Pierre Félix Bourdieu [pjɛːʀ feˈliks buʀˈdjø] (* 1. August 1930 in Denguin; † 23. Januar 2002 in Paris) war ein französischer Soziologe und Sozialphilosoph. Bourdieu entwickelte seine theoretischen Begriffe unter Einbeziehung der Erfahrungen von Individuen. Er verwendete Leitbegriffe wie Habitus, sozialer Raum, soziales Feld, Kapital und Klasse. Alle diese in der Soziologie und Ökonomie verwendeten Begriffe entwickelte er so weiter, dass sie in der Zusammenschau eine neue empirisch begründete soziologische Theorie ergeben, die in den heutigen soziologischen Diskursen von großer Bedeutung ist und häufig als „Theorie der Praxis“ bezeichnet wird.

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In jeder Hinsicht ist Kultur Ergebnis eines Kampfes. Das versteht sich von selbst, weil mit der Idee der Kultur auch immer die menschliche Würde auf dem Spiel steht. Das bedeutet, daß in einer Klassengesellschaft diejenigen, die von der Kultur ausgeschlossen sind, auch in ihrer Würde und in ihrer menschlichen Existenz getroffen sind und sich getroffen fühlen. Diejenigen wiederum, die die Kultur besitzen oder sich zumindest in ihrem Besitz wähnen (der Glaube ist hier wesentlich) vergessen ständig all die Leiden und Erniedrigungen, die im Namen dieser Kultur geschehen. Die Kultur ist hierarchisch organisiert und sie trägt zur Unter- und Überordnung von Menschen bei, wie etwa ein Möbel- oder ein Kleidungsstück, an denen man sofort erkennen kann, auf welcher Sprosse der sozialen und kulturellen Hierarchie sein Besitzer steht. Im Bereich der Politik, aber nicht allein dort, verurteilen die offiziöse Kultur und der von ihr beanspruchte Respekt diejenigen zum Schweigen, die nicht als Träger dieser Kultur anerkannt sind. Um aber die sozialen Kämpfe und Auseinandersetzungen um die jeweilige Kultur vollständig erkennbar zu machen, muß man immer wieder hinweisen auf jene Illusion, die aus der immer auch sinnlich-materiellen Erscheinungsweise von Kultur resultiert. Der Umstand, daß kulturelle Erscheinungen immer auch als sinnlich faßbare Äußerungen von Personen in Erscheinung treten, erweckt den Eindruck, als sei Kultur die natürlichste und die persönlichste und damit also auch die legitimste Form des Eigentums.
(Pierre Bourdieu – Politik, Bildung und Sprache, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)

Der Journalismus ist tatsächlich einer der Orte, an dem die politische Magie entsteht und bestätigt wird. Damit Magie entsteht (…), braucht es eine Menge sozialer Voraussetzungen: Zauberer, Assistenten, Publikum usf. Und auch die Welt der politischen Magie macht eine Reihe von Teilnehmern erforderlich, nicht nur Parlamente und Abgeordnete: Journalisten, Umfrageinstitute, Kommunikationsberater – auch Intellektuelle, oder genauer: Journalisten, die sich als Intellektuelle aufspielen.
Man spricht (…) über die Rolle der Journalisten im Golfkrieg. Man spricht aber nicht – oder zuwenig – über den Alltag, über das, was der Journalismus alltäglich macht, wenn er eigentlich nur funktioniert, um die Reden, die die Politiker füreinander halten, zu verstärken und ihnen einen Resonanzboden zu geben. Heute reden die Politiker nämlich eigentlich zu niemand anderem mehr als zu sich selbst. Sie reden, um nichts zu sagen, und innerhalb stundenlanger, nichtssagender Ausführungen fällt dann ein Halbsatz, der gezielt eingesetzt wird, damit er von den Journalisten verstanden, aufgenommen und als Spielball in das politische Spiel eingebracht wird. Das Ganze hat Ähnlichkeit mit einem Schachspiel, bei dem gewiefte Spieler ihre Strategien erproben. Und wie ein Schachspiel schottet sich das Machtspiel nach außen ab, wird hermetisch, Objekt »kennerischer« Kommentare von Insidern, gesellschaftlich belanglos. Die Politiker sprechen zueinander, sie sprechen nicht zur Gesellschaft. Sie geben sich den Anschein, zur Gesellschaft zu sprechen.
(Pierre Bourdieu – Politik und Medienmacht, in: Der Tote packt den Lebenden)

Zu meinen, wenn man allen gleiche wirtschaftliche Mittel bereitstelle, gäbe man auch allen, sofern sie die unerläßliche „Begabung“ mitbrächten, gleiche Chancen (…), hieße in der Analyse der Hindernisse auf halbem Wege stehenbleiben und übersehen, daß die an Prüfungskriterien gemessenen Fähigkeiten weit mehr als durch natürliche „Begabung“ (…) durch die mehr oder minder große Affinität zwischen den kulturellen Gewohnheiten einer Klasse und den Anforderungen des Bildungswesens oder dessen Erfolgskriterien bedingt sind. (…) Das kulturelle Erbe ist so ausschlaggebend, daß auch ohne ausdrückliche Diskriminierungsmaßnahmen die Exklusivität garantiert bleibt, da hier nur ausgeschlossen scheint, wer sich selbst ausschließt. (…) Die Mechanismen, die zur Eliminierung der Kinder aus den unteren und mittleren Klassen führen, wären bei einer systematischen Stipendien- und Studienbeihilfepolitik, die alle Gesellschaftsklassen formal gleichstellen würde, fast ebenso (nur diskreter) wirksam; daß die verschiedenen Gesellschaftsklassen auf den verschiedenen Stufen des Bildungswesens ungleich vertreten sind, ließe sich dann mit noch besserem Gewissen auf ungleiche Begabung und ungleichen Bildungseifer zurückführen. Kurz, die Tragweite der sozialen Ungleichheitsfaktoren ist so groß, daß auch eine wirtschaftliche Angleichung nicht viel ändern würde, da das Bildungssystem immer weiter soziales Privileg in Begabung oder individuelles Verdienst umdeuten und die Ungleichheit dadurch legitimieren würde. (…) In der Überzeugung, daß man nur ordentlich zu rechnen brauche, um in der besten aller denkbaren Gesellschaften auch das beste aller Bildungswesen zu schaffen, verfallen die neuen optimistischen Philosophen der Sozialordnung in die alte Sprache aller Soziodizeen, die zu beweisen versuchen, daß die Sozialordnung so ist, wie sie sein soll, weil man ihre scheinbaren Opfer nicht einmal mehr zur Ordnung rufen muß, da sie ohnehin bereitwillig das sind, was sie sein sollen. Diese Bildungsforscher dienen stillschweigend der Funktion der Legitimierung und Bewahrung der Sozialordnung, die das Bildungswesen erfüllt, wenn es die Klassen, die es ausschließt, von der Legitimität ihres Ausschlusses überzeugt, indem es sie hindert, die Prinzipien, aufgrund derer es sie ausschließt, zu erkennen und anzufechten. Die Urteile der Bildungsinstanzen sind deshalb so definitiv, weil sie mit der Verurteilung zugleich Vergessen über die sozialen Implikationen des Urteils verhängen. Damit soziales Schicksal in freie Berufung und persönliches Verdienst umgedeutet werden kann (…), muß das Bildungswesen als „Oberster Priester der Göttin Notwendigkeit“ die Individuen erfolgreich davon überzeugen, daß sie ihr Schicksal, das durch die soziale Notwendigkeit längst über sie verhängt war, selbst gewählt oder verdient haben. Besser als die politischen Religionen, deren konstanteste Funktion (…) darin bestand, die herrschenden Klassen mit einer Theodizee ihres Privilegs auszustatten, besser als die Heilslehren vom Jenseits, die zur Perpetuierung der Sozialordnung durch das Versprechen beitrugen, diese Ordnung werde nach dem Tode umgestürzt, besser als die Doktrin vom Karma, die (…) den sozialen Rang jedes Individuums im Kastensystem aus dem Grad seiner religiösen Vollkommenheit im Kreislauf der Seelenwanderung ableitete, vermag es heute das Bildungswesen mit seiner Ideologie der „natürlichen Begabung“ und der „angeborenen Neigungen“, den Kreislauf der Reproduktion der sozialen Hierarchien und der Bildungshierarchien zu legitimieren.
(Pierre Bourdieu / Jean-Claude Passeron – Die Illusion der Chancengleichheit)

Will man sich davon überzeugen, daß die verborgenste und spezifischste Funktion des Bildungssystems in der Tarnung seiner objektiven Funktion, das heißt der objektiven Wahrheit seiner Relation zur Struktur der Klassenbeziehungen steht, braucht man nur einem konsequenten Bildungsplaner zuzuhören, wenn er nach dem sichersten Mittel fragt, um von vornherein die Schüler auszulesen, die schulischen Erfolg versprechen, und dadurch die technische Rentabilität des Bildungssystems zu steigern. Er muß sich die Frage nach den Charakteristika der betreffenden Kandidaten stellen: „In einer Demokratie können die mit öffentlichen Mitteln unterhaltenen Institutionen nicht unmittelbar und offen aufgrund bestimmter Charakteristika auslesen. Sinnvollerweise müßte man Charakteristika wie Geschlecht, soziale Herkunft, Dauer der Schulzeit, Aussehen, Aussprache und Intonation, den sozio-ökonomischen Status der Eltern und das Prestige der zuletzt besuchten Schule berücksichtigen (…). Aber selbst wenn man zeigen könnte, daß die Studenten niederer sozialer Herkunft mit großer Wahrscheinlichkeit schlechte Studienresultate erzielen, wäre eine offen und unmittelbar gegen diese Kandidaten gerichtete Auslesepolitik untragbar. Dennoch weiß man, daß dieser Faktor indirekt einen Einfluß ausübt, der in den schlechten Ergebnissen der Abschlußexamina oder in anderen Eigenschaften zum Ausdruck kommt“ (R. K. Kelsall). Kurz, die vergeudete Zeit (und das vergeudete Geld) ist zugleich der Preis für die Verschleierung der Relation zwischen sozialer Herkunft und Studienerfolg; denn, wollte man billiger und schneller vollziehen, was das System ohnehin leistet, würde man eine Funktion offenlegen und damit hinfällig machen, die nur im verborgenen wirken kann. Das Bildungswesen legitimiert die Machtübergabe von einer Generation auf die andere immer um den Preis einer Vergeudung von Geld und Zeit, indem es die Relation zwischen dem sozialen Ausgangs- und Endpunkt des Bildungsgangs mittels eines Berechtigungseffekts kaschiert, der durch die demonstrative und oft hyperbolische Länge des Bildungsgangs ermöglicht wird. Die verlorene Zeit ist kein bloßes Verlustgeschäft, da sie einer Transformation der Einstellung zum System und seinen Sanktionen dient, die unerläßlich ist, damit das System funktionieren und alle seine Funktionen erfüllen kann.
(Pierre Bourdieu / Jean-Claude Passeron – Die Illusion der Chancengleichheit)

Gegenüber der imaginären Anthropologie der Wirtschaftswissenschaft, die sich noch nie der Formulierung universeller Gesetze der »zeitlichen Präferenz« entschlagen konnte, ist daran zu erinnern, daß die jeweilige Geneigtheit zur Unterordnung gegenwärtiger Wünsche unter zukünftige Befriedigungen davon abhängt, wie »vernünftig« dieses Opfer ist, d.h. von den jeweiligen Chancen, auf jeden Fall in der Zukunft mehr an Befriedigung zu erhalten als was gegenwärtig geopfert wurde. Unter die ökonomischen Bedingungen der Neigung, untermittelbare Wunscherfüllung zugunsten künftig erhoffter zurückzustellen, ist gleichermaßen die in der gegenwärtigen Lage angelegte Wahrscheinlichkeit der zukünftigen Befriedigung zu rechnen. (…) Für diejenigen, die – wie es so heißt – keine Zukunft haben, die jedenfalls von dieser wenig zu erwarten haben, stellt der Hedonismus, der Tag für Tag zu den unmittelbar gegebenen seltenen Befriedigungsmöglichkeiten (»die günstigen Augenblicke«) greifen läßt, allemal noch die einzig denkbare Philosophie dar. Verständlicher wird damit, warum der vornehmlich im Verhältnis zur Nahrung sich offenbarende praktische Materialismus zu einem der Grundbestandteile des Ethos, ja selbst der Ethik der unteren Klassen gehört: das Gegenwärtigsein im Gegenwärtigen, das sich bekundet in der Sorge, die günstigen Augenblicke auszunutzen und die Zeit zu nehmen, wie sie kommt, ist von sich aus Manifestation von Solidarität mit den anderen (die im übrigen häufig genug die einzige vorhandene Sicherheit gegen die Unbill der Zukunft bilden) insoweit, als in diesem gleichsam vollkommenen zeitlichen Immanenzverhalten sich doch auch die Anerkennung der die spezifische Lage definierenden Grenzen offenbart.
(Pierre Bourdieu – Die feinen Unterschiede)

Eines der wichtigsten Prinzipien, das man erlernen sollte, wenn man sich – ob als Soziologe oder ganz allgemein – mit gesellschaftlichen Phänomenen auseinandersetzt und dabei Argumenten, Statistiken, Erklärungen, Beschreibungen, Institutionen, Traditionen oder Handlungsweisen begegnet, die auf den ersten Blick plausibel und einleuchtend erscheinen, fasst folgende Aussage recht prägnant zusammen:

I’m trying to break you of the habit of automatically saying, “Yes, this makes sense. I’ll accept it.” I’m trying to train you to pause and say, “Yes, this seems to make sense. But does it?”
(Daniel Quinn – If They Give You Lined Paper, Write Sideways)

Wir sind es gewohnt, ein derart skeptisches Verhalten an den Tag zu legen, wenn uns etwas ein wenig merkwürdig, zweifelhaft oder gar falsch vorkommt. Weitaus spannender, weil größeren Erkenntnisgewinn versprechend, ist es allerdings, dieses Verhalten auch und gerade bei denjenigen Phänomenen und Mechanismen anzuwenden, die uns auf den ersten Blick, aus Gewohnheit oder aufgrund des gesunden Menschenverstands als durchaus vernünftig erscheinen – weil sie es nämlich oft gar nicht sind, sondern bloß so erscheinen, da sie nie in Frage gestellt werden.

Die erste Handlung des Forschers ist, die Fragen des gesunden Menschenverstands (…) zu destruieren, sie völlig anders neu zu stellen.
(Pierre Bourdieu – Was anfangen mit der Soziologie?, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)

Ich glaube, niemand möchte die soziale Welt so sehen, wie sie ist; es gibt viele Arten, sie zu verleugnen; es gibt die Kunst, natürlich. Aber es gibt auch eine Form von Soziologie, die dieses bemerkenswerte Ergebnis zustandebringt, nämlich von der sozialen Welt zu reden, als redete sie nicht von ihr (…). Die Verneinung im Freudschen Sinne ist eine Form von Eskapismus. Wenn man vor der Welt, wie sie ist, fliehen will, kann man Musiker werden, Philosoph, Mathematiker. Aber wie flieht man vor ihr, wenn man Soziologe ist? Es gibt Leute, die das schaffen. Man braucht nur mathematische Formeln zu schreiben, Spieltheorieübungen oder Computersimulationen durchzuexerzieren. Wenn man wirklich die Welt wenigstens ein bißchen so sehen und so über sie reden will, wie sie ist, dann muß man akzeptieren, daß man sich immer im Komplizierten, Unklaren, Unreinen, Unscharfen usw. und also im Widerspruch zu den gewöhnlichen Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit befindet.
(Pierre Bourdieu – „Inzwischen kenne ich alle Krankheiten der soziologischen Vernunft“, in: Pierre Bourdieu, Jean-Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron – Soziologie als Beruf)

Damit die am meisten Begünstigten begünstigt und die am meisten Benachteiligten benachteiligt werden, ist es notwendig wie hinreichend, dass die Schule beim vermittelten Unterrichtsstoff, bei den Vermittlungsmethoden und -techniken und bei den Beurteilungskriterien die kulturelle Ungleichheit der Kinder (…) ignoriert. Anders gesagt, indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur. Die formale Gleichheit, die die pädagogische Praxis bestimmt, dient in Wirklichkeit als Verschleierung und Rechtfertigung der Gleichgültigkeit gegenüber der wirklichen Ungleichheit in Bezug auf den Unterricht und der im Unterricht vermittelten oder, genauer gesagt, verlangten Kultur. (…) Indem die Schule den Individuen nur deren Position in der sozialen Hierarchie genau entsprechende Erwartungen an die Schule zugesteht und unter ihnen eine Auswahl trifft, die unter dem Anschein der formalen Gleichheit die existierenden Unterschiede sanktioniert und konsekriert, trägt sie ineins zur Perpetuierung wie zur Legitimierung der Ungleichheit bei. Indem sie gesellschaftlich bedingten, von ihr aber auf Begabungsunterschiede zurückgeführten Fähigkeiten eine sich »unparteiisch« gebende und als solche weithin anerkannte Sanktion erteilt, verwandelt sie faktische Gleichheiten in rechtmäßige Ungleichheiten, wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterschiede in eine qualitative Differenz und legitimiert die Übertragung des kulturellen Erbes. (…) Indem [das Bildungssystem] den kulturellen Ungleichheiten eine formell mit den demokratischen Idealen übereinstimmende Sanktion erteilt, liefert es die beste Rechtfertigung für diese Ungleichheiten.
(Pierre Bourdieu – Die konservative Schule, in: Wie die Kultur zum Bauern kommt)