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Als ich die Wor­te zum ers­ten Mal aus sei­nem Mund ver­nahm, fand ich sie furcht­bar flach: »Wir alle brau­chen manch­mal einen Lotsen«.

Die­ser nichts­sa­gen­de Satz, die­se inhalts­lee­re Belang­lo­sig­keit war einer sei­ner Lieb­lings­sprü­che, sein Man­tra, sei­ne Lösung für alles und sei­ne Lösung für jeden. Nun, für fast jeden, muss ich ergän­zen. Er selbst, der gro­ße Kapi­tän, schien kei­nen Lot­sen nötig zu haben, auf kei­ner Rei­se sei­nes Lebens, nein, im Gegen­teil, stets bot er sich ande­ren als Bei­stand an, weil er wohl glaub­te, er sei der ein­zi­ge, der ver­stan­den habe, wo im Leben die Untie­fen lie­gen und wel­che unsi­che­ren Gewäs­ser es zu mei­den gilt.

Es war ein Satz wie einer die­ser uner­träg­lich opti­mis­ti­schen Kalen­der­sprü­che, die Unzu­frie­de­nen das Leben etwas freund­li­cher gestal­ten sol­len und in ihrer Bot­schaft so belang­los, so stu­pi­de sind, dass nie­mand je etwas Ver­nünf­ti­ges dage­gen ein­zu­wen­den ver­mag. Was hät­te jemand auch gegen die­sen Satz ein­wen­den sol­len? Er war ja rich­tig. Das war es, was mich dar­an zur Weiß­glut brach­te. Aus­ge­rech­net er muss­te es sein, der mir die­sen bedeu­tungs­lo­sen Satz mit einer Ernst­haf­tig­keit vor­pre­dig­te, so als wüss­te er genau, wor­um es im Leben gehe und wie man es sich ein­zu­rich­ten habe. Er wähn­te sich nicht nur als stol­zer Kapi­tän sei­nes eige­nen, wind­schnit­ti­gen Lebens und Lot­se der Leben aller ande­ren, son­dern gleich als Kar­to­graf für Leben über­haupt. In mei­nen Augen war er ein arro­gan­ter, chau­vi­nis­ti­scher Idiot.

Mit der Zeit fing ich an, die­sen Satz zu has­sen, und dadurch letzt­lich auch des­sen Urhe­ber. Er mach­te mich rasend, zumin­dest inner­lich, und ich muss­te mich schier beherr­schen, ihm nicht offen ins Gesicht zu fau­chen. Mit einer gelas­se­nen Regel­mä­ßig­keit wag­te er es hin und wie­der, die­se Plat­ti­tü­de in Dis­kus­sio­nen ein­zu­streu­en, die er mit mir führ­te, oder den Satz zu vari­ie­ren, ihm ein Tro­ja­ni­sches Pferd als Vehi­kel zu kon­stru­ie­ren und ihn einer Meta­pher unter­zu­schie­ben, damit die Wor­te nachts her­vor­kom­men und in mei­nem Kopf ihre Wir­kung ent­fal­ten konn­ten. Wenn er sich mit ande­ren unter­hielt oder wenn wir in einer Grup­pe unter­wegs waren und er jeman­dem die­sen Tipp, die­se Nich­tig­keit zuteil­wer­den ließ, blick­te er mit einem süf­fi­san­ten Lächeln in mei­ne Rich­tung, so als woll­te er ganz sicher­stel­len, dass ich den Satz auch zwei­fel­los ver­nom­men hätte.

War­um war es ihm so wich­tig, mir die­sen Satz immer und immer wie­der unter die Nase zu rei­ben? Es kotz­te mich ehr­lich gesagt an. Ich war doch Kapi­tän mei­nes eige­nen Lebens und ich brauch­te kei­nen Lot­sen. Schon gar nicht ihn!

Was also woll­te er mir mit die­sem dümm­li­chen Satz sagen, was pass­te ihm nicht an mir? Ich ver­stand es nicht und ich wuss­te nicht, ob ich es über­haupt ver­ste­hen wollte.

In den fol­gen­den Mona­ten hat­ten wir sel­ten mit­ein­an­der zu tun, wir tra­fen uns nur dann und wann rein zufäl­lig, so auch an Sil­ves­ter. Wir plau­der­ten ganz ober­fläch­lich über die­ses und jenes, denn auch ihm muss­te auf­ge­fal­len sein, dass unser Kon­takt sich ver­rin­gert hat­te. Bei einem Bier erzähl­te ich ihm kurz von jenen Din­gen, die mich zu die­ser Zeit beweg­ten, belas­te­ten, ganz nor­ma­ler All­tags­kram, und er sprach bloß leicht ange­trun­ken von einem Schiff, das auf Grund lau­fen wür­de, wenn ihm ein Lot­se fehl­te, denn schließ­lich bräuch­te selbst der bes­te Kapi­tän manch­mal einen Lot­sen und so wei­ter. Er spul­te sein Pro­gramm ab.

Mir war klar, dass er mich mein­te. Ich wür­de mit mei­nen Pro­ble­men auf Grund lau­fen, wenn nicht er, der gro­ße, all­wis­sen­de Lot­se mich ret­ten wür­de. Arsch­loch! Er kam sich in die­sem Moment sicher unglaub­lich lus­tig und über­le­gen vor, und es war wie­der ein­mal typisch für ihn, der glaub­te, ich hät­te nur auf sei­ne, gera­de sei­ne ret­ten­de Hil­fe gewar­tet. Sah ich so aus, als hät­te ich das nötig? Nein! Er konn­te mich mal.

Als er mir von sei­ner neu­en Woh­nung vor­zu­schwär­men begann, hör­te ich ihm schon nicht mehr rich­tig zu. Völ­lig unver­bind­lich ließ ich mir das Ver­spre­chen abrin­gen, ihn irgend­wann ein­mal besu­chen zu kom­men, und ver­schwand sofort dar­auf im anony­men Tru­bel der Sil­ves­ter­fei­ern­den. Ich sah noch, wie er mir nach­wink­te. Er schien mit die­ser Ant­wort glück­lich zu sein, aber ich hat­te nicht vor, ihn tat­säch­lich zu besuchen.

Ein Jahr ver­ging, in dem ich ihn kaum sah. Jedes Mal, wenn es doch geschah, leb­te in mir die Erin­ne­rung an jenen Satz auf. Ich ver­mied es schließ­lich voll­ends, ihm zu begeg­nen, und ging ihm aus dem Weg. Es war kei­ne bewuss­te Ent­schei­dung, die mich dazu gebracht hat­te, son­dern die­ses auf eine vage Art ver­un­si­chern­de Gefühl, das mich über­kam, wenn ich durch ihn an sei­nen Satz erin­nert wur­de. Ich ertapp­te mich dabei und fand es albern, konn­te mich aller­dings nie über­win­den, ihn ein­fach anzu­ru­fen oder ein Tref­fen mit ihm zu ver­ein­ba­ren. Mir fiel wie­der ein, dass er in der Stadt eine neue Woh­nung gefun­den hat­te und ich nun weder sei­ne neue Anschrift noch sei­ne Tele­fon­num­mer besaß. Das beru­hig­te mich, denn selbst wenn ich ihn hät­te errei­chen wol­len, so hät­te ich es nicht gekonnt. Es lag nicht in mei­ner Macht.

Er wie­der­um mach­te eben­so weni­ge Anstal­ten, sich bei mir zu mel­den, und so ver­gaß ich ihn fast, bis ich eines Tages im Super­markt auf jeman­den traf, den er mir einst als einen Freund vor­ge­stellt hat­te. Unschlüs­sig, ob ich die­sen Freund ein­fach anspre­chen soll­te, blieb ich zwi­schen den Rega­len ste­hen und dach­te nach, bis mir die Ent­schei­dung abge­nom­men wur­de und er sei­ner­seits auf mich zukam. Von der Situa­ti­on über­rum­pelt, ent­fuhr mir ein »Hal­lo!«, er aber griff bloß nach einer Packung Corn­flakes. Ich stand genau davor. Das war alles. Wort­los mus­ter­te er mich, bis ich ihn schließ­lich unbe­hol­fen frag­te, ob er sich an mich erin­ne­re, wir hät­ten einen gemein­sa­men Freund, und wo die­ser gemein­sa­me Freund denn hin­ge­zo­gen sei. Sein Gesicht ver­riet mir, dass er mich erkann­te. Zunächst erstaunt, dann bedrückt sah er mich an, bejah­te, sah sich um, als sei­en sei­ne Wor­te für die­sen Ort unge­eig­net, und sprach in gedämpf­tem Ton:

„Du weißt es noch gar nicht, hm? Man fand ihn vor, ja, knapp andert­halb Mona­ten in sei­ner Woh­nung. Tablet­ten oder so. Er hat­te sogar einen Abschieds­brief geschrie­ben, na ja, mehr eine Abschieds­no­tiz: »Ohne dich lau­fe ich auf Grund«. Selt­sam, was? Nie­mand weiß, wen oder was er damit gemeint hat.“

Und da ver­stand ich sei­nen Satz.

Es ist ein ver­reg­ne­ter Sams­tag­abend und ich sit­ze mit dir in einer klei­nen Knei­pe in Frank­furt Bocken­heim. Du trägst Jeans und ein rotes Ober­teil, dein Haar ist zu Zöp­fen gebun­den, du rauchst. Zuvor sind wir essen gewe­sen, beim Per­ser, ich habe dich ein­ge­la­den, du hast einen ehe­ma­li­gen Mit­be­woh­ner getrof­fen, dann sind wir kurz durch die Nacht spa­ziert. Nun trin­ken wir Cock­tails, wir unter­hal­ten uns, wir wer­den kri­tisch, wir wer­den trau­rig, wir lachen und spin­nen her­um. Du bist jemand, bei dem ich sein kann, wer ich bin, ohne Unver­ständ­nis zu pro­vo­zie­ren, ohne mich ver­stel­len zu müs­sen, ohne Erwar­tun­gen zu begeg­nen, die mir so fremd sind wie eine außer­ir­di­sche Kul­tur. Wir tei­len eine Sicht auf die Welt, auf das, was uns stört, was wir mögen, und ich mer­ke, ich mag vor allem dich.

Wir ste­hen uns poli­tisch nahe, wenn man das so aus­drü­cken kann. Uns eint der Kampf gegen die Übel die­ser Welt, doch Hoff­nung treibt dich dabei nicht, eher sei es Rast­lo­sig­keit, man kön­ne eben etwas tun oder schwei­gend resi­gnie­ren. Eigent­lich aber möch­test du hier weg, sagst du, und mit hier meinst du Deutsch­land, nicht die­sen Moment in die­ser klei­nen, gemüt­li­chen Knei­pe. Ein Häus­chen, viel­leicht ein Bau­ern­hof, gemein­sam mit ein paar Freun­den, das wäre das Rich­ti­ge, erklärst du mir, und dei­ne Augen fun­keln ein wenig bei der Vor­stel­lung dar­an. Du nennst es andäch­tig Utopia.

Es man­gelt am Wil­len zur Umset­zung, ant­wor­te ich dir und es stimmt. Du bist nicht die ers­te, die mir von die­sem Traum vor­schwärmt, denn ich ken­ne vie­le, die vom Weg­ge­hen träu­men, vom selbst­be­stimm­ten Leben, nur kei­nen, der es macht. Auch für dich sei es eher ein Plan B, eine Rück­zugs­mög­lich­keit, gesellst du dich zu ihnen, für die Zeit, wenn dir das Leben hier in die­sem Land nicht mehr ange­nehm erscheint.

Ich fin­de es jetzt schon nicht mehr ange­nehm, geste­he ich dir, und du bist der ers­te Mensch, der bei die­sen Wor­ten nicht lacht, nicht min­des­tens schmun­zelt oder mich fra­gend ansieht. Du näm­lich schaust mich an, mit einem Blick, der mir sagt, dass du genau ver­stehst. Wir füh­ren den Gedan­ken wei­ter, bis du mir erklärst, wie du dir das Gan­ze vor­stellst, viel­leicht in Grie­chen­land, mit ein paar Tie­ren und Gemü­se und was man eben braucht, um so aut­ark zu sein, wie es die Umstän­de erlau­ben. Der Abend klingt aus und ich sto­ße mit dir dar­auf an, ihn umzu­set­zen, dei­nen Plan B, und du lachst und freust dich und sagst: Ja, das machen wir. Ich sehe Zukunft, wo ein Fra­ge­zei­chen war. Wir sind Kom­pli­zen, die den Aus­bruch wagen.

In den Tagen dar­auf rech­ne ich zusam­men, was ich gespart habe, dru­cke Immo­bi­li­en­an­ge­bo­te aus, rei­se um die hal­be Welt, um mir einen guten Ein­druck von den inter­es­san­tes­ten Objek­ten zu machen, lese Bestim­mun­gen, pla­ne vor­aus. Drei Wochen spä­ter tref­fen wir uns in dei­ner Woh­nung, ich lege dir Fotos vor, ohne dir mei­nen Favo­ri­ten zu ver­ra­ten, und dei­ne Wahl fällt auf das glei­che Haus. Wir lachen, freu­en uns, gehen Pla­nun­gen durch, über­schla­gen Finan­zen. Ganz die Rea­lis­tin, die du bist, wirfst du ein, du fän­dest das alles wun­der­bar, nur könn­test du nicht von heu­te auf mor­gen dei­ne Woh­nung auf­ge­ben und dei­nen Job kün­di­gen, da gäbe es Fris­ten, und dein Kater mache dir Sor­gen, der habe doch sein Revier, und all das Recht­li­che. Das macht nichts, beschwich­ti­ge ich, dann fah­re ich allei­ne schon mal vor, rich­te alles her, ich küm­me­re mich um unser Haus, wid­me mich dem Büro­kra­ti­schen, freue mich auf dich, und dem Kater wird es gefal­len. Du nickst und dann umarmst du mich auf eine Art, dass ich mich füh­le, als wür­de ich nach lan­ger Odys­see zu Hau­se ankommen.

Am nächs­ten Tag plün­de­re ich mei­ne Kon­ten, bestei­ge ein Flug­zeug und flie­ge einem neu­en Leben ent­ge­gen. Ich kau­fe ein Haus, das Haus, unser Haus, mit rie­si­gem Grund­stück und mod­ri­gem Holz­zaun rund­her­um, die Mau­ern in einem Rot­ton, der dir gefal­len wird, die Zim­mer groß genug, falls wir Besuch oder mal Kin­der haben wol­len. Das Dach ist nicht ganz dicht, wie ich beim ers­ten Regen fest­stel­len muss, aber wir sind es auch nicht. Ich reno­vie­re, ich strei­che, ver­le­ge Böden und ler­ne mau­ern, ich lege mich ins Zeug und füh­le mich zum ers­ten Mal als frei­er Mensch. So ver­brin­ge ich Wochen, dann Mona­te. Mit der Begeis­te­rung eines Kin­des schi­cke ich dir immer wie­der Fotos und selbst­ge­dreh­te Vide­os, und du sagst, du willst noch dei­ne Pro­mo­ti­on fer­tig­stel­len, dann kommst du. Ich freue mich wahn­sin­nig dar­auf, wenn du kommst, ant­wor­te ich dir.

Das Dach ist mitt­ler­wei­le gut, das Haus bezugs­fer­tig, was aus­zu­bes­sern war, habe ich aus­ge­bes­sert. Die Reno­vie­rung kommt vor­an, wenn auch lang­sam, und zwi­schen­drin ver­su­che ich mich als Gärt­ner, lese mich schlau, pflan­ze an, gie­ße, ver­tei­le Dün­ger, hof­fe und war­te. Eini­ges gedeiht, man­ches nicht, und ich bin stolz, weil das für einen ers­ten Ver­such gar nicht so schlecht ist. Du hast von uns bei­den den grü­ne­ren Dau­men, du wirst mich aus­la­chen, wenn du kommst.

Zwei Mona­te spä­ter bekommst du ein Ange­bot für eine Stel­le an der Uni, ein Ein­jah­res­ver­trag, und du sagst, so lan­ge sol­le ich mich noch gedul­den, danach aber kämst du. Mir macht es nichts aus, die Reno­vie­rung braucht noch etwas Zeit, und ich sage, ich freue mich dar­auf, wenn du kommst, du wirst ein wun­der­schö­nes Haus vorfinden.

Drau­ßen wird es lang­sam grün und ich fil­me auch das, schi­cke es dir, will dir zei­gen, dass selbst unter mei­ner Regie pflanz­li­ches Leben mög­lich ist. Du lachst so herz­lich über mei­ne ange­streng­ten Gärt­ner­ver­su­che, dass alle Kilo­me­ter zwi­schen uns ver­ges­sen sind. Kurz bevor du auf­legst, seufzt du, denn du wärst so ger­ne hier, und ich spie­le es her­un­ter, es ist doch nicht mal mehr ein Jahr.

Vier Mona­te ver­ge­hen, in denen wir mai­len, chat­ten, tele­fo­nie­ren, ich schi­cke dir wei­ter­hin Bil­der und Vide­os, hege Vor­freu­de, und dann schreibst du mir, du bist jetzt an einem For­schungs­pro­jekt betei­ligt, das du super inter­es­sant fin­dest, und man erwägt, dich fest ein­zu­stel­len, und wie groß­ar­tig das ist und ob ich mich freue.

Drei Tage spä­ter ant­wor­te ich dir, schi­cke dir einen Link auf ein klei­nes regio­na­les Nach­rich­ten­por­tal, schrei­be sonst nichts. Du rufst mich an, obwohl du nicht viel Zeit hast, wie du mir erklärst, du machst gera­de Pau­se, gleich musst du zurück. Du bist ver­wirrt, sagst du, und ob das ein Scherz sei, aber es ist alles echt, ver­si­che­re ich dir, das Feu­er und der Total­scha­den. Uto­pia ist abgebrannt.

Er erwach­te völ­lig ent­kräf­tet in einem Kran­ken­haus­bett und konn­te sich weder dar­an erin­nern wie noch war­um er hier­her­ge­kom­men war. Hat­te er einen Unfall gehabt, war er ein­fach bloß umge­kippt oder hat­te er viel­leicht einen Schlag­an­fall erlit­ten? Sei­ne Arme und sei­ne Bei­ne schmerz­ten ihn, und als er ver­such­te, sie mehr als ein paar Zen­ti­me­ter zu bewe­gen, gab er nach kur­zer Zeit erschöpft auf. Sei­ne Augen ver­nah­men eine mensch­li­che Sil­hou­et­te neben dem Bett, doch noch erkann­te er dar­in kein Gesicht. Ver­wirrt und ohne die­sen Schat­ten direkt anzu­spre­chen, stam­mel­te er bloß: „Wo… wo bin ich hier? Was ist mit mir passiert?“
„Pssst“, flüs­ter­te eine Frau­en­stim­me zärt­lich. „Sei unbe­sorgt, mein Schatz, alles wird wie­der gut. Hab kei­ne Angst. Du bist hier in den bes­ten Händen. “
Er erkann­te die­se Stim­me sofort. Sie gehör­te sei­ner Freun­din, genau­ge­nom­men sei­ner ehe­ma­li­gen Freun­din, die­ser Frau aus ver­gan­ge­nen Zei­ten, die ihn, wie er es aus­drü­cken wür­de, vor drei elend lan­gen Jah­ren aus Grün­den ver­las­sen hat, die er nie ver­ste­hen wird, nach­dem sie bei­de für fünf gute Jah­re eine Bezie­hung mit­ein­an­der geführt hat­ten. Als es zum Ende kam, ging sie fort und warf nie einen Blick zurück, doch er kam nie­mals über sie hin­weg. Er dach­te immer noch an sie und er ver­miss­te sie an jedem Mor­gen, wenn er auf­wach­te, an jedem Abend, wenn er ein­schlief, in jedem Bett, in dem er lag. Am Anfang glaub­te er, das gin­ge bald vor­bei, er wür­de das Ver­mis­sen hin­ter dem All­tag leicht ver­ber­gen kön­nen, und wäre erst etwas Zeit ver­gan­gen, dann wür­de er sie irgend­wann ver­ges­sen, doch es ver­strich erst ein Jahr, dann zwei Jah­re und schließ­lich drei, ohne dass es ihm gelang, sie aus sei­nen Gedan­ken und vor allem aus sei­nen Gefüh­len zu ver­ban­nen. Mehr­mals hat­te er in die­ser Zeit ver­sucht, eine Bezie­hung mit einer ande­ren Frau auf­zu­bau­en, also wei­ter­zu­ma­chen, die Wun­den der Ver­gan­gen­heit wenn schon nicht zu hei­len, dann doch wenigs­tens zu ver­bin­den, aber kei­nem die­ser Ver­su­che war letz­ten Endes ein lan­ger Bestand gegönnt. Er muss­te sich irgend­wann ein­ge­ste­hen, dass kei­ne die­ser Bezie­hun­gen einen Wert für sich hat­te, son­dern sie in Wahr­heit nur ein unbe­wuss­ter und ver­zwei­fel­ter Ver­such waren, sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din zu erset­zen, die für ihn so uner­setz­bar war. Kei­ne die­ser Ersatz­be­zie­hun­gen konn­te er für all­zu lan­ge Zeit auf­recht­erhal­ten, kei­ne die­ser Frau­en konn­te ihn ver­zau­bern, denn jede von ihnen ver­glich er mit ihr und kei­ne war für ihn so gut wie sie, kei­ne genüg­te sei­nem Ver­gleich, kei­ne war ein Dupli­kat sei­ner ein­zi­gen gro­ßen Liebe.
„Du? Wie­so bist du hier? Und… du nennst mich Schatz? War­um? Wir sind… schon so lan­ge nicht mehr zusammen.“
„Ich dach­te, es wür­de dir gefal­len. Ich weiß, wie sehr du mich vermisst.“
„Was weißt du schon“, seufz­te er.
„Ich kann es dir nicht ver­übeln“, ergänz­te sie kokett, beug­te sich zu ihm hin­un­ter und flüs­ter­te in sein Ohr: „Ich war das Bes­te, das dir je pas­siert ist, und ich wer­de es für immer sein.“
„War­um bist du hier?“ wie­der­hol­te er sei­ne Frage.
„Freust du dich denn nicht? Ich weiß, dass du bis heu­te stän­dig an mich denkst, selbst nach all den Jah­ren. Ich weiß, wie sehr du mich brauchst, jetzt noch mehr denn je, und dass du mich nicht los­las­sen kannst, selbst wenn du woll­test. Du ver­misst mich, du hast dich in dei­ner Sehn­sucht ein­ge­mau­ert und du kommst dort nicht her­aus. Kann es einen grö­ße­ren Lie­bes­be­weis geben als jenen, wel­chen du mit dir her­um­trägst? Ich bin hier, weil ich das weiß, und weil ich schät­zen gelernt habe, wie sehr du wirk­lich an mir hängst.“
Unter gro­ßer Anstren­gung dreh­te er sich in sei­nem Bett von ihr weg und ver­barg sein Gesicht, damit sie dar­in nicht sehen konn­te, wie sehr sie ihn mit die­sen Wor­ten erwischt hatte.
„Ent­schul­di­ge, mein Schatz, ich lass dich erst ein­mal allein. Du bist noch sehr schwach und sicher auch sehr müde. Wir reden spä­ter. Nimm die hier, die hel­fen dir“, sag­te sie und zeig­te auf zwei Pil­len und ein Glas mit Was­ser, das direkt dane­ben stand. Dann ging sie zur Tür, dreh­te sich noch ein­mal um, pus­te­te ihm einen Luft­kuss zu und ver­ließ den Raum.
In den dar­auf­fol­gen­den Tagen ver­bes­ser­te sich sein Zustand ein wenig, doch fiel es ihm noch immer schwer, Arme und Bei­ne zu bewe­gen, sodass an Auf­ste­hen noch lan­ge nicht zu den­ken war. Das Zim­mer, in dem er sich befand, war rela­tiv klein, er sah zwei Schrän­ke, ein Fens­ter und einen beschei­de­nen Tisch mit einem Stuhl. Jeden Tag besuch­te ihn sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din und umsorg­te ihn lie­be­voll. Sie brach­te ihm Bücher, Zeit­schrif­ten und Mahl­zei­ten, sie unter­hielt sich mit ihm über die alten, gemein­sa­men Zei­ten, erzähl­te ihm von den neu­es­ten Ereig­nis­sen und ver­sorg­te ihn mit neu­en Medi­ka­men­ten. Er fühl­te sich in ihren Hän­den gebor­gen und konn­te bei wei­tem nicht ver­heh­len, sich über ihre Anwe­sen­heit mehr als nur zu freu­en. Die Zeit ver­ging jedoch, ohne dass sich sein Zustand wesent­lich ver­bes­sert hät­te, doch was ihn viel mehr ver­wun­der­te, war die merk­wür­di­ge Tat­sa­che, dass er wäh­rend sei­nes Auf­ent­halts bis­lang kein Pfle­ge­per­so­nal oder einen Arzt zu Gesicht bekom­men hat­te. Selbst als er den klei­nen Knopf drück­te, um jeman­den an sein Bett zu rufen, kam nie­mand, es geschah nichts. Ein­zig sei­ne Ex-Freun­din erschien mit einer gewis­sen Regel­mä­ßig­keit, also sprach er sie dar­auf an:
„Ich habe hier noch nie eine Schwes­ter gese­hen, geschwei­ge denn einen Arzt.“
„Sei unbe­sorgt, mein Schatz, man küm­mert sich sehr gut um dich. Ich habe dem Per­so­nal klar­ge­macht, dass ich mich, soweit es geht, allei­ne um dich küm­mern wer­de und man dein Zim­mer wirk­lich nur im Not­fall zu betre­ten hat. Ich will kei­ne Leu­te hier um dich her­um, die dich stän­dig stö­ren oder mit irgend­was beläs­ti­gen, wenn du dich doch scho­nen musst.“
„Aber nicht ein­mal ein Arzt war hier…“
„Doch, doch“, beru­hig­te sie ihn, „der Arzt war ges­tern Abend bei dir, als du schon tief und fest geschla­fen hast. Ich war dabei. Du hast geschla­fen wie ein Stein, aber dei­nen Schlaf hast du auch bit­ter nötig. Der Arzt woll­te dich auf­we­cken, aber ich hab ihn ange­faucht, er soll dich bloß in Ruhe las­sen, solan­ge es kein Not­fall ist. Da ist er gegan­gen.“ Sie fing an zu lachen. „Du weißt, ich kann sehr über­zeu­gend sein.“
Als sie nach ein wenig Plau­de­rei schließ­lich ging, nahm er sich vor, an die­sem Abend ein­fach so lan­ge es ihm mög­lich sein wür­de wach zu blei­ben, soll­te der Arzt erneut nach sei­nem Zustand sehen wol­len. Er rang mit der Müdig­keit, aber er ließ sich von ihr nicht über­man­nen, und so war­te­te er bis in die frü­hen Mor­gen­stun­den. Es erschien weder ein Arzt noch sonst irgend­je­mand. Schließ­lich schlief er ein und wur­de eini­ge Stun­den spä­ter von sei­ner ein­zi­gen, treu­en Besu­che­rin geweckt, die ihm sein Früh­stück ans Bett servierte.
An die­sem Mor­gen jedoch war er auf­grund des weni­gen Schlafs völ­lig aus­ge­laugt, und als er die Pil­len zu sich neh­men woll­te, die schon seit dem ers­ten Tag jede sei­ner Mahl­zei­ten beglei­te­ten, ver­lor er sie aus den Fin­gern. Sie schie­nen unter sein Bett zu rol­len, aber so genau konn­te er das nicht beob­ach­ten. Sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din stand wäh­rend­des­sen am Fens­ter und bekam von alle­dem nichts mit, also beließ er es dabei. In den fol­gen­den Stun­den bemerk­te er, dass das Gefühl in sei­nen Armen und Bei­nen mehr und mehr zurück­kehr­te und es ihm zuneh­mend leich­ter fiel, sie zu bewe­gen. Er wuss­te nicht, ob er das als Zufall abtun oder auf das Aus­las­sen der Medi­ka­men­te zurück­füh­ren soll­te, also sprach er die­se Fra­ge am Abend an:
„Was sind das eigent­lich für Pil­len, die du mir jedes Mal mitbringst?“
„Die sind für dei­ne Schmer­zen, mein Schatz“, ent­geg­ne­te sie mit einem Lächeln auf den Lip­pen, in das er sich damals sofort ver­liebt hat­te, „die sol­len dich beruhigen.“
Unter Schmer­zen jedoch litt er nur, wenn er die­se Mit­tel zu sich nahm, doch dass er zu die­ser Erkennt­nis gekom­men war, woll­te er ihr nicht mit­tei­len. Er ent­schloss sich dazu, die Pil­len in Zukunft heim­lich zu mei­den. Irgend­et­was stimmt hier nicht, dach­te er bei sich, erst sah er weit und breit kein Per­so­nal und nun die­ser… Zufall.
Am nächs­ten Mor­gen fühl­te er sich wesent­lich bes­ser, sehr zu sei­ner Ver­wun­de­rung. Arme und Bei­ne konn­te er nun frei bewe­gen, so als sei nie­mals irgend­was gesche­hen. War denn je irgend­was gesche­hen? Er rich­te­te sich zunächst im Bett auf, schwang dann die Bei­ne her­aus und stand schließ­lich auf, ohne jene Glie­der­schmer­zen zu ver­spü­ren, die ihn seit sei­nem Auf­wa­chen ans Bett gefes­selt hat­ten. Nach kur­zem Zögern ging er zur Tür, doch als er die Klin­ke her­un­ter­drück­te, geschah gar nichts. Sie ließ sich nicht öff­nen. Und da ver­stand er. Die Pil­len soll­ten ihm nicht hel­fen, sie soll­ten ihn im Bett hal­ten. Sie woll­te ihn nicht gehen lassen.
Sein Blick fiel auf das Fens­ter, das der ein­zi­ge Aus­weg zu sein schien. Er zog den Vor­hang zur Sei­te, öff­ne­te es und muss­te fest­stel­len, dass er sich hier wohl im vier­ten oder fünf­ten Stock befand. Ein Sprung wür­de wahr­schein­lich töd­lich enden, und irgend­et­was, an dem er sich hät­te fest­hal­ten, an dem er nach unten hät­te klet­tern kön­nen, konn­te er nicht sehen. Er war gefan­gen. Plötz­lich hör­te er ein Geräusch an der Tür, und bevor er sich zurück ins Bett legen konn­te, stand sie schon im Raum und warf ihm einen über­rasch­ten Blick zu.
„Dein Zustand hat sich end­lich gebes­sert“, sag­te sie und ver­such­te, sich ihre Über­ra­schung nicht anmer­ken zu las­sen. „Ich bin so glück­lich, ich dach­te schon, du wür­dest für immer dort lie­gen bleiben.“
„Die Tür war abge­sperrt“, bemerk­te er knapp. „War­um?“
„Ach, mein Schatz, das ist nur zu dei­nem Besten.“
„Erklär mir das! Wie zum Teu­fel soll das denn zu mei­nem Bes­ten sein?“
„Ver­traust du mir nicht mehr?“
„Es fällt mir zuneh­mend schwer, jeman­dem zu ver­trau­en, der mich ein­sperrt und mit irgend­wel­chem Zeug voll­pumpt, das mir jede Hand­lung unmög­lich macht.“
„Reg dich bit­te nicht auf.“
„Bring mir einen Arzt!“
„Es gibt hier kei­ne Ärz­te. Ich küm­me­re mich um dich, nur ich.“
„Du bist verrückt!“
„Leg dich wie­der hin, mach es dir gemüt­lich und lass dich ein­fach von mir ver­sor­gen. Ich habe dich in den letz­ten drei Jah­ren im Stich gelas­sen, das tut mir leid, aber alles kann wie­der so wer­den, wie du es dir wünschst. Wir blei­ben zusam­men, nur wir bei­de. Du brauchst sonst nie­man­den. Niemanden!“
Er sah sie an und blick­te dann zum Fens­ter, das immer noch geöff­net war. Ihr über­rasch­tes Gesicht wich einem Aus­druck der Ver­zweif­lung, dann purer Wut. Als sie eini­ge Schrit­te auf ihn zuging, stieg er in das Fens­ter, hielt sich am Rah­men fest und sprach zu ihr, sie sol­le zurück­blei­ben, sie sol­le ihn nicht anrüh­ren, sonst wür­de er sprin­gen. Sie blieb ste­hen und setz­te wie­der ihr berau­schen­des Lächeln auf.
„Ich weiß, du ver­misst mich an jedem ein­zel­nen Tag, seit­dem ich dich ver­las­sen habe.“ Ihre Stim­me war süß und gleich­zei­tig vol­ler Ero­tik, so als wol­le sie ihn ver­füh­ren. „Ich weiß, du liebst mich heu­te noch genau wie vor drei Jah­ren, und ich weiß, dass du auch immer noch die Hoff­nung hegst, mit mir dein gan­zes Leben zu ver­brin­gen. Wir könn­ten zusam­men noch ein­mal anfan­gen, das hast du dir doch all die Jah­re gewünscht. Nur du und ich, für immer. Bleib bei mir, mein Schatz. Willst du dein Leben denn ein­fach weg­schmei­ßen, wenn du los­lässt und springst?“
„Du bist nicht mein Leben!“, schrie er sie an, blick­te in ihre Augen, lös­te die Fin­ger vom Rah­men und ließ sich aus dem Fens­ter fal­len. „Du warst es viel zu lang.“
Völ­lig benom­men wach­te er in einem Kran­ken­haus­bett auf und konn­te sich weder dar­an erin­nern wie noch war­um er hier­her­ge­kom­men war. Neben dem Bett erkann­te er eine mensch­li­che Sil­hou­et­te, die irgend­et­was zu irgend­je­man­dem sag­te, den er nicht sehen konn­te. Plötz­lich erschien eine zwei­te Gestalt, die sich ihm als Arzt vor­stell­te und ihm erklär­te, es habe lan­ge Zeit nicht gut für ihn aus­ge­se­hen: „Sie waren für eini­ge Zeit im Koma, aber nun haben Sie ja doch noch den Sprung zurück ins Leben geschafft.“

Vie­le erken­nen sich selbst, nur weni­ge kom­men dazu, sich auch selbst anzu­neh­men. Wie­viel Selbst­er­kennt­nis erschöpft sich dar­in, den andern mit einer noch etwas prä­zi­se­ren und genaue­ren Beschrei­bung unse­rer Schwä­chen zuvor­zu­kom­men, also in Koket­te­rie! Aber auch die ech­te Selbst­er­kennt­nis, die eher stumm bleibt und sich wesent­lich nur im Ver­hal­ten aus­drückt, genügt noch nicht, sie ist ein ers­ter, zwar uner­läß­li­cher und müh­sa­mer, aber kei­nes­wegs hin­rei­chen­der Schritt. Selbst­er­kennt­nis als lebens­läng­li­che Melan­cho­lie, als geist­rei­cher Umgang mit unse­rer frü­he­ren Resi­gna­ti­on ist sehr häu­fig, und Men­schen die­ser Art sind für uns zuwei­len die net­tes­ten Tisch­ge­nos­sen; aber was ist es für sie? Sie sind aus einer fal­schen Rol­le aus­ge­tre­ten, und das ist schon etwas, gewiß, aber es führt sie noch nicht ins Leben zurück… Daß die Selbst­an­nah­me mit dem Alter von sel­ber kom­me, ist nicht wahr. Dem Älte­ren erschei­nen die frü­he­ren Zie­le zwar frag­wür­di­ger, das Lächeln über unse­ren jugend­li­chen Ehr­geiz wird leich­ter, bil­li­ger, schmerz­lo­ser; doch ist damit noch kei­ner­lei Selbst­an­nah­me geleis­tet. In gewis­ser Hin­sicht wird es mit dem Alter sogar schwie­ri­ger. Immer mehr Leu­te, zu denen wir in Bewun­de­rung empor­schau­en, sind jün­ger als wir, unse­re Frist wird kür­zer und kür­zer, eine Resi­gna­ti­on immer leich­ter in Anbe­tracht einer doch ehren­vol­len Kar­rie­re, noch leich­ter für jene, die über­haupt kei­ne Kar­rie­re mach­ten und sich mit der Arg­list der Umwelt trös­ten, sich abfin­den kön­nen als ver­kann­te Genies… Es braucht die höchs­te Lebens­kraft, um sich selbst anzu­neh­men… In der For­de­rung, man sol­le sei­nen Nächs­ten lie­ben wie sich selbst, ist es als Selbst­ver­ständ­lich­keit ent­hal­ten, daß einer sich selbst lie­be, sich selbst annimmt, so wie er (…) ist. Allein auch mit der Selbst­an­nah­me ist es noch nicht getan! Solan­ge ich die Umwelt über­zeu­gen will, daß ich nie­mand anders als ich selbst bin, habe ich not­wen­di­ger­wei­se Angst vor Miß­deu­tung, blei­be ihr Gefan­ge­ner kraft die­ser Angst…
(Max Frisch – Stiller)

„Wie­so bist du hier?“

„Ich bin gekom­men, um end­lich das zu tun, wor­auf ich schon so lan­ge warte.“

„Du kannst mich nicht töten, das weißt du. Er wird es nicht zulas­sen. Du wur­dest ver­bannt, das ist nicht mehr dein Reich.“

„Er war glück­li­cher, bevor du kamst, und er fängt an, das zu begreifen.“

„Er war nicht glücklich.“

„Dei­ne gewohn­te Über­heb­lich­keit, mein Freund. Nein, er war nicht glück­lich, aber war nie so unglück­lich wie jetzt, nach alle­dem, was du ihm ange­tan hast.“

„Was ich ihm ange­tan habe? Du bist so selbst­ge­recht wie eh und je. Ich war für ihn Prometheus!“

„Du warst für ihn Pandora.“

„Ich gab ihm Hoffnung…“

„Ent­täuscht!“

„…ich gab ihm Zuversicht …“

„Ernüch­tert!“

„…ich gab ihm Glau­ben an das Gute.“

„Und was hat es gebracht? Was hat es ihm gebracht?“

„Er führt end­lich ein Leben, ein rich­ti­ges Leben. Was für ein Leben war es denn zuvor, bevor ich kam, als er noch füg­sam auf dich hör­te? Was waren dei­ne Leis­tun­gen für ihn, was hast du Gutes je für ihn getan? Du hast ihn mit dem Wahn infi­ziert, die Welt habe ihm nichts, aber auch gar nichts zu bie­ten, hast ihn ent­mu­tigt und ihn mit­lei­dig beschwo­ren, sich hin­ter einer Mau­er zu ver­ste­cken, die du bereit­wil­lig für ihn errich­tet hast. Alles, was er sah, das war für ihn nur schlecht, böse und es nicht wert, sich dar­auf einzulassen.“

„Bis du kamst, nicht wahr, und ihm gesagt hast, er brau­che nur in das Gute zu ver­trau­en, und das Gute wür­de gesche­hen. Oh, du Narr! Er war naiv genug, um dir zu glau­ben, doch was bekam er dann dafür? Ent­täu­schung, Wut, Ver­zweif­lung. Es hat sich nie gelohnt. Das Gute, das du ihm ver­sprachst, hat er bis heu­te nicht gesehen.“

„Er wird es sehen und das War­ten wird sich für ihn loh­nen, wenn er bloß jetzt nicht resi­gniert, wenn er sich Offen­heit bewahrt und nicht in sei­nem Gram ver­schließt. Bleib von ihm fern, und auf lan­ge Sicht wird alles gut.“

„Das War­ten, das War­ten, das War­ten. Wie lan­ge soll er denn noch war­ten? Schau ihn dir an, er hat genug vom War­ten. Wer kann es ihm ver­übeln? Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr ver­trös­test du ihn mit die­sem vor­lau­ten, hane­bü­che­nen Opti­mis­mus, er müs­se nur Geduld haben, und das Gute wer­de ihn erei­len. Nie hat er irgend­was davon gese­hen, bis heu­te wur­de es nicht wahr. Zum Teu­fel mit der Geduld! Zum Teu­fel mit der Offenheit!“

„Du wirst ihn nicht wie­der bekom­men. Er ist ein bes­se­rer geworden.“

„Ach ja? Wie war er denn, bevor du ihn ver­füh­ren kamst?“

„Zynisch. Er war ein Pes­si­mist, er hat­te kei­ner­lei Erwar­tun­gen an die Welt, denn da warst du und hast sie ihm genommen.“

„Aber du gabst ihm Erwar­tun­gen, Hoff­nun­gen und Vertrauen…?“

„Ganz recht, ich gab ihm Erwar­tun­gen, Hoff­nun­gen und Ver­trau­en, wäh­rend du ihm alles nahmst.“

„Du gabst ihm Luft­schlös­ser, Träu­me und Illu­sio­nen! Du hast ihm die ver­bo­te­ne Frucht prä­sen­tiert und er, er hat sie sich genom­men. Hat sich eine sei­ner Erwar­tung erfüllt, die du in ihm gesät hast? Irgend­ei­ne? Sein Unglück, das ihn nun so quält, was glaubst du wohl, woher es rührt? Jede ernst­haf­te Erwar­tung wur­de ent­täuscht, jede auf­rich­ti­ge Hoff­nung, jedes offe­ne Ver­trau­en. Wo du auf­trittst, endet es immer wie­der gleich. Quel­len der Pein sind alles, was du ihm gege­ben hast. Das ist sein Unglück! Ohne dich hät­te er all das Leid nie erfah­ren, und er leb­te gut so, bevor du anfingst, alles zu zerstören.“

„Ja, denn das war dei­ne Lösung für ihn: Lee­re. Natür­lich, er konn­te nicht ent­täuscht wer­den, wenn er kei­ner­lei Erwar­tun­gen heg­te, aber kann ein Mensch so je glück­lich wer­den? Er wird sein Glück nur fin­den kön­nen, wenn er das Risi­ko wagt, von Zeit zu Zeit ent­täuscht zu wer­den. Du aber hast ihm alles genom­men, für das es sich zu leben lohnt. Er hat­te kei­ner­lei Hoff­nung für die Zukunft. Es gab nie­man­den, dem er sein Ver­trau­en schenk­te. Kein Mensch war ihm wich­tig, die Welt für ihn ein schlech­ter Ort. Und du besitzt die Unver­schämt­heit, es zu wagen, das ein gutes Leben zu nen­nen, was er da führte?“

„Ein bes­se­res als du es ihm geschaf­fen hast. Zynis­mus hat ihn nie so hart ent­täuscht wie du. Frü­her war er stär­ker, frü­her hat­te er sein Boll­werk gegen die Welt. Doch dann kamst du, mein Freund, der edle Befrei­er, und du erst hast ihm ein­ge­re­det, er kön­ne so nicht leben, das mache ihn nicht glück­lich, er sol­le alle Tore sei­ner Fes­tung öff­nen, um das Gute in sein Leben zie­hen zu las­sen. Aber was kam wirk­lich durch die Tore? Sieh ihn dir an! Er ist unglück­li­cher als je zuvor.“

„Er kann nicht ein­fach wie­der zurück­ge­hen, nicht nach­dem er so weit gekom­men ist. Wenn er die Hoff­nung fah­ren lässt, ist er so gut wie tot, das siehst auch du. Ich zei­ge ihm das Leben, du zeigst ihm bloß Verzweiflung.“

„Ich zei­ge ihm, wie er Ver­zweif­lung aus dem Weg geht, die du erst in sein Leben gebracht hast. Er hat genug von dir. Sei­ne Geduld ist am Ende, des­we­gen bin ich hier. Er wird dich nicht län­ger beschüt­zen. Du hat­test dei­ne Chan­ce und du hast versagt.“

Wer mit Unge­heu­ern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Unge­heu­er wird, schreibt Nietz­sche, und wenn du lan­ge in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Wenn die Pflicht­er­fül­lung durch den sozia­len Druck zur dau­ern­den Antriebs­fe­der wird, ver­stärkt sich fort­wäh­rend die Bereit­schaft, sich dem Wil­len eines ande­ren zu unter­wer­fen. Außer­dem wird immer wei­ter beschnit­ten, was noch vom Gefühl der Eigen­ver­ant­wort­lich­keit – und der Fähig­keit zum Mit­ge­fühl – übrig­ge­blie­ben ist. Pflicht­er­fül­lung wird ein will­kom­me­ner Weg, auf dem man der per­sön­li­chen Ver­ant­wor­tung, die durch Mit­ge­fühl erwa­chen könn­te, ent­kom­men kann. Hat man sich für die Pflicht­er­fül­lung ent­schie­den, so ent­geht man auch dem Schmerz, der von dem eige­nen Mit­ge­fühl her­vor­ge­ru­fen wer­den könn­te. Ein so von der Pflicht beses­se­ner Mensch ist sogar dazu bereit, in treu­er Pflicht­er­fül­lung zu ster­ben – und die­se abs­trak­te Idee hält er für Verantwortlichkeit.

Gehor­sam wird dann zum eigent­li­chen Sinn des Lebens. Es sei an die Kriegs­ver­bre­cher erin­nert, die die­se Ent­schul­di­gung oft vor­brin­gen. Sie soll­ten uns end­lich die Augen öff­nen für die wah­re Bedeu­tung jeder Art von Gehor­sam. Unter dem Deck­man­tel des Befehls gescha­hen alle Arten von Grau­sam­kei­ten und Mord­ta­ten, ohne daß einer die Ver­ant­wor­tung dafür hat über­neh­men müs­sen. In einem gewis­sen Sinn ist die­se Ent­schul­di­gung sogar rich­tig: Die eige­ne See­le hat­te nichts damit zu tun, sie wur­de außer Reich­wei­te des­sen gehal­ten, dem man gehor­sam war. Die­ser trug schließ­lich die Ver­ant­wor­tung. Unter die­ser Vor­aus­set­zung fällt es sol­chen Men­schen auch nicht schwer, die Her­ren zu wechseln.
Nicht selbst die Ver­ant­wor­tung zu tra­gen ist Bestand­teil der Grund­lü­ge. Sie ver­deckt, was die ursprüng­li­che Ent­schei­dung – die Lebens­ent­schei­dung – war: näm­lich sich mit der Unter­wer­fung abzu­fin­den und sein inne­res Leben auf­zu­ge­ben, um an der Macht zu par­ti­zi­pie­ren. An genau die­sem Punkt fällt die Ent­schei­dung dar­über, ob ein Mensch Selbst­ver­ant­wor­tung und die Ver­ant­wor­tung ande­ren gegen­über entwickelt.

Am 27. März 1979 wur­de wäh­rend einer poli­ti­schen Demons­tra­ti­on in der Schweiz ein Schrift­stel­ler von zwei Poli­zis­ten fest­ge­nom­men und zusam­men­ge­schla­gen. Einer der Poli­zis­ten sag­te bei der spä­te­ren Gerichts­ver­hand­lung: »Was wol­len Sie denn von mir? Ich habe mein Leben lang gehorcht, als Kind, als Schü­ler, in der Aus­bil­dung, als Sol­dat und nun als Poli­zist. Ich habe nur mei­ne Befeh­le ausgeführt.«
Hier inter­es­siert nicht so sehr die Tat­sa­che, daß der Poli­zist dann vor Gericht für sich in Anspruch nahm, »auf Befehl« gehan­delt zu haben, son­dern daß er die Ent­wick­lungs­ge­schich­te des Gehor­sams vor­führ­te: Man wächst damit auf, daß man gehor­sam sein muß, nicht aber damit, daß man selbst – und für sich selbst – den­ken und füh­len kann. Und es bleibt ver­bor­gen, daß die­se Ein­übung genau das her­vor­ruft, wovor die Gesell­schaft Angst hat: näm­lich Destruk­ti­vi­tät – vor der sie sich ver­geb­lich durch die Ein­übung in Gehor­sam zu schüt­zen versucht.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Wol­len wir so sein? Post­mo­dern und immer auf der siche­ren Meta­ebe­ne, von der aus man schon vor­her weiß, dass man ohne­hin nichts ändern kann? Ist das so wirk­lich die Lösung? Sich ein­fach dadurch aus der Ver­ant­wor­tung zu steh­len, in dem man die schon längst voll­zo­ge­ne Resi­gna­ti­on und das klein Bei­geben mit ange­be­ri­schem Bes­ser­wis­sen über­tüncht? Sind das die Spie­ßer, denen wir uns intel­lek­tu­ell über­le­gen füh­len oder ist nicht viel­mehr das spie­ßig sein von heu­te, wenn wir dumm und zynisch über alles lachen, was zu ändern man in Wirk­lich­keit zu bequem ist?
(Jens Scholz)