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Als ich die Worte zum ersten Mal aus seinem Mund vernahm, fand ich sie furchtbar flach: »Wir alle brauchen manchmal einen Lotsen«.

Dieser nichtssagende Satz, diese inhaltsleere Belanglosigkeit war einer seiner Lieblingssprüche, sein Mantra, seine Lösung für alles und seine Lösung für jeden. Nun, für fast jeden, muss ich ergänzen. Er selbst, der große Kapitän, schien keinen Lotsen nötig zu haben, auf keiner Reise seines Lebens, nein, im Gegenteil, stets bot er sich anderen als Beistand an, weil er wohl glaubte, er sei der einzige, der verstanden habe, wo im Leben die Untiefen liegen und welche unsicheren Gewässer es zu meiden gilt.

Es war ein Satz wie einer dieser unerträglich optimistischen Kalendersprüche, die Unzufriedenen das Leben etwas freundlicher gestalten sollen und in ihrer Botschaft so belanglos, so stupide sind, dass niemand je etwas Vernünftiges dagegen einzuwenden vermag. Was hätte jemand auch gegen diesen Satz einwenden sollen? Er war ja richtig. Das war es, was mich daran zur Weißglut brachte. Ausgerechnet er musste es sein, der mir diesen bedeutungslosen Satz mit einer Ernsthaftigkeit vorpredigte, so als wüsste er genau, worum es im Leben gehe und wie man es sich einzurichten habe. Er wähnte sich nicht nur als stolzer Kapitän seines eigenen, windschnittigen Lebens und Lotse der Leben aller anderen, sondern gleich als Kartograf für Leben überhaupt. In meinen Augen war er ein arroganter, chauvinistischer Idiot.

Mit der Zeit fing ich an, diesen Satz zu hassen, und dadurch letztlich auch dessen Urheber. Er machte mich rasend, zumindest innerlich, und ich musste mich schier beherrschen, ihm nicht offen ins Gesicht zu fauchen. Mit einer gelassenen Regelmäßigkeit wagte er es hin und wieder, diese Plattitüde in Diskussionen einzustreuen, die er mit mir führte, oder den Satz zu variieren, ihm ein Trojanisches Pferd als Vehikel zu konstruieren und ihn einer Metapher unterzuschieben, damit die Worte nachts hervorkommen und in meinem Kopf ihre Wirkung entfalten konnten. Wenn er sich mit anderen unterhielt oder wenn wir in einer Gruppe unterwegs waren und er jemandem diesen Tipp, diese Nichtigkeit zuteilwerden ließ, blickte er mit einem süffisanten Lächeln in meine Richtung, so als wollte er ganz sicherstellen, dass ich den Satz auch zweifellos vernommen hätte.

Warum war es ihm so wichtig, mir diesen Satz immer und immer wieder unter die Nase zu reiben? Es kotzte mich ehrlich gesagt an. Ich war doch Kapitän meines eigenen Lebens und ich brauchte keinen Lotsen. Schon gar nicht ihn!

Was also wollte er mir mit diesem dümmlichen Satz sagen, was passte ihm nicht an mir? Ich verstand es nicht und ich wusste nicht, ob ich es überhaupt verstehen wollte.

In den folgenden Monaten hatten wir selten miteinander zu tun, wir trafen uns nur dann und wann rein zufällig, so auch an Silvester. Wir plauderten ganz oberflächlich über dieses und jenes, denn auch ihm musste aufgefallen sein, dass unser Kontakt sich verringert hatte. Bei einem Bier erzählte ich ihm kurz von jenen Dingen, die mich zu dieser Zeit bewegten, belasteten, ganz normaler Alltagskram, und er sprach bloß leicht angetrunken von einem Schiff, das auf Grund laufen würde, wenn ihm ein Lotse fehlte, denn schließlich bräuchte selbst der beste Kapitän manchmal einen Lotsen und so weiter. Er spulte sein Programm ab.

Mir war klar, dass er mich meinte. Ich würde mit meinen Problemen auf Grund laufen, wenn nicht er, der große, allwissende Lotse mich retten würde. Arschloch! Er kam sich in diesem Moment sicher unglaublich lustig und überlegen vor, und es war wieder einmal typisch für ihn, der glaubte, ich hätte nur auf seine, gerade seine rettende Hilfe gewartet. Sah ich so aus, als hätte ich das nötig? Nein! Er konnte mich mal.

Als er mir von seiner neuen Wohnung vorzuschwärmen begann, hörte ich ihm schon nicht mehr richtig zu. Völlig unverbindlich ließ ich mir das Versprechen abringen, ihn irgendwann einmal besuchen zu kommen, und verschwand sofort darauf im anonymen Trubel der Silvesterfeiernden. Ich sah noch, wie er mir nachwinkte. Er schien mit dieser Antwort glücklich zu sein, aber ich hatte nicht vor, ihn tatsächlich zu besuchen.

Ein Jahr verging, in dem ich ihn kaum sah. Jedes Mal, wenn es doch geschah, lebte in mir die Erinnerung an jenen Satz auf. Ich vermied es schließlich vollends, ihm zu begegnen, und ging ihm aus dem Weg. Es war keine bewusste Entscheidung, die mich dazu gebracht hatte, sondern dieses auf eine vage Art verunsichernde Gefühl, das mich überkam, wenn ich durch ihn an seinen Satz erinnert wurde. Ich ertappte mich dabei und fand es albern, konnte mich allerdings nie überwinden, ihn einfach anzurufen oder ein Treffen mit ihm zu vereinbaren. Mir fiel wieder ein, dass er in der Stadt eine neue Wohnung gefunden hatte und ich nun weder seine neue Anschrift noch seine Telefonnummer besaß. Das beruhigte mich, denn selbst wenn ich ihn hätte erreichen wollen, so hätte ich es nicht gekonnt. Es lag nicht in meiner Macht.

Er wiederum machte ebenso wenige Anstalten, sich bei mir zu melden, und so vergaß ich ihn fast, bis ich eines Tages im Supermarkt auf jemanden traf, den er mir einst als einen Freund vorgestellt hatte. Unschlüssig, ob ich diesen Freund einfach ansprechen sollte, blieb ich zwischen den Regalen stehen und dachte nach, bis mir die Entscheidung abgenommen wurde und er seinerseits auf mich zukam. Von der Situation überrumpelt, entfuhr mir ein »Hallo!«, er aber griff bloß nach einer Packung Cornflakes. Ich stand genau davor. Das war alles. Wortlos musterte er mich, bis ich ihn schließlich unbeholfen fragte, ob er sich an mich erinnere, wir hätten einen gemeinsamen Freund, und wo dieser gemeinsame Freund denn hingezogen sei. Sein Gesicht verriet mir, dass er mich erkannte. Zunächst erstaunt, dann bedrückt sah er mich an, bejahte, sah sich um, als seien seine Worte für diesen Ort ungeeignet, und sprach in gedämpftem Ton:

„Du weißt es noch gar nicht, hm? Man fand ihn vor, ja, knapp anderthalb Monaten in seiner Wohnung. Tabletten oder so. Er hatte sogar einen Abschiedsbrief geschrieben, na ja, mehr eine Abschiedsnotiz: »Ohne dich laufe ich auf Grund«. Seltsam, was? Niemand weiß, wen oder was er damit gemeint hat.“

Und da verstand ich seinen Satz.

Es ist ein verregneter Samstagabend und ich sitze mit dir in einer kleinen Kneipe in Frankfurt Bockenheim. Du trägst Jeans und ein rotes Oberteil, dein Haar ist zu Zöpfen gebunden, du rauchst. Zuvor sind wir essen gewesen, beim Perser, ich habe dich eingeladen, du hast einen ehemaligen Mitbewohner getroffen, dann sind wir kurz durch die Nacht spaziert. Nun trinken wir Cocktails, wir unterhalten uns, wir werden kritisch, wir werden traurig, wir lachen und spinnen herum. Du bist jemand, bei dem ich sein kann, wer ich bin, ohne Unverständnis zu provozieren, ohne mich verstellen zu müssen, ohne Erwartungen zu begegnen, die mir so fremd sind wie eine außerirdische Kultur. Wir teilen eine Sicht auf die Welt, auf das, was uns stört, was wir mögen, und ich merke, ich mag vor allem dich.

Wir stehen uns politisch nahe, wenn man das so ausdrücken kann. Uns eint der Kampf gegen die Übel dieser Welt, doch Hoffnung treibt dich dabei nicht, eher sei es Rastlosigkeit, man könne eben etwas tun oder schweigend resignieren. Eigentlich aber möchtest du hier weg, sagst du, und mit hier meinst du Deutschland, nicht diesen Moment in dieser kleinen, gemütlichen Kneipe. Ein Häuschen, vielleicht ein Bauernhof, gemeinsam mit ein paar Freunden, das wäre das Richtige, erklärst du mir, und deine Augen funkeln ein wenig bei der Vorstellung daran. Du nennst es andächtig Utopia.

Es mangelt am Willen zur Umsetzung, antworte ich dir und es stimmt. Du bist nicht die erste, die mir von diesem Traum vorschwärmt, denn ich kenne viele, die vom Weggehen träumen, vom selbstbestimmten Leben, nur keinen, der es macht. Auch für dich sei es eher ein Plan B, eine Rückzugsmöglichkeit, gesellst du dich zu ihnen, für die Zeit, wenn dir das Leben hier in diesem Land nicht mehr angenehm erscheint.

Ich finde es jetzt schon nicht mehr angenehm, gestehe ich dir, und du bist der erste Mensch, der bei diesen Worten nicht lacht, nicht mindestens schmunzelt oder mich fragend ansieht. Du nämlich schaust mich an, mit einem Blick, der mir sagt, dass du genau verstehst. Wir führen den Gedanken weiter, bis du mir erklärst, wie du dir das Ganze vorstellst, vielleicht in Griechenland, mit ein paar Tieren und Gemüse und was man eben braucht, um so autark zu sein, wie es die Umstände erlauben. Der Abend klingt aus und ich stoße mit dir darauf an, ihn umzusetzen, deinen Plan B, und du lachst und freust dich und sagst: Ja, das machen wir. Ich sehe Zukunft, wo ein Fragezeichen war. Wir sind Komplizen, die den Ausbruch wagen.

In den Tagen darauf rechne ich zusammen, was ich gespart habe, drucke Immobilienangebote aus, reise um die halbe Welt, um mir einen guten Eindruck von den interessantesten Objekten zu machen, lese Bestimmungen, plane voraus. Drei Wochen später treffen wir uns in deiner Wohnung, ich lege dir Fotos vor, ohne dir meinen Favoriten zu verraten, und deine Wahl fällt auf das gleiche Haus. Wir lachen, freuen uns, gehen Planungen durch, überschlagen Finanzen. Ganz die Realistin, die du bist, wirfst du ein, du fändest das alles wunderbar, nur könntest du nicht von heute auf morgen deine Wohnung aufgeben und deinen Job kündigen, da gäbe es Fristen, und dein Kater mache dir Sorgen, der habe doch sein Revier, und all das Rechtliche. Das macht nichts, beschwichtige ich, dann fahre ich alleine schon mal vor, richte alles her, ich kümmere mich um unser Haus, widme mich dem Bürokratischen, freue mich auf dich, und dem Kater wird es gefallen. Du nickst und dann umarmst du mich auf eine Art, dass ich mich fühle, als würde ich nach langer Odyssee zu Hause ankommen.

Am nächsten Tag plündere ich meine Konten, besteige ein Flugzeug und fliege einem neuen Leben entgegen. Ich kaufe ein Haus, das Haus, unser Haus, mit riesigem Grundstück und modrigem Holzzaun rundherum, die Mauern in einem Rotton, der dir gefallen wird, die Zimmer groß genug, falls wir Besuch oder mal Kinder haben wollen. Das Dach ist nicht ganz dicht, wie ich beim ersten Regen feststellen muss, aber wir sind es auch nicht. Ich renoviere, ich streiche, verlege Böden und lerne mauern, ich lege mich ins Zeug und fühle mich zum ersten Mal als freier Mensch. So verbringe ich Wochen, dann Monate. Mit der Begeisterung eines Kindes schicke ich dir immer wieder Fotos und selbstgedrehte Videos, und du sagst, du willst noch deine Promotion fertigstellen, dann kommst du. Ich freue mich wahnsinnig darauf, wenn du kommst, antworte ich dir.

Das Dach ist mittlerweile gut, das Haus bezugsfertig, was auszubessern war, habe ich ausgebessert. Die Renovierung kommt voran, wenn auch langsam, und zwischendrin versuche ich mich als Gärtner, lese mich schlau, pflanze an, gieße, verteile Dünger, hoffe und warte. Einiges gedeiht, manches nicht, und ich bin stolz, weil das für einen ersten Versuch gar nicht so schlecht ist. Du hast von uns beiden den grüneren Daumen, du wirst mich auslachen, wenn du kommst.

Zwei Monate später bekommst du ein Angebot für eine Stelle an der Uni, ein Einjahresvertrag, und du sagst, so lange solle ich mich noch gedulden, danach aber kämst du. Mir macht es nichts aus, die Renovierung braucht noch etwas Zeit, und ich sage, ich freue mich darauf, wenn du kommst, du wirst ein wunderschönes Haus vorfinden.

Draußen wird es langsam grün und ich filme auch das, schicke es dir, will dir zeigen, dass selbst unter meiner Regie pflanzliches Leben möglich ist. Du lachst so herzlich über meine angestrengten Gärtnerversuche, dass alle Kilometer zwischen uns vergessen sind. Kurz bevor du auflegst, seufzt du, denn du wärst so gerne hier, und ich spiele es herunter, es ist doch nicht mal mehr ein Jahr.

Vier Monate vergehen, in denen wir mailen, chatten, telefonieren, ich schicke dir weiterhin Bilder und Videos, hege Vorfreude, und dann schreibst du mir, du bist jetzt an einem Forschungsprojekt beteiligt, das du super interessant findest, und man erwägt, dich fest einzustellen, und wie großartig das ist und ob ich mich freue.

Drei Tage später antworte ich dir, schicke dir einen Link auf ein kleines regionales Nachrichtenportal, schreibe sonst nichts. Du rufst mich an, obwohl du nicht viel Zeit hast, wie du mir erklärst, du machst gerade Pause, gleich musst du zurück. Du bist verwirrt, sagst du, und ob das ein Scherz sei, aber es ist alles echt, versichere ich dir, das Feuer und der Totalschaden. Utopia ist abgebrannt.

Er erwachte völlig entkräftet in einem Krankenhausbett und konnte sich weder daran erinnern wie noch warum er hierhergekommen war. Hatte er einen Unfall gehabt, war er einfach bloß umgekippt oder hatte er vielleicht einen Schlaganfall erlitten? Seine Arme und seine Beine schmerzten ihn, und als er versuchte, sie mehr als ein paar Zentimeter zu bewegen, gab er nach kurzer Zeit erschöpft auf. Seine Augen vernahmen eine menschliche Silhouette neben dem Bett, doch noch erkannte er darin kein Gesicht. Verwirrt und ohne diesen Schatten direkt anzusprechen, stammelte er bloß: „Wo… wo bin ich hier? Was ist mit mir passiert?“
„Pssst“, flüsterte eine Frauenstimme zärtlich. „Sei unbesorgt, mein Schatz, alles wird wieder gut. Hab keine Angst. Du bist hier in den besten Händen. “
Er erkannte diese Stimme sofort. Sie gehörte seiner Freundin, genaugenommen seiner ehemaligen Freundin, dieser Frau aus vergangenen Zeiten, die ihn, wie er es ausdrücken würde, vor drei elend langen Jahren aus Gründen verlassen hat, die er nie verstehen wird, nachdem sie beide für fünf gute Jahre eine Beziehung miteinander geführt hatten. Als es zum Ende kam, ging sie fort und warf nie einen Blick zurück, doch er kam niemals über sie hinweg. Er dachte immer noch an sie und er vermisste sie an jedem Morgen, wenn er aufwachte, an jedem Abend, wenn er einschlief, in jedem Bett, in dem er lag. Am Anfang glaubte er, das ginge bald vorbei, er würde das Vermissen hinter dem Alltag leicht verbergen können, und wäre erst etwas Zeit vergangen, dann würde er sie irgendwann vergessen, doch es verstrich erst ein Jahr, dann zwei Jahre und schließlich drei, ohne dass es ihm gelang, sie aus seinen Gedanken und vor allem aus seinen Gefühlen zu verbannen. Mehrmals hatte er in dieser Zeit versucht, eine Beziehung mit einer anderen Frau aufzubauen, also weiterzumachen, die Wunden der Vergangenheit wenn schon nicht zu heilen, dann doch wenigstens zu verbinden, aber keinem dieser Versuche war letzten Endes ein langer Bestand gegönnt. Er musste sich irgendwann eingestehen, dass keine dieser Beziehungen einen Wert für sich hatte, sondern sie in Wahrheit nur ein unbewusster und verzweifelter Versuch waren, seine ehemalige Freundin zu ersetzen, die für ihn so unersetzbar war. Keine dieser Ersatzbeziehungen konnte er für allzu lange Zeit aufrechterhalten, keine dieser Frauen konnte ihn verzaubern, denn jede von ihnen verglich er mit ihr und keine war für ihn so gut wie sie, keine genügte seinem Vergleich, keine war ein Duplikat seiner einzigen großen Liebe.
„Du? Wieso bist du hier? Und… du nennst mich Schatz? Warum? Wir sind… schon so lange nicht mehr zusammen.“
„Ich dachte, es würde dir gefallen. Ich weiß, wie sehr du mich vermisst.“
„Was weißt du schon“, seufzte er.
„Ich kann es dir nicht verübeln“, ergänzte sie kokett, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte in sein Ohr: „Ich war das Beste, das dir je passiert ist, und ich werde es für immer sein.“
„Warum bist du hier?“ wiederholte er seine Frage.
„Freust du dich denn nicht? Ich weiß, dass du bis heute ständig an mich denkst, selbst nach all den Jahren. Ich weiß, wie sehr du mich brauchst, jetzt noch mehr denn je, und dass du mich nicht loslassen kannst, selbst wenn du wolltest. Du vermisst mich, du hast dich in deiner Sehnsucht eingemauert und du kommst dort nicht heraus. Kann es einen größeren Liebesbeweis geben als jenen, welchen du mit dir herumträgst? Ich bin hier, weil ich das weiß, und weil ich schätzen gelernt habe, wie sehr du wirklich an mir hängst.“
Unter großer Anstrengung drehte er sich in seinem Bett von ihr weg und verbarg sein Gesicht, damit sie darin nicht sehen konnte, wie sehr sie ihn mit diesen Worten erwischt hatte.
„Entschuldige, mein Schatz, ich lass dich erst einmal allein. Du bist noch sehr schwach und sicher auch sehr müde. Wir reden später. Nimm die hier, die helfen dir“, sagte sie und zeigte auf zwei Pillen und ein Glas mit Wasser, das direkt daneben stand. Dann ging sie zur Tür, drehte sich noch einmal um, pustete ihm einen Luftkuss zu und verließ den Raum.
In den darauffolgenden Tagen verbesserte sich sein Zustand ein wenig, doch fiel es ihm noch immer schwer, Arme und Beine zu bewegen, sodass an Aufstehen noch lange nicht zu denken war. Das Zimmer, in dem er sich befand, war relativ klein, er sah zwei Schränke, ein Fenster und einen bescheidenen Tisch mit einem Stuhl. Jeden Tag besuchte ihn seine ehemalige Freundin und umsorgte ihn liebevoll. Sie brachte ihm Bücher, Zeitschriften und Mahlzeiten, sie unterhielt sich mit ihm über die alten, gemeinsamen Zeiten, erzählte ihm von den neuesten Ereignissen und versorgte ihn mit neuen Medikamenten. Er fühlte sich in ihren Händen geborgen und konnte bei weitem nicht verhehlen, sich über ihre Anwesenheit mehr als nur zu freuen. Die Zeit verging jedoch, ohne dass sich sein Zustand wesentlich verbessert hätte, doch was ihn viel mehr verwunderte, war die merkwürdige Tatsache, dass er während seines Aufenthalts bislang kein Pflegepersonal oder einen Arzt zu Gesicht bekommen hatte. Selbst als er den kleinen Knopf drückte, um jemanden an sein Bett zu rufen, kam niemand, es geschah nichts. Einzig seine Ex-Freundin erschien mit einer gewissen Regelmäßigkeit, also sprach er sie darauf an:
„Ich habe hier noch nie eine Schwester gesehen, geschweige denn einen Arzt.“
„Sei unbesorgt, mein Schatz, man kümmert sich sehr gut um dich. Ich habe dem Personal klargemacht, dass ich mich, soweit es geht, alleine um dich kümmern werde und man dein Zimmer wirklich nur im Notfall zu betreten hat. Ich will keine Leute hier um dich herum, die dich ständig stören oder mit irgendwas belästigen, wenn du dich doch schonen musst.“
„Aber nicht einmal ein Arzt war hier…“
„Doch, doch“, beruhigte sie ihn, „der Arzt war gestern Abend bei dir, als du schon tief und fest geschlafen hast. Ich war dabei. Du hast geschlafen wie ein Stein, aber deinen Schlaf hast du auch bitter nötig. Der Arzt wollte dich aufwecken, aber ich hab ihn angefaucht, er soll dich bloß in Ruhe lassen, solange es kein Notfall ist. Da ist er gegangen.“ Sie fing an zu lachen. „Du weißt, ich kann sehr überzeugend sein.“
Als sie nach ein wenig Plauderei schließlich ging, nahm er sich vor, an diesem Abend einfach so lange es ihm möglich sein würde wach zu bleiben, sollte der Arzt erneut nach seinem Zustand sehen wollen. Er rang mit der Müdigkeit, aber er ließ sich von ihr nicht übermannen, und so wartete er bis in die frühen Morgenstunden. Es erschien weder ein Arzt noch sonst irgendjemand. Schließlich schlief er ein und wurde einige Stunden später von seiner einzigen, treuen Besucherin geweckt, die ihm sein Frühstück ans Bett servierte.
An diesem Morgen jedoch war er aufgrund des wenigen Schlafs völlig ausgelaugt, und als er die Pillen zu sich nehmen wollte, die schon seit dem ersten Tag jede seiner Mahlzeiten begleiteten, verlor er sie aus den Fingern. Sie schienen unter sein Bett zu rollen, aber so genau konnte er das nicht beobachten. Seine ehemalige Freundin stand währenddessen am Fenster und bekam von alledem nichts mit, also beließ er es dabei. In den folgenden Stunden bemerkte er, dass das Gefühl in seinen Armen und Beinen mehr und mehr zurückkehrte und es ihm zunehmend leichter fiel, sie zu bewegen. Er wusste nicht, ob er das als Zufall abtun oder auf das Auslassen der Medikamente zurückführen sollte, also sprach er diese Frage am Abend an:
„Was sind das eigentlich für Pillen, die du mir jedes Mal mitbringst?“
„Die sind für deine Schmerzen, mein Schatz“, entgegnete sie mit einem Lächeln auf den Lippen, in das er sich damals sofort verliebt hatte, „die sollen dich beruhigen.“
Unter Schmerzen jedoch litt er nur, wenn er diese Mittel zu sich nahm, doch dass er zu dieser Erkenntnis gekommen war, wollte er ihr nicht mitteilen. Er entschloss sich dazu, die Pillen in Zukunft heimlich zu meiden. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte er bei sich, erst sah er weit und breit kein Personal und nun dieser… Zufall.
Am nächsten Morgen fühlte er sich wesentlich besser, sehr zu seiner Verwunderung. Arme und Beine konnte er nun frei bewegen, so als sei niemals irgendwas geschehen. War denn je irgendwas geschehen? Er richtete sich zunächst im Bett auf, schwang dann die Beine heraus und stand schließlich auf, ohne jene Gliederschmerzen zu verspüren, die ihn seit seinem Aufwachen ans Bett gefesselt hatten. Nach kurzem Zögern ging er zur Tür, doch als er die Klinke herunterdrückte, geschah gar nichts. Sie ließ sich nicht öffnen. Und da verstand er. Die Pillen sollten ihm nicht helfen, sie sollten ihn im Bett halten. Sie wollte ihn nicht gehen lassen.
Sein Blick fiel auf das Fenster, das der einzige Ausweg zu sein schien. Er zog den Vorhang zur Seite, öffnete es und musste feststellen, dass er sich hier wohl im vierten oder fünften Stock befand. Ein Sprung würde wahrscheinlich tödlich enden, und irgendetwas, an dem er sich hätte festhalten, an dem er nach unten hätte klettern können, konnte er nicht sehen. Er war gefangen. Plötzlich hörte er ein Geräusch an der Tür, und bevor er sich zurück ins Bett legen konnte, stand sie schon im Raum und warf ihm einen überraschten Blick zu.
„Dein Zustand hat sich endlich gebessert“, sagte sie und versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. „Ich bin so glücklich, ich dachte schon, du würdest für immer dort liegen bleiben.“
„Die Tür war abgesperrt“, bemerkte er knapp. „Warum?“
„Ach, mein Schatz, das ist nur zu deinem Besten.“
„Erklär mir das! Wie zum Teufel soll das denn zu meinem Besten sein?“
„Vertraust du mir nicht mehr?“
„Es fällt mir zunehmend schwer, jemandem zu vertrauen, der mich einsperrt und mit irgendwelchem Zeug vollpumpt, das mir jede Handlung unmöglich macht.“
„Reg dich bitte nicht auf.“
„Bring mir einen Arzt!“
„Es gibt hier keine Ärzte. Ich kümmere mich um dich, nur ich.“
„Du bist verrückt!“
„Leg dich wieder hin, mach es dir gemütlich und lass dich einfach von mir versorgen. Ich habe dich in den letzten drei Jahren im Stich gelassen, das tut mir leid, aber alles kann wieder so werden, wie du es dir wünschst. Wir bleiben zusammen, nur wir beide. Du brauchst sonst niemanden. Niemanden!“
Er sah sie an und blickte dann zum Fenster, das immer noch geöffnet war. Ihr überraschtes Gesicht wich einem Ausdruck der Verzweiflung, dann purer Wut. Als sie einige Schritte auf ihn zuging, stieg er in das Fenster, hielt sich am Rahmen fest und sprach zu ihr, sie solle zurückbleiben, sie solle ihn nicht anrühren, sonst würde er springen. Sie blieb stehen und setzte wieder ihr berauschendes Lächeln auf.
„Ich weiß, du vermisst mich an jedem einzelnen Tag, seitdem ich dich verlassen habe.“ Ihre Stimme war süß und gleichzeitig voller Erotik, so als wolle sie ihn verführen. „Ich weiß, du liebst mich heute noch genau wie vor drei Jahren, und ich weiß, dass du auch immer noch die Hoffnung hegst, mit mir dein ganzes Leben zu verbringen. Wir könnten zusammen noch einmal anfangen, das hast du dir doch all die Jahre gewünscht. Nur du und ich, für immer. Bleib bei mir, mein Schatz. Willst du dein Leben denn einfach wegschmeißen, wenn du loslässt und springst?“
„Du bist nicht mein Leben!“, schrie er sie an, blickte in ihre Augen, löste die Finger vom Rahmen und ließ sich aus dem Fenster fallen. „Du warst es viel zu lang.“
Völlig benommen wachte er in einem Krankenhausbett auf und konnte sich weder daran erinnern wie noch warum er hierhergekommen war. Neben dem Bett erkannte er eine menschliche Silhouette, die irgendetwas zu irgendjemandem sagte, den er nicht sehen konnte. Plötzlich erschien eine zweite Gestalt, die sich ihm als Arzt vorstellte und ihm erklärte, es habe lange Zeit nicht gut für ihn ausgesehen: „Sie waren für einige Zeit im Koma, aber nun haben Sie ja doch noch den Sprung zurück ins Leben geschafft.“

Viele erkennen sich selbst, nur wenige kommen dazu, sich auch selbst anzunehmen. Wieviel Selbsterkenntnis erschöpft sich darin, den andern mit einer noch etwas präziseren und genaueren Beschreibung unserer Schwächen zuvorzukommen, also in Koketterie! Aber auch die echte Selbsterkenntnis, die eher stumm bleibt und sich wesentlich nur im Verhalten ausdrückt, genügt noch nicht, sie ist ein erster, zwar unerläßlicher und mühsamer, aber keineswegs hinreichender Schritt. Selbsterkenntnis als lebenslängliche Melancholie, als geistreicher Umgang mit unserer früheren Resignation ist sehr häufig, und Menschen dieser Art sind für uns zuweilen die nettesten Tischgenossen; aber was ist es für sie? Sie sind aus einer falschen Rolle ausgetreten, und das ist schon etwas, gewiß, aber es führt sie noch nicht ins Leben zurück… Daß die Selbstannahme mit dem Alter von selber komme, ist nicht wahr. Dem Älteren erscheinen die früheren Ziele zwar fragwürdiger, das Lächeln über unseren jugendlichen Ehrgeiz wird leichter, billiger, schmerzloser; doch ist damit noch keinerlei Selbstannahme geleistet. In gewisser Hinsicht wird es mit dem Alter sogar schwieriger. Immer mehr Leute, zu denen wir in Bewunderung emporschauen, sind jünger als wir, unsere Frist wird kürzer und kürzer, eine Resignation immer leichter in Anbetracht einer doch ehrenvollen Karriere, noch leichter für jene, die überhaupt keine Karriere machten und sich mit der Arglist der Umwelt trösten, sich abfinden können als verkannte Genies… Es braucht die höchste Lebenskraft, um sich selbst anzunehmen… In der Forderung, man solle seinen Nächsten lieben wie sich selbst, ist es als Selbstverständlichkeit enthalten, daß einer sich selbst liebe, sich selbst annimmt, so wie er (…) ist. Allein auch mit der Selbstannahme ist es noch nicht getan! Solange ich die Umwelt überzeugen will, daß ich niemand anders als ich selbst bin, habe ich notwendigerweise Angst vor Mißdeutung, bleibe ihr Gefangener kraft dieser Angst…
(Max Frisch – Stiller)

„Wieso bist du hier?“

„Ich bin gekommen, um endlich das zu tun, worauf ich schon so lange warte.“

„Du kannst mich nicht töten, das weißt du. Er wird es nicht zulassen. Du wurdest verbannt, das ist nicht mehr dein Reich.“

„Er war glücklicher, bevor du kamst, und er fängt an, das zu begreifen.“

„Er war nicht glücklich.“

„Deine gewohnte Überheblichkeit, mein Freund. Nein, er war nicht glücklich, aber war nie so unglücklich wie jetzt, nach alledem, was du ihm angetan hast.“

„Was ich ihm angetan habe? Du bist so selbstgerecht wie eh und je. Ich war für ihn Prometheus!“

„Du warst für ihn Pandora.“

„Ich gab ihm Hoffnung…“

„Enttäuscht!“

„…ich gab ihm Zuversicht …“

„Ernüchtert!“

„…ich gab ihm Glauben an das Gute.“

„Und was hat es gebracht? Was hat es ihm gebracht?“

„Er führt endlich ein Leben, ein richtiges Leben. Was für ein Leben war es denn zuvor, bevor ich kam, als er noch fügsam auf dich hörte? Was waren deine Leistungen für ihn, was hast du Gutes je für ihn getan? Du hast ihn mit dem Wahn infiziert, die Welt habe ihm nichts, aber auch gar nichts zu bieten, hast ihn entmutigt und ihn mitleidig beschworen, sich hinter einer Mauer zu verstecken, die du bereitwillig für ihn errichtet hast. Alles, was er sah, das war für ihn nur schlecht, böse und es nicht wert, sich darauf einzulassen.“

„Bis du kamst, nicht wahr, und ihm gesagt hast, er brauche nur in das Gute zu vertrauen, und das Gute würde geschehen. Oh, du Narr! Er war naiv genug, um dir zu glauben, doch was bekam er dann dafür? Enttäuschung, Wut, Verzweiflung. Es hat sich nie gelohnt. Das Gute, das du ihm versprachst, hat er bis heute nicht gesehen.“

„Er wird es sehen und das Warten wird sich für ihn lohnen, wenn er bloß jetzt nicht resigniert, wenn er sich Offenheit bewahrt und nicht in seinem Gram verschließt. Bleib von ihm fern, und auf lange Sicht wird alles gut.“

„Das Warten, das Warten, das Warten. Wie lange soll er denn noch warten? Schau ihn dir an, er hat genug vom Warten. Wer kann es ihm verübeln? Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr vertröstest du ihn mit diesem vorlauten, hanebüchenen Optimismus, er müsse nur Geduld haben, und das Gute werde ihn ereilen. Nie hat er irgendwas davon gesehen, bis heute wurde es nicht wahr. Zum Teufel mit der Geduld! Zum Teufel mit der Offenheit!“

„Du wirst ihn nicht wieder bekommen. Er ist ein besserer geworden.“

„Ach ja? Wie war er denn, bevor du ihn verführen kamst?“

„Zynisch. Er war ein Pessimist, er hatte keinerlei Erwartungen an die Welt, denn da warst du und hast sie ihm genommen.“

„Aber du gabst ihm Erwartungen, Hoffnungen und Vertrauen…?“

„Ganz recht, ich gab ihm Erwartungen, Hoffnungen und Vertrauen, während du ihm alles nahmst.“

„Du gabst ihm Luftschlösser, Träume und Illusionen! Du hast ihm die verbotene Frucht präsentiert und er, er hat sie sich genommen. Hat sich eine seiner Erwartung erfüllt, die du in ihm gesät hast? Irgendeine? Sein Unglück, das ihn nun so quält, was glaubst du wohl, woher es rührt? Jede ernsthafte Erwartung wurde enttäuscht, jede aufrichtige Hoffnung, jedes offene Vertrauen. Wo du auftrittst, endet es immer wieder gleich. Quellen der Pein sind alles, was du ihm gegeben hast. Das ist sein Unglück! Ohne dich hätte er all das Leid nie erfahren, und er lebte gut so, bevor du anfingst, alles zu zerstören.“

„Ja, denn das war deine Lösung für ihn: Leere. Natürlich, er konnte nicht enttäuscht werden, wenn er keinerlei Erwartungen hegte, aber kann ein Mensch so je glücklich werden? Er wird sein Glück nur finden können, wenn er das Risiko wagt, von Zeit zu Zeit enttäuscht zu werden. Du aber hast ihm alles genommen, für das es sich zu leben lohnt. Er hatte keinerlei Hoffnung für die Zukunft. Es gab niemanden, dem er sein Vertrauen schenkte. Kein Mensch war ihm wichtig, die Welt für ihn ein schlechter Ort. Und du besitzt die Unverschämtheit, es zu wagen, das ein gutes Leben zu nennen, was er da führte?“

„Ein besseres als du es ihm geschaffen hast. Zynismus hat ihn nie so hart enttäuscht wie du. Früher war er stärker, früher hatte er sein Bollwerk gegen die Welt. Doch dann kamst du, mein Freund, der edle Befreier, und du erst hast ihm eingeredet, er könne so nicht leben, das mache ihn nicht glücklich, er solle alle Tore seiner Festung öffnen, um das Gute in sein Leben ziehen zu lassen. Aber was kam wirklich durch die Tore? Sieh ihn dir an! Er ist unglücklicher als je zuvor.“

„Er kann nicht einfach wieder zurückgehen, nicht nachdem er so weit gekommen ist. Wenn er die Hoffnung fahren lässt, ist er so gut wie tot, das siehst auch du. Ich zeige ihm das Leben, du zeigst ihm bloß Verzweiflung.“

„Ich zeige ihm, wie er Verzweiflung aus dem Weg geht, die du erst in sein Leben gebracht hast. Er hat genug von dir. Seine Geduld ist am Ende, deswegen bin ich hier. Er wird dich nicht länger beschützen. Du hattest deine Chance und du hast versagt.“

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird, schreibt Nietzsche, und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Wenn die Pflichterfüllung durch den sozialen Druck zur dauernden Antriebsfeder wird, verstärkt sich fortwährend die Bereitschaft, sich dem Willen eines anderen zu unterwerfen. Außerdem wird immer weiter beschnitten, was noch vom Gefühl der Eigenverantwortlichkeit – und der Fähigkeit zum Mitgefühl – übriggeblieben ist. Pflichterfüllung wird ein willkommener Weg, auf dem man der persönlichen Verantwortung, die durch Mitgefühl erwachen könnte, entkommen kann. Hat man sich für die Pflichterfüllung entschieden, so entgeht man auch dem Schmerz, der von dem eigenen Mitgefühl hervorgerufen werden könnte. Ein so von der Pflicht besessener Mensch ist sogar dazu bereit, in treuer Pflichterfüllung zu sterben – und diese abstrakte Idee hält er für Verantwortlichkeit.

Gehorsam wird dann zum eigentlichen Sinn des Lebens. Es sei an die Kriegsverbrecher erinnert, die diese Entschuldigung oft vorbringen. Sie sollten uns endlich die Augen öffnen für die wahre Bedeutung jeder Art von Gehorsam. Unter dem Deckmantel des Befehls geschahen alle Arten von Grausamkeiten und Mordtaten, ohne daß einer die Verantwortung dafür hat übernehmen müssen. In einem gewissen Sinn ist diese Entschuldigung sogar richtig: Die eigene Seele hatte nichts damit zu tun, sie wurde außer Reichweite dessen gehalten, dem man gehorsam war. Dieser trug schließlich die Verantwortung. Unter dieser Voraussetzung fällt es solchen Menschen auch nicht schwer, die Herren zu wechseln.
Nicht selbst die Verantwortung zu tragen ist Bestandteil der Grundlüge. Sie verdeckt, was die ursprüngliche Entscheidung – die Lebensentscheidung – war: nämlich sich mit der Unterwerfung abzufinden und sein inneres Leben aufzugeben, um an der Macht zu partizipieren. An genau diesem Punkt fällt die Entscheidung darüber, ob ein Mensch Selbstverantwortung und die Verantwortung anderen gegenüber entwickelt.

Am 27. März 1979 wurde während einer politischen Demonstration in der Schweiz ein Schriftsteller von zwei Polizisten festgenommen und zusammengeschlagen. Einer der Polizisten sagte bei der späteren Gerichtsverhandlung: »Was wollen Sie denn von mir? Ich habe mein Leben lang gehorcht, als Kind, als Schüler, in der Ausbildung, als Soldat und nun als Polizist. Ich habe nur meine Befehle ausgeführt.«
Hier interessiert nicht so sehr die Tatsache, daß der Polizist dann vor Gericht für sich in Anspruch nahm, »auf Befehl« gehandelt zu haben, sondern daß er die Entwicklungsgeschichte des Gehorsams vorführte: Man wächst damit auf, daß man gehorsam sein muß, nicht aber damit, daß man selbst – und für sich selbst – denken und fühlen kann. Und es bleibt verborgen, daß diese Einübung genau das hervorruft, wovor die Gesellschaft Angst hat: nämlich Destruktivität – vor der sie sich vergeblich durch die Einübung in Gehorsam zu schützen versucht.
(Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität)

Wollen wir so sein? Postmodern und immer auf der sicheren Metaebene, von der aus man schon vorher weiß, dass man ohnehin nichts ändern kann? Ist das so wirklich die Lösung? Sich einfach dadurch aus der Verantwortung zu stehlen, in dem man die schon längst vollzogene Resignation und das klein Beigeben mit angeberischem Besserwissen übertüncht? Sind das die Spießer, denen wir uns intellektuell überlegen fühlen oder ist nicht vielmehr das spießig sein von heute, wenn wir dumm und zynisch über alles lachen, was zu ändern man in Wirklichkeit zu bequem ist?
(Jens Scholz)