Der Mensch muß Moral haben, der Staat kennt keine Moral. Er mordet, wenn er es für gut befindet, er stiehlt, wenn er es für gut befindet; er raubt die Kinder von den Müttern, wenn er es für gut befindet; er zerbricht die Ehen, wenn er es für gut befindet. Er tut, was er will. Für ihn gibt es keinen Gott im Himmel, an den zu glauben er den Menschen bei Leib- und Lebensstrafe zwingt, für ihn gibt es keine Gebote Gottes, die er den Kindern mit dem Knüppel einbleuen läßt. Er macht sich seine Gebote selbst, denn er ist der Allmächtige und der Allwissende und der Allgegenwärtige. Er macht sich die Gebote selbst, und wenn sie ihm eine Stunde darauf nicht mehr zusagen, übertritt er sie selbst. Keinen Richter hat er über sich, der ihn zur Rechenschaft zieht, und wenn der Mensch anfängt, mißtrauisch zu werden, dann fuchtelt er ihm mit der Flagge Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra vor den Augen herum, daß der Mensch ganz duselig wird, und er brüllt ihm ins Ohr: »Haus und Herd – Weib und Kind« und bläst ihm in die Nasenlöcher den Rauch: Blick auf deine ruhmreiche Vergangenheit. Und dann plappern die Menschen alles nach, weil der Allmächtige sie in ausdauernder Arbeit zu Maschinen und Automaten heruntergewürgt hat, die ihre Arme, Beine, Augen, Lippen, Herzen und Gehirnzellen genauso bewegen, wie es der allmächtige Götze Staat haben will. Das hat nicht einmal der allmächtige Gott zuwege gebracht, und der konnte doch auch etwas. Aber diesem Ungeheuer gegenüber ist er nur ein armer Stümper. Seine Menschen handelten ganz selbständig, sobald sie erst einmal ihre Arme und Beine bewegen konnten. Sie liefen ihm davon, achteten seine Gebote nicht, sündigten vergnügt wie toll und setzten ihn endlich ab. Bei dem neuen allmächtigen Gott haben sie es schwerer, weil er noch zu jung ist und weil sie noch nicht wagen, ihm auf die Füße zu treten und den Apfel vom Baume zu reißen.
(B. Traven – Das Totenschiff)
Schlagwortarchiv für: Politik
Als die ersten Signale aus dem All empfangen wurden, konnte noch niemand wissen, was auf uns zukommen würde. Die Streitkräfte der größten Nationen bereiteten erwartungsgemäß recht grimmige Verteidigungsmaßnahmen vor und waren überaus besorgt, wie sie das immer sind, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, weil es Aufgabe des Militärs ist, besorgt und möglichst grimmig zu sein. Die Massenmedien überschlugen sich mit ihrer Berichterstattung, sie wetteiferten geradezu um die wildesten Gerüchte und schürten globale Panik, wie sie es immer tun, weil sie das für ihre göttliche Berufung halten. Sekten und Weltuntergangsspinner sahen mit einem nicht zu verhehlenden Stolz das endgültige Ende heraufziehen, das sie dem Rest der Bevölkerung schon seit Ewigkeiten gepredigt hatten, ohne jemals von irgendjemandem wirklich ernst genommen worden zu sein. Politiker aller Länder begannen damit, trotz ihrer bisherigen Konfliktlinien auf einmal offen miteinander zu reden, weil sie nun einen neuen, gemeinsamen Feind identifizieren konnten, der ihnen womöglich die Macht über ihr Revier streitig zu machen drohte. Zusammenfassend muss man sagen, dass sich die Erde in ein kopfloses Tollhaus verwandelte, doch genau genommen kann diese Bezeichnung dem ganzen Vorgang nicht völlig gerecht werden, weil man der Wahrheit zuliebe ergänzen müsste, dass sie ein noch viel größeres Tollhaus wurde, als sie es normalerweise sowieso schon war.
Unsere Versuche, noch während ihres Anflugs auf die Erde irgendeine Art von Kontakt mit ihnen herzustellen, schlugen allesamt fehl, also blieb uns nichts weiter übrig, als nervös ihre Ankunft abzuwarten und das Beste zu hoffen. Je nach Menschenwesen, das man dazu befragt hätte, wäre die Vorstellung darüber, was dieses Beste denn überhaupt sei, sicherlich sehr unterschiedlich ausgefallen. Die einen erhofften sich von den Besuchern aus dem All einen gewaltigen kulturellen und technologischen Fortschritt, andere sahen es als Gelegenheit, ja als Herausforderung an, endlich ein paar Wesen abseits der gewohnten Fauna abzuknallen, was nach so vielen Jahren voll umfangreicher Praxiserfahrung langsam langweilig zu werden drohte, und wieder andere malten sich neue sexuelle Erfahrungen aus. Ob sie wohl auch auf die Erde gekommen wären, wenn sie diese Gedanken allesamt gekannt hätten?
Andererseits gibt es Idioten wirklich überall, also sicher auch unter extraterrestrischen Lebensformen, weswegen menschliche Idiotie für unsere Besucher keine allzu große Überraschung gewesen sein dürfte. Ob einer ein Idiot ist, hat dabei jedoch nichts damit zu tun, wie intelligent er ist oder eben nicht, denn oft genug stellen sich gerade die Intelligentesten als die größten Idioten heraus, weil sie es eigentlich besser wissen müssten. Wenn es eines gibt, das jede Kultur im Universum verbindet, dann ist es mit Sicherheit die Existenz von Idioten, und man müsste die Evolution wirklich einmal fragen, was sie sich dabei eigentlich gedacht hat. Wahrscheinlich gar nichts. Die Evolution ist auch ein Idiot. Gott habe den Menschen nach seinem eigenen Bilde erschaffen, heißt es dagegen in mancher Religion, doch wenn es unter den Menschen so viele Idioten gibt, was hieße das dann im Umkehrschluss für Gott? Er kann sich glücklich schätzen, dass es ihn nicht gibt.
Sie landeten jedenfalls in der Nähe von Shenyang, einer Stadt im Nordosten Chinas, ohne dass unsererseits besondere Begrüßungsmaßnahmen hätten vorbereitet werden können, weil uns vollkommen unbekannt war, wo sie Fuß auf diesen Planeten setzen würden. Bis heute wissen wir nicht, weshalb sie ausgerechnet dort gelandet sind. Vermutlich war dieser Platz so gut wie jeder andere, aber all die verschmähten Staaten waren sich nicht zu fein, sofort die böseste Gerüchte kursieren zu lassen, China habe schon Kontakt zu unseren Besuchern gehabt und stecke mit ihnen unter einer Decke, um die gesamte Menschheit endlich zu versklaven. Gewählte Staatschefs zeigten sich beleidigt wie ein kleines Kind, das empört feststellen muss, dass es von der Kindergärtnerin nicht ausreichend beachtet wird, wobei ausreichend mit exklusiv zu übersetzen ist. Wer hatte sie eigentlich gewählt? Mit Sicherheit Idioten.
Als sie landeten, geschah alles so, wie es immer geschieht, und war darum irgendwie richtig langweilig. Das Militär fuhr schweres Geschütz auf, um den unerwarteten Besuchern ohne jede Verzögerung unmissverständlich die Stärke der Erdbevölkerung zu demonstrieren, während sich die Staatsmänner gegenseitig bei dem Versuch übertrumpften, das eigene Land als kulturell und technologisch führend herauszustellen, was besonders peinlich aussah für jene, deren größte kulturelle Leistung es bis dahin gewesen war, im Internet bestimmte erigierte Körperteile zu präsentieren. Die Außerirdischen beeindruckte weder das eine noch das andere. Mir schien es, als seien sie den Wirbel um ihre Ankunft gewohnt, als sähen sie über all diesen Trubel gleichgültig, vielleicht auch amüsiert hinweg.
Ihr Raumschiff erschien uns auf den ersten Blick ziemlich unspektakulär und war weder besonders imposant noch auf irgendeine Art mysteriös, im Vergleich mit den Fantasiegebilden unzähliger Science-Fiction-Autoren kam es mir ganz und gar öde vor.
Die Kommunikation mit uns war für unsere neugewonnenen Gäste kein Problem, auch wenn sie uns nie verraten haben, wie sie diese Kenntnisse eigentlich erlangt hatten. Vielleicht hatten sie unsere Radio- und Fernsehübertragungen empfangen, bevor sie auf unseren Planeten kamen. Eine intelligente Lebensform, die menschliche Radio- und Fernsehübertragungen empfängt und dann unserem Planeten trotzdem noch einen Besuch abstatten möchte, ist entweder extrem tolerant und offenherzig oder ziemlich idiotisch. Die Menschheit machte sich, wohl zu ihrer eigenen Entlastung, darüber allerdings gar keine Gedanken oder wenn doch, dann nahm sie zumindest ersteres an.
Die Außerirdischen interessierten sich sehr für die Geschichte der dominanten Spezies auf diesem Planeten und wie es der Zufall ergab, waren wir das. Wir waren sogar so dominant, dass viele andere Lebensformen in einem mehr als devoten Gestus das Fortsetzen der eigenen Spezies mehr oder weniger freiwillig aufgaben, um uns noch dominanter werden zu lassen. Rückblickend muss man sagen, dass wir ihnen dafür wenigstens mal eine Grußkarte hätten schreiben können, doch wir Menschen sind schon seit Beginn unserer großen Erfolgsgeschichte sehr gut darin gewesen, moralische Grundlagen dafür zu erfinden, wenn diejenigen Lebewesen, die wir gut finden, jene Lebewesen töten, die wir nicht so gut finden. Uns selbst fanden wir schon immer verdammt gut. Unsere Besucher jedenfalls baten uns um den Zugriff auf unsere Archive, auf Technologie und auf das Know-how, das die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung angesammelt hatte. Sie sagten uns, dass sie für genau ein Jahr unserer Zeitrechnung auf der Erde bleiben würden, um ihre Expedition, wie sie es nannten, durchzuführen und uns danach wieder zu verlassen.
Das Militär zeigte sich zunächst skeptisch, weil Militär grundsätzlich jedem friedlichen Handeln skeptisch gegenübersteht, aber nachdem auch den aggressivsten Köpfen klargeworden war, dass wir technologisch hoffnungslos zurücklagen und eine militärische Auseinandersetzung nie würden gewinnen können, wurde der vollumfänglichen Kooperation schließlich zugestimmt.
Im Gegenzug forderten die Staaten der Erde von den Außerirdischen umfangreiche Entwicklungshilfe, die unserer Intelligenz und Stellung würdig sei. Sie haben es nicht so ausgedrückt, aber es wurde klar, dass sie es genau so meinten. Die mächtigen Staatsmänner sagten, sie würden es als Zeichen der Kooperation und der gegenseitigen Friedfertigkeit betrachten, wenn uns die Außerirdischen mit ihrem gewaltigen Wissensvorsprung unter die Arme greifen würden, doch unter all dem diplomatischen Gefasel lag die Drohung der nuklearen Zerstörung, zur Not eben inklusive des Risikos der eigenen Vernichtung, sollten die Außerirdischen ihr Wissen nicht freiwillig mit uns teilen wollen.
Zwölf Monate lang weilten die Außerirdischen anschließend auf der Erde, betrieben Forschung, stellten Fragen, lebten unter uns und untersuchten unsere Lebensweise. Sie lasen unsere Geschichtsbücher, erhielten Zugriff auf staatliche Archive, studierten unseren Alltag und die Art, wie wir uns gesellschaftlich zu organisieren gewohnt waren. Sie durchwühlten unseren Müll, was uns ein wenig beunruhigte, weil wir sehr viel davon herstellten und oft genug gerade solche Dinge in den Müll schmissen, von denen wir nicht einmal wollten, dass unser Nachbar darüber Bescheid wüsste. Manche unserer Medien machten sich über sie lustig und bezeichneten sie als intergalaktische Penner, weil sie so weit gereist waren, nur um dann unseren Müll zu durchsuchen. In dem zu wühlen, was andere mühsam gekauft und dann weggeschmissen hatten, das fanden wir nicht in Ordnung, weder im Fall terrestrischer noch im Fall außerterrestrischer Mülldiebe, aber bei letzteren machten wir eine Ausnahme, weil sie uns im Gegensatz zum Obdachlosen von der Straße nun einmal leider überlegen waren.
Sie durchwühlten jedoch nicht nur unseren Müll und im metaphorischen Sinn unsere Geschichte, sondern beobachteten auch sehr genau, wie wir Menschen miteinander umgingen und wie wir mit allem anderen haushielten, was dieser Planet uns zur Verfügung stellte. Es gab viele verschiedene Arten, die menschliche Geschichte zu betrachten, doch unterm Strich lief alles darauf hinaus, dass einfach lauter Menschen lauter andere Menschen umgebracht hatten oder, wenn gerade keine anderen Menschen zur Verfügung standen, dann eben die nächstbesten Lebewesen. Wir haben das schon immer für ein Zeichen von Intelligenz und Zivilisation gehalten, also gab es nichts, wofür wir uns hätten schämen müssen.
Nachdem sie diese zwölf Monate mit Forschung und Beobachtung verbracht hatten, erklärten sie uns, sie würden die Erde nun wieder verlassen, genau wie sie es uns angekündigt hatten. Die Staatsmänner aller Nationen zeigten sich angesichts dieser Nachricht sehr traurig, waren innerlich aber froh, diese überlegenen Konkurrenten endlich wieder loszuwerden und versäumten es auch nicht, mit Nachdruck auf die versprochene Unterstützung der Außerirdischen hinzuweisen. Wenn Staaten auf etwas hinweisen, dann machen sie das oft sehr subtil, beispielsweise mit Panzern, Bomben und großen Kriegsschiffen. Auf diesen Punkt also ähnlich subtil angesprochen, versicherten uns die Besucher ohne auch nur einen Moment des Zögerns, sie würden selbstverständlich zu ihrem Versprechen stehen. Sie baten uns lediglich um etwas mehr Geduld und um die Möglichkeit, zum Abschied vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen sprechen zu dürfen.
Es ließ sich kaum verhehlen, dass man ihnen alles Mögliche zugestanden hätte, wenn sie nur endlich wieder abgeflogen und unsere etablierten Machtstrukturen in Ruhe gelassen hätten, also wurde ihnen ihre Rede gewährt. Eine Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen hatte in der Regel auf die Weltpolitik ungefähr so viel Einfluss wie das betrunken von sich gegebene Stammtischgeschwätz in einer beliebigen Kneipe, nur war die Wahrscheinlichkeit um einiges größer, an einem Kneipentisch einen Ehrenmann vorzufinden. Mit großem Getöse feierte man den Tag des Abschieds, der wie ein Tag der Befreiung behandelt wurde, obwohl sie uns gegenüber nie als Besatzer aufgetreten waren. Reihum hielten die Regierungschefs der größten Länder ihre Ansprachen, in denen sie sich vor Lob und aufgesetzter Dankbarkeit geradezu überschlugen. Als letztes trat ein Vertreter der Besucher nach vorne ans Rednerpult.
Die Menschheit wurde wegen zahlreicher Verbrechen gegen das Leben zum Aussterben verurteilt. Wäre das empörte Gerede im Saal nicht so laut gewesen, man hätte das globale Unterkieferherunterklappen tatsächlich hören könne. Die Schwere des Verbrechens und das daraus hervorgehende scharfe Urteil, so erklärten sie uns, wurden deutlich bei Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung unserer Spezies. Anstatt aus Verfehlungen zu lernen, und an Verfehlungen zeigte sich die menschliche Geschichte reich, waren über Generationen hinweg die Möglichkeiten verfeinert worden, den eigenen Eroberungsfeldzug gegen den Planeten und letztlich das gesamte Universum zu optimieren, offensichtlich ohne jedes Gefühl der Reue, ohne Skrupel und ohne Rücksicht auf menschliches oder nichtmenschliches Leben. Um eine Gefahr für andere Planeten und deren Lebensformen abzuwenden, habe man sich darauf geeinigt, präventiv einzugreifen. Wie um diesen Anklagepunkt sofort zu bestätigen, drohten einige Staaten mit der atomaren Antwort auf dieses in ihren Augen lächerliche Urteil, und es hätte bloß eines durchschnittlichen menschlichen Idioten bedurft, um diese Drohung ernsthaft umzusetzen, doch war der zum Glück entweder gerade in der Kneipe oder einfach zu unfähig für die gestellte Aufgabe.
Wie unsere Besucher uns erklärten, hatten sie der Erdatmosphäre eine speziell für diesen Zweck entwickelte Art von Mikroorganismen beigefügt, die das Urteil biotechnologisch umsetzen sollten, indem sie ausschließlich die menschliche Spezies befallen und mit makelloser Effektivität deren Unfruchtbarkeit bewirken würden. Dann verließen sie unseren Planeten wieder.
Natürlich haben wir versucht, uns mit verzweifelter Anstrengung gegen die Folgen der extraterrestrischen Intervention zu wehren, wir tun es noch immer. Unsere Wissenschaftler waren sich bereits nach kurzer Zeit sehr sicher, die verantwortlichen Mikroorganismen schnell analysieren und unschädlich machen zu können, wie sie sich bereits bei allen anderen drängenden Problemen der Menschheit zuvor stets schnell sicher gewesen waren, diese unter Kontrolle bringen zu können. Die Strafe der außerirdischen Besucher hat ermöglicht, was zuvor nur bloße Utopie war. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist zu beobachten, dass alle Staaten, alle Kontinente, alle Gruppen und alle Fraktionen friedlich zusammenarbeiten, denn es geht um nicht weniger als das verbindende Projekt, eine rettende Lösung zu finden, die der Menschheit das Überleben ermöglichen soll. Je länger wir daran arbeiten, desto deutlicher wird jedoch auch, dass wir gegen den technologischen Vorsprung unserer Richter vermutlich keine ernstzunehmende Chance haben werden. Die Zeit läuft uns davon. Seit siebzehn Jahren wurde auf dem gesamten Planeten keine einzige Schwangerschaft mehr verzeichnet.
Wir forderten von ihnen eine Form der Unterstützung, die unserer würdig sei, und ich fürchte, genau das haben wir bekommen.
Wenn vom Klassenkampf die Rede ist, denkt man niemals an seine ganz alltäglichen Formen, an die rücksichtslose gegenseitige Verächtlichmachung, an die Arroganz, an die erdrückenden Prahlereien mit dem »Erfolg« der Kinder, mit den Ferien, mit den Autos oder anderen Prestigeobjekten, an verletzende Gleichgültigkeit, an Beleidigungen usw.: Soziale Verarmung und Vorurteile – letztere sind die traurigsten aller sozialen Leidenschaften – werden in diesen alltäglichen Kämpfen geboren, in denen stets die Würde und die Selbstachtung der beteiligten Menschen auf dem Spiel stehen. Das Leben ändern, das müßte auch heißen, die vielen kleinen Nichtigkeiten zu ändern, die das Leben der Leute ausmachen und die heute gänzlich als Privatangelegenheit angesehen und dem Geschwätz der Moralisten überlassen werden.
Pierre Bourdieu – Politik, Bildung und Sprache, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht
Der politische Aktivist sollte nicht jemand sein, der Plakate klebt oder vorgeformte Parolen verbreitet. Es sollte jemand sein, der seine Sprache spricht, um etwas zu sagen, und der dies dann auch sagt. Der sich ausdrückt und der sich dafür einsetzt, daß Bedürfnisse ausgedrückt werden. Und es muß jemand sein, der das was er sagt, das was er tut und das was man ihn tun läßt, selbst in der Hand hat.
(Pierre Bourdieu – Politik, Bildung und Sprache, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)
Was hätten die Komik, die Satire und das Kabarett doch für Möglichkeiten; Möglichkeiten, die Masken von den Gesichtern zu reißen! Doch nichts dergleichen geschieht! Die Masken bleiben Tarnung, die Machthaber und ihre kruden Ideen, Vorhaben und Reformen scheinen unantastbar. Wie Weiß Ferdl tappen sie zaghaft an politischen Bekenntnissen vorbei, betreiben Albernheiten statt Komik, Beleidigungen statt entwaffnendes Narrenrecht, welches es erlauben würde, den Herrschenden jede Wahrheit an den Kopf zu werfen – und dabei sind sie auch noch wahre Publikumshelden. Bloß nicht mit denen anecken, die sich wehren können!, lautet deren Devise. Haut auf die Schwachen, verprügelt die Arbeitslosen, thematisiert Trivialitäten – und wenn es doch unbedingt politisch sein muß, dann witzelt über Frisuren und Brillengestelle, Sprachfehler und – sofern man ein Bad-Boy-Image zu pflegen hat – Behinderungen!
(Roberto J. De Lapuente)
Viele Intellektuelle tun so, als würden sie glauben, oder glauben wirklich, daß ich gegen die Demokratie Position beziehe, wenn ich sage, die öffentliche Meinung existiert nicht, die Umfragen sind gefährlich. Weil, sagen sie, die Umfragen darin bestehen, die Leute zu beraten, und was gibt es demokratischeres? In Wirklichkeit sehen sie überhaupt nicht, daß die Umfrage kein Instrument demokratischer Beratung, sondern ein Instrument rationaler Demagogie ist. Die Demagogie besteht darin, die Triebe, die Erwartungen, die Leidenschaften sehr gut zu kennen, um sie zu manipulieren oder ganz einfach, um sie zu registrieren, sie zu bestätigen, was das Schlimmste sein kann (man denke nur an die Todesstrafe oder den Rassismus). Die Sozialwissenschaften werden oft als Herrschaftsinstrument benutzt.
(Pierre Bourdieu – Was anfangen mit der Soziologie?, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)
Der Journalismus ist tatsächlich einer der Orte, an dem die politische Magie entsteht und bestätigt wird. Damit Magie entsteht (…), braucht es eine Menge sozialer Voraussetzungen: Zauberer, Assistenten, Publikum usf. Und auch die Welt der politischen Magie macht eine Reihe von Teilnehmern erforderlich, nicht nur Parlamente und Abgeordnete: Journalisten, Umfrageinstitute, Kommunikationsberater – auch Intellektuelle, oder genauer: Journalisten, die sich als Intellektuelle aufspielen.
Man spricht (…) über die Rolle der Journalisten im Golfkrieg. Man spricht aber nicht – oder zuwenig – über den Alltag, über das, was der Journalismus alltäglich macht, wenn er eigentlich nur funktioniert, um die Reden, die die Politiker füreinander halten, zu verstärken und ihnen einen Resonanzboden zu geben. Heute reden die Politiker nämlich eigentlich zu niemand anderem mehr als zu sich selbst. Sie reden, um nichts zu sagen, und innerhalb stundenlanger, nichtssagender Ausführungen fällt dann ein Halbsatz, der gezielt eingesetzt wird, damit er von den Journalisten verstanden, aufgenommen und als Spielball in das politische Spiel eingebracht wird. Das Ganze hat Ähnlichkeit mit einem Schachspiel, bei dem gewiefte Spieler ihre Strategien erproben. Und wie ein Schachspiel schottet sich das Machtspiel nach außen ab, wird hermetisch, Objekt »kennerischer« Kommentare von Insidern, gesellschaftlich belanglos. Die Politiker sprechen zueinander, sie sprechen nicht zur Gesellschaft. Sie geben sich den Anschein, zur Gesellschaft zu sprechen.
(Pierre Bourdieu – Politik und Medienmacht, in: Der Tote packt den Lebenden)
Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden durch Leute, die weder das Recht, noch das Wissen, noch die Kraft dazu haben… Regiert sein heißt, bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung versteuert, patentiert, notiert, registriert, erfasst, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, lizensiert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, behindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden. Es heißt, unter dem Vorwand der öffentlichen Nützlichkeit und im Namen des Allgemeininteresses ausgenutzt, verwaltet, geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepresst, getäuscht, bestohlen zu werden; schließlich bei dem geringsten Widerstand, beim ersten Wort der Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht, beleidigt, verfolgt, mißhandelt, zu Boden geschlagen, entwaffnet, geknebelt, eingesperrt, füsiliert, beschossen, verurteilt, verdammt, deportiert, geopfert, verkauft, verraten und obendrein verhöhnt, gehänselt, beschimpft und entehrt zu werden. Das ist die Regierung, das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre Moral.
(Pierre-Joseph Proudhon – Idée générale de la Révolution au dix-neuvième siècle, 1851)
Wer sich nicht mit Politik befaßt, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei.
(Max Frisch)
„Was hat sich geändert?“
– „Ihr. Die Studenten, die vor mir sitzen.“
„Weil wir schlauer sind, wissen wie der Hase läuft, weil wir für diese Scheißer einfach nicht ins Gras beißen wollen…“
– „Weil ihr so viel Abstand wie möglich zwischen euch und die wahre Welt bringen wollt und diese Scheißer (…), die bauen auf eure Apathie, die bauen auf eure vorsätzliche Ignoranz. Darauf begründen die ihre Strategien. Ihr gebt die Vorlage und die probieren aus, wie weit sie gehen können.“
„Jetzt bin ich schuld an allem..? Ich bin schuld, weil ich mir ein schönes Leben machen will, weil ich es kann, weil ich clever genug dafür bin? Wollen Sie mich beschuldigen, weil ich keine Lust hab‘, Seite an Seite mit Ihnen auf ’nem alternativen Bauernhof zu schuften? Doc, Sie reden echt schon genau so wie meine Eltern: Dauernd die Leier, dass ich es ja so viel schöner habe als sie früher und dann, dann machen sie mir die Hölle heiß, dass ich die Frechheit habe, es zu genießen.“
– „Todd, was nützt Ihnen der 90.000 Dollar teure Benz, wenn Sie nicht nur einen leeren Tank haben, sondern auch die Straßen und Highways so runtergekommen sind wie in der Dritten Welt? Wenn Ihre ganzen Tiraden über Kongress und Politik wahr wären, wenn es so schlimm steht, so schlimm, wie Sie sagen, wenn tausende Amerikaner gefallen sind und es täglich mehr werden, wie vermutlich im Moment, verraten Sie mir: Wie können Sie Ihr schönes Leben genießen? Rom steht in Flammen, so sieht’s aus! Und das Problem sind nicht die Brandstifter, da ist Hopfen und Malz verloren, das Problem sind wir, wir alle, die untätig sind, die Zeit vertun. Wir alle lavieren nur um das Feuer herum. Ich sag‘ Ihnen was: Es gibt Menschen da draußen, die jeden Tag dafür kämpfen, die Welt ein wenig besser zu machen…“
„Sie meinen, wer wagt gewinnt und wer nicht wagt, kann nicht gewinnen, oder was? (…) Aber worin liegt der Unterschied, wenn man am Ende sowieso verliert?“
– „Du hast etwas unternommen.“
Neueste Kommentare