For­de­rung zur Abschaf­fung des Kapi­ta­lis­mus zu begrei­fen – dies gelingt ihm aus eige­ner Kraft, wie immer offen­sicht­li­cher wird. Die Fra­ge aber, die sich in der Kri­se und mit dem Zer­fall der bestehen­den Wirt­schafts­ord­nung immer drin­gen­der stellt, lau­tet nun: In wel­che Rich­tung soll es weitergehen?

Folg­lich han­delt es sich bei den Pro­tes­ten – allen vor­an bei jenen der Indi­gna­dos oder der Occu­py-Bewe­gung sowie ihr ver­wand­ter Pro­test­for­men – um die Arti­ku­la­ti­on des Stand­punkts, dass man sich dem Gesche­hen nicht in bes­tem Fata­lis­mus hin­ge­ben möch­te (der oft genug als Opti­mis­mus ver­klei­det wird), son­dern statt­des­sen aktiv am Auf­bau einer gerech­te­ren Gesell­schaft teil­neh­men möch­te oder die­se zumin­dest ein­for­dert. Frank Schirr­ma­cher, dem man als Mit­her­aus­ge­ber der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung kei­ne all­zu gro­ße Links­las­tig­keit vor­wer­fen oder zugu­te­hal­ten kann, hat erst kürz­lich den über­aus befrei­en­den Gedan­ken geäu­ßert, dass wir uns zur­zeit in einer sehr kom­for­ta­blen Posi­ti­on befin­den: Immer hat es gehei­ßen, wir kön­nen uns dies nicht leis­ten oder jenes, weil das dem Wirt­schafts­stand­ort scha­det, weil das nicht finan­zier­bar ist, weil das in die­sem Wirt­schafts­sys­tem nicht funk­tio­niert und so wei­ter. Nun aber sind wir an einem Punkt, an dem offen­sicht­lich wird, dass das Wirt­schafts­sys­tem an sich nicht funk­tio­niert. Das heißt, wir kön­nen zum ers­ten Mal seit lan­ger Zeit unge­hemmt dar­über nach­den­ken, wie wir ger­ne leben wür­den, ohne uns um die öko­no­mi­schen „Sach­zwän­ge“ des Wirt­schafts­sys­tems sche­ren zu müs­sen, weil letz­te­res in sei­ner gegen­wär­ti­gen Form sowie­so nicht funk­tio­niert. Die Kri­se als Chance.

Wie eine ande­re Gesell­schaft aus­se­hen könn­te, zeigt im Klei­nen, qua­si als Sozi­al­ex­pe­ri­ment, die Occu­py-Bewe­gung: Men­schen, denen von Poli­tik und Wirt­schaft immer wie­der weis­ge­macht wird, sie sei­en auf sich allein gestellt im Kampf aller gegen alle, jeder sei nur für sich selbst ver­ant­wort­lich und Soli­da­ri­tät ein nicht finan­zier­ba­rer Luxus, leben in Form die­ser Bewe­gung das Gegen­teil vor, hel­fen sich gegen­sei­tig, ver­sor­gen sich gegen­sei­tig, unter­stüt­zen sich gegen­sei­tig. Sie mögen kei­ne ein­heit­li­chen Zie­le for­mu­lie­ren, kei­ne aus­ge­ar­bei­te­ten Kon­zep­te und Patent­lö­sun­gen anbie­ten, die ein­zu­for­dern sowie­so bloß illu­so­risch ist, doch es eint sie ein Unbe­ha­gen gegen­über den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen; sie leh­nen ab, was die der­zei­ti­ge Gesell­schaft ihnen nahe- oder auf­er­legt, sie sagen zum Bestehen­den: Fuck this shit! Die Occu­py-Bewe­gung wagt den Ver­such einer Gegen­kul­tur und zeigt, dass ein ande­res Leben mög­lich ist, eine ande­re Kul­tur mit ande­ren Wer­ten, Prio­ri­tä­ten und Verhältnissen.

Jener Aspekt der gegen­wär­ti­gen Bewe­gung ist es folg­lich auch, der für die bestehen­de Ord­nung die größ­te Zumu­tung dar­stellt – aus deren Sicht­wei­se gespro­chen. Wäh­rend frag­men­tier­te Pro­tes­te und Demons­tra­tio­nen schon immer vor­zu­fin­den waren und ent­spre­chend mar­gi­na­li­siert wer­den konn­ten, ver­fügt das Eta­blie­ren einer kon­struk­ti­ven Gegen­kul­tur, die welt­weit gro­ße media­le Auf­merk­sam­keit erfährt und die sich inter­na­tio­nal ver­netzt als auch rasch aus­ge­brei­tet hat, über eine gänz­lich ande­re Qua­li­tät, weil deren zugrun­de­lie­gen­de Idee das Poten­ti­al besitzt, mehr und mehr Men­schen zum Über­den­ken des Selbst­ver­ständ­li­chen bewe­gen zu kön­nen, indem sie kon­kre­te Alter­na­ti­ven zum Bestehen­den auf­zeigt, wenn auch bloß als sozia­les Expe­ri­ment. Buck­mins­ter Ful­ler hat es wie folgt aus­ge­drückt: »You never chan­ge things by fight­ing the exis­ting rea­li­ty. To chan­ge some­thing, build a new model that makes the exis­ting model obsolete.«

Letzt­lich gilt es also, die eige­ne Angst vor dem Kol­laps, die eige­ne Igno­ranz, die eige­ne Apa­thie und Ohn­macht ange­sichts schein­bar über­mäch­ti­ger Struk­tu­ren zu über­win­den, um aus der Kri­se kon­struk­ti­ve Kraft zu schöp­fen. Kraft für eine bes­se­re, gerech­te­re, glück­li­che­re Gesell­schaft, in der wir ger­ne leben möch­ten. Nie­mand soll­te dar­auf ver­trau­en, von der Poli­tik Lösun­gen zu erhal­ten. Die Poli­tik hat kei­ne Lösun­gen und sie stellt die fal­schen Fra­gen. Es liegt an jedem ein­zel­nen von uns, wie es wei­ter­ge­hen wird.

Update vom 15.05.2012:
Die kom­men­den Tage (Teil 2) – eine Bestands­auf­nah­me sechs Mona­te nach Ver­öf­fent­li­chung die­ses Artikels.

One of the most inspi­ra­tio­nal spee­ches in recor­ded histo­ry was given by a come­di­an by the name of Char­lie Chaplin:

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