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Die moder­ne Geschich­te hat, den­ke ich, hin­rei­chend bewie­sen, dass jeder Mensch, oder fast jeder, unter gewis­sen Vor­aus­set­zun­gen das tut, was man ihm sagt; und, ver­zeiht mir, die Wahr­schein­lich­keit ist gering, dass ihr die Aus­nah­me seid – so wenig wie ich. Wenn ihr in einem Land und in einer Zeit gebo­ren seid, wo nicht nur nie­mand kommt, um eure Frau und eure Kin­der zu töten, son­dern auch nie­mand, um von euch zu ver­lan­gen, dass ihr die Frau­en und Kin­der ande­rer tötet, dann dan­ket Gott und zie­het hin in Frie­den. Aber bedenkt immer das eine: Ihr habt viel­leicht mehr Glück gehabt als ich, doch ihr seid nicht bes­ser. Denn soll­tet ihr so ver­mes­sen sein, euch dafür zu hal­ten, seid ihr bereits in Gefahr. Gern stel­len wir dem Staat – ob er tota­li­tär ist oder nicht – den gewöhn­li­chen Men­schen gegen­über, die Laus oder das klei­ne Licht. Dabei ver­ges­sen wir jedoch, dass der Staat aus Men­schen besteht, mehr oder weni­ger gewöhn­li­chen Men­schen, ein jeder mit sei­nem Leben, sei­ner Geschich­te, jeder mit sei­ner Ver­ket­tung von Zufäl­len, die dafür gesorgt haben, dass er sich eines Tages auf der rich­ti­gen Sei­te des Gewehrs oder Doku­ments wie­der­fin­det, wäh­rend ande­re auf der fal­schen ste­hen. Die­ser Gang der Ereig­nis­se ist in den sel­tens­ten Fäl­len das Ergeb­nis einer Ent­schei­dung oder gar einer cha­rak­ter­li­chen Ver­an­la­gung. Und die Opfer sind in der über­wie­gen­den Mehr­zahl der Fäl­le nicht des­halb gefol­tert oder getö­tet wor­den, weil sie gut waren, eben­so wenig wie ihre Pei­ni­ger sie aus Bos­heit gequält haben. Das zu glau­ben wäre reich­lich naiv; man braucht sich nur in einer belie­bi­gen Büro­kra­tie umzu­se­hen, und sei es die des Roten Kreu­zes, um sich davon zu über­zeu­gen. (…) Die Maschi­ne­rie des Staa­tes nun ist aus dem glei­chen Sand geba­cken wie das, was sie Korn für Korn zu Staub zer­mahlt. Es gibt sie, weil alle damit ein­ver­stan­den sind, dass es sie gibt, sogar – und häu­fig bis zum letz­ten Atem­zug – ihre Opfer. Ohne die Höß, Eich­manns, Goglid­zes, Wysch­in­skis, aber auch ohne die Wei­chen­stel­ler, die Beton­fa­bri­kan­ten und die Buch­hal­ter in den Minis­te­ri­en wäre ein Sta­lin oder ein Hit­ler nur einer jener von Hass und ohn­mäch­ti­gen Gewalt­fan­ta­sien auf­ge­bläh­ten Säcke gewesen.
Jona­than Lit­tell – Die Wohlgesinnten

Wir bre­chen in den Kos­mos auf, wir sind auf alles vor­be­rei­tet, das heißt, auf die Ein­sam­keit, auf den Kampf, auf Mar­ty­ri­um und Tod. Aus Beschei­den­heit spre­chen wir es nicht laut aus, aber wir den­ken uns manch­mal, daß wir groß­ar­tig sind. Indes­sen, indes­sen ist das nicht alles, und unse­re Bereit­schaft erweist sich als Thea­ter. Wir wol­len gar nicht den Kos­mos erobern, wir wol­len nur die Erde bis an sei­ne Gren­zen erwei­tern. Die einen Pla­ne­ten haben voll Wüs­te zu sein, wie die Saha­ra, die ande­ren eisig wie der Pol oder tro­pisch wie der bra­si­lia­ni­sche Urwald. Wir sind huma­ni­tär und edel, wir wol­len die ande­ren Ras­sen nicht unter­wer­fen, wir wol­len ihnen nur unse­re Wer­te über­mit­teln und, als Gegen­ga­be, ihrer aller Erbe anneh­men. Wir hal­ten uns für die Rit­ter vom hei­li­gen Kon­takt. Das ist die zwei­te Lüge. Men­schen suchen wir, nie­man­den sonst. Wir brau­chen kei­ne ande­ren Wel­ten. Wir brau­chen Spie­gel. Mit ande­ren Wel­ten wis­sen wir nichts anzu­fan­gen. Es genügt unse­re eine, und schon ersti­cken wir an ihr. Wir wol­len das eige­ne idea­li­sier­te Bild fin­den; die­se Glo­ben, die­se Zivi­li­sa­tio­nen haben voll­kom­me­ner zu sein als die unse­re, in ande­ren wie­der­um hof­fen wir das Abbild unse­rer pri­mi­ti­ven Ver­gan­gen­heit zu fin­den. Indes­sen ist auf der ande­ren Sei­te etwas, was wir nicht akzep­tie­ren, woge­gen wir uns weh­ren, und schließ­lich haben wir von der Erde nicht nur das pure Destil­lat aus lau­ter Tugen­den mit­ge­bracht, das heroi­sche Stand­bild des Men­schen! Wir sind so hier­her­ge­flo­gen, wie wir wirk­lich sind, und wenn die ande­re Sei­te uns die­se Wahr­heit zeigt, die­sen Teil von ihr, den wir ver­schwei­gen, – dann kön­nen wir das nicht hinnehmen!
Sta­nis­law Lem – Solaris

»Ver­giß nicht, ich habe zwei Gesich­ter. Ich habe gelernt, eine gewis­se Freu­de dar­an zu haben, aber trotz­dem ist es nicht leicht, zwei Gesich­ter zu haben. Das erfor­dert Anstren­gung, das erfor­dert Dis­zi­plin! Du mußt ver­ste­hen, daß ich alles, was ich, gern oder ungern, tue, mit dem Ehr­geiz tue, es gut zu machen. Und sei es nur, um mei­ne Stel­le nicht zu ver­lie­ren. Es ist sehr schwer, per­fekt zu arbei­ten und die­se Arbeit gleich­zei­tig zu verachten.«
»Oh, du kannst es, du bist dazu imstan­de, du bist geni­al«, sagt Jean-Marc.
»Ja, ich kann zwei Gesich­ter haben, aber ich kann sie nicht gleich­zei­tig haben. Bei dir habe ich das Gesicht, das sich lus­tig macht. Wenn ich im Büro bin, tra­ge ich das seriö­se Gesicht. Ich bekom­me die Unter­la­gen der Leu­te vor­ge­legt, die sich bei uns um eine Stel­le bewer­ben. Ich muß sie emp­feh­len oder ein nega­ti­ves Votum abge­ben. Man­che drü­cken sich in ihrem Brief in einer so per­fekt moder­nen Spra­che aus, mit all den Kli­schees, mit dem Jar­gon, mit dem gan­zen obli­ga­to­ri­schen Opti­mis­mus. Ich brau­che sie nicht zu sehen oder mit ihnen zu spre­chen, um sie zu ver­ab­scheu­en. Ich weiß aber, daß sie gut und eif­rig arbei­ten wer­den. Und dann gibt es jene, die sich unter ande­ren Umstän­den sicher­lich der Phi­lo­so­phie, der Kunst­ge­schich­te, dem Fran­zö­sisch­un­ter­richt gewid­met hät­ten, heu­te aber, in Erman­ge­lung von etwas Bes­se­rem, fast aus Ver­zweif­lung, suchen sie bei uns Arbeit. Ich weiß, daß sie die Stel­le, um die sie sich bewer­ben, ins­ge­heim ver­ach­ten und daß sie also mei­ne Brü­der sind. Und ich muß entscheiden.«
»Und wie ent­schei­dest du?«
»Ein­mal emp­feh­le ich den, der mir sym­pa­thisch ist, ein­mal den, der gut arbei­ten wird. Ich hand­le halb als Ver­rä­ter an mei­ner Fir­ma, halb als Ver­rä­ter an mir selbst. Ich bin ein dop­pel­ter Ver­rä­ter. Und die­sen dop­pel­ten Ver­rat betrach­te ich nicht als Nie­der­la­ge, son­dern als tol­le Leis­tung. Wie lan­ge denn wer­de ich noch in der Lage sein, mei­ne zwei Gesich­ter zu wah­ren? Das ist sehr anstren­gend. Der Tag wird kom­men, an dem ich nur ein ein­zi­ges Gesicht haben wer­de. Das schlech­te­re von bei­den natür­lich. Das seriö­se. Das zustim­men­de. Wirst du mich dann noch lieben?«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

Es stimmt, daß ich unge­schickt bin; ich kann kei­ne Gefüh­le aus­drü­cken; kaum habe ich ein paar Wor­te dazu gesagt, mache ich mich über mich sel­ber lus­tig, mache ich mich über den ande­ren lus­tig, zer­stö­re ich die gan­ze Wir­kung durch einen iro­ni­schen Satz. Es ist ein Miß­trau­en gegen mich selbst; ich stau­ne, mich mei­ne Emp­fin­dun­gen preis­ge­ben zu hören, wie alle ande­ren es tun. Ich höre mir zu, als wäre es jemand ande­res, der da spricht, und glau­be, nicht mehr auf­rich­tig zu sein; durch die Wor­te erschei­nen mir mei­ne Gefüh­le auf­ge­bla­sen und fremd. Ich mei­ne dann, man wird mich belä­cheln wie ein klei­nes Mäd­chen, das von Din­gen spricht, die es nicht kennt. Es ist nicht mög­lich, daß ich es bin, die sagt: Ich lie­be Sie. Wenn man mir nun glaub­te, und ich hät­te mich getäuscht! Also muß ich mei­ne Sät­ze immer mit einer Pirou­et­te been­den, die zu sagen scheint: «Sie lie­ben mich, da Sie es mir ja sagen; wenn ich jedoch lie­be, wie ich es tue, fürch­te ich, das ist so nicht rich­tig – gewiß kön­nen alle ande­ren bes­ser lie­ben und es bes­ser sagen als ich.» Ich habe Angst, eines Tages zu ent­de­cken, daß ich nicht lie­be, und las­se schon im vor­aus Zwei­fel an mei­nen Gefüh­len ent­ste­hen, da ich befürch­te, man könn­te mir am Ende Unauf­rich­tig­keit vor­wer­fen; also male ich mir tau­sen­der­lei Umstän­de aus, in denen mei­ne Lie­be ver­mut­lich nicht aus­rei­chen wür­de. Ich behaup­te, ich wür­de nicht treu sein, dabei ver­weh­re ich es jedem ande­ren, mich ins Thea­ter zu beglei­ten oder mir die Fin­ger­spit­zen zu küs­sen, um dem­je­ni­gen, dem ich gesagt habe, ich lieb­te ihn nicht, nicht zu miß­fal­len, und sei es nur in Gedan­ken. Indem ich also leug­ne, daß mein Herz liebt, bin­de ich mich stär­ker als der­je­ni­ge, der mir sagt: Ich lie­be dich.
Ich wünsch­te, man wür­de mich durch­schau­en; doch man sieht nur die Pirou­et­ten und die Ironie.
Mar­cel­le Sau­va­geot – Fast ganz die Deine

Wenn du mit einem rea­len Men­schen zusam­men­sein und des­sen Wesens­kern spü­ren willst, mußt du mit ihm allein sein. Jedes wei­te­re Paar Augen und Ohren ver­wäs­sert nur die­sen Wesens­kern. Wenn du mit zwei dei­ner bes­ten Freun­de essen gehst, wirst du nicht mit zwei voll­stän­di­gen Per­so­nen unter­wegs sein, und sie wer­den sich nicht so offen beneh­men, wie sie es täten, wenn sie mit dir allein wären. Bist du mit einem Freund oder einer Freun­din auf einer gro­ßen Par­ty, erlebst du nur einen Bruch­teil sei­ner oder ihrer wah­ren Per­sön­lich­keit. Über­tra­ge die­sen Gedan­ken auf natio­na­le, glo­ba­le oder sogar evo­lu­tio­nä­re Zusam­men­hän­ge, und schon ergibt viel­leicht alles, was je gesche­hen ist, mehr Sinn.
Joey Goe­bel – Freaks

Ich begrei­fe mein Ver­har­ren in die­sem immer glei­chen Leben, die­sem Staub, die­sem Schmutz an der Ober­flä­che des Nie-Ver­än­derns ein­zig als ein Feh­len per­sön­li­cher Hygiene.
So wie wir unse­ren Kör­per waschen, soll­ten wir auch unser Schick­sal waschen, das Leben wech­seln wie Wäsche – nicht, um uns am Leben zu erhal­ten, wie durch Nah­rung oder Schlaf, son­dern aus jener wert­frei­en Selbst­ach­tung, die genau wir Hygie­ne nennen.
Bei vie­len Men­schen ist die­ser Man­gel an Hygie­ne nicht etwa als bewußt gewollt zu ver­ste­hen, son­dern viel­mehr als ein Ach­sel­zu­cken ihres Intel­lekts. Und bei vie­len ist ein immer glei­ches stumpf­sin­ni­ges Leben nicht auf eine freie Ent­schei­dung zurück­zu­füh­ren oder auf ein natür­li­ches Sich-Schi­cken in eine unge­woll­te Exis­tenz, son­dern auf eine getrüb­te Wahr­neh­mung ihrer selbst, auf einen iro­ni­schen Auto­ma­tis­mus ihres Intellekts.
Man­chen Schwei­nen wider­strebt die eige­ne Schwei­ne­rei, den­noch las­sen sie nicht ab von ihr, und zwar aus dem glei­chen über­stei­ger­ten Gefühl her­aus, aus dem ein ver­ängs­tig­ter Mensch die Gefahr nicht flieht. Wie ich suh­len sich man­che Schwei­ne in ihrem Schick­sal und las­sen, fas­zi­niert vom eige­nen Unver­mö­gen, nicht ab von der Bana­li­tät ihres Lebens. Sie sind wie Vögel, die allein der Gedan­ke an die Schlan­ge fes­selt, wie Flie­gen, die blind­lings Baum­stäm­me umkrei­sen, bis sie in die kleb­ri­ge Reich­wei­te einer Cha­mä­le­on­zun­ge geraten.
Fer­nan­do Pes­soa – Das Buch der Unruhe

Unter einer Stra­ßen­la­ter­ne steht ein Betrun­ke­ner und sucht und sucht. Ein Poli­zist kommt daher, fragt ihn, was er ver­lo­ren habe, und der Mann ant­wor­tet: »Mei­nen Schlüs­sel«. Nun suchen bei­de. Schließ­lich will der Poli­zist wis­sen, ob der Mann sicher ist, den Schlüs­sel gera­de hier ver­lo­ren zu haben, und jener ant­wor­tet: »Nein, nicht hier, son­dern dort hin­ten – aber dort ist es viel zu finster.«
Fin­den Sie das absurd? Wenn ja, suchen auch Sie am fal­schen Ort. Der Vor­teil ist näm­lich, daß eine sol­che Suche zu nichts führt, außer »mehr des­sel­ben«, näm­lich nichts.
(…)
Die Bedeu­tung die­ses Mecha­nis­mus für unser The­ma liegt auf der Hand. Er kann ohne die Not­wen­dig­keit einer Spe­zi­al­aus­bil­dung auch vom Anfän­ger ange­wandt wer­den – ja, er ist so weit ver­brei­tet, daß er seit den Tagen Freuds Gene­ra­tio­nen von Spe­zia­lis­ten ein gutes Ein- und Aus­kom­men bie­tet; wobei aller­dings zu bemer­ken ist, daß sie ihn nicht das Mehr-des­sel­ben-Rezept, son­dern Neu­ro­se nennen.
Doch nicht auf den Namen soll es uns ankom­men, son­dern auf den Effekt. Die­ser aber ist garan­tiert, solan­ge der Unglücks­aspi­rant sich an zwei ein­fa­che Regeln hält: Ers­tens, es gibt nur eine mög­li­che, erlaub­te, ver­nünf­ti­ge, sinn­vol­le, logi­sche Lösung des Pro­blems, und wenn die­se Anstren­gun­gen noch nicht zum Erfolg geführt haben, so beweist das nur, daß er sich noch nicht genü­gend ange­strengt hat. Zwei­tens, die Annah­me, daß es nur die­se ein­zi­ge Lösung gibt, darf selbst nie in Fra­ge gestellt wer­den; her­um­pro­bie­ren darf man nur an der Anwen­dung die­ser Grundannahme.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Die Frau: Super muß ich sein, sonst ver­lier ich sei­ne Lie­be. Der Mann: Ich muß super sein, sonst ver­lier ich ihre Lie­be. Und bei­de waren ziem­lich super und hat­ten Angst, ent­larvt zu wer­den. Und eines Tages sprach die Frau zum Mann: Ich hal­te das nicht län­ger aus, ich bin unsu­per, ich bin nicht, wie du meinst, und das zer­reißt mich. Und Glei­ches sprach dar­auf der Mann. Sie gin­gen aus­ein­an­der, und zwar – laut Ste­no­gramm – »damit ein jedes von uns bei­den wie­der zu sich finde«.
Ein All­tags­mär­chen, haus­ba­cken, wahr und mick­rig. (…) Ver­mischt mit süßer Mut­ter­milch hat man dir ein­ge­flößt den Ur-Ver­dacht: Lie­be ist Lohn. Wer blöd her­um­kräht und trot­zig sei­nen Stink zurück­hält, ver­dient kein war­mes Lächeln. Gra­tis ist nichts. Sei anders, als du bist: Der Schmerz der Dif­fe­renz erstirbt in seli­ger Lieb­ko­sung. (So wird der Wunsch zum Anders­sein ein obli­ga­tes See­len­re­qui­sit. Gelingt dir die Ver­wand­lung, so spürst du manch­mal, daß ein Affe aus dem Spie­gel schaut. Gelingt sie nicht, so fühlst du dich als Ödling. Bedrü­cken tut dich beides.)
(Mar­kus Wer­ner – Froschnacht)

So lan­ge ich zurück­den­ken kann, war ich noch nie­mals rich­tig glück­lich. Es liegt nicht an per­sön­li­chen Eitel­kei­ten, dass es so ist, wie es ist. Mei­ne Kind­heit war erfüllt und ich übte bis vor kur­zem einen ange­se­he­nen Beruf aus, der es mir ermög­lich­te, ein gutes Leben zu füh­ren, zumin­dest mate­ri­ell. Ich bin emo­tio­nal gut aus­ge­gli­chen, wie man es wohl aus­drü­cken wür­de, und kann mich in Lie­bes­din­gen nicht all­zu viel beschwe­ren. Den­noch hat es da in mei­nem Leben schon immer ande­re Ein­flüs­se gege­ben, Inter­fe­ren­zen sozu­sa­gen, Stör­fak­to­ren, die es mir unmög­lich mach­ten, mit die­sem Leben wirk­lich glück­lich zu sein. Es kommt mir vor, als blick­te ich durch trü­bes Glas, das mir den gan­zen schö­nen Aus­blick rui­niert. Ich habe mich hin und wie­der glück­lich gewähnt, doch ich war es nicht. Die Welt, die mich umgibt, drückt wie ein Stein im Schuh, der jeden noch so klei­nen Schritt mit Schmer­zen unter­legt. Es ist der Zustand die­ser Welt, der stö­rend auf mein Leben ein­wirkt, der Stein im Schuh, das trü­be Glas, das die­ses Leben uner­träg­lich wer­den lässt. Jede per­sön­li­che Freu­de wird zur Far­ce, wenn sie von Unglück umge­ben ist. Wie führt man ein gutes Leben in einer schlech­ten Welt?

Ich habe schon vor lan­ger Zeit damit auf­ge­hört, ande­ren Men­schen von mei­nem Unbe­ha­gen zu erzäh­len, denn ihre Ant­wor­ten sind immer gleich: »Das Leben ist kein Wunsch­kon­zert«, sagen sie, oder: »Es ist nun mal so«, sie mei­ßeln Phra­sen in die Welt wie: »Ande­ren geht es viel schlech­ter« und »Nimm’s nicht so schwer«, sie ant­wor­ten nicht ernst­haft, sie geben nur wie­der. Als wür­de das irgend­et­was ändern, stel­len sie Sprü­che in den Raum und wol­len damit Trost spen­den oder abspei­sen, das eine kommt dem ande­ren gleich, denn es sind sinn­lo­se, inhalts­lee­re Sät­ze. »Hau doch ab, wenn es dir hier nicht gefällt«, legen sie mir unmiss­ver­ständ­lich nahe, ein ums ande­re Mal, doch wo ist es bes­ser, fra­ge ich mich dann.

Sie mei­nen, ich müs­se nur end­lich erwach­sen wer­den und mich ein­fach bloß zusam­men­rei­ßen, müs­se begrei­fen, dass all das nor­mal ist, wor­über ich beun­ru­higt bin. Ihnen fällt über­haupt nicht auf, wie oft sie »man muss« und wie sel­ten sie »ich will« ver­wen­den. Sie ver­lan­gen Dis­zi­plin, doch ich möch­te nie­man­des Skla­ve sein, nicht ein­mal mein eige­ner, oder viel­mehr schon gar nicht. Sie wer­fen mir unauf­hör­lich vor, ich käme nicht zurecht mit die­ser Welt. Sie sagen, ich sei depres­siv und krank, als wäre es ein Aus­druck der geis­ti­gen Gesund­heit, an kran­ke Ver­hält­nis­se gut ange­passt zu sein. Sie möch­ten mich behan­deln, mich nor­ma­li­sie­ren, mich wie­der ein­glie­dern in die­se Welt, mit der ich mei­nen Frie­den schlie­ßen soll, doch wenn sie Frie­den sagen, mei­nen sie bloß Kapi­tu­la­ti­on. Sie wol­len, dass ich ver­leug­ne, wie ich mich wirk­lich füh­le, sie möch­ten mein Unbe­ha­gen in einen Kas­ten sper­ren und die­sen dann irgend­wo ver­sen­ken, auf dass er für immer ver­schwun­den bleibt. Sie drän­gen mich dazu, mein inne­res Leben auf­zu­ge­ben, um am äuße­ren zu par­ti­zi­pie­ren. Ich soll es jenen recht machen, die mich als Men­schen negie­ren. Aber bin ich wirk­lich krank? Bin ich krank, weil ich aus dem her­aus­fal­le, was sie allen Erns­tes als nor­mal bezeichnen?

Es gilt als Aus­druck von Nor­ma­li­tät, sich bereit­wil­lig in eine Gesell­schaft ein­zu­fü­gen, die sys­te­ma­tisch ihre Grund­la­gen zer­stört und die sich um das Wohl­erge­hen ihrer Insas­sen nicht son­der­lich schert. Es ist nor­mal, dass wir mehr Geld und Krea­ti­vi­tät in Waf­fen oder gegen­sei­ti­ge Abschre­ckung inves­tie­ren als in Bil­dung und Kul­tur, weil wir uns so sehr bemü­hen, das Gegen­ein­an­der zu opti­mie­ren, wäh­rend das Für­ein­an­der brach­liegt. Es ist nor­mal, dass die­je­ni­gen, die Krie­ge vom Zaun bre­chen und ihre Mit­men­schen wie wert­lo­sen Dreck behan­deln, als Mäch­ti­ge in den Par­la­men­ten und Auf­sichts­rä­ten sit­zen, in unse­ren Regie­run­gen und wich­ti­gen Ent­schei­dungs­gre­mi­en. Wir sto­ßen uns nicht dar­an, dass Wis­sen aus wirt­schaft­li­chen Grün­den unter Ver­schluss gehal­ten wird, anstatt es zum Woh­le der All­ge­mein­heit offen zur Ver­fü­gung zu stel­len, und wir neh­men es anstands­los hin, uns Geset­zen beu­gen zu müs­sen, von denen nur weni­ge pro­fi­tie­ren, weil wir es anders nie­mals ken­nen­ge­lernt haben. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, auch nur ansatz­wei­se von Ver­schwen­dung zu reden, wenn so vie­le der klügs­ten Köp­fe ihre kost­ba­re Zeit damit ver­brin­gen, nutz­lo­se Din­ge zu ver­kau­fen, die weder benö­tigt noch begehrt wer­den, in Beru­fen, die jeden Tag aufs Neue dazu bei­tra­gen, die Welt ein klei­nes biss­chen destruk­ti­ver zu gestal­ten. Es ist uns egal, dass die einen ster­ben, wäh­rend die ande­ren an die­sem Tod ver­die­nen, so wie wir uns auch gleich­mü­tig dar­an gewöhnt haben, Nah­rung zu uns zu neh­men, die uns ver­gif­tet und lang­sam umbringt, solan­ge das für den Her­stel­ler bedeu­tet, ein wenig güns­ti­ger pro­du­zie­ren zu können.

Unser gesam­tes Leben, unse­re Plä­ne und noch die sehn­suchts­volls­ten Träu­me unter­wer­fen wir einem stän­di­gen Zwang, dem sich alles bedin­gungs­los unter­zu­ord­nen hat, doch es stellt für uns kei­ner­lei Wider­spruch dar, wenn wir die­se tota­le Dis­zi­pli­nie­rung dann als höchs­te Form der Unab­hän­gig­keit begrei­fen, als Aus­druck eines selbst­be­stimm­ten Daseins. Wir neh­men sinn­lo­se, see­len­zer­mür­ben­de Jobs an, die wir has­sen und in denen wir uns auf­rei­ben, weil es für uns nichts Unge­wöhn­li­ches ist, dass nur die­je­ni­gen über­le­ben dür­fen, die auch bereit sind, dafür zu arbei­ten, wäh­rend Tau­sen­de täg­lich ver­hun­gern, die ein­fach nur zu arm sind, um sich ihre Mahl­zei­ten über­haupt leis­ten zu kön­nen. Wir defi­nie­ren uns so ehr­gei­zig über die will­kür­lich fest­ge­leg­ten Zah­len, die am Ende des Monats auf unse­rem Kon­to vor­zu­fin­den sind, dass es für uns nicht wirk­lich besorg­nis­er­re­gend ist, wenn eine Hand­voll Men­schen mehr besit­zen kön­nen als der gan­ze gro­ße Rest der Welt; eine Welt, in der ein Leben nur so viel wert ist, wie es erwirt­schaf­ten kann. Zufrie­den­heit, Freu­de und Glück wer­den abhän­gig gemacht von objek­ti­vis­ti­schen Kate­go­rien: mehr haben, mehr kön­nen, mehr sein als ande­re, in einer quan­ti­fi­zier­ba­ren Art und Wei­se, sich dadurch schließ­lich bes­ser, grö­ßer, mäch­ti­ger zu füh­len als sie, wird zum Maß­stab der eige­nen Per­sön­lich­keit, zum Sinn­ge­ber in einer glo­ba­len Konkurrenz.

Jeden Tag neh­men wir bil­li­gend in Kauf, dass für über­flüs­si­gen Luxus unwi­der­ruf­li­cher Scha­den an Umwelt und Ande­ren ent­steht, ohne auch nur einen ernst­haf­ten Gedan­ken dar­an zu ver­schwen­den, wel­che öko­lo­gi­schen und sozia­len Fol­gen unser Han­deln hat. Es ist all­täg­li­che Rou­ti­ne gewor­den, dass Men­schen ster­ben oder wie schwers­te Ver­bre­cher behan­delt wer­den, bloß weil sie den ver­zwei­fel­ten Ver­such wagen, von einem Stück­chen Land zu einem ande­ren zu gelan­gen. Wir bau­en Zäu­ne um uns her­um, damit uns die ande­ren nicht zu nahe kom­men, wir gren­zen uns ab, schlie­ßen uns ein und haben Angst vor­ein­an­der, aber wir sehen dar­in nichts Außer­ge­wöhn­li­ches, es ist uns kein Grund zur Sor­ge. Die Nor­ma­li­tät die­ser Zustän­de, die für mehr und mehr Men­schen nur noch mit Psy­cho­phar­ma­ka zu ver­kraf­ten sind, beun­ru­higt uns nicht. Die­se gan­ze Kata­stro­phe, die uns jeden Tag umgibt, sie betrifft uns zwar, aber sie berührt uns nicht. Wir gehen teil­nahms­los unse­ren Tages­ge­schäf­ten nach, denn das alles ent­hält für uns kei­ne Bot­schaft, außer jener der Selbst­ver­ständ­lich­keit. Wir wis­sen genau dar­über Bescheid und obwohl wir etwas unter­neh­men könn­ten, ändert sich nichts.

Es gibt noch so vie­les, mit dem ich mich genau­so wenig abfin­den kann und auch nicht abfin­den möch­te, zu vie­les, um es auf­zu­zäh­len, weil es jeden Ver­such einer Auf­zäh­lung spren­gen wür­de; die­se gan­zen Nor­ma­li­tä­ten einer fremd­ar­ti­gen Welt, die für mich nicht nor­mal, noch weni­ger lebens­wert ist.

Seit jeher wird an mich die Erwar­tung her­an­ge­tra­gen, ein Teil des­sen zu wer­den, was mir zuwi­der ist, mich ein­zu­glie­dern in eine Welt, die alle Ein­ge­glie­der­ten ver­schlingt. Viel zu häu­fig litt ich unter Alb­träu­men und bin schweiß­ge­ba­det auf­ge­wacht, noch viel häu­fi­ger habe ich erst gar nicht ein­schla­fen kön­nen, weil ich mir aus­mal­te, wie es mit mei­nem Leben wei­ter­ge­hen wür­de in die­ser Welt: Für den Rest mei­ner Tage müss­te ich so gut wie jeden Mor­gen auf­ste­hen, um mit vor­ge­täusch­ter Frei­wil­lig­keit der glei­chen, unbe­deu­ten­den Beschäf­ti­gung nach­zu­ge­hen, was letz­ten Endes doch bloß heißt, das am Leben zu erhal­ten, was alles Leben­di­ge unter sich erdrückt. Mit etwas Glück hät­te ich am Abend ein paar Stun­den die­ser so genann­ten Frei­zeit, die es mir erlau­ben wür­den, mich von mei­nem Arbeits­tag zu erho­len, so wie man den Sol­da­ten ins Laza­rett bringt, nicht aus Nächs­ten­lie­be, son­dern damit er wie­der kämp­fen kann, also wür­de ich ein wenig ein­kau­fen, fern­se­hen, mich betrin­ken oder was man eben macht in jener Zeit, die noch zum Leben übrig­ge­blie­ben ist, doch in der Regel bloß ver­fliegt, dann gin­ge ich schla­fen und alles begän­ne am nächs­ten Tag von vorn. Macht das ein Leben aus?

Wenn ich ehr­lich mit mir sein möch­te, kann und darf ich das nicht Leben nen­nen, obwohl ich mit die­sem trost­lo­sen Schick­sal noch zu den weni­gen Pri­vi­le­gier­ten auf die­sem Pla­ne­ten gehö­ren wür­de, zu jenen, denen es gut zu gehen hat, weil es dem Groß­teil noch viel schlech­ter geht. Ich reagier­te auf die­se Bedro­hung mit Angst­zu­stän­den und Ner­ven­zu­sam­men­brü­chen, ich war regel­mä­ßig panisch und ich wer­de es noch heu­te, wenn ich mir vor­stel­le, dass ich auf die­se Art in die­ser Welt den Rest mei­nes Daseins ver­brin­gen müss­te, oder wenn schon nicht den Rest, dann wenigs­tens den größ­ten Teil. Mein Leben war von Anfang an ein­ge­teilt, fest­ge­legt, geplant; es war nicht vor­ge­se­hen, dass man mich jemals dazu ange­hört hät­te, was ich denn von alle­dem hal­te, das man mir zumu­ten wür­de. Nie­mand hat je gefragt, ob ich damit glück­lich oder auch nur ein­ver­stan­den bin, weil es nie­man­den interessiert.

All das ist nor­mal. Das sind die Nor­men, an denen ich gemes­sen wer­den soll. »So ist eben das Leben«, wird mir immer wie­der weis­ge­macht, und als ›das Leben‹ bezeich­nen sie eine gewalt­sam auf­recht­erhal­te­ne Ord­nung der Welt. Ich woll­te so nicht leben, will so nicht leben, nicht in die­ser Welt, das ist nicht mein Ent­wurf für ein gelun­ge­nes Dasein. Ich sehe nicht die gerings­te Moti­va­ti­on für den Ver­such, mich als pro­duk­ti­ves Mit­glied in die­se Gesell­schaft ein­zu­glie­dern, und ich habe erst­recht kein Inter­es­se dar­an, mich ein­glie­dern zu las­sen, weil ich mit allem, was sie aus­macht, grund­le­gend unein­ver­stan­den bin. Jeden Tag den­ke ich, ich muss hier raus, muss mich aus die­sem Gefäng­nis irgend­wie befrei­en. Je mehr ich die­se Welt begrei­fe, des­to weni­ger möch­te ich dar­in leben, je mehr ich ihre Abläu­fe ver­ste­he, des­to weni­ger möch­te ich dar­an betei­ligt sein. Wie kann man sich den Zustand der Welt betrach­ten und den­noch glück­lich sein?

Der Wahn­sinn liegt in der Nor­ma­li­tät, die für all die­se Zustän­de gleich­gül­tig in Anspruch genom­men wird. Wir alle tra­gen als Kom­pli­zen dazu bei, mit jedem Tag, an dem wir es hin­neh­men, das Destruk­ti­ve als nor­mal zu begrei­fen, denn die Ord­nung der Welt hält unse­re Köp­fe besetzt. Wir sagen Frei­heit und wir mei­nen damit, uns zwi­schen vor­ge­ge­be­nen Alter­na­ti­ven ent­schei­den zu dür­fen. Wir sagen Sicher­heit und wir haben dabei im Sinn, einen lang­fris­ti­gen Arbeits­platz zu fin­den. Wir sagen Glück und wir stel­len uns dar­un­ter vor, im Lot­to zu gewin­nen oder in einer Prü­fung erfolg­reich zu sein. Unse­re Spra­che und unse­re Sehn­süch­te haben sich den Zwän­gen ange­passt, weil sie uns stän­dig als Nor­ma­li­tä­ten vor­ge­hal­ten wer­den, von Insti­tu­tio­nen, Poli­ti­kern, The­ra­peu­ten, Eltern und letz­ten Endes allen, die immer noch glau­ben, die­se Nor­ma­li­tä­ten sei­en nor­mal. Ich bin nicht krank. Krank ist die­se Welt und was mich dar­an depri­miert, nein, melan­cho­lisch wer­den lässt, das ist die Tat­sa­che, dass den­noch ich es bin, der all­ge­mein für krank gehal­ten wird, weil ich mit die­ser ach so wun­der­ba­ren Welt nicht klar­kom­me, mit ihr auch gar nicht klar­kom­men möch­te. Die objek­ti­ven Zustän­de wer­den nicht bes­ser, bloß weil ich ler­ne, damit umzu­ge­hen; es ist ja gera­de die­ses Klar­kom­men, das dem Bestehen­den zum Fort­be­stand ver­hilft. Wer also hat nun Recht? Wer von uns ist krank? Liegt es an mir, wenn ich mich unbe­hag­lich fühle?

Tag um Tag muss­te ich es mir anhö­ren, immer und immer wie­der: »Hau doch ab« und »Wan­der doch aus«, »Werd end­lich erwach­sen« und »Gewöhn dich dran«, »Reiß dich zusam­men« oder »Bring dich doch um«. Frü­her oder spä­ter fand noch jede Dis­kus­si­on, all die mit Wor­ten geführ­ten Frei­heits­kämp­fe, ihr Ende an die­sem einen Punkt, mit einem die­ser Sät­ze. Jedes Mal, wenn ich Ein­spruch erhob gegen die Nor­ma­li­tä­ten die­ser Welt, wenn ich Beschwer­de führ­te gegen jene Zustän­de, mit denen ich nicht leben will, wenn ich Vor­gän­ge kri­ti­sier­te oder wenn ich Nach­rich­ten las und zum Aus­druck brach­te, dass ich mit dem, was geschieht, nicht ein­ver­stan­den bin, waren die Ant­wor­ten immer gleich, die Phra­sen wie ein­stu­diert. Wie viel Zwang wirkt auf einen Men­schen, um sol­che Sät­ze zu formulieren?

Wäh­rend es frü­her schnell hieß: »Dann geh doch nach drü­ben«, heißt es heu­te: »Dann wan­der doch aus«, oder noch schlim­mer, aber ehr­li­cher: »Dann bring dich doch um«. Ich jedoch hän­ge an mei­nem Leben, ich genie­ße es, so gut es mir die Umstän­de erlau­ben. Ich suche mir Frei­räu­me, Schlupf­lö­cher und Hin­ter­tü­ren, die mir ein wenig Luft zum Atmen bie­ten. Es ist nicht mein Leben, das mir Sor­gen berei­tet, son­dern die Welt um mich her­um, das Kor­sett, in das mein Leben hier gesteckt wer­den soll. Was mich bedrückt, ist nicht das Dasein, weder mei­nes noch all­ge­mein, son­dern viel­mehr der Rah­men, in dem es sich wie­der­fin­den muss, jener Zustand der Welt, in den es sich anstands­los ein­zu­bet­ten hat und den ich nicht ver­schul­det habe, es sind die so genann­ten Frei­hei­ten, die mir wie allen ande­ren auf­dring­lich ange­bo­ten wer­den, die aber kei­ne ernst­zu­neh­men­den Frei­hei­ten sind.

Was sagt das über einen Zustand aus, über die­sen Zustand, wenn dir die­je­ni­gen, die ihn so vehe­ment ver­tei­di­gen, als Alter­na­ti­ve nichts wei­ter anzu­bie­ten haben als den Tod? Geh unter oder füge dich, die Wahl ist Kol­laps oder Kol­la­bo­ra­ti­on, also betrach­te ich die­se Men­schen mit einer wach­sen­den Distanz, als wären sie Gehil­fen einer feind­se­li­gen Besat­zungs­macht. Selbst noch, wenn ich ratio­na­le Grün­de prä­sen­tie­re, war­um ich mich in die­se Welt nicht ein­fü­gen möch­te, war­um ich mich an ihren Abläu­fen nicht betei­li­gen will, wer­de ich des unver­nünf­ti­gen Ver­hal­tens beschul­digt, als hät­te man den Maß­stab ein­fach umge­kehrt. »Reiß dich zusam­men«, lau­tet das dau­ern­de Dik­tat, und sie begrei­fen den Befehl als Tugend, wie sie das wohl auch dem Schnor­rer in der Fuß­gän­ger­zo­ne ant­wor­ten wür­den, der sie bloß nach etwas Klein­geld fragt, doch wenn der sich letzt­lich für Ver­wei­ge­rung und gegen Kapi­tu­la­ti­on ent­schei­det, so ist mir des­sen Kon­se­quenz alle­mal sym­pa­thi­scher als der erho­be­ne Zei­ge­fin­ger der­je­ni­gen, die mir erzäh­len wol­len, das Pro­blem sei eine Fra­ge mei­ner eige­nen Befind­lich­keit. Ich füh­le mich ein­sam, wenn ich unter sol­chen Men­schen bin. Kraft Geburt erhielt ich das Recht, ich selbst zu sein, doch seit­dem wird es mir auf die­se Art verwehrt.

Mit jedem zusätz­li­chen Wort lie­ßen mich die­se und ähn­li­che Ant­wor­ten ein klei­nes biss­chen unglück­li­cher wer­den, bis ich mich schließ­lich auf die Suche nach etwas Ande­rem begab, nach einem schö­ne­ren und glück­li­che­ren Leben in einer schö­ne­ren und glück­li­che­ren Welt. Trotz all des Hohns und der stän­di­gen Ent­mu­ti­gun­gen habe ich etwas Bes­se­res gefun­den als den Tod, etwas Hoff­nungs­vol­le­res als Kapi­tu­la­ti­on. Etwas, das sich all jene, die mir der­ar­ti­ge Ant­wor­ten geben oder so genann­te Rat­schlä­ge ertei­len, nie­mals hät­ten träu­men las­sen. Etwas, das sogar ich selbst vor weni­gen Mona­ten noch für nahe­zu unmög­lich gehal­ten hät­te. Ohne viel Gepäck ver­schwand ich eines ganz nor­ma­len Tages aus dem, was ich bis dahin mein Leben genannt hat­te, ich ging fort, ohne gro­ße Rei­se­plä­ne zu schmie­den, und ließ ein für alle Mal zurück, was mich schon viel zu lan­ge unglück­lich gemacht hat­te. Ich fand einen Ort, an dem die Men­schen anders sind, Men­schen, denen es ähn­lich geht wie mir. Ich schloss mich ihnen an, hier fand ich mei­ne Heimat.

Wo ich nun lebe, gibt es kei­ne Armut, weil jeder ein­zel­ne von uns im Reich­tum schwimmt, denn wir haben uns gegen­sei­tig und alles Not­wen­di­ge, das man zum Leben wirk­lich braucht. Es gibt kei­ne zwei­hun­dert Fern­seh­pro­gram­me, kei­ne teu­ren Sport­wa­gen und kei­ne gol­de­nen Was­ser­häh­ne, dafür aber Soli­da­ri­tät, Ver­trau­en und Frei­heit; kei­nen mate­ri­el­len Über­fluss, jedoch auch kei­nen Ver­zicht. Wir haben hier kein Geld, kein Gehalt, weil wir es nicht brau­chen, und wir beu­gen uns kei­nen Herr­schern, weil wir nicht län­ger Beherrsch­te sein möch­ten. Wir ken­nen kei­ne Arbeits­lo­sig­keit, kei­nen Ter­ro­ris­mus und kei­ne Para­noia. Nie­mand wird zu sei­nem Tun gezwun­gen, kei­ner muss sich einem ande­ren irgend­wie unter­ord­nen, es gibt weder Chefs noch Hier­ar­chien, es wer­den kei­ne Befeh­le gege­ben und kein Gehor­sam ver­langt. Wir sind Glei­che unter Glei­chen. Es exis­tiert kein Mili­tär, kei­ne Poli­zei, nie­mand baut Mau­ern und Zäu­ne um sich her­um. Wir gehen auf­ein­an­der zu, anstatt uns gegen­sei­tig die Schä­del ein­zu­schla­gen, tref­fen Ent­schei­dun­gen, indem wir alle gleich­be­rech­tigt dar­in ein­be­zie­hen, wir haben Mit­ge­fühl und zei­gen den gebüh­ren­den Respekt, sowohl im Umgang mit­ein­an­der als auch gegen­über dem, was uns umgibt. Wir neh­men uns so viel wir brau­chen, aber wir zer­stö­ren nicht, wir beu­ten nicht aus, weder uns selbst noch das, wovon wir leben. Das Unwohl­sein über die Nor­ma­li­tä­ten jener Welt, die wir alle­samt zurück­lie­ßen, die Dis­kre­panz zwi­schen Sehn­sucht und Wirk­lich­keit, die­se Span­nung zwi­schen dem, was ist, und den eige­nen Gefüh­len, wird hier nicht als Krank­heit emp­fun­den. Hier bin ich glück­lich. Hier. Endlich.

„Wir ste­hen vor einem Rät­sel“, erklär­te der jun­ge Arzt im Kreis sei­ner Kol­le­gen. „Kein Wort, kei­ne ein­zi­ge Reak­ti­on. Seit Mona­ten ist er in die­sem Zustand, obwohl wir kei­ne neu­ro­lo­gi­sche Ursa­che fest­stel­len kön­nen. Im Gegen­teil. Die Akti­vi­tät in sei­nem Gehirn ist bemerkenswert.“

Was Psych­ia­trie und Psy­cho­lo­gie als Geis­tes­krank­heit vor­füh­ren, ist an die Vor­stel­lung gebun­den, daß es sich dabei um zuneh­men­den Rea­li­täts­ver­lust han­delt. Mehr oder weni­ger Rea­li­täts­be­zug – danach wird alles mensch­li­che Ver­hal­ten klas­si­fi­ziert. »Rea­li­tät« wird dabei aus­schließ­lich als äuße­re Rea­li­tät verstanden.
In der Tat ist der Rea­li­täts­be­zug – sein Feh­len oder der Grad der Erge­ben­heit an die äuße­re Rea­li­tät – ein Ras­ter, in das man Men­schen ein­ord­nen kann und das uns ermög­licht, eine Klas­si­fi­zie­rung vor­zu­neh­men vom psy­cho­ti­schen Ver­hal­ten über die Neu­ro­se zur Nor­ma­li­tät. Doch ein sol­ches Sche­ma ver­deckt, daß es auch noch eine ande­re Art von Krank­heit gibt, die viel gefähr­li­cher ist als die, die vom Ver­lust des Rea­li­täts­be­zugs gekenn­zeich­net ist.
Die­se ande­re Art von Krank­heit zu sehen erfor­dert einen Wech­sel der Blick­rich­tung und eine Abkehr von den her­kömm­li­chen Kate­go­rien. Dann wird man sehen, daß sich hin­ter der Ori­en­tie­rung an der »Rea­li­tät«, die gemein­hin das Kri­te­ri­um für Gesund­heit ist, eine tie­fe­re und weni­ger augen­fäl­li­ge Patho­lo­gie ver­birgt: die des »nor­ma­len« Ver­hal­tens, die Patho­lo­gie der Anpas­sung als Fol­ge der Preis­ga­be des Selbst.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)