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Sinn­kri­se. Ich komm in die Bera­tung, sagt sto­ckend ein Kli­ent, weil ich so komisch trau­rig bin die gan­ze Zeit, weil alles mich so sinn­los dünkt. – (Berich­ti­gung: Dies sagt nicht ein Kli­ent, sehr vie­le sagen es; ich wäh­le stell­ver­tre­tend einen und nenn ihn Zemp und refe­rie­re lückenhaft.)
Wuchs gedrun­gen. Flei­schi­ge Gestalt. Glied­ma­ßen kurz. Gang eher schlep­pend. Gute, blaue Augen. Tre­vi­ra-Hosen, bügel­frei, hand­ge­strick­te Wes­te. Zemp ist ein Volks­schul­leh­rer, Mit­te vier­zig, Fami­lie, im Mili­tär Major.
Weiß Ihre Frau um Ihren Zustand?
Neinnein.
Sie sagen zwei­mal nein, warum?
Ich will es ihr nicht sagen, es wür­de sie belasten.
Spürt sie’s nicht ohnehin?
Ich neh­me mich zusammen.
Sie haben also das Gefühl, es wür­de Ihre Frau belas­ten, wenn Sie ihr anver­trau­ten, wie’s Ihnen wirk­lich geht?
Ja, schon. Ich … ich bin sonst eben nicht so schwach. Ich muß dage­gen kämp­fen, und Sie als Fach­mann, dach­te ich, Sie ken­nen doch die Waffen.
Sie has­sen Ihre düs­te­re Gemütsverfassung?
Sehr.
Und das Gefühl, daß alles sinn­los ist, scheint Ihnen ungehörig?
Es ist ein Virus, wie ein Virus. Ein Überfall.
Ich kür­ze ab: Natür­lich besteht die ers­te Pha­se der »Behand­lung« dar­in, dem Zemp zu zei­gen, daß man auch als Major und Ehe­mann und Vater ein biß­chen schwach sein darf; daß zwei­tens Pro­ble­me sei­ner Art rein waf­fen­tech­nisch nicht zu lösen sind; daß drit­tens ein Sym­ptom so wenig feind­lich wie ein Leucht­turm ist, der auf Gefah­ren­zo­nen hin­weist. – Und in der nächs­ten Pha­se, die ich »poli­tisch« im wei­ten Wort­sinn nen­nen möch­te, geht es dann dar­um, zu erwä­gen, ob Sinn­lo­sig­keits­ge­füh­le und Betrüb­nis nicht allen­falls ver­stan­den wer­den könn­ten als durch­aus ange­mes­se­ne, Intakt­heits­sehn­sucht offen­ba­ren­de Reak­ti­ons­ge­bär­den gegen eine Wirk­lich­keit, die über wei­te Stre­cken so beschaf­fen ist, daß einer, der sich in ihr nicht trau­rig fühlt, sein Trau­er­de­fi­zit betrau­ern müßte.
(Mar­kus Wer­ner – Froschnacht)

Mit Mes­sern kann man sich ver­let­zen, daher soll man sie ver­mei­den; Tür­klin­ken sind tat­säch­lich mit Bak­te­ri­en bedeckt. Wer weiß, ob man mit­ten im Sym­pho­nie­kon­zert nicht doch plötz­lich auf die Toi­let­te muß, oder ob man das Schloß beim Nach­prü­fen nicht irr­tüm­lich auf­ge­schlos­sen hat? Der Ver­nünf­ti­ge ver­mei­det daher schar­fe Mes­ser, öff­net Türen mit dem Ell­bo­gen, geht nicht ins Kon­zert und über­zeugt sich fünf­mal, daß die Tür wirk­lich abge­sperrt ist. Vor­aus­set­zung ist aller­dings, daß man das Pro­blem nicht lang­sam aus den Augen ver­liert. Die fol­gen­de Geschich­te zeigt, wie man das ver­mei­den kann:

Eine alte Jung­fer, die am Fluß­u­fer wohnt, beschwert sich bei der Poli­zei über die klei­nen Jun­gen, die vor ihrem Haus nackt baden. Der Inspek­tor schickt einen sei­ner Leu­te hin, der den Ben­geln auf­trägt, nicht vor dem Haus, son­dern wei­ter fluß­auf­wärts zu schwim­men, wo kei­ne Häu­ser mehr sind. Am nächs­ten Tage ruft die Dame erneut an: Die Jun­gen sind immer noch in Sicht­wei­te. Der Poli­zist geht hin und schickt sie noch wei­ter fluß­auf­wärts. Tags dar­auf kommt die Ent­rüs­te­te erneut zum Inspek­tor und beschwert sich: »Von mei­nem Dach­bo­den­fens­ter aus kann ich sie mit dem Fern­glas immer noch sehen!«

Man kann sich nun fra­gen: Was macht die Dame, wenn die klei­nen Jun­gen nun end­gül­tig außer Sicht­wei­te sind? Viel­leicht begibt sie sich jetzt auf lan­ge Spa­zier­gän­ge fluß­auf­wärts, viel­leicht genügt ihr die Sicher­heit, daß irgend­wo nackt geba­det wird. Eines scheint sicher: Die Idee wird sie wei­ter­hin beschäf­ti­gen. Und das Wich­tigs­te an einer so fest geheg­ten Idee ist, daß sie ihre eige­ne Wirk­lich­keit erschaf­fen kann.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Der Erfolg der »Rea­lis­ten« beruht nicht nur auf ihrer Kunst, sich als Füh­rer unent­behr­lich zu machen, son­dern auch auf der Natur des Gehor­sams jener, die sol­che Füh­rer benö­ti­gen, um ihr Selbst abge­ben zu kön­nen. Deren Bedürf­nis nach Anpas­sung rich­tet ihr gesam­tes Sein danach aus, daß sie Regeln erfül­len. Sie hän­gen an den Buch­sta­ben des Geset­zes und der Ver­ord­nun­gen und zer­stö­ren so die Rea­li­tät unse­rer Gefühls­welt. Auf die­se Wei­se brau­chen sie ihre eige­nen zer­stö­re­ri­schen Impul­se nicht zu erken­nen. Sie fin­den oft ihren Ort in der Büro­kra­tie, wo sie im Namen von Gesetz und Ord­nung Gefüh­le nie­der­wal­zen und sich selbst dabei völ­lig im Recht füh­len können.
Die­se Kon­for­mis­ten sind die Fuß­sol­da­ten der psyo­pa­thi­schen Füh­rer­na­tu­ren und hel­fen ihnen, die Welt in den Abgrund zu trei­ben. Die­se Kol­la­bo­ra­ti­on erst macht die Lage so bedroh­lich. 1940 schrieb ein Beam­ter des deut­schen Jus­tiz­mi­nis­te­ri­ums an sei­nen Minis­ter im Hin­blick auf die Eutha­na­sie, daß die­ser doch sei­nen gan­zen Ein­fluß gel­tend machen sol­le, um end­lich dem gesetz­lo­sen Töten von Geis­tes­kran­ken und Behin­der­ten eine gesetz­li­che Basis zu geben. Die Ehre der gesam­ten Jus­tiz ste­he auf dem Spiel.
Das Gewis­sen bedeu­tet hier nichts, ein­zig die Gewis­sen­haf­tig­keit, wie Roland Kir­bach die­se Hal­tung bit­ter kom­men­tier­te. Die Bereit­schaft, die Regeln höher zu ach­ten als das Leben, macht die unhei­li­ge Alli­anz von Kon­for­mist und Psy­cho­path möglich.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Ich glau­be dar­an, dass das größ­te Geschenk, das ich von jeman­dem emp­fan­gen kann, ist, gese­hen, gehört, ver­stan­den und berührt zu wer­den. Das größ­te Geschenk, das ich geben kann, ist, den ande­ren zu sehen, zu hören, zu ver­ste­hen und zu berüh­ren. Wenn dies geschieht, ent­steht Beziehung.
(Vir­gi­nia Satir)

Der ande­re Trick besteht dar­in, dem Part­ner eben­so hef­ti­ge wie nebel­haf­te Vor­wür­fe zu machen. Wenn er dann wis­sen will, was Sie eigent­lich mei­nen, kön­nen Sie die Fal­le mit dem zusätz­li­chen Hin­weis her­me­tisch schlie­ßen: »Wenn du nicht der Mensch wärest, der du bist, müß­test du mich nicht erst noch fra­gen. Der Umstand, daß du nicht ein­mal weißt, wovon ich spre­che, zeigt klar, welch‘ Geis­tes Kind du bist.« Und a pro­pos Geist: Im Umgang mit soge­nann­ten Geis­tes­kran­ken wird die­se Metho­de seit längs­ter Zeit mit gro­ßem Erfolg ange­wen­det. In den sel­te­nen Fäl­len näm­lich, in denen der Betref­fen­de es wagt, klipp und klar dar­über Aus­kunft zu ver­lan­gen, wor­in in der Sicht der ande­ren sei­ne Ver­rückt­heit denn bestehe, läßt sich die­se Fra­ge als wei­te­rer Beweis für sei­ne Geis­tes­ge­stört­heit hin­stel­len: »Wenn du nicht ver­rückt wärest, wüß­test du, was wir mei­nen.« Da staunt der Laie und der Fach­mann wun­dert sich – denn hin­ter einer Ant­wort die­ser Art steht Genia­li­tät: Der Ver­such, Klar­heit zu schaf­fen, wird flugs ins Gegen­teil umge­deu­tet. Der ande­re gilt also für ver­rückt, solan­ge er die Bezie­hungs­de­fi­ni­ti­on »Wir sind nor­mal, du bist ver­rückt« still­schwei­gend hin­nimmt, und für ver­rückt, wenn er sie in Fra­ge stellt. Nach die­sem erfolg­lo­sen Exkurs in die mensch­li­che Umwelt kann er ent­we­der sich in hilf­lo­ser Wut die Haa­re aus­rau­fen, oder in Schwei­gen zurück­fal­len. Aber auch damit beweist er nur zusätz­lich, wie ver­rückt er ist, und wie recht die ande­ren schon immer hat­ten. (…) In den Eta­blis­se­ments, die sich für die Behand­lung sol­cher Zustän­de für kom­pe­tent hal­ten, läßt sich die­se Tak­tik mit Erfolg anwen­den. Man stellt es dem soge­nann­ten Pati­en­ten zum Bei­spiel frei, nach eige­nem Ermes­sen zu ent­schei­den, ob er an den Grup­pen­sit­zun­gen teil­neh­men will oder nicht. Lehnt er dan­kend ab, so wird er hilf­reich-ernst­haft auf­ge­for­dert, sei­ne Grün­de anzu­ge­ben. Was er dann sagt, ist ziem­lich gleich­gül­tig, denn es ist auf jeden Fall eine Mani­fes­ta­ti­on sei­nes Wider­stan­des und daher krank­haft. Die ein­zi­ge ihm offen­ste­hen­de Alter­na­ti­ve ist also die Teil­nah­me an der Grup­pen­the­ra­pie, doch darf er nicht anmer­ken las­sen, daß ihm ja nichts ande­res übrig­bleibt, denn sei­ne eige­ne Lage so zu sehen, bedeu­te­te immer noch Wider­stand und Ein­sichts­lo­sig­keit. Er muß also »spon­tan« teil­neh­men wol­len, gibt aber gleich­zei­tig mit sei­ner Teil­nah­me zu, daß er krank ist und The­ra­pie braucht. In gro­ßen Gesell­schafts­sys­te­men mit Irren­haus­cha­rak­ter ist die­se Metho­de unter dem respekt­los-reak­tio­nä­ren Namen Gehirn­wä­sche bekannt.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Ein Over­kill an Infor­ma­tio­nen, das Errei­chen des eige­nen Auf­nahm­eli­mits, Über­for­de­rung am Arbeits­platz, das Ver­zwei­feln an gesell­schaft­li­chen Zumu­tun­gen, phy­si­sche Beschwer­den – all das spielt kei­ne Rol­le, denn man hat sich an den Trott gewöhnt. Man erscheint immer wie­der, ob in der Schu­le oder am Arbeits­platz, ob auf direk­ten Befehl oder indi­rek­ten Druck – weil man soll. Obwohl man weiß, dass man auch an die­sem Abend mit Kopf­schmer­zen zu Hau­se ankom­men wird; obwohl man weiß, dass man von dem gan­zen Kram, der einem im Lau­fe des Tages abge­for­dert wird, schon seit lan­ger Zeit genug hat, weil es ein­fach zu viel, zu ner­vig, zu belas­tend ist; obwohl man weiß, man wird noch nicht ein­mal Gele­gen­heit haben, um über das nach­zu­den­ken, was man mit­ge­nom­men, was man erfah­ren, was man über­stan­den hat. Über­for­de­rung, Erschöp­fung, Kol­laps, Kapi­tu­la­ti­on und Schei­tern – die Dia­gno­se, sei sie nun von außen her­an­ge­tra­gen oder bereits ver­in­ner­licht, läuft in der Regel auf per­sön­li­che Defi­zi­te hin­aus, auf eige­ne Unzu­läng­lich­keit, weil man mit den Anfor­de­run­gen nicht klar­ge­kom­men ist.

Man setzt sich abends auf das hei­mi­sche Sofa, schal­tet den Fern­se­her ein und sieht einen Wer­be­spot für Kopf­schmerz­ta­blet­ten, der exem­pla­risch das Prin­zip der Schuld­zu­schrei­bung ver­deut­licht: Wer durch die äuße­ren Umstän­de Kopf­schmer­zen bekommt, durch Über­for­de­rung, durch Über­an­stren­gung oder Stress, der nimmt eine Kopf­schmerz­ta­blet­te und funk­tio­niert danach wie­der wie zuvor. Das Pro­blem ist folg­lich die man­geln­de per­sön­li­che Funk­ti­ons- und Belas­tungs­fä­hig­keit, nicht die äuße­ren Umstän­de, die über­haupt erst die Kopf­schmer­zen ver­ur­sacht haben. Man hört die Bot­schaft ganz deut­lich, sie schwingt im Hin­ter­grund stets mit wie ein Flüs­tern, zu lei­se, um sie wirk­lich zu fas­sen, aber laut genug, um sie die gan­ze Zeit zu füh­len: Du bist schuld.

Egal, wor­um es geht – Arbeits­platz­ver­lust, psy­chi­sche wie phy­si­sche Beschwer­den, schlech­te Schul­no­ten oder erdrü­cken­de Arbeits­an­for­de­run­gen –, die Ant­wort ist immer gleich: Du bist schuld!

Es ist indi­vi­dua­li­sier­te Schuld, denn es liegt immer an den jewei­li­gen Men­schen selbst, wenn sie beim schu­li­schen Ler­nen ein­fach nicht mit­kom­men, kei­nen Job fin­den oder in irgend­ei­ner Wei­se ihre Unzu­frie­den­heit zum Aus­druck brin­gen. Man ist selbst schuld, wenn man mit die­ser wun­der­ba­ren Welt nicht klar­kommt, denn mit der Welt an sich, mit ihren Zustän­den, Zwän­gen und Anfor­de­run­gen, ist alles in Ord­nung, so die sug­ges­ti­ve Dia­gno­se, deren Ein­fach­heit ver­lo­ckend ist; sie zer­stört jeg­li­chen Wider­stand und jeg­li­che Kri­tik, damit man sich den Lebens­um­stän­den ein­fach ergibt, wie immer sie auch aus­se­hen mögen, denn ein Kri­ti­ker ist bloß ein Nie­mand, der den Umstän­den nicht gewach­sen ist, ein Schwäch­ling, ein Versager.

Wer für einen Job nicht umzie­hen möch­te, weil das die Auf­ga­be von Freun­des­kreis, Umfeld und Milieu bedeu­ten wür­de, wer nicht bereit ist, mini­ma­le Löh­ne anzu­neh­men, von denen er nicht leben kann, der gilt als Ver­ur­sa­cher sei­nes eige­nen Elends, der trägt die Schuld. Wer zwei­hun­dert Kilo­gramm auf den Rücken gebun­den bekommt und unter die­ser Last zusam­men­bricht, der hat sich ein­fach nicht genug ange­strengt, der ist nicht koope­ra­tiv, der ist faul oder ein Tau­ge­nichts, aber in jedem Fall ist es sei­ne, ganz allein sei­ne indi­vi­du­el­le Schuld. Dass die Umstän­de an sich besorg­nis­er­re­gend sind, dass die Last erdrü­ckend ist, dass es nicht am Indi­vi­du­um liegt, wenn es den Anfor­de­run­gen nicht genü­gen kann oder sich ihnen nicht beu­gen will, wird gar nicht in Betracht gezogen.

Wer die Zustän­de für unzu­mut­bar hält und so tap­fer ist, die­se Mei­nung aus­zu­drü­cken, wer im Extrem­fall an die­sen Zustän­den zer­bricht, des­sen Ver­hal­ten wird psy­cho­lo­gi­siert, es liegt also an Kind­heit, am Ver­hält­nis zu den Eltern, an Pro­ble­men mit der Lie­be oder an ande­ren hin­ein­pro­ji­zier­ten Moti­ven, oder es wird patho­lo­gi­siert, der­je­ni­ge ist also depres­siv und krank oder sui­zi­dal, womit das Unbe­ha­gen über die Zustän­de der Welt gleich­ge­setzt wird mit einem gene­rel­len Schei­tern am Leben, denn wer die Welt in ihrer bestehen­den Ord­nung ablehnt, der ver­zweif­le am Leben an sich.

Das nor­ma­le Ver­hal­ten, das ein­ge­for­dert wird bis zur Selbst­er­schöp­fung, ist ein nor­ma­ti­ves Ver­hal­ten, denn wer mit die­sem nor­ma­len Ver­hal­ten nichts anfan­gen kann, der muss nor­ma­li­siert wer­den, also sein abnor­ma­les Ver­hal­ten auf­ge­ben, sei­nen Wider­stand gegen die Zustän­de, die ihn erdrü­cken, ein­stel­len, um die äuße­re Nor­ma­li­tät anzu­er­ken­nen, die auf ihn wirkt und über­haupt erst in die­se Lage gebracht hat.

Richard Sen­nett hat den fle­xi­blen Men­schen, der sich läs­sig bis zum Umfal­len sämt­li­che Anfor­de­run­gen einer sozi­al und tech­nisch hoch­ver­schal­te­ten Lebens­welt auf­bu­ckelt, als Mythos des noma­di­schen Tur­bo-Kapi­ta­lis­mus dis­kre­di­tiert. Der fle­xi­ble Mensch […] ist jener Robot, der sei­ne eige­ne Über­for­de­rung noch als Selbst­ver­wirk­li­chung ver­kauft, wäh­rend die Siche­run­gen durchbrennen.
(Goed­art Palm bei Tele­po­lis)

So schleift man sich jeden Tag zurück, macht, was ver­langt wird, und behan­delt die Sym­pto­me – bei­spiels­wei­se mit­hil­fe von Kopf­schmerz­ta­blet­ten. Man macht sich kaputt, nimmt alles auf sich, ist maso­chis­tisch, aber es ist okay, denn man will kein Ver­sa­ger sein. Man bekommt Hil­fe, die man freu­dig ent­ge­gen­nimmt, wird gestützt und auf­ge­baut, um bloß nicht umzu­fal­len. Man glaubt, was im Hin­ter­grund lei­se rauscht: Du bist schuld!

Aber viel­leicht sind es ja gar nicht die so genann­ten Ver­sa­ger, mit denen etwas nicht stimmt. Wer die Welt, wie sie ist, nicht aus­ste­hen kann, der ist kein Fall für psy­cho­lo­gi­sche Betreu­ung oder die Lebens­be­ra­tung, son­dern kann pri­mär ein­fach nur die Welt nicht aus­ste­hen, so wie sie ist. Wer die Zustän­de zum Kot­zen fin­det, wer sich ihnen wider­setzt oder sie nicht aner­kennt, weil er viel­leicht sogar dar­an zer­bricht, der hat ein berech­tig­tes Anlie­gen – ein Anlie­gen, das mit per­sön­li­chen Defi­zi­ten nichts zu tun hat.

In einem sei­ner Fil­me, The Fatal Glass of Beer, zeigt ein Alt­meis­ter der ame­ri­ka­ni­schen Film­ko­mik, W. C. Fields, den erschröck­li­chen, unauf­halt­sa­men Nie­der­gang eines jun­gen Man­nes, der der Ver­su­chung nicht wider­ste­hen kann, sein ers­tes Glas Bier zu trin­ken. Der war­nend erho­be­ne (wenn auch vor unter­drück­tem Lachen leicht zit­tern­de) Zei­ge­fin­ger ist nicht zu über­se­hen: Die Tat ist kurz, die Reue lang. Und wie lang! (Man den­ke nur an eine ande­re bibli­sche Urmut­ter: Eva, und das biß­chen Apfel…)
Die­se Fata­li­tät hat ihre unleug­ba­ren Vor­tei­le, die bis­her scham­haft ver­schwie­gen wur­den, in unse­rem auf­ge­klär­ten Zeit­al­ter aber nicht län­ger ver­heim­licht wer­den dür­fen: Reue hin, Reue her – für unser The­ma ist es viel wich­ti­ger, daß die nie wie­der gut­zu­ma­chen­den Fol­gen des ers­ten Gla­ses Bier alle wei­te­ren Glä­ser wenn schon nicht ent­schul­di­gen, so doch zwin­gend begrün­den. Anders aus­ge­drückt: schön – man steht schuld­be­la­den da, man hät­te es damals bes­ser wis­sen sol­len, aber jetzt ist es zu spät. Damals sün­dig­te man, jetzt ist man das Opfer des eige­nen Fehl­tritts. Ide­al ist die­se Form der Unglück­lich­keits­kon­struk­ti­on frei­lich nicht, nur passabel.
Suchen wir daher nach Ver­fei­ne­run­gen. Was, wenn wir am ursprüng­li­chen Ereig­nis unbe­tei­ligt sind? Wenn uns nie­mand der Mit­hil­fe beschul­di­gen kann? Kein Zwei­fel, dann sind wir rei­ne Opfer, und es soll nur jemand ver­su­chen, an unse­rem Opfer-Sta­tus zu rüt­teln oder gar zu erwar­ten, daß wir etwas dage­gen unter­neh­men. Was uns Gott, Welt, Schick­sal, Natur, Chro­mo­so­me und Hor­mo­ne, Gesell­schaft, Eltern, Ver­wand­te, Poli­zei, Leh­rer, Ärz­te, Chefs oder beson­ders Freun­de anta­ten, wiegt so schwer, daß die blo­ße Insi­nua­ti­on, viel­leicht etwas dage­gen tun zu kön­nen, schon eine Belei­di­gung ist. Außer­dem ist sie unwissenschaftlich.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Wenn die Pflicht­er­fül­lung durch den sozia­len Druck zur dau­ern­den Antriebs­fe­der wird, ver­stärkt sich fort­wäh­rend die Bereit­schaft, sich dem Wil­len eines ande­ren zu unter­wer­fen. Außer­dem wird immer wei­ter beschnit­ten, was noch vom Gefühl der Eigen­ver­ant­wort­lich­keit – und der Fähig­keit zum Mit­ge­fühl – übrig­ge­blie­ben ist. Pflicht­er­fül­lung wird ein will­kom­me­ner Weg, auf dem man der per­sön­li­chen Ver­ant­wor­tung, die durch Mit­ge­fühl erwa­chen könn­te, ent­kom­men kann. Hat man sich für die Pflicht­er­fül­lung ent­schie­den, so ent­geht man auch dem Schmerz, der von dem eige­nen Mit­ge­fühl her­vor­ge­ru­fen wer­den könn­te. Ein so von der Pflicht beses­se­ner Mensch ist sogar dazu bereit, in treu­er Pflicht­er­fül­lung zu ster­ben – und die­se abs­trak­te Idee hält er für Verantwortlichkeit.

Gehor­sam wird dann zum eigent­li­chen Sinn des Lebens. Es sei an die Kriegs­ver­bre­cher erin­nert, die die­se Ent­schul­di­gung oft vor­brin­gen. Sie soll­ten uns end­lich die Augen öff­nen für die wah­re Bedeu­tung jeder Art von Gehor­sam. Unter dem Deck­man­tel des Befehls gescha­hen alle Arten von Grau­sam­kei­ten und Mord­ta­ten, ohne daß einer die Ver­ant­wor­tung dafür hat über­neh­men müs­sen. In einem gewis­sen Sinn ist die­se Ent­schul­di­gung sogar rich­tig: Die eige­ne See­le hat­te nichts damit zu tun, sie wur­de außer Reich­wei­te des­sen gehal­ten, dem man gehor­sam war. Die­ser trug schließ­lich die Ver­ant­wor­tung. Unter die­ser Vor­aus­set­zung fällt es sol­chen Men­schen auch nicht schwer, die Her­ren zu wechseln.
Nicht selbst die Ver­ant­wor­tung zu tra­gen ist Bestand­teil der Grund­lü­ge. Sie ver­deckt, was die ursprüng­li­che Ent­schei­dung – die Lebens­ent­schei­dung – war: näm­lich sich mit der Unter­wer­fung abzu­fin­den und sein inne­res Leben auf­zu­ge­ben, um an der Macht zu par­ti­zi­pie­ren. An genau die­sem Punkt fällt die Ent­schei­dung dar­über, ob ein Mensch Selbst­ver­ant­wor­tung und die Ver­ant­wor­tung ande­ren gegen­über entwickelt.

Am 27. März 1979 wur­de wäh­rend einer poli­ti­schen Demons­tra­ti­on in der Schweiz ein Schrift­stel­ler von zwei Poli­zis­ten fest­ge­nom­men und zusam­men­ge­schla­gen. Einer der Poli­zis­ten sag­te bei der spä­te­ren Gerichts­ver­hand­lung: »Was wol­len Sie denn von mir? Ich habe mein Leben lang gehorcht, als Kind, als Schü­ler, in der Aus­bil­dung, als Sol­dat und nun als Poli­zist. Ich habe nur mei­ne Befeh­le ausgeführt.«
Hier inter­es­siert nicht so sehr die Tat­sa­che, daß der Poli­zist dann vor Gericht für sich in Anspruch nahm, »auf Befehl« gehan­delt zu haben, son­dern daß er die Ent­wick­lungs­ge­schich­te des Gehor­sams vor­führ­te: Man wächst damit auf, daß man gehor­sam sein muß, nicht aber damit, daß man selbst – und für sich selbst – den­ken und füh­len kann. Und es bleibt ver­bor­gen, daß die­se Ein­übung genau das her­vor­ruft, wovor die Gesell­schaft Angst hat: näm­lich Destruk­ti­vi­tät – vor der sie sich ver­geb­lich durch die Ein­übung in Gehor­sam zu schüt­zen versucht.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Der chro­nisch Ver­bit­ter­te bemerk­te sei­ne Krank­heit nur ein­mal in der Woche: am Sonn­tag­nach­mit­tag. Dann, wenn weder sei­ne Arbeit noch die Rou­ti­ne ihm hal­fen, die Sym­pto­me zu lin­dern, bemerk­te er, daß irgend etwas nicht stimm­te. Denn der Frie­den die­ser Nach­mit­ta­ge war die reins­te Höl­le, die Zeit ver­ging nicht, und er war stän­dig gereizt. Doch dann wur­de es wie­der Mon­tag, und der Ver­bit­ter­te ver­gaß sei­ne Sym­pto­me, auch wenn er schimpf­te, daß er nie­mals Zeit hät­te, sich aus­zu­ru­hen, und sich dar­über beklag­te, daß die Wochen­en­den immer so schnell ver­gin­gen. Die­se Krank­heit hat­te jedoch einen Vor­teil. Sie war gesell­schaft­lich gese­hen bereits zur Regel gewor­den. Der größ­te Teil der Ver­bit­ter­ten konn­te drau­ßen wei­ter­le­ben, ohne die Gesell­schaft zu bedro­hen, da sie wegen der Mau­ern, die sie um sich errich­tet hat­ten, voll­kom­men iso­liert waren, obwohl es so aus­sah, als näh­men sie am sozia­len Leben teil.
(Pau­lo Coel­ho – Vero­ni­ka beschließt zu sterben)

Die erns­te Gefahr für unse­re Demo­kra­tie besteht nicht in der Exis­tenz tota­li­tä­rer frem­der Staa­ten. Sie besteht dar­in, daß in unse­ren eige­nen per­sön­li­chen Ein­stel­lun­gen und in unse­ren eige­nen Insti­tu­tio­nen Bedin­gun­gen herr­schen, die der Auto­ri­tät von außen, der Dis­zi­plin, der Uni­for­mi­tät und Abhän­gig­keit vom Füh­rer in die­sen Län­dern zum Sieg ver­hel­fen. Dem­nach befin­det sich das Schlacht­feld hier – in uns selbst und in unse­ren Institutionen.
(John Dew­ey, 1939)